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Go 14/2019

Zwölf wahre Reportagen über Lügen. Die Geschichten beleuchten die ganze Lügenpalette: von den verschwiege-nen Wahrheiten in Familien bis zur Münchhausenschen Lust, die Unwahrheit zu erzählen.

Zwölf wahre Reportagen über Lügen.
Die Geschichten beleuchten die ganze Lügenpalette: von den verschwiege-nen Wahrheiten in Familien bis zur Münchhausenschen Lust, die Unwahrheit zu erzählen.

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GO #14.2019

Der Fremde mustert mich

aus den gleichen hellgrauen

Augen, die meine Großmutter

besitzt, auch seine müssen

einmal blau gewesen sein.

Er nennt sich „der letzte Mohikaner“, ist 70 Jahre alt und lebt oberhalb

der Stadt, nahe eines Wertstoffhofs in einem Container.

Ich kenne den Mohikaner etwa seit ich 13 war. Er begegnete

mir manchmal an der Supermarktkasse oder schlenderte über den

Marktplatz von Lichtenfels, der etwa 11.000 Einwohner kleinen Kreisstadt

meiner Heimat im ländlichen Oberfranken. Zwar war ich abgestoßen

von diesem Mann, der sich schon mittags vor dem Bahnhof

betrank, aber auch fasziniert von seinen Abenteuergeschichten –

Touren mit dem Jeep durch den Norden Afrikas. Zu mehr als flüchtigen

Begegnungen reichte es nie, er blieb ein Fremder.

Bis zu einem Familienbesuch Ende 2018. Onkel, Tante, meine

Großmutter waren zu Gast bei meinen Eltern, Kaffee und Tee standen

auf dem Tisch, dazu Chips und andere Knabbereien. Ich erzählte,

dass ich mal etwas über den „letzten Mohikaner“ schreiben wolle.

Meine Oma reagierte empört: „Dem darfst du nichts glauben. Er ist

ein Lügner und Betrüger. Nichts von dem, was er erzählt, ist je passiert.“

Wieso bist du dir da so sicher? „Das ist mein Bruder.“

Meine Oma hatte seinen Namen, Jochen Hartmann, seit fast 30

Jahren nicht mehr ausgesprochen. Er war für sie gestorben, „gelogen

und gestohlen“ habe dieser „Gauner und Schmarotzer“.

Ich suche im Netz nach Artikeln der Lokalzeitung, speise Google

mit den Begriffen „letzter Mohikaner“ und „Jochen Hartmann“, und

finde mehrere Profile von ihm in den Sozialen Medien.

Jochen Hartmann wohnt in der Krappenrotherstraße 1 in Lichtenfels,

eine Adresse, die eigentlich keine ist. Es ist eine Notunterkunft,

in der Obdachlose wohnen. Mehrmals nehme ich mir vor, zu ihm zu

fahren. Aber ich habe Angst. Einmal fahre ich bis zum Eingang der

Containersiedlung, vorbei an vier blauen Mülltonnen aus denen Abfall

quillt und deren modrig-fauliger Geruch selbst durch geschlossene

Fensterscheiben dringt. Anzuhalten traue ich mich nicht.

Stattdessen rufe ich die Lokalzeitung an. Sie hatte immer mal

wieder über Jochen Hartmann geschrieben. Ein „feiner Kerl“ sei das,

sagt der Redakteur, aber alles glauben dürfe man ihm nicht. Dann

rät er mir: „Geh ihn doch einfach mal besuchen, er wohnt im ersten

Container rechts.“

Meine Eltern wollen das nicht. Woher das Interesse auf einmal

stamme, wollen sie wissen, ich hätte das alles doch schon längst

einmal mitbekommen müssen. Erst als ich verspreche, meine Verwandtschaft

zu verschweigen, beruhigen sie sich. Sie fürchten,

dass „der Asoziale“ vor ihrer Tür auftaucht oder sie bestiehlt, dass er

eindringt in ihren Garten, ihr Haus, ihr Leben. Die Distanz der Jahre

empfinden sie als Schutz.

Schon die Mülltonnen am Eingang zur Container-Siedlung wirken

heruntergekommen, Schmutz klebt auf den Deckeln, Risse ziehen

sich durchs Plastik. Klappstühle, Blumentöpfe, Eisenstangen liegen

verstreut um die anderen vier Wohncontainer, frei bleibt das Gras nur

bei dem vorne rechts. Gegenüber der Eingangstür zur Krappenrother

Straße 1 flattern die Seitenwände eines schwarzen Kunststoff-Pavillons,

Werbegeschenk eines Motorsport-Händlers. Es riecht nach

Alkohol, kaltem Rauch und Einsamkeit — wie eine Party, nachdem der

Letzte sie verlassen hat. Hier lebt er also.

Ich klopfe. Niemand reagiert. Ich klopfe lauter. Kein Laut. Zweimal

umrunde ich den Container und finde zwei Fenster, beide geschlossen.

Vielleicht war das alles eine dumme Idee. Ein letztes Mal

40

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