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Go 14/2019

Zwölf wahre Reportagen über Lügen. Die Geschichten beleuchten die ganze Lügenpalette: von den verschwiege-nen Wahrheiten in Familien bis zur Münchhausenschen Lust, die Unwahrheit zu erzählen.

Zwölf wahre Reportagen über Lügen.
Die Geschichten beleuchten die ganze Lügenpalette: von den verschwiege-nen Wahrheiten in Familien bis zur Münchhausenschen Lust, die Unwahrheit zu erzählen.

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GO #14.2019

Mit einer Decke verleugnet sich Julius zum

ersten Mal. Er liegt im Bett, neben ihm

ein junger Mann. Laute Musik schallt

aus dem Wohnzimmer nebenan. Fünfzig

Studenten drängen sich an diesem

Abend im Juli 2016 in seine Zweizimmerwohnung im

Dachgeschoss. Die Kleidung klebt an ihren Körpern, die

Gesichter verschwimmen im schummrigen Licht — zu

viel Sangria, zu wenig frische Luft. Gegen drei Uhr klopfen

ein paar Gäste an seiner Zimmertür, sie wollen ihre

Jacken. Julius wirft die Bettdecke über den Mann an

seiner Seite. Er darf nicht schwul sein.

Julius hat Angst, dass er erkannt wird, deshalb heißen

alle Personen in diesem Text anders. Zwei Jahre bevor

er auf die Welt kam, wurde der ehemalige Paragraph

175 abgeschafft, nach dem homosexuelle Männer verurteilt

wurden. Julius war vier, als in den Niederlanden,

als erstem europäischen Land, gleichgeschlechtliche

Partner heiraten durften. Als er zur Schule ging, outete

sich der spätere Außenminister Guido Westerwelle.

Heute ist Julius 23. Homosexualität gehört zum Alltag,

zumindest im Fernsehen und auf Netflix. Deutschland

hat die Homo-Ehe anerkannt, doch in der Familie

von Julius wurde nie darüber gesprochen, dass es andere

Formen zu leben und lieben gibt, als in Familien

mit Vater, Mutter und Kind. Seine Eltern würden nicht

akzeptieren, dass ihr einziger Sohn auf Männer steht,

da ist sich Julius sicher. Deshalb pendelt er zwischen

zwei Welten: In seiner Studienstadt führt er sein echtes

Leben; im Dorf spielt er ein anderes.

Rund 400 Einwohner, Nähe zur Schweizer Grenze,

ein Gasthaus, eine Kapelle, zwei Bauernhöfe und viel

Wald. An Schultagen halten vier Busse, am Wochenende

keiner. Homosexuell ist hier nur ein Paar und das

hält sich an eine unausgesprochene Vereinbarung: Ob

Kneipe oder Kirche, Schützenfest oder Feuerwehrball —

öffentlich zeigen die beiden Männer ihre Zuneigung nie.

Das Elternhaus von Julius steht am Ortseingang, bei

Föhnwetter kann man die Luft der Alpen riechen. Im

Garten wachsen Gurken, Tomaten und Kürbisse, frei von

Unkraut. Der Rasen ist gemäht, eine Hecke schützt vor

Blicken, eine Kamera vor Einbrechern. Hier ist er aufgewachsen,

als langersehnter Sohn und Stammhalter — er

soll den Familiennamen weitertragen.

Julius fürchtet, sein Outing könne ähnlich verlaufen,

wie sein Eintritt in die SPD vor zwei Jahren: Erst

Seine Freunde in der

Unistadt wissen, dass

Julius homosexuell ist.

Keiner hat ein Problem

damit.

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