Go 14/2019
Zwölf wahre Reportagen über Lügen. Die Geschichten beleuchten die ganze Lügenpalette: von den verschwiege-nen Wahrheiten in Familien bis zur Münchhausenschen Lust, die Unwahrheit zu erzählen.
Zwölf wahre Reportagen über Lügen.
Die Geschichten beleuchten die ganze Lügenpalette: von den verschwiege-nen Wahrheiten in Familien bis zur Münchhausenschen Lust, die Unwahrheit zu erzählen.
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1955
Das einzige Bild, das die Familie gemeinsam
zeigt, stammt von 1955: Jochen
wird flankiert von seinen beiden älteren
Geschwistern, Helga und Wolfgang.
Der wichtigste Gegenstand in Jochens Zimmer: Seine Mohikaner-Flagge.
Ein Geschenk seines besten Freundes.
GO #14.2019
einem Teich nach einem Apfel. Der erste Joachim ertrank in Marienbad.
Den zweiten tauften sie vier Jahre später in Lichtenfels.
Wie passt der Begriff „Gammler“ zu einem Kaufmanns-Abschluss
mit 1,2? „Die Note bezweifle ich. Er träumte sich immer in den Erfolg,
statt sich auf das zu konzentrieren, was er machen sollte.“ So
sei er schon als Kind gewesen. Mit 14 habe er entschlossen, sich
dem Zirkus anzuschließen. Er habe sich einen Rucksack gepackt
und beim Abbauen der Zelte und Wagen geholfen, sein T-Shirt mit
einem Artisten getauscht und auf die neue Familie getrunken. Oma
sagt, sie sei mit ihrer Mutter hingefahren und hätte den Rotzlöffel
zurückgeholt — mit einer Ohrfeige und der Drohung ‚Auto oder
Polizei!‘. „Er hat immer wieder gesagt: Die Stadt, das Dorf, das alles
sei ihm zu klein. Er hatte diesen Drang, raus in die Welt.“ Reiste er
deshalb durch Marokko und Libyen? „Durch Afrika gefahren ist er
höchstens mit dem Finger auf der Landkarte. Seine weiteste Reise
blieb Hamburg.“
Meine Oma zog schon früh von Zuhause aus, mit 19 heiratete
sie meinen Großvater. „Onkel Wolfgang“, wie ich meinen Großonkel
nenne, sehe ich sonst nur ein oder zweimal im Jahr auf Geburtstagen.
Jetzt stehe ich vor seinem Einfamilienhaus mit kleinem Garten
und finde den Eingang nicht. Etwa 30 Minuten Autofahrt sind
es von hier zum Haus meiner Eltern, etwa 40 zur Krappenrother
Straße 1. Als wir auf der Terrasse sitzen sagt er über Oma: „Es gibt
nicht viele, die Sinniges in Worte, noch weniger, die Sinniges in Reime
bringen können. Sie ist eine davon, ein Feingeist.“ Und Jochen?
Die große Schwester hat
seinen Namen seit etwa
30 Jahren nicht ausgesprochen.
Wenn sie über ihn
redet, sagt sie immer nur
„der Gammler“.
„Mit sowas möchte ich nicht herabgewürdigt werden, auch wenn
es mein leiblicher Bruder ist.“
Als Flüchtlingsfamilie seien sie in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen,
zwei Mal sechs Quadratmeter für die ganze Familie. Der
Vater sei ein Jähzorn gewesen und habe getrunken, die Mutter habe
sich nicht durchsetzen können. „Wir hatten keine schöne Kindheit,
deine Oma und ich.“ An seine Sätze hängt er oft ein „deine Oma und
ich“, als hätte es nur zwei Kinder gegeben.
Wie war euer Verhältnis? „Wir haben uns immer gut verstanden,
deine Oma und ich“, antwortet er und erzählt, dass sie häufig als
Alibi-Pärchen unterwegs gewesen seien — er als Anstandsmann für
die ältere Schwester. Manchmal, wenn die Eltern außer Haus waren,
habe sie sich mit einem Verehrer eingeschlossen und das Radio
aufgedreht. „Zum Schmusen, damit ich nicht höre, was sie reden.“
Wolfgang habe vor der Tür gestanden und Wache gehalten. Der Vater
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