23.12.2012 Aufrufe

Informationen & Kontext - Medizinische Psychologie Uni Freiburg

Informationen & Kontext - Medizinische Psychologie Uni Freiburg

Informationen & Kontext - Medizinische Psychologie Uni Freiburg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Dr. Götz Fabry<br />

Vorlesung <strong>Medizinische</strong> <strong>Psychologie</strong><br />

07.11.2012 Das ärztliche Gespräch I: Anamnese<br />

Auf die besondere Bedeutung, welche die Kommunikation in der Arzt-Patienten-Beziehung hat, wurde<br />

bereits in der letzten Stunde verwiesen. In dieser und der kommenden Vorlesung sollen zwei besonders<br />

wichtige Beispiele des kommunikativen Handelns in der Medizin herausgestellt werden, die ärztliche<br />

Anamnese und das Informationsgespräch.<br />

Trotz (oder wegen?) der großen Bedeutung der Kommunikation für das ärztliche Handeln gibt es genau<br />

hier auch viele Probleme. So zeigen sich nicht nur im Alltag, sondern auch in wissenschaftlichen Studien<br />

immer wieder Defizite in der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten. Aufschlussreich sind z.B.<br />

die Ergebnisse der „Eurocommunication-Study“, bei der in sechs europäischen Ländern die Kommunikation<br />

in der Hausarztpraxis untersucht wurde. Dabei wurde festgestellt, dass die Dauer der Gespräche,<br />

die insgesamt bei gut 10 min liegt (Folie 1), nirgendwo so kurz ist, wie in Deutschland. Dafür gibt<br />

es eine ganze Reihe von Gründen, die zum einen mit verschiedenen Aspekten des Gesundheitssystems<br />

zusammenhängen, zum anderen aber auch mit dem Verhalten des Arztes und Charakteristika des Patienten<br />

(Folie 2).<br />

Folie 1<br />

Folie 2<br />

Zeit in<br />

Minuten<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

10,7<br />

Konsultationsdauer in europäischen<br />

Allgemeinarztpraxen<br />

Eurocommunication-Study (Durchschnittswerte)<br />

15,6<br />

15,0<br />

10,2<br />

Gesamt CH B NL GB ES D<br />

BMJ 325, 2002<br />

© Dr. Götz Fabry, Abteilung für <strong>Medizinische</strong> <strong>Psychologie</strong>, <strong>Freiburg</strong>. www.medizinische-psychologie.de 1 / 10<br />

9,4<br />

7,8 7,6<br />

Determinanten der Gesprächsdauer<br />

fördernde Faktoren:<br />

• freier Zugang zu<br />

Facharztversorgung<br />

• hohe Hausarztdichte<br />

• städtisches Milieu<br />

• erkennbares Interesse des Arztes<br />

• Ängstlichkeit des Patienten<br />

• stärkere Einbeziehung des<br />

Patienten<br />

• höheres Alter<br />

• Beeinträchtigung bei<br />

Alltagsbewältigung<br />

• psychosoziale Probleme<br />

• chronische Erkrankungen.<br />

hindernde Faktoren:<br />

• hohe Arbeitsbelastung<br />

• direktives Arztverhalten<br />

• häufige Arztbesuche<br />

Zwei weitere Ergebnisse aus der genannten Studie verdeutlichen diese Zusammenhänge: Wie Folie 3 zu<br />

entnehmen ist, haben deutsche Hausärzte fast dreimal so viele Patientenkontakte pro Woche wie<br />

etwa ihre Schweizer Kollegen. Es ist naheliegend, dass die oben berichtete kurze Gesprächsdauer eine<br />

direkte Folge dieser erhöhten Arbeitsbelastung ist. Zudem zeigt sich auch, dass die Patientenzentrierung<br />

(d.h. eine Gesprächsführung, die sich in erster Linie am Patienten orientiert) der deutschen Haus-


ärzte weniger stark ausgeprägt ist, als die ihrer Kollegen in den anderen Ländern der Studie (Folie 4).<br />

Auch hierfür könnte in erster Linie der große Zeitdruck eine Rolle spielen, etwa weil viele Ärzte der Meinung<br />

sind, dass ein Gespräch, an dem der Patient stärker beteiligt wird, zuviel Zeit in Anspruch nehmen<br />

würde, die aufgrund der Rahmenbedingungen nicht zur Verfügung steht.<br />

Folie 3<br />

Folie 4<br />

Arbeitsbelastung* von Hausärzten<br />

© Dr. Götz Fabry, Abteilung für <strong>Medizinische</strong> <strong>Psychologie</strong>, <strong>Freiburg</strong>. www.medizinische-psychologie.de 2 / 10<br />

?<br />

* Anzahl Sprechstundengespräche/Woche<br />

+ 2xHausbesuche + 0,5xTelefonberatung<br />

Patientenzentrierung im<br />

ärztlichen Gespräch<br />

?<br />

Bahrs, GGW 1/2003<br />

Bahrs, GGW 1/2003<br />

Allerdings zeigen empirische Studien, dass die Vorstellung, ein gutes Gespräch erfordere unbedingt auch<br />

mehr Zeit oder umgekehrt, dass ein länger dauerndes Gespräch automatisch besser bewertet werde,<br />

nicht zutreffend ist. Wie die in Folie 5 dargestellten Ergebnisse einiger empirischer Studien zeigen, ist es<br />

vor allem die Intensität des Gesprächs, welche die Bewertung beeinflusst. Haben die Patienten mehr<br />

Gelegenheit, ihr Anliegen aktiv einzubringen, wird ihnen im Gespräch (relativ) mehr Raum gegeben,<br />

dann sind aber auch ihre Ärzte zufriedener mit dem Gespräch. Erstaunlicherweise sind solche Gespräche<br />

häufig sogar kürzer als negativ bewertete. Außerdem zeigt sich, dass es nicht unbedingt auf die Menge<br />

der Information ankommt. Wurden die Patienten vor den Gesprächen mittels eines Fragebogen (der<br />

dann als Grundlage des Gesprächs diente) nach ihrem Anliegen befragt, dann wurde zwar mehr besprochen,<br />

was auch die Dauer des Gesprächs verlängerte, die Zufriedenheit der Patienten nahm aber trotzdem<br />

ab.


Folie 5<br />

Ein gutes Gespräch braucht seine<br />

Zeit, aber...<br />

• positiv bewertete Gespräche (A & P):<br />

– kürzer als negativ bewertete<br />

– mehr Zeit für Vorstellungen und Anliegen des Patienten<br />

• Schulung: Patienten fragen mehr, bringen Anliegen aktiv ein:<br />

– Intensität erhöht (mehr Interaktion)<br />

– Gesprächsdauer unverändert<br />

• Fragebogen zu Anliegen d. Pat. vor Gespräch:<br />

– mehr besprochen<br />

– Dauer des Gesprächs nahm zu<br />

– Zufriedenheit der Patienten nahm tendenziell ab<br />

(Fam Prac 9(1):61-66, 1992)<br />

(J Gen Intern Med 3:448-57, 1988)<br />

(J Gen Intern Med 12:597-606, 1992)<br />

Die Anamnese (griech.: anamnesis = Wiedererinnerung) ist eines der zentralen Elemente ärztlichen<br />

Handelns. Sie versorgt den Arzt nicht nur mit den für die Auswahl von diagnostischen und therapeutischen<br />

Maßnahmen notwendigen <strong>Informationen</strong> (Informationsaspekt), sondern sie begründet überhaupt<br />

erst die Arbeitsbeziehung zwischen Arzt und Patient (Kooperationsaspekt). Schließlich hat sie<br />

mehr oder weniger deutlich auch eine entlastende, therapeutische Funktion, indem nämlich durch das<br />

Gespräch mit dem Arzt der Patient in einen Diskurs über ein ihm rätselhaftes, ihn beunruhigendes körperliches<br />

und/oder seelisches Geschehen eintritt, für das der Arzt Erklärungen anbieten kann (therapeutischer<br />

Aspekt). Diese drei Aspekte sind eng miteinander verflochten. Inwieweit die Anamnese<br />

zugleich eine tragfähige Arbeitsbeziehung begründen und therapeutische Wirkung entfalten kann, wird<br />

zu großen Teilen davon abhängen, welche Fragen der Arzt dem Patienten stellt und wie er dies tut. Dazu<br />

gehört z.B. ob der Arzt den Patienten lediglich als den Träger einer noch näher zu bestimmenden Krankheit<br />

sieht oder als einen kranken Menschen, der in einer Notsituation Hilfe sucht. Vieles hängt dabei von<br />

einer guten Gesprächsführung ab, einer ärztlichen Fertigkeit also, die man genauso erlernen kann<br />

(und muss!), wie Knochenbrüche zu gipsen oder ein Ultraschallgerät zu bedienen. Leider bestehen in<br />

dieser praktischen Hinsicht derzeit noch erhebliche Defizite im Medizinstudium, so dass es weitgehend<br />

der Verantwortung und Initiative der einzelnen Studierenden aufgegeben bleibt, sich zu einem kompetenten<br />

Gesprächspartner für die Patienten auszubilden.<br />

Im Hinblick auf die Informationsfunktion ist es wichtig sich zu verdeutlichen, dass die Anamnese nicht<br />

nur <strong>Informationen</strong> im Sinne von Beschwerden und Symptomen des Patienten liefert, sondern darüber<br />

hinaus auch noch wichtige Hinweise, in welchem <strong>Kontext</strong>, vor welchem Hintergrund diese Beschwerden<br />

aufgetreten sind. Diese Unterscheidung ist deshalb besonders wichtig, weil Symptome praktisch immer<br />

vieldeutig sind, wie das Fallbeispiel in Folie 6 verdeutlicht.<br />

Folie 6<br />

Fallbeispiel<br />

Frau R, eine 24jährige <strong>Psychologie</strong>studentin, war<br />

zuletzt vor 5 Jahren wegen einer Erkältung in der<br />

Praxis.<br />

Die sonst sehr lebendige und unternehmungslustige<br />

Frau klagt jetzt über seit etwa einem halben Jahr<br />

bestehende Motivations- und Lustlosigkeit, Müdigkeit<br />

und Appetitlosigkeit, dennoch habe sie in den letzten<br />

3 Monaten etwa 5 kg an Gewicht zugenommen.<br />

Ihr Freund, mit dem sie über zwei Jahre zusammen<br />

war, hat sie vor einem Vierteljahr verlassen.<br />

Liebeskummer?<br />

schwanger?<br />

Depression?<br />

Schilddrüse?<br />

© Dr. Götz Fabry, Abteilung für <strong>Medizinische</strong> <strong>Psychologie</strong>, <strong>Freiburg</strong>. www.medizinische-psychologie.de 3 / 10


Wie diese Symptome letztendlich interpretiert werden, hängt von der Hypothese ab, die der Arzt im<br />

Gespräch mit der Patientin entwickelt. Diesen Zusammenhang verdeutlichen die Folien 7 und 8 anhand<br />

eines Beispiels. Die in Folie 7 gezeigte Figur kann ganz unterschiedlich interpretiert werden. Man könnte<br />

sie als eine etwas ungewöhnliche Form des Buchstabens „A“ interpretieren, näher läge vielleicht der<br />

Buchstabe „H“, möglich wäre aber auch an eine Leiter zu denken oder an ein paar Mauern, die von oben<br />

betrachtet werden. Während die Figur allein also viele Bedeutungen annehmen kann, wird ihre Bedeutung<br />

deutlicher festgelegt, wenn ein bestimmter <strong>Kontext</strong> dazukommt, was in Folie 8 zu sehen ist. Jetzt<br />

würden wir die Figur einmal als ein „A“ und einmal als ein „H“ interpretieren.<br />

Folie 7<br />

Folie 8<br />

Was ist das?<br />

<strong>Informationen</strong> & <strong>Kontext</strong><br />

D S<br />

O R n.<br />

Anderson 3 2001<br />

Der <strong>Kontext</strong> ist also letztendlich entscheidend dafür, welche Bedeutung wir dem Zeichen (dem „Symptom“)<br />

jeweils zuweisen. Das gilt auch für die Symptome der Patienten. In einer Studie aus den Niederlanden<br />

hat man diesen Zusammenhang näher untersucht. (Folie 9) Eine Gruppe von ärztlichen Berufsanfängern<br />

wurde dazu mit einer Gruppe erfahrener Hausärzte (Experten also) verglichen. Die Frage war,<br />

wie gut es den Versuchsteilnehmern gelingt, aus den <strong>Informationen</strong> verschiedener (insgesamt 18) Patienten<br />

die richtige Verdachtsdiagnose zu stellen. Dazu wurden ihnen einmal ausführlichere <strong>Informationen</strong><br />

zur Verfügung gestellt (ein Bild der Patientin, ihre Akte mit <strong>Informationen</strong> zu Vorerkrankungen etc. sowie<br />

ihre aktuelle Anamnese), in der Vergleichsbedingung dagegen nur die Anamnese also die aktuelle Beschwerdeschilderung.<br />

Interessant war nun, dass die Hausärzte von den <strong>Kontext</strong>informationen (Bild und<br />

Akte) der Patientin sehr viel besseren Gebrauch machen konnten als die Berufsanfänger. Die Hausärzte<br />

stellten nämlich, wenn ihnen diese zusätzlichen <strong>Informationen</strong> gegeben wurden, sehr viel häufiger die<br />

richtige Verdachtsdiagnose als nur aufgrund der Beschwerdeschilderung. Die Berufsanfänger konnten<br />

dagegen keinen Nutzen aus diesen <strong>Informationen</strong> ziehen. Diese Ergebnisse lassen zwei Schlüsse zu:<br />

zum einen ist es offensichtlich so, dass sich mit zunehmender Berufserfahrung, die Art und Weise verän-<br />

© Dr. Götz Fabry, Abteilung für <strong>Medizinische</strong> <strong>Psychologie</strong>, <strong>Freiburg</strong>. www.medizinische-psychologie.de 4 / 10


dert, wie Ärzte von <strong>Informationen</strong> Gebrauch machen. Zum anderen wird aber deutlich, dass es nicht nur<br />

die sich direkt auf das Symptom beziehenden <strong>Informationen</strong> sind, die für den diagnostischen Prozess<br />

wichtig sind, sondern dass auch die Hintergrundinformationen, die den <strong>Kontext</strong> ausleuchten, die<br />

Qualität des ärztlichen Denkens und Handelns beeinflussen. Der umfassenden Anamnese kommt in diesem<br />

Prozess eine zentrale Bedeutung zu, weil sie gerade diese Hintergrundinformationen liefern kann.<br />

Folie 9<br />

Anzahl richtiger<br />

Verdachtsdiagnosen<br />

(n/18)<br />

18<br />

15<br />

12<br />

9<br />

6<br />

3<br />

0<br />

Der <strong>Kontext</strong> macht den Unterschied<br />

(Hobus et al. 1988)<br />

4,6<br />

9,9<br />

Fälle mit<br />

<strong>Kontext</strong>information<br />

© Dr. Götz Fabry, Abteilung für <strong>Medizinische</strong> <strong>Psychologie</strong>, <strong>Freiburg</strong>. www.medizinische-psychologie.de 5 / 10<br />

p=.012<br />

p=.13<br />

Berufsanfänger<br />

Hausärzte<br />

(Ø 15 J Berufserfahrung)<br />

3,6<br />

5,6<br />

Fälle ohne<br />

<strong>Kontext</strong>information<br />

Nach diesen eher theoretischen Überlegungen zum Stellenwert der Anamnese geht es in den folgenden<br />

Abschnitten vor allem um die Gesprächspraxis.<br />

Obwohl es unmittelbar einleuchtend ist, dass ein so wichtiges Gespräch wie die Anamnese einen störungsfreien<br />

und diskreten Rahmen braucht, kann man sich leicht davon überzeugen, dass die Praxis<br />

vielerorts alles andere als optimal ist. Noch viel zu häufig existiert z.B. auf Stationen im Krankenhaus<br />

kein eigenes Untersuchungszimmer und die Gespräche mit den Patienten müssen im Mehrbettzimmer<br />

oder auf dem Flur geführt werden. Auch die namentliche Begrüßung des Patienten, bei der sich der<br />

Arzt seinerseits mit Namen und Funktion vorstellt, scheint alles andere als selbstverständlich zu sein.<br />

Gerade in Kliniken kann es leicht passieren, dass Patienten innerhalb von wenigen Tagen von mehreren<br />

Ärzten befragt, untersucht und behandelt werden, ohne dass sie im Einzelfall wissen, mit wem sie es<br />

eigentlich zu tun haben! Zu den Rahmenbedingungen gehört auch, dem Patienten vorab eine klare Vorstellung<br />

davon zu geben, wie lange das Gespräch dauern wird und welchem Zweck es dient (z.B.: „Guten<br />

Tag Herr Maier, mein Name ist Fabry, ich bin als Arzt für Sie auf der Station hier zuständig. Ich<br />

möchte mit ihnen jetzt zuerst mal darüber sprechen, warum sie überhaupt zu uns gekommen sind. Wir<br />

haben dafür ungefähr eine halbe Stunde Zeit, anschließend werde ich sie noch körperlich untersuchen.“)<br />

Folie 10<br />

Anamnese: Gesprächseröffnung<br />

• Entscheidungsfrage: „Sie kommen wegen ihrer<br />

Kreuzschmerzen?“<br />

• inhaltliche Aufforderung: „Schildern sie bitte ihre<br />

Beschwerden!“<br />

• inhaltliche Frage: „Was fehlt ihnen denn?“<br />

• rituell-offene Frage: „Wie geht es ihnen?“<br />

• offene Frage: „Was führt sie zu mir?“<br />

• offene Aufforderung: „Nun erzählen sie mal!“<br />

• zur-Verfügung-Stellen: mimische oder gestische Aktion.<br />

Spranz-Fogasy 1990


Sind die Rahmenbedingungen hergestellt, kann das Gespräch beginnen. Bewährt hat sich eine Gesprächseröffnung,<br />

die dem Patienten möglichst viel Raum lässt, seine eigene Sicht der Dinge darzustellen,<br />

etwa durch die in Folie 10 mit einem Pfeil gekennzeichneten Verhaltensweisen.<br />

Für den weiteren Verlauf des Gesprächs ist neben situativen, krankheitsspezifischen und persönlichkeitsbezogenen<br />

Faktoren des Patienten die Fragetechnik des Arztes von entscheidender Bedeutung. Folie<br />

11 zeigt, was eine gute Frage ausmacht.<br />

Folie 11<br />

Was ist eine gute Frage?<br />

• Gute Fragen sind unmißverständlich formuliert.<br />

„War der Stuhlgang mal schwarz?“ statt „Hatten Sie Teerstuhl?“<br />

„Hatten Sie Sehstörungen?“ statt „Irgendwelche Sehstörungen<br />

haben Sie nicht gehabt?“<br />

• Gute Fragen fördern die Bereitschaft des Patienten zu antworten.<br />

„Wie kamen Sie mit der Diät zurecht?“ statt „Haben Sie die<br />

vereinbarte Diät denn nun eingehalten?“<br />

• Gute Fragen erbringen neue <strong>Informationen</strong>.<br />

„Was haben Sie...“, „Wie haben Sie...“ statt „Sie haben doch<br />

sicher...“<br />

Formal können offene und geschlossene Fragen unterschieden werden (Folie 12). Wie schon anhand<br />

dieser Übersicht deutlich wird, ist eine einfache Bewertung (etwa: „offene Fragen sind besser als geschlossene<br />

Fragen“) nicht sinnvoll, vielmehr kommt es darauf an, sich die Vorteile beider Fragetypen an<br />

entsprechenden Stellen im Gespräch zunutze zu machen. Das kann z.B. mittels des in Folie 13 bildhaft<br />

dargestellten sogenannten „Trichterprinzips“ geschehen: zu Beginn des Gespräch kommen vor allem<br />

offene Fragen, sowie patientengeleitetes Nachfragen zum Einsatz, gegen Ende wird man ohne geschlossene<br />

Fragen und wissensgeleitete Exploration vermutlich nicht auskommen.<br />

Folie 12<br />

offene Fragen:<br />

Def.: Antwort frei<br />

Bsp.: „Was führt Sie zu mir?“<br />

Vorteile:<br />

• Pat. kann selbständig schildern<br />

• aktivieren den Pat.<br />

• Pat. kann persönliches Erleben<br />

schildern<br />

• können in kurzer Zeit viele Daten<br />

liefern<br />

• bekunden dem Pat. die persönliche<br />

Zuwendung des Arztes<br />

• erleichtern es dem Arzt, den Pat. zu<br />

verstehen<br />

Nachteile:<br />

• Pat. kommt evtl. vom Hundertsten<br />

ins Tausendste.<br />

geschlossene Fragen:<br />

Def.: Antwort Ja/Nein, ein Wort<br />

Bsp.: „Haben Sie Kopfschmerzen?“,<br />

„Soll ich Ihnen Tabletten<br />

verschreiben oder Tropfen?“<br />

Vorteile:<br />

• liefern rasch Information<br />

• hindern den Pat. auszuschweifen<br />

• führen Pat. zum Thema zurück<br />

Nachteile:<br />

• schränken Antwortmöglichkeiten<br />

stark ein<br />

• Pat. kann passiv werden<br />

• können erwünschte oder<br />

pseudopräzise Antworten liefern<br />

• Pat. kann sich ausgefragt fühlen<br />

• Arzt muß immer neue Fragen<br />

stellen.<br />

© Dr. Götz Fabry, Abteilung für <strong>Medizinische</strong> <strong>Psychologie</strong>, <strong>Freiburg</strong>. www.medizinische-psychologie.de 6 / 10


Folie 13<br />

Das Trichterprinzip<br />

(Verdachts-)<br />

Diagnose<br />

patientengeleitet<br />

offene Fragen<br />

wissensgeleitet<br />

geschlossene Fragen<br />

nach Huppmann & Silbernagel 1991<br />

Beim Formulieren von Fragen gilt es einige grundlegende Regeln zu beachten, die in Folie 14 zusammengefasst<br />

sind.<br />

Folie 14<br />

Merksätze: Fragetechnik<br />

1. Vermeiden Sie möglichst unvermittelte Fragen.<br />

2. Begründen Sie - wenn möglich - Ihre Fragen.<br />

3. Verzichten Sie stets auf Mehrfachfragen.<br />

Unvermittelte Fragen, deren Hintergrund für den Patienten unklar bleibt, sind aus mehreren Gründen<br />

ungünstig. Zum einen geht die Initiative für den weiteren Gesprächsverlauf durch solchen Frage auf den<br />

Arzt über, da nur er weiß, warum er diese Frage gestellt hat und welche Frage als nächstes folgen muss.<br />

Da der Patient zudem nicht weiß, auf was es dem Arzt ankommt, fällt seine Antwort vielleicht weniger<br />

präzise und umfassend aus, als wenn er nachvollziehen kann, welche <strong>Informationen</strong> für den Arzt<br />

wichtig sind. Die Beispiele in Folie 15 und 16 illustrieren diese beiden Möglichkeiten: Auf die Erzählung<br />

der Patientin reagiert der Arzt einmal „wissensgeleitet“ (Folie 15) (das heißt vor dem Hintergrund seines<br />

medizinischen Wissens, das ihn vermuten lässt, die Patientin könnte z.B. einen Infekt haben, zu dem<br />

auch Erbrechen und Durchfall gehören oder dass die Beschwerden durch drohende Arbeitslosigkeit bedingt<br />

sind). Auf Folie 16 sind dagegen Beispiele für „patientengeleitete“ Fragen zu sehen (das heißt,<br />

der Arzt greift auf, was die Patientin gerade erzählt hat und regt sie damit an, das eben Gesagte zu<br />

präzisieren). Im ersten Fall werden nach der Antwort der Patientin („ja“ oder „nein“) weitere<br />

symptomorientierte Fragen folgen müssen, die den Verdacht auf einen Magen-Darm-Infekt erhärten<br />

können oder auch nicht. Dagegen bietet der Arzt mit dem zweiten Vorgehen der Patientin die Möglichkeit,<br />

diese Ereignisse weiter zu erläutern. Die Chance, dass dabei auch zusätzliche <strong>Informationen</strong> über<br />

das aktuelle Krankheitsgeschehen geäußert werden ist groß, vor allem aber hat die Patientin die Möglichkeit,<br />

ihre Sichtweise näher zu erläutern. Der Arzt kann damit besser abschätzen, welche Rolle z.B.<br />

psychosoziale Faktoren für das Krankheitsgeschehen und seinen Verlauf spielen. Folie 15 fasst die<br />

Unterschiede zwischen wissens- und patientengeleiteten Fragen zusammen.<br />

© Dr. Götz Fabry, Abteilung für <strong>Medizinische</strong> <strong>Psychologie</strong>, <strong>Freiburg</strong>. www.medizinische-psychologie.de 7 / 10


Folie 15<br />

Folie 16<br />

Folie 17<br />

Anamnese<br />

wissensgeleitetes Nachfragen<br />

P.: „mir ist unheimlich schlecht.“<br />

A.: „haben sie auch erbrochen?“<br />

P.: „nee.“<br />

A.: „Stuhlgang ist normal?“<br />

P.: „die letzte Zeit werd‘ ich urplötzlich todmüde ... Und dann<br />

könnt‘ ich einschlafen und leichte Übelkeit hab ich auch<br />

oft...“<br />

A.: „sie sind bei der Firma Düncker, ne?“<br />

A.: „für ihren Arbeitsplatz müssen sie nicht fürchten?“<br />

P.: „...im Moment habe ich die Aussetzer und Magen-Darm Störungen...“<br />

A.: „...wenn sie sagen Aussetzer, was verstehen sie darunter?“<br />

P.: „...dann krieg ich immer die Schmerzen...“<br />

A.: „...wie sind denn diese Schmerzen?“<br />

P.: „...also mir macht das am meisten Schwierigkeiten, dass ich mich so<br />

konzentrieren muss, um - um....“<br />

A.: „...um zu funktionieren?“<br />

P.: „ja“<br />

Anamnese:<br />

patientengeleitetes Nachfragen<br />

Anamnese: Fragetechnik<br />

wissensgeleitet<br />

(Komplettierungsfragen):<br />

+ erlauben differentialdiagnostische<br />

Überlegungen<br />

+ demonstrieren die<br />

Kompetenz des Arztes (?)<br />

– Arzt dominiert das Gespräch<br />

– Patient weiß oft nicht,<br />

worauf der Arzt hinaus will<br />

patientengeleitet<br />

(Präzisierungsfragen):<br />

+ direkter Bezug zur<br />

Patientenäußerung<br />

+ nähere oder genauere<br />

Beschreibung dessen, was<br />

der Patient gesagt hat<br />

+ Gesprächsinitiative bleibt<br />

beim Patienten.<br />

S pranz-Fog asy 19 90<br />

© Dr. Götz Fabry, Abteilung für <strong>Medizinische</strong> <strong>Psychologie</strong>, <strong>Freiburg</strong>. www.medizinische-psychologie.de 8 / 10


Neben Fragen gibt es natürlich andere Aspekte, die ein gutes Gespräch ausmachen. Folie 18 führt einige<br />

sogenannte „Gesprächsförderer“ auf, d.h. Verhaltensweisen, welche den Patienten ermutigen, sich<br />

aktiv am Gespräch zu beteiligen.<br />

Folie 18<br />

Folie 19<br />

Gesprächsförderer<br />

Ermuntern „mhm“, „ja“, „erzählen Sie bitte weiter“<br />

Mimik, Gestik<br />

offenes<br />

Nachfragen<br />

P: „Mir war ganz schwindelig.“<br />

A: „Wie war das denn für Sie?“<br />

Wiederholen P: „Ich hab‘ solche Angst vor den Tabletten.“<br />

A: „Sie haben Angst...“<br />

Umschreiben P: „Da muss ich mich wirklich überwinden.“<br />

A: „Sie müssen da gegen innere Widerstände ankämpfen...“<br />

Zusammenfassen A: „Wir sind uns also einig, daß sie das neue Medikament<br />

zunächst eine Woche lang einnehmen und während dieser<br />

Zeit ihren Blutdruck selbst messen.“<br />

emotionale<br />

Inhalte<br />

ansprechen<br />

P: „Ich hatte so große Hoffnung in die Tabletten gesetzt und<br />

jetzt sind die Schmerzen immer noch da.“<br />

A: „Sie sind von der Behandlung enttäuscht.“<br />

Gesprächsstörer<br />

Patient: „Alle Blutdrucktabletten haben ja Nebenwirkungen, gell?“<br />

• Bagatellisieren: „Sie brauchen sich da keine Gedanken zu<br />

machen. Ich verschreibe Ihnen schon nichts, was Ihnen<br />

schaden könnte!“<br />

• Diagnostizieren: „Sie sind wohl ein eher ängstlicher Mensch.“<br />

• Interpretieren: „ Ihre Befürchtungen werden nur durch die<br />

Medien erzeugt, die heutzutage soviel über Nebenwirkungen<br />

berichten.“<br />

• vorschnelle Ratschläge / Lösungen: „Nehmen Sie die<br />

Tabletten einfach mal eine Zeitlang, dann werden Sie sehen,<br />

dass sie Ihnen nicht schaden.“<br />

Genauso wie es gesprächsförderliche Verhaltensweisen gibt, gibt es auch gesprächsstörendes Verhalten,<br />

wie die Beispiele in Folie 19 verdeutlichen. Bei jeder dieser Reaktionen wird das eigentliche Anliegen<br />

des Patienten, nämlich über seine Angst vor den Nebenwirkungen zu sprechen, verfehlt. Die Gefahr ist<br />

groß, dass ein Patient, der so behandelt wird, die Therapie nicht so umsetzt, wie es vom Arzt gedacht<br />

ist. Diese sogenannte „Non-Compliance“ ist ein außerordentlich häufig auftretendes Problem, dem wie<br />

man an diesen Beispielen sieht, häufig Kommunikationsprobleme zugrunde liegen.<br />

Zusammenfassung:<br />

Das Anamnesegespräch umfasst Informations-, Kooperations- und therapeutische Aspekte. Um Patienten<br />

möglichst aktiv am Gespräch zu beteiligen und Vertrauen zu schaffen, hat sich ein patientengeleitetes<br />

Vorgehen bewährt, d.h. die Gesprächsinitiative möglichst lange dem Patienten zu überlassen und<br />

Nachfragen so weit wie möglich an seinen Äußerungen zu orientieren.<br />

© Dr. Götz Fabry, Abteilung für <strong>Medizinische</strong> <strong>Psychologie</strong>, <strong>Freiburg</strong>. www.medizinische-psychologie.de 9 / 10


Literatur:<br />

- Beckman HB, Frankel RM (1984): The effect of physician behavior on the collection of data. Annals of Internal<br />

Medicine 101:692-696.<br />

- Bickley LS, Hoeckelman, RA: Bates Guide to Physical Examination and History Taking. Philadelphia (Lippincott,<br />

Williams & Wilkens) 10 2008. (Das Buch gibt es auch auf Deutsch im Thieme Verlag, scheint aber gerade vergriffen<br />

zu sein...)<br />

- Geisler L: Arzt und Patient, Begegnung im Gespräch. Frankfurt (PMI) 5 2008.<br />

- Huppman G, Silbernagel W: Patienten führen, Compliance fördern. Würzburg (Königshausen und Neumann)<br />

1991.<br />

- Marvel MK, Epstein RM, Flowers K, Beckman HB (1999): Soliciting the patient’s agenda. Have we improved?<br />

JAMA 281(3): 283-287.<br />

© Dr. Götz Fabry, Abteilung für <strong>Medizinische</strong> <strong>Psychologie</strong>, <strong>Freiburg</strong>. www.medizinische-psychologie.de 10 / 10

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!