EINEBUNDESSTRASSEverläuft nur wenigeMeter Luftlinie nebendem Containerdorf.Die weite Welt spieltnur noch in HartmannsGeschichteneine Rolle.HARTMANNSBRUDER will nichtmit dem Kleinen inVerbindung gebrachtwerden. „Er erzähltso viele Lügen undflüchtet sich inFantastereien anstattetwas zu leisten.“GO #14.2019Und doch: Er weiß, dass in Marokko, Algerien und Tunesien vieleFranzösisch sprechen, „erst in Libyen verstehst du kein Wort mehr.“Er beschreibt Marktstände in schmalen Gassen, geschützt vor Mittagssonnedurch improvisierte Dächer aus Ästen und Reisig underzählt von Feuerschalen, deren Rauch sich mit Gewürzen mischt,die kein Deutscher kennt. Manche seiner Beschreibungen kenneich von Urlaubsfotos meiner Freunde, andere sind mir fremd.Gibt es Fotos? „Tausende. Aber die hat sich mein großer Bruderunter den Nagel gerissen“, antwortet Jochen, „und mit meinerbuckligen Verwandtschaft habe ich nichts mehr zu tun.“ Wiesonicht? „Ach, weißt du, ich war der einzige mit ausgelerntem Beruf— Bürokaufmann, Abschlussnote 1,2. Ich hatte immer Geld. Das hatden anderen nie gepasst.“Von Oma kenne ich eine andere Version der Vergangenheit: Jochenhabe mehrere Lehren begonnen, aber keine zu Ende gebracht.Geld habe er nie besessen. Während sie früh geheiratet und in derBuchhaltung der Mützenfabrik ihres Mannes, meines Opas, mitgeholfenhabe, sei ihr um zwei Jahre jüngerer Bruder Wolfgang, den ichheute als „Onkel Wolfgang“ kenne, Pächter einiger Wirtschaften geworden.Jochen sei mit noch einmal vier Jahren Abstand der Kleinstegewesen, er habe sich vom Ferien- zu Aushilfsjob durchgeschlagenund alles ausgegeben, um Freunde zum Umtrunk einzuladen.Wie Jochen unter der Mohikaner-Flagge auf seinem Bett sitzt,mit gekrümmtem Rücken und umgeben von Wäsche, Schmutz undleeren Bierflaschen, fällt es mir schwer, seine Version zu glauben.Wieso eigentlich letzter Mohikaner, frage ich und deute auf dieFlagge. „Mein bester Freund hat mich Mohikaner getauft, wegenmeiner Haare. Wir waren von Anfang an da, mit uns wurden dieContainer aufgestellt. Seit er tot ist, bin ich der letzte.“ Die folgendeStille halte ich kaum aus, durch sie klingt das Schuldgefühl in mirlauter — du Feigling verschweigst, wer du bist.„Ich wollte zur Bahn“, sagt Jochen unvermittelt und zum erstenMal schleicht sich etwas Trauriges in seine Stimme. Fröhlich warsie schon vorher nicht, eher ruppig, angriffslustig, selbstbestimmt.Aber er sprach laut und klar, präsentierte seine Geschichten. Jetztmurmelt er in sich hinein. „Ich wollte unbedingt zur Bahn. Abermein Vater hat gesagt: Du wirst Bürokaufmann.“ Warum hast dunachgegeben? „Das war eine andere Zeit. ‚Solange du deine Füßeunter meinen Tisch steckst, machst du, was ich sage‘ — also habeich gemacht.“Der Spruch lässt mich aufhorchen. Meine Großmutter wollte Autorinwerden, ihre Lehrer rieten ihr zum Journalismus. „Du siehstnicht schlecht aus, du bekommst einen Mann“, sagte der Vater undnahm sie von der Schule. Als sie aufbegehren wollte, habe er sieangeschrien: „Solange du deine Füße unter meinen Tisch steckst...“Jochen bläst Rauch gegen die geschlossenen Jalousien seinesFensters. „Ich habe es gehasst.“Er wollte weg von seinem Vater, deswegen sei er nach der Ausbildungnach Hamburg gezogen, das muss Mitte der 70er gewesensein. „Die Schiffe verschwinden im Horizont, das musst du gese-42
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