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Go 14/2019

Zwölf wahre Reportagen über Lügen. Die Geschichten beleuchten die ganze Lügenpalette: von den verschwiege-nen Wahrheiten in Familien bis zur Münchhausenschen Lust, die Unwahrheit zu erzählen.

Zwölf wahre Reportagen über Lügen.
Die Geschichten beleuchten die ganze Lügenpalette: von den verschwiege-nen Wahrheiten in Familien bis zur Münchhausenschen Lust, die Unwahrheit zu erzählen.

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EINE

BUNDESSTRASSE

verläuft nur wenige

Meter Luftlinie neben

dem Containerdorf.

Die weite Welt spielt

nur noch in Hartmanns

Geschichten

eine Rolle.

HARTMANNS

BRUDER will nicht

mit dem Kleinen in

Verbindung gebracht

werden. „Er erzählt

so viele Lügen und

flüchtet sich in

Fantastereien anstatt

etwas zu leisten.“

GO #14.2019

Und doch: Er weiß, dass in Marokko, Algerien und Tunesien viele

Französisch sprechen, „erst in Libyen verstehst du kein Wort mehr.“

Er beschreibt Marktstände in schmalen Gassen, geschützt vor Mittagssonne

durch improvisierte Dächer aus Ästen und Reisig und

erzählt von Feuerschalen, deren Rauch sich mit Gewürzen mischt,

die kein Deutscher kennt. Manche seiner Beschreibungen kenne

ich von Urlaubsfotos meiner Freunde, andere sind mir fremd.

Gibt es Fotos? „Tausende. Aber die hat sich mein großer Bruder

unter den Nagel gerissen“, antwortet Jochen, „und mit meiner

buckligen Verwandtschaft habe ich nichts mehr zu tun.“ Wieso

nicht? „Ach, weißt du, ich war der einzige mit ausgelerntem Beruf

— Bürokaufmann, Abschlussnote 1,2. Ich hatte immer Geld. Das hat

den anderen nie gepasst.“

Von Oma kenne ich eine andere Version der Vergangenheit: Jochen

habe mehrere Lehren begonnen, aber keine zu Ende gebracht.

Geld habe er nie besessen. Während sie früh geheiratet und in der

Buchhaltung der Mützenfabrik ihres Mannes, meines Opas, mitgeholfen

habe, sei ihr um zwei Jahre jüngerer Bruder Wolfgang, den ich

heute als „Onkel Wolfgang“ kenne, Pächter einiger Wirtschaften geworden.

Jochen sei mit noch einmal vier Jahren Abstand der Kleinste

gewesen, er habe sich vom Ferien- zu Aushilfsjob durchgeschlagen

und alles ausgegeben, um Freunde zum Umtrunk einzuladen.

Wie Jochen unter der Mohikaner-Flagge auf seinem Bett sitzt,

mit gekrümmtem Rücken und umgeben von Wäsche, Schmutz und

leeren Bierflaschen, fällt es mir schwer, seine Version zu glauben.

Wieso eigentlich letzter Mohikaner, frage ich und deute auf die

Flagge. „Mein bester Freund hat mich Mohikaner getauft, wegen

meiner Haare. Wir waren von Anfang an da, mit uns wurden die

Container aufgestellt. Seit er tot ist, bin ich der letzte.“ Die folgende

Stille halte ich kaum aus, durch sie klingt das Schuldgefühl in mir

lauter — du Feigling verschweigst, wer du bist.

„Ich wollte zur Bahn“, sagt Jochen unvermittelt und zum ersten

Mal schleicht sich etwas Trauriges in seine Stimme. Fröhlich war

sie schon vorher nicht, eher ruppig, angriffslustig, selbstbestimmt.

Aber er sprach laut und klar, präsentierte seine Geschichten. Jetzt

murmelt er in sich hinein. „Ich wollte unbedingt zur Bahn. Aber

mein Vater hat gesagt: Du wirst Bürokaufmann.“ Warum hast du

nachgegeben? „Das war eine andere Zeit. ‚Solange du deine Füße

unter meinen Tisch steckst, machst du, was ich sage‘ — also habe

ich gemacht.“

Der Spruch lässt mich aufhorchen. Meine Großmutter wollte Autorin

werden, ihre Lehrer rieten ihr zum Journalismus. „Du siehst

nicht schlecht aus, du bekommst einen Mann“, sagte der Vater und

nahm sie von der Schule. Als sie aufbegehren wollte, habe er sie

angeschrien: „Solange du deine Füße unter meinen Tisch steckst...“

Jochen bläst Rauch gegen die geschlossenen Jalousien seines

Fensters. „Ich habe es gehasst.“

Er wollte weg von seinem Vater, deswegen sei er nach der Ausbildung

nach Hamburg gezogen, das muss Mitte der 70er gewesen

sein. „Die Schiffe verschwinden im Horizont, das musst du gese-

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