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Politik
des 16. Dezember erhalten Trinca und
die anderen einen Haarschnitt und eine
Rasur, frische Kleidung und gutes Essen.
Am nächsten Morgen werden sie zum
Hafen von Bengasi gefahren. Unverändert
liegen dort die beiden Fischerboote. „Verschwindet,
sonst sperren wir euch wieder
ein!“, schreien die Libyer, während
die eben Freigelassenen hastig versuchen,
die Boote zum Laufen zu bringen. Ohne
Prozess und Entlassungspapiere fahren
sie davon. Stunden später zeigen Haftars
Medienkanäle Bilder eines Treffens zwischen
ihm, Conte und Di Maio in Bengasi,
samt Begrüßung auf rotem Teppich. Zur
selben Zeit wird in der Whats App-Gruppe
der Angehörigen die Nach richt verbreitet,
dass die Seeleute frei gelassen werden.
Naoires ruft ihren Vater an. Er sagt: „Alles
ist gut, wir kommen nach Hause.“
Es regnet in Strömen an jenem Sonntag,
den 20. Dezember 2020. Gegen zehn
Uhr fahren die „Medinea“ und die „Antartide“
in ihren Heimathafen ein. Das Erste,
was Michele Trinca sieht, ist das grüne
Mosaik der Kathedrale von Mazara, ein
seit Kindheitstagen vertrauter Anblick.
„Das Beste an dem Beruf ist das Nachhausekommen“,
sagt er. Nie war es so schön
wie in jenem Moment. Schon von Weitem
begrüßen Sirenen und Jubelrufe die Männer.
Im Hafen stehen ihre Lieben. Trinca
umarmt seine Frau, nach 122 Tagen. In der
Nähe stehen drei Mädchen, die sich an
den Händen halten und auf ihren Vater
warten, Mohamed Ben Haddada.
Es ist der 13. Mai 2021, die Sonne
wärmt Mazara del Vallo, Naoires
und ihre Schwestern haben dem Tag
entgegengefiebert. Das Ende des Ramadans
ist ein rauschendes Fest, aber bleibt
ihr Vater fern von Zuhause, feiern die
Frauen nicht. Mohamed Ben Haddada ist
auf hoher See, irgendwo vor Malta. Seit
Tagen haben sie nicht mit ihm gesprochen,
weil sein Mobiltelefon kein Signal
empfängt. „Es ist noch immer ein ungutes
Gefühl“, sagt Naoires, den Kopf gesenkt.
Als ihr Vater nach seiner Rückkehr von
der Gefangenschaft erzählte, sah sie ihn
zum ersten Mal im Leben weinen.
Nie war Michele Trinca in den vergangenen
45 Jahren so viel zu Hause wie in
den letzten Monaten. Ruhig sitzt er auf
dem Sofa im Wohnzimmer und wirkt, als
wisse er nichts anzustellen mit der freien
Zeit. Tage darauf wird er daher wieder aufbrechen,
im Hafen sein Boot besteigen,
den Rücken zur Stadt gewandt. Er ist nun
Kapitän der „Pegaso SB“, einem hellblau
gestrichenen Schiff mit weißem Streifen,
32 Meter lang. Wenn er aufbricht, wird es
wie immer sein, mit Ausnahme des Ziels.
Kapitän Trinca wird Richtung Pantelleria
steuern, so wie derzeit alle Fischer aus
Mazara del Vallo, seit Anfang Mai ein weiteres
Boot angeschossen wurde. Richtung
Libyen zieht es ihn nie wieder.
Barbara Bachmann, Jahrgang 1985, freie Reporterin in
Südtirol, stellte in Mazara fest, wie unterschiedlich die
Häuser der Seeleute sind: die der tunesischen Fischer
einfach mit großer Dachterrasse, die der Kapitäne
prunkvoll. Gemein ist allen: Ihre Frauen verbringen
die meiste Zeit allein.
Roselena Ramistella, Jahrgang 1983, freie Fotografin
in Palermo, verbrachte viel Zeit mit den Familien der
entführten Fischer. So war sie auch dabei, als Mohamed
Ben Haddadas Töchter zum ersten Mal mit ihrem
Vater nach dessen Freilassung telefonierten.
36 mare No. 147, August/September 2021