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Ein Kernkraftwerk des Heiligen Geistes - Bistum Limburg

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titel-thema<br />

Hildegard von Bingen auf einem Gemälde<br />

in der Benediktinerinnenabtei Sankt<br />

Hildegard im hessischen Rü<strong>des</strong>heim.<br />

8 vatican 5|2012


Mehr als Dinkel und Kräuter:<br />

<strong>Ein</strong> <strong>Kernkraftwerk</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Heiligen</strong> <strong>Geistes</strong><br />

Sie war die letzte Prophetin und erste Universalgelehrte, die Deutschland geschickt<br />

wurde. Jetzt hat Papst Benedikt die Verehrung der heiligen Hildegard von Bingen auf die<br />

gesamte Weltkirche ausgeweitet – und wird sie am 7. Oktober zur Kirchenlehrerin erheben<br />

von barbara wenz<br />

Es hat fast achthundert Jahre gedauert<br />

und einen deutschen Papst<br />

gebraucht, bis die heilige Hildegard<br />

von Bingen in einem Ausnahmeverfahren,<br />

das sich „gleichwertige Kanonisierung“<br />

nennt, offiziell „heilig“ ist und somit<br />

nun von der gesamten Weltkirche verehrt<br />

wird. Benedikt XVI. hat mit seinem<br />

Beschluss vom 10. Mai 2012, dass die Verehrung<br />

der <strong>Heiligen</strong> auf die gesamte Weltkirche<br />

auszudehnen ist, eine Entscheidung<br />

gefällt, die nicht nur längst überfällig<br />

war, sondern auch zeigt, welch hohen<br />

Stellenwert Benedikt der deutschen Äbtissin,<br />

Visionärin, Komponistin und Kirchenkritikerin<br />

beimisst. Wertschätzung, ja<br />

Bewunderung, die er zuvor schon zu einigen<br />

wenigen, aber äußerst bedeutsamen<br />

Anlässen geäußert hatte.<br />

Selbst wenn man mit Leben und Werk<br />

der Hildegard von Bingen nur oberflächlich<br />

vertraut ist, bleibt uns angesichts ihrer<br />

universalen Schaffenskraft, der Kühnheit<br />

ihrer Visionen, die sie stets bei klarem<br />

Verstand und offenen Auges erfuhr, <strong>des</strong><br />

prophetischen Löwenmuts, den sie ohne<br />

zu zögern gegen die Mächtigen im Klerus<br />

und sogar gegen den Kaiser einsetzte,<br />

nur schieres Staunen und tiefe Dankbarkeit<br />

über diese die Jahrhunderte überstrahlende<br />

Heilige. „Wer ist die, die da aus<br />

der Wüste gleich einer Rauchsäule von<br />

Gewürzkräutern aufsteigt?“, ruft Papst<br />

Eugen III. in einem Brief an Hildegard<br />

aus, und muss dabei, um seine faszinierte<br />

Verehrung auszudrücken, auf das Hohelied,<br />

das poetischste Liebeslied aller Zeiten,<br />

zurückgreifen.<br />

Sie war die letzte Prophetin, die<br />

Deutschland geschickt wurde, eine Persönlichkeit,<br />

die mit traumwandlerischer<br />

Sicherheit, dabei luzide und klar wie ein<br />

lupenreiner Diamant, das Wort Gottes<br />

verkündete und als „ungelehrte Frau“, als<br />

„armseliges Gebilde“ die größten Männer<br />

ihrer Zeit mit göttlicher Vollmacht belehrte,<br />

den Kampf mit den Kleingeistigen<br />

beherzt aufnahm. Hildegard betätigte sich<br />

auf einem breiten Spektrum der damaligen<br />

Wissensgebiete: Theologie, Kosmologie,<br />

Anthropologie, Musik, der Heilkunst,<br />

der Erforschung von Naturphänomenen<br />

– sie erfand sogar eine eigene geheime<br />

Sprache, die lingua ignota. Hildegard<br />

von Bingen kann <strong>des</strong>halb mit Fug und<br />

Recht als die erste deutsche Universalgelehrte<br />

gelten, die jüngst vom „Osservatore<br />

Romano“ in einem Atemzug mit Dante,<br />

Avicenna und Johannes Scottus Eriugena<br />

genannt wurde und somit noch einmal<br />

die Bedeutung dieser „wahren Intellektuellen“<br />

ihrer Zeit unterstreicht, die sie für<br />

den derzeitigen Papst, sozusagen als eine<br />

Seelenschwester, zu besitzen scheint.<br />

Die Geschichte dieser Frau, die bei<br />

ihren Zeitgenossen Ehrfurcht und Bewun-<br />

derung erweckte, die mit von Gott verliehener<br />

Autorität auftrat und deren Kompositionen<br />

und Schriften noch heute Bestseller<br />

sind, beginnt im Jahre 1098, zur Zeit<br />

<strong>des</strong> ersten Kreuzzuges. Hildegard wird als<br />

zehntes Kind in Bermersheim bei Alzey<br />

geboren. Ihre Eltern gehören dem niedrigen<br />

Adel an und geben das Mädchen im<br />

Alter von acht Jahren zur gemeinsamen<br />

Erziehung in die Grafenfamilie derer von<br />

Sponheim. Hildegard ist vierzehn, Jutta<br />

von Sponheim zwanzig Jahre alt, als sie<br />

sich auf den Berg <strong>des</strong> heiligen Disibod am<br />

Zusammenfluss von Nahe und Glan bei<br />

Odernheim zurückziehen. Auf dem Gelände<br />

<strong>des</strong> Klosters, das von Benediktinermönchen<br />

besiedelt wurde, hatte die Familie von<br />

Sponheim eine Frauenklause errichten lassen.<br />

Dort verbringt Hildegard fast die Hälfte<br />

ihres Lebens in völliger Abgeschiedenheit,<br />

gestorben und begraben mit Christus.<br />

Wie ein Senfkorn, das der Herr in die Erde<br />

gelegt hat, auf dass es eines Tages erwache<br />

und ein Baum daraus werde, der bis zum<br />

Himmel wächst und in <strong>des</strong>sen Zweigen<br />

singende Vögel nisten werden.<br />

Der Tag kommt im Jahre 1140, als<br />

sie „42 Jahre und 7 Monate“ zählt, wie<br />

sie selbst schreibt. Seit vier Jahren ist ihre<br />

geistliche Mutter Jutta tot, die Gemeinschaft<br />

der mittlerweile zehn Schwestern<br />

hatte sie damals einstimmig zur Priorin<br />

gewählt. Die Visionen, die sie schon in<br />

vatican 6-7|2012 9


titel-thema<br />

Die Dreifaltigkeit: Christus, eingeschrieben in die Kreise Gottvaters und <strong>des</strong><br />

<strong>Heiligen</strong> <strong>Geistes</strong>. Buchmalerei aus dem Rupertsberger Codex, 12. Jahrhundert,<br />

zur Illustration <strong>des</strong> Werks „Scivias – Wisse die Wege“ von Hildegard von Bingen.<br />

10 vatican 5|2012


ihrer Kindheit erfahren hat, setzen wieder<br />

ein. Sie bespricht sich zunächst mit dem<br />

Abt; er rät, alles niederzuschreiben. Doch<br />

die Unsicherheit und die Zweifel nagen an<br />

ihr: Hildegard besaß neben ihren außergewöhnlichen<br />

intellektuellen und spirituellen<br />

Gaben eine ausgeprägte persönliche<br />

Demut. Hinzu kam, dass die deutschen<br />

Bischöfe ihr zum Teil nicht gerade<br />

mit Wohlwollen, sondern mit großer<br />

Skepsis begegneten. Sie fasst sich <strong>des</strong>halb<br />

ein Herz und wendet sich in ihrem ersten,<br />

überlieferten Brief an den Mann, der<br />

zur damaligen Zeit als die einflussreichste<br />

und anerkannteste geistliche Autorität galt<br />

– den inspirierten monastischen Erneuerer<br />

und mitreißenden Prediger Bernhard<br />

von Clairvaux. Der Tonfall dieses Briefes<br />

ist hochachtungsvoll und zärtlich zugleich;<br />

sie nennt Bernhard „Vater“ und schildert<br />

ihm den Charakter ihrer Visionen detailgenau.<br />

Aus ihren Formulierungen spricht<br />

tiefstes töchterliches Vertrauen: „Du bist<br />

Sieger in deiner Seele und richtest andere<br />

zum Heile auf. Du bist der Adler, der in die<br />

Sonne blickt.“<br />

Die Antwort <strong>des</strong> heiligen Bernhard<br />

ist unmissverständlich und muss für Hildegard<br />

eine enorme Erleichterung gewesen<br />

sein: „Wir freuen uns mit dir über die<br />

Gnade Gottes, die in dir ist. Und was uns<br />

angeht, so ermahnen und beschwören wir<br />

dich, sie als Gnade zu erachten und ihr mit<br />

der ganzen Liebeskraft der Demut und<br />

Hingabe zu entsprechen.“ Während der<br />

Synode in Trier 1147 werden ihre Visionen<br />

sogar öffentlich verlesen und von Papst<br />

Eugen III. bestätigt. Nun darf sie endlich<br />

sicher sein, dass ihre Schau nicht ein<br />

Hirngespinst ist oder gar vom Gegenspieler<br />

kommt, sondern vom Allerhöchsten<br />

geschickt wird. Mehr noch, dass Er selbst<br />

es ist, der durch sie spricht. Sie ist sein Instrument,<br />

seine „Posaune“, wie sie sich selbst<br />

bezeichnet, durch die der göttliche Geisthauch<br />

weht und die Menschen behaucht.<br />

Und so manches Mal wird in Zukunft dieser<br />

Geisthauch gerade auch für die höchsten<br />

Machthaber wie Kaiser und Papst zu<br />

verzehrenden Flammenzungen werden.<br />

Etwa wenn Hildegard an Friedrich Barbarossa<br />

schreibt, weil er nicht aufhört, gegen<br />

den legitimen Papst Alexander III. Gegenpäpste<br />

aufzustellen. Sie spricht mit einer<br />

Vollmacht, die ihr der Schöpfer <strong>des</strong> Universums<br />

verliehen hat. Er ist es, der durch<br />

sie zu dem mächtigen Kaiser spricht und<br />

ihm mit Seinem Gericht droht: „Wehe,<br />

wehe der Niederträchtigkeit der Gottlosen,<br />

die mich beleidigen! Höre geschwind,<br />

o König, wenn du leben willst! Sonst wird<br />

mein Schwert dich durchbohren!“<br />

Die prophetissa teutonica, wie man sie<br />

schon bald nennt, korrespondiert auch<br />

mit Prälaten und Päpsten. In einem Brief<br />

an Eugen III. aus dem Jahre 1148 nennt<br />

sie sich selbst eine kleine Feder, die vom<br />

Höchsten berührt worden ist, damit sie<br />

wunderbar emporfliege, und die nun von<br />

einem starken Wind getragen wird, damit<br />

sie nicht sinke. Auch ihn wird sie mit strengen<br />

Worten ermahnen, als Gesandte <strong>des</strong>jenigen,<br />

der über jeder weltlichen Autorität<br />

steht: „O du funkelnde Brustwehr, kraft<br />

deines Amtes, ursprüngliche Wurzel der<br />

neuen Vermählung Christi mit der Kirche,<br />

du bist zweigeteilt: <strong>Ein</strong>erseits ward deine<br />

Seele in der geheimnisvollen Blüte erneuert,<br />

die eine Gefährtin der Jungfräulichkeit<br />

im Mönchtum ist. Andererseits bist du<br />

ein Zweig der Kirche. Höre auf den, <strong>des</strong>sen<br />

Wort scharf wie ein Schwert ist... Entferne<br />

nicht die Sehkraft vom Auge und trenne<br />

nicht das Licht vom Licht, sondern halte<br />

dich auf dem eindeutigen Weg, damit du<br />

nicht der Anklage verfällst wegen der Seelen,<br />

die in dein Herz gelegt sind.“<br />

Wir begegnen dieser charakteristisch<br />

bildreichen und wortgewaltigen Sprache<br />

auch in ihren Hauptwerken: „Scivias<br />

– Wisse die Wege“, das in 35 Visionen<br />

die gesamte Heilsgeschichte durchdekliniert,<br />

vom Anbeginn der Zeit und<br />

der Schöpfung der Welt bis zum Ende<br />

aller Zeiten. Der „Liber vitae meritorum“,<br />

das Buch der Lebensverdienste, in dem es<br />

um die immense und alles überwältigende<br />

Kraft Gottes geht, der den gesamten<br />

Kosmos gestaltet und den Menschen zum<br />

Leben gerufen hat und in immerwährendem<br />

Austausch mit der <strong>Heiligen</strong> Dreifaltigkeit<br />

durchpulst wird. Aufgabe <strong>des</strong> Menschen<br />

ist es dabei, sich jeden Tag aufs Neue<br />

vom Bösen abzukehren und die Herrlichkeit<br />

Gottes in seiner eigenen Existenz so<br />

vorwegzunehmen.<br />

Im „Liber divinorum operum“ oder<br />

auch in „De operatione Die“ geht es wie-<br />

derum um die Schöpfung, das zentrale<br />

Thema Hildegards, die Beziehung zwischen<br />

dem Erschaffer <strong>des</strong> Alls, der Erde<br />

und seinem geliebten Geschöpf, dem<br />

Menschen.<br />

Régine Pernoud, die französische<br />

Mediävistin, spricht im Zusammenhang<br />

mit den Werken Hildegards zutreffend<br />

von einer poetischen Kosmologie,<br />

einem kosmischen Roman. In der Tat,<br />

die Sprachmacht Hildegards ist überwältigend,<br />

obgleich sie angeblich nicht besonders<br />

gut Latein konnte, weshalb sie ihre<br />

Visionen dem Mönch Volkmar und später<br />

ihrer geliebten Mitschwester Richardis<br />

von Stade diktierte.<br />

Angesichts <strong>des</strong> unerhörten Mutes, mit<br />

dem diese Äbtissin aus Deutschland als<br />

Botin Gottes den Machthabern ihrer Zeit<br />

entgegentrat, erscheint es wie trauriger<br />

Hohn, dass diese Frau nun in der Neuzeit<br />

durch esoterische Kreise auf Dinkelrezepte,<br />

Wellness-Elixiere und Heilsteinwissen<br />

heruntergebrochen und vermarktet wird.<br />

Mehr noch, eine Kirchenkritikerin sei sie<br />

gewesen, weiß vor allem die feministische<br />

Theologie anzuführen und in dieser<br />

Eigenschaft wird sie gerne auch von kirchlichen<br />

Reformkreisen vereinnahmt. Dabei<br />

wird gerne vergessen, dass es Hildegard<br />

nicht um die Veränderung von Strukturen<br />

ging, sondern um einen aufrichtigen<br />

Geist der Buße und den tätigen Weg der<br />

Umkehr, wie dies Benedikt XVI. in einer<br />

seiner beiden Katechesen über die Heilige<br />

erläutert hat.<br />

Hildegard, die noch im hohen Alter<br />

auf Predigtreisen durch Deutschland ging,<br />

die sie unter anderem nach Trier, Köln,<br />

Mainz und bis nach Lothringen führten,<br />

geißelte nämlich nicht nur den trägen<br />

und verhurten Klerus ihrer Zeit vor aller<br />

Öffentlichkeit mit überaus harten Worten:<br />

„Ihr seid eine Nacht, die Finsternis ausatmet,<br />

und wie ein Volk, das nicht arbeitet.<br />

Ihr liegt am Boden und seid kein Halt<br />

für die Kirche, sondern ihr flieht in die<br />

Höhle eurer Lust. Und wegen eures ekelhaften<br />

Reichtums und Geizes sowie anderer<br />

Eitelkeiten unterweist ihr eure Untergebenen<br />

nicht. Ihr solltet eine Feuersäule<br />

sein, den Menschen vorausziehen und sie<br />

aufrufen, gute Werke zu tun.“ Mit ebensolcher<br />

Vehemenz predigte diese Frau<br />

vatican 6-7|2012 11


titel-thema<br />

Die sechs Schöpfungstage und die<br />

Erschaffung <strong>des</strong> Menschen. Ebenfalls<br />

aus „Scivias“, Rupertsberger Codex.<br />

gegen die Katharer an, die angesichts der<br />

Verweltlichung und <strong>des</strong> Verfalls im Klerus<br />

immer mehr Zulauf für ihre engstirnige<br />

Vorstellung von der „Kirche der Reinen“<br />

bekamen.<br />

Es ist <strong>des</strong>halb kein Zufall, dass Benedikt<br />

XVI. diese Frau, dieses <strong>Kernkraftwerk</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Heiligen</strong> <strong>Geistes</strong>, nun offiziell heilig<br />

gesprochen hat, obwohl sie schon immer<br />

als Heilige verehrt worden ist, und sie,<br />

zusammen mit Johannes von Avila, noch<br />

in diesen Jahr zum Lehrer der universalen<br />

Kirche erhebt. Immer wieder hat er<br />

seine Wertschätzung, ja seine Verehrung<br />

für ihre Persönlichkeit, ihre Wirkung, ihre<br />

12 vatican 6-7|2012<br />

fotos: dpa


Kühnheit und ihren Mut ausgedrückt. Im<br />

Jahre 1994 sandte Kardinal Joseph Ratzinger<br />

eine Grußbotschaft zum Hildegard-<br />

Symposium in Wiesbaden und schrieb<br />

unter anderem: „Heute steht Hildegard<br />

in ihrer ganzen kühnen Universalität vor<br />

uns. Wir fühlen uns angesprochen durch<br />

ihre liebevolle Zuwendung zu den heilenden<br />

Kräften der Schöpfung wie durch ihre<br />

vielseitige künstlerische Begabung, vor<br />

allem aber durch ihre eindringliche Glaubensverkündigung;<br />

sie ist uns daher nahe<br />

als eine Frau, die Christus in seiner Kirche<br />

liebte, aber nichts von Weltfremdheit oder<br />

Ängstlichkeit zeigt, sondern gerade von<br />

ihrer Berührung mit dem Geheimnis Gottes<br />

her ihrer Zeit das rechte Wort furchtlos<br />

und frei zu sagen vermochte.“<br />

Dass dieses „rechte Wort“ aus der<br />

Berührung mit dem Geheimnis Gottes<br />

auch unserer Zeit noch Gewaltiges zu<br />

sagen vermag, hat uns der Heilige Vater<br />

wieder zu Bewusstsein gebracht, indem<br />

er anlässlich <strong>des</strong> Weihnachtsempfangs für<br />

die Kardinäle und die römische Kurie am<br />

20. Dezember 2010, dem Jahr, in dem der<br />

Missbrauchsskandal seinen vorläufigen<br />

Höhepunkt erreichte, eine Vision Hildegards<br />

zitiert und interpretiert. Sie findet<br />

sich in einem Brief an Werner von Kirchheim<br />

und <strong>des</strong>sen Priestergemeinschaft,<br />

die sie bei ihrer letzten Missionsreise um<br />

das Jahr 1170 – sie stirbt 1179 – in Schwaben<br />

besucht hatte. Werner von Kirchheim<br />

hatte gebeten, ihre dort gehaltene Rede<br />

nochmals schriftlich für ihn und seine<br />

Mitbrüder festzuhalten. Es ist eine Schau<br />

aus dem gleichen Jahr, während dem sie<br />

eine Krankheit durchzustehen hatte. Vor<br />

ihren Augen ersteht eine unerhört schöne<br />

Frau, mit leuchtendem Antlitz und einer<br />

Gestalt, die von der Erde bis zum Himmel<br />

hinaufragt. Sie trägt ein strahlen<strong>des</strong><br />

Gewand aus weißer Seide, einen Mantel,<br />

mit Edelsteinen besetzt, und Schuhe<br />

aus Onyx. Doch das Antlitz der herrlichen<br />

Frau ist befleckt, ihre Kleidung zerfetzt,<br />

die Schuhe besudelt. Sie klagt und schreit<br />

<strong>des</strong>wegen zum Himmel:<br />

„Und weiter sprach sie: Im Herzen <strong>des</strong><br />

Vaters war ich verborgen, bis der Menschensohn,<br />

in Jungfräulichkeit empfangen<br />

und geboren, sein Blut vergoss. Mit<br />

diesem Blut, als seiner Mitgift, hat er<br />

mich sich vermählt. Die Wundmale meines<br />

Bräutigams bleiben frisch und offen,<br />

solange die Sündenwunden der Menschen<br />

offen sind. Eben dieses Offenbleiben der<br />

Wunden Christi ist die Schuld der Priester.<br />

Mein Gewand zerreißen sie dadurch,<br />

dass sie Übertreter <strong>des</strong> Gesetzes, <strong>des</strong> Evangeliums<br />

und ihrer Priesterpflicht sind.<br />

Meinem Mantel nehmen sie den Glanz,<br />

da sie die ihnen auferlegten Vorschriften<br />

in allem vernachlässigen. Sie beschmutzen<br />

meine Schuhe, da sie die geraden,<br />

das heißt die harten und rauen Wege der<br />

Gerechtigkeit nicht einhalten und auch<br />

ihren Untergebenen kein gutes Beispiel<br />

geben.“<br />

Der Papst erläutert diese Vision Hildegards<br />

vor den Kardinälen und der Kurie,<br />

knapp 840 Jahre nach der Niederschrift<br />

dieses Gesichts, und es ist so aktuell und<br />

zeitlos wie nie zuvor: „Das Gesicht der<br />

Kirche ist in der Vision der heiligen Hildegard<br />

mit Staub bedeckt, und so haben<br />

wir es gesehen. Ihr Gewand ist zerrissen –<br />

durch die Schuld der Priester. So, wie sie<br />

es gesehen und gesagt hat, haben wir es<br />

in diesem Jahr erlebt. Wir müssen diese<br />

Demütigung als einen Anruf zur Wahrheit<br />

und als einen Ruf zur Erneuerung<br />

annehmen. Nur die Wahrheit rettet. Wir<br />

müssen fragen, was wir tun können, um<br />

geschehenes Unrecht so weit wie möglich<br />

gutzumachen. Wir müssen fragen, was in<br />

unserer Verkündigung, in unserer ganzen<br />

Weise, das Christsein zu gestalten, falsch<br />

war, dass solches geschehen konnte. Wir<br />

müssen zu einer neuen Entschiedenheit<br />

<strong>des</strong> Glaubens und <strong>des</strong> Guten finden. Wir<br />

müssen zur Buße fähig sein. Wir müssen<br />

uns mühen, in der Vorbereitung zum<br />

Priestertum alles zu versuchen, damit solches<br />

nicht wieder geschehen kann.“<br />

Mit der Kanonisierung Hildegards im<br />

Mai 2012 hat der Heilige Vater offiziell<br />

gemacht, was alle schon immer wussten<br />

und geglaubt haben: Dass die Äbtissin und<br />

Gründerin von Rupertsberg und Eibingen<br />

eine Heilige ist. Zugleich aber zeigt diese<br />

Geste die andächtige Verbeugung eines<br />

zarten, weißhaarigen Mannes vor der<br />

größten intellektuellen Frau ihres Zeitalters.<br />

Nicht zuletzt bedeutet dieses Dekret<br />

auch die anerkennende Würdigung einer<br />

großartigen Verbündeten, die bereits vor<br />

achthundert Jahren einen feurigen Kampf<br />

für die heilige Kirche führte – es ist derselbe,<br />

den dieser Papst entschlossen aufgenommen<br />

hat.<br />

vatican 6-7|2012 13<br />

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