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Leseprobe "Gegenwärtig! 100 Jahre neue Musik - Die Donaueschinger Musiktage

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egenwärtig<br />

<strong>100</strong> <strong>Jahre</strong><br />

Neue <strong>Musik</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong><br />

<strong>Musik</strong>tage<br />

Im Auftrag der Gesellschaft der <strong>Musik</strong>freunde,<br />

Friedemann Kawohl und Andreas Wilts<br />

Herausgegeben von Björn Gottstein und Michael Rebhahn<br />

Henschel


Ge


genwärtig<br />

<strong>100</strong> <strong>Jahre</strong><br />

Neue <strong>Musik</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong><br />

<strong>Musik</strong>tage<br />

Im Auftrag der Gesellschaft der<br />

<strong>Musik</strong>freunde, Friedemann Kawohl<br />

und Andreas Wilts<br />

Herausgegeben von Björn Gottstein<br />

und Michael Rebhahn<br />

Henschel


Inhalt<br />

6 Grußwort von Erik Pauly<br />

7 Grußwort von Kai Gniffke<br />

8 Björn Gottstein und Michael Rebhahn: Fakten, Bilder, Erinnerungen<br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage in der Retrospektive<br />

9 Andreas Wilts und Friedemann Kawohl: Donaueschingen<br />

Eine Gemeinde unter den Augen der Weltöffentlichkeit<br />

10 Joanna Bailie: The Place of New Music<br />

12 Andreas Wilts: Ein Fest für die Neue <strong>Musik</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> Kammermusikaufführungen zur Förderung<br />

zeitgenössischer Tonkunst 1921–1926<br />

30 Alexander Farenholtz: Nicht allein, aber unter sich<br />

32 Friedemann Kawohl: Von der Material prüfungsstelle zu<br />

»Des Friedens Geburt«<br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> Idee zwischen 1927 und 1950<br />

46 Gerhart Baum: Labor und Leuchtturm<br />

48 Bernd Künzig: Im Kernland der Avantgarde<br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage 1950–1970<br />

70 Martin Schüttler: SELBSTPORTRAIT mit Donaueschingen<br />

72 Isabel Mundry: Ufolandeplatz Donau eschingen<br />

74 Dirk Wieschollek: Experiment und Restauration<br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage 1970–1990<br />

98 Manos Tsangaris: Das Fest der schönen Widersprüche<br />

<strong>100</strong> Helmut Lachenmann: <strong>Die</strong> Laus im Pelz<br />

102 Lydia Jeschke: Passagen, Sprünge, Perspektiven<br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage 1990–2020<br />

126 Stefan Prins: Donau eschingen Memories<br />

130 Julia Neupert: Don’t Call Me Jazz – I’m Music!<br />

Jazz bei den <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tagen<br />

148 Gerhard R. Koch: Geschlossene Gesellschaft mit allerlei<br />

Über ra schungen<br />

150 Stefan Fricke: Zur Tonkunst gesellt sich die Klangkunst<br />

Installationen bei den <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tagen<br />

172 Frank Hilberg: <strong>Die</strong> Rampen zu exterrito rialen Welten<br />

– und was alles schief gehen kann …<br />

174 Olaf Nicolai: Da!<br />

176 Nina Noeske: Keine Scheu vor Grenzbezirken<br />

53 <strong>Jahre</strong> Komponistinnen in Donaueschingen<br />

192 Younghi Pagh-Paan: Mein Fenster<br />

194 Jennifer Walshe: Many Donaueschingens<br />

196 Elisa Erkelenz: »It Is After The End Of The World.«<br />

Über dekoloniale Fragen bei den <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tagen<br />

210 Gordon Kampe: DO-NAU-ESCHINGEN!<br />

212 Anhang


Joanna Bailie<br />

The Place of<br />

New Music<br />

Instead of thinking about new music as a list of works, composers<br />

and performers, couldn’t we describe it as a series of places? What<br />

would happen if we referred to pieces by the situations in which we<br />

first heard them rather than by their titles and creators? In the end,<br />

music is just the coming together of sound reverberating in space<br />

with an individual listener, an utterly one-time experience consisting<br />

of co ordinates of time, place and the movement of air molecules.<br />

I suspect most composers wouldn’t like to think of their works in those<br />

terms, but I’m quite happy to assemble my own personal geography<br />

of premieres — a filtering of the world by new music experiences. For<br />

instance, I could talk about the cycle for choir and instruments, a favourite<br />

to this very day, that I was introduced to one afternoon in 1999<br />

via CD at a friend’s New York apartment, or the strangely theatrical<br />

piece I witnessed in 2014 at a venue in a small city in central Germany.<br />

There was, on that latter occasion, an atmosphere generated by<br />

the intensity of the work and its performance the likes of which I had<br />

never experienced before (»you had to be there«, as they say). Once<br />

even, I heard a piece for small ensemble, dwarfed by an event space<br />

the size of a cattle market. I sat there straining to hear over the ambient<br />

sound of more than one thousand new music festival-goers, the<br />

music’s odd and delicate beauty almost enhanced by the effort I was<br />

making to listen to it.<br />

Of course, the more experimentally oriented among us already understand<br />

the importance of situation to the perception of music — that<br />

you can just throw the windows of a room open and that it will already<br />

constitute an experience, even if there is no title, no composer. For<br />

others, the places in which new music happens are a symptom of its<br />

relative cultural marginalisation (even if this position at the peri phery<br />

is often a subsidized one). New Music takes place in airless underground<br />

spaces, former shops in busy streets, too-reverberant churches,<br />

boomy sports halls, noisy cafés. We wouldn’t voluntarily select<br />

these places, and given the choice perhaps we would prefer fancy<br />

(if half-empty) concert halls in large cities. But don’t these venues<br />

that we wouldn’t necessarily choose, somehow shape us? Doesn’t the<br />

acoustic unsuitability, the variability of situation, the difference we<br />

encounter between the locations where new music happens, keep us<br />

on our toes? One could imagine that it might be quite an advantage,<br />

this compelled adaptability — something to toughen new music up for<br />

the decades of uncertainty that lie ahead.<br />

<strong>Die</strong> Baar-Sporthalle: einer der »Konzertsäle«<br />

der <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage


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Andreas Wilts<br />

Ein Fest für die<br />

Neue <strong>Musik</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> Kammermusikaufführungen<br />

zur Förderung<br />

zeitgenössischer Tonkunst<br />

1921–1926<br />

Plakat zu den <strong>Donaueschinger</strong><br />

Kammermusik-Aufführungen 1926<br />

»THe Donaueschingen music festival is like none other<br />

in Europe.« The New York Times, 1924<br />

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hat Thomas Mann im<br />

kalifornischen Exil Donaueschingen zu einem Sehnsuchtsort<br />

stilisiert. Adrian Leverkühn, der Held seines Romans Doktor<br />

Faustus, erinnert sich an eine »<strong>neue</strong> geistig-musika lische<br />

Haltung« in dem »badischen Festort« und an »die kostbare<br />

und musikalisch vollkommene Inszenierung« seines<br />

Hauptwerks, die dort auf ein »künstlerisch-›republikanisch‹<br />

gesinntes Publikum« stieß.1 Damals existierte das Festival<br />

bereits seit Längerem nicht mehr. Es war 1927 zunächst nach<br />

Baden-Baden abgewandert und 1930, nach skandalösen<br />

Theaterpro duktionen und einem zweiten Neustart in Berlin,<br />

im unübersichtlichen <strong>Musik</strong>betrieb der Metropole untergegangen.<br />

Nicht erst Thomas Mann und sein musikalischer Ratgeber<br />

jener <strong>Jahre</strong>, Theodor W. Adorno, brachten die Kunde von<br />

Donaueschingen als Brennpunkt der musikalischen Moderne<br />

nach Amerika. Schon früher waren Kritiker aus den <strong>Musik</strong>zentren<br />

der Welt zu den Kammermusikaufführungen gereist<br />

und hatten nach Paris, London, Prag und Wien, nach New<br />

York, Buenos Aires und Moskau berichtet.2 <strong>Die</strong> New York<br />

Times etwa widmete ihnen in ihrer Sonntagsausgabe vom<br />

17. August 1924 zwei Drittel der Seite 5. Unter der plakativen<br />

Überschrift »A Donaueschingen Chamber Music Festival.<br />

A Feudal Prince encourages Modern Radical Composers. Violent<br />

Dissonances Create a Longing for Quiet Pools« berichtete<br />

Olin Downes, ein Kritiker, dem Sibelius fraglos näherstand<br />

als Schönberg, dass er in Donaueschingen »chamber music<br />

of the wildest and most radical of German and Slavic composers«<br />

zu hören bekommen habe. Ins gleiche Horn stieß 1924<br />

César Saerchinger im New Yorker Musical Courier. In Donaueschingen<br />

sei der Ultramodernismus zuhause und man munkele,<br />

der Fürst zu Fürstenberg habe von seinen hochadeligen<br />

Verwandten Brandbriefe bekommen, die ihn vor musikalischen<br />

Bolschewisten und Feinden der nationalen Ideale<br />

warnten und forderten, diese Schlangen nicht mehr länger<br />

an seiner fürstlichen Brust zu nähren – vergeblich, denn der<br />

offizielle Vertreter des Fürstenhauses und der <strong>Musik</strong>freunde<br />

habe auf dem Begrüßungsempfang ausdrücklich betont,<br />

man werde den bisherigen Weg unbeirrt weitergehen.3<br />

Tatsächlich war es in kürzester Zeit gelungen, Donaueschingen<br />

zum Zentrum der Neuen <strong>Musik</strong> zu machen. Im<br />

Laufe der <strong>Jahre</strong> kamen alle, die in der Neuen <strong>Musik</strong> Rang<br />

und Namen hatten: Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban<br />

Berg, Igor Strawinsky, Alfredo Casella und Hanns Eisler.<br />

Junge Komponisten wie Paul Hindemith, Ernst Krenek und<br />

Philipp Jarnach erlebten zwischen 1921 und 1926 in Donaueschingen<br />

ihren Durchbruch. Angesichts der enormen kulturellen<br />

Ausstrahlung überraschen die nüchternen Zahlen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> Kammermusikaufführungen für zeitgenössische<br />

<strong>Musik</strong> 1921–1926, das waren insgesamt gerade<br />

einmal 12 Tage mit 19 Konzerten, kein Vergleich also mit den


<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> Kammermusikaufführungen 1921–1926<br />

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Friedemann Kawohl<br />

Von der Material prüfungsstelle zu »Des Friedens Geburt«<br />

Baden-Baden 1928, Foyer des Kurhauses.<br />

Paul Hindemith stehend im<br />

Zentrum, rechts neben ihm sitzend<br />

Luise Frank, daneben mit weißem<br />

Einstecktuch ihr Mann, der Cellist des<br />

Amar-Quartetts Maurits Frank, zwischen<br />

Hindemith und Frank Hugo Holle.<br />

Erste Reihe links Madeleine Milhaud,<br />

hinter ihr stehend Licco Amar, rechts<br />

daneben auf der Sessellehne sitzend<br />

Heinrich Burkard. Rechte Seite, den<br />

Arm auf den Korbsessel stützend (mit<br />

Fliege) Alois Hába, rechts daneben<br />

Hermann Scherchen, rechts hinter<br />

Scherchen Erhart Ermatinger. Hintere<br />

Reihe von links Darius Milhaud,<br />

Hermann Reutter, unbekannter Mann,<br />

Josef Mathias Hauer, Hans Rosbaud,<br />

Ernst Wolff und Ernst Toch


<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> Idee zwischen 1927 und 1950<br />

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Martin Schüttler<br />

SELBST­<br />

PORTRAIT<br />

mit Donaueschingen<br />

Vierzehn Arten, diesen Text zu schreiben und den eigenen Namen<br />

unterzujubeln<br />

• Eine Überschreibung (auch: »Besudelung«) der E-Mail von M. R. mit<br />

der Anfrage für diesen Text an mich ( MARTIN SCHÜTTLER )<br />

• Einen Erfahrungsbericht (»Hausaufgabe«) meines ( MARTIN<br />

SCHÜTTLER ) ersten Besuches bei den <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tagen<br />

im Jahr 1997 (überschwänglich!)<br />

• Propaganda-Zitate zur feministischen und / oder antikapitalistischen<br />

Mobilisierung (die »erlaubten« 5000 Zeichen komplett ausschöpfen!)<br />

• Eine indirekte Kritik (»passiv-aggressiv«) an meiner ( MARTIN<br />

SCHÜTTLER ) eigenen, überkommenen Bürgerlichkeit (= verkrampfte<br />

Kritik an der »Hand, die mich füttert« = »Wes Brot ich ess’ …« usw.)<br />

• Faksimile (handgeschrieben von MARTIN SCHÜTTLER ) einer<br />

Widmungskomposition (»Permutationen 2«) über die Töne D-A-E-Es-<br />

C-H-G-E<br />

• Liste mit verschiedenen Text-Konzepten: Was kann man hier schreiben,<br />

wenn man hier schreiben darf? (Motto: »Ich will alles und bin<br />

gleichzeitig zu faul, es zu machen.«)<br />

• <strong>Die</strong> unangenehm exakte Bildbeschreibung (»Männerbünde«) der<br />

un ansehnlichsten Fotos aus dem Fürstenberg-Bräustüble vom 17. Oktober<br />

2005, 00:12–01:58 Uhr (mit dabei u. a.: F. G., R. H., B. S., J. C., J. S.,<br />

M. B., MARTIN SCHÜTTLER )<br />

• Wortgetreue Abschrift der Einladungskarte zum Empfang des<br />

Fürsten zu Fürstenberg, 18. Oktober 2015 (»Der Fürst und die Fürstin<br />

zu Fürstenberg geben sich die Ehre, Herrn MARTIN SCHÜTTLER …<br />

2 Personen … usw.«)<br />

• Sammlung »<strong>Die</strong> <strong>100</strong> langweiligsten Momente der <strong>Donaueschinger</strong><br />

<strong>Musik</strong>tage« [= meine ( MARTIN SCHÜTTLER ) persönlichen »Kack-TOP<br />

<strong>100</strong>« …]<br />

• Einen anderen Artikel dieses Buches im identischen Wortlaut unter<br />

meinem Namen ( MARTIN SCHÜTTLER ) ein zweites Mal abdrucken<br />

lassen (= Appropriation / »Enteignung«)<br />

• <strong>Die</strong> vorliegende Liste unter dem Pseudonym DIEGO GROSSMANN<br />

abdrucken lassen (sog. »feige Fassung«)<br />

• Anekdotische Huldigung aller Großmeister (»männlich«), denen ich<br />

im Lauf der vergangenen 25 <strong>Jahre</strong> in Donaueschingen begegnen<br />

durfte<br />

• <strong>Die</strong> verwegene Engführung des <strong>100</strong>-jährigen Bestehens der<br />

<strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage mit der Gründung der Kommunistischen<br />

Partei Chinas im Jahr 1921<br />

• Einen typografischen Eingriff am vorliegenden Text vornehmen, der<br />

meinen Namen (MARTIN SCHÜTTLER?) aus der Liste wieder herausstreicht,<br />

um den narzisstischen Projektionen der Leser:innen Raum<br />

zu geben für ihre eigenen Namen<br />

<strong>Die</strong> <strong>Musik</strong>erin Eva Reiter und Zuhörerinnen<br />

in Martin Schüttlers Komposition<br />

My mother was a piano teacher [...], 2017


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Isabel Mundry<br />

Ufolandeplatz<br />

Donaueschingen<br />

Donaueschingen ist ein Mythos, der sich Jahr für Jahr ebenso von<br />

Neuem formt wie er zerplatzt. Es ist DER Ort der <strong>neue</strong>n <strong>Musik</strong> und die<br />

stete Erfahrung, dass es DIE <strong>neue</strong> <strong>Musik</strong> nicht gibt. Doch das ist er vor<br />

allem aus der Perspektive der Rezeption und Diskurse. Aus der Perspektive<br />

der Produktion ist Donaueschingen für mich ein Ort wie alle<br />

anderen Aufführungsorte auch: Ich freue mich auf sie, solange ein Projekt<br />

geplant wird, und muss sie vergessen, je tiefer ich in es hineingehe.<br />

Wenn ein Stück dann fertig ist, werden die Orte in ihren Besonderheiten<br />

wieder präsent.<br />

Ich habe viermal Stücke für Donaueschingen komponiert. Zwei von<br />

ihnen waren wie Ufos für mich, das erste und das letzte. Als Ufos beschreibe<br />

ich jene Werke, die ich selbst kaum fassen kann – was nicht<br />

bedeutet, dass ich sie im Blindflug komponiert habe. Vorausgegangene<br />

Reflexionen, Konzepte, Klangvorstellungen oder Techniken<br />

können bei ihnen ebenso glasklar sein wie bei anderen Stücken auch.<br />

Jedoch, bei jenen weiß ich ungefähr um die Terrains, in denen sie sich<br />

be finden. Sie greifen Erfahrungen auf, entwickeln etwas weiter oder<br />

stoßen sich von etwas ab. <strong>Die</strong> Ufos entziehen sich solcher Wahrnehmungen.<br />

Mit allen Kompositionen versuche ich, Neuland zu betreten,<br />

doch bei ihnen weiß ich nicht einmal dies.<br />

Vor der ersten Uraufführung in Donaueschingen 1997, meinem ersten<br />

Ufo überhaupt, telefonierte ich während der Proben mit Helmut<br />

Lachenmann. Der Anlass unseres Gesprächs hatte mit Donaueschingen<br />

nichts zu tun, doch am Ende erzählte ich ihm von meiner Angst<br />

vor dem Stück und dem Konzert. »Das ist doch toll!«, antwortete er mir.<br />

Ich habe <strong>Jahre</strong> gebraucht, um diesen Satz zu verstehen.<br />

Ein Ufo hörte ich vor ein paar <strong>Jahre</strong>n auch von einem anderen Komponisten<br />

in Donaueschingen. Es war ein Orchesterstück, das aus einer<br />

Reihung von Jingles für fiktive Nachrichten bestand. Es war klar, dass<br />

diese Melodien nicht mit dem Anspruch auf klangliche oder technische<br />

Innovation entwickelt wurden, sondern dass es um Konzeptmusik<br />

im Gewand eingängig wirkender Orchesterphrasen ging. Ich fand<br />

das verstörend, doch Verstörung interessiert mich auch in Kunst und<br />

<strong>Musik</strong>. Deshalb ging ich davon aus, Zeit zu brauchen, um es zu verstehen<br />

und eine Meinung zu entwickeln. Meinen Sitznachbar:innen ging<br />

das offensichtlich anders. Kurz nach dem Schlussklang erfuhr ich von<br />

ihnen, dass in Tweets eine größere Gruppe an Zuhörer:innen bereits<br />

während des Konzerts ihr Urteil gefällt habe. Dürfte ich mir etwas von<br />

Donau eschingen wünschen, dann wäre es eine Verlangsamung der<br />

Rezeption.


72 / 73<br />

Langatmigkeit erlebe ich bei den Echoräumen meiner eigenen Ufos.<br />

Das Gefühl ihrer Fremdheit bleibt in mir all über die <strong>Jahre</strong> erstaunlich<br />

statisch, und doch erlebe ich gerade mit ihnen besondere Dynamiken:<br />

späte Rückmeldungen oder Reaktionen, Diskurse, Texte, Einladungen<br />

usw. Mit Donaueschingen verbinde ich also einen Ort, der mich provoziert<br />

hat, bislang fünfzig Prozent meiner Ufos zu entwickeln – und<br />

entsprechend viel Bewegung. Allein dafür bin ich ihm sehr dankbar.<br />

Als ich vor zwei <strong>Jahre</strong>n mit dem Komponisten George Lewis ins Gespräch<br />

kam, schickten wir uns gegenseitig eigene Texte, die uns<br />

wichtig sind. In seiner Sammlung befand sich unter anderem ein<br />

transkribiertes Gespräch mit Thomas Meadowcroft, dem Komponisten<br />

der Orchesterjingles. Plötzlich wurden die Tweets noch einmal bedeutsam,<br />

denn nicht allein das Werk, sondern auch die Reaktionen darauf<br />

wurden von den beiden beleuchtet. Das fand ich wiederum »toll«.


Dirk Wieschollek<br />

Experiment und<br />

Restauration<br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage<br />

1970–1990<br />

Clytus Gottwald, Otto Tomek<br />

und Josef Häusler, 1975<br />

<strong>Die</strong> Darstellung und Kategorisierung künstlerischer Entwicklungen<br />

im chronologischen Korsett sauber abgrenzbarer<br />

Dezennien ist ein Instrument der Geschichtsschreibung,<br />

das bei aller Griffigkeit den Verdacht einer künstlich über<br />

Inhalte gestülpten Systematik nie ganz von sich weisen kann.<br />

Schließlich fallen Veränderungen künstlerischer Theorie und<br />

Praxis nicht pünktlich zum Dekadenwechsel vom Himmel.<br />

Dennoch beinhaltet der Wechsel von den 1960er zu den<br />

1970er <strong>Jahre</strong>n, auch im Hinblick auf die <strong>Donaueschinger</strong><br />

<strong>Musik</strong>tage, ein dermaßen großes Umbruchspotential, dass<br />

man mit Recht vom Beginn einer »<strong>neue</strong>n Zeit« sprechen könnte,<br />

an dem gesellschaft liche, ästhetische und organisatorischpersonelle<br />

Veränderungen folgenreich zusammen trafen.<br />

Zunächst einmal endete mit dem Tod Heinrich Strobels<br />

am 18. August 1970 eine Ära. <strong>Die</strong>se fiel zusammen mit der<br />

Blütezeit der Nachkriegsavantgarde, deren serielle und postserielle<br />

Protagonisten in Darmstadt und Donaueschingen<br />

ihre öffentlichkeitswirksame Bühne hatten. Nachfolger<br />

Strobels wurde 1971 zunächst Otto Tomek als <strong>neue</strong>r Hauptabteilungsleiter<br />

für <strong>Musik</strong> beim Südwestfunk (SWF, heute<br />

SWR).<br />

Tomek, der langjährige Leiter der Abteilung Neue <strong>Musik</strong><br />

des WDR und des Studios für elektronische <strong>Musik</strong> Köln<br />

sowie Programmkoordinator der Konzertserie »<strong>Musik</strong> der<br />

Zeit« war längst eine Schlüsselfigur der Neuen <strong>Musik</strong>, die aus<br />

dem Epizentrum der Kölner Avantgarde nach Donaueschingen<br />

kam und auf persönliche Kontakte zu den wichtigsten<br />

Kompo nistenpersönlichkeiten ihrer Zeit bauen konnte.<br />

Tomeks Programmgestaltung war jedoch keineswegs auf<br />

ideologische Verhärtungen aus, sondern trieb die programmatische<br />

Vielschichtigkeit, die Heinrich Strobel in seinen<br />

letzten <strong>Die</strong>nstjahren spürbar anstrebte, weiter voran. Mit der<br />

Gründung des Experimentalstudios der Heinrich-Strobel-<br />

Stiftung setzte Tomek 1971 eine Landmarke in der Geschichte<br />

der Neuen <strong>Musik</strong>. <strong>Die</strong> progressive Weiterentwicklung<br />

elektroakustischer Produktionsmöglichkeiten inspirierte<br />

zahlreiche bedeutende Auftragskompositionen des Festivals.<br />

1976 wurde Tomek, der 1977 als Hauptabteilungsleiter <strong>Musik</strong><br />

zum damaligen Süddeutschen Rundfunk ging, von Josef<br />

Häusler abgelöst, der seit 1959 beim SWF als Dramaturg und<br />

Redakteur arbeitete und das Festival schließlich bis 1991<br />

leitete.<br />

<strong>Die</strong> gesellschaftlichen Umbrüche im Kontext der 68er­ Bewegung<br />

mit ihren fundamentalen Relativierungen bürgerlicher<br />

Moral- und Wertvorstellungen ließen die damalige<br />

Kunstmusik – und somit Donaueschingens Programmplanungen<br />

– ebenfalls nicht unberührt und begünstigten<br />

eine wachsende Affinität zur Erweiterung und Auflösung traditioneller<br />

Aufführungsmodi. Das zeigte sich zu Beginn der<br />

1970er <strong>Jahre</strong> nicht nur in einer deutlichen Intensivierung des<br />

Jazz-Bereichs, sondern auch in der zunehmenden Integration<br />

musikalischer Aktivitäten und Konzeptionen, die über<br />

den Tellerrand einer konventionellen Partitur realisierung


<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage 1970–1990<br />

74 / 75<br />

hinausgingen. Das Medium Film wurde – dokumentarisch<br />

wie künstlerisch – zum regelmäßigen Bestandteil des<br />

Festival geschehens; Aspekte der Improvisation, des Environments<br />

und der Klanginstallation waren nun verstärkt zu<br />

beobachten. Mit Luc Ferraris Portrait-Spiel wurde 1972 die<br />

Rubrik »Akustische Spielformen« etabliert, die sich fortan<br />

dem Hörspiel und der Klangkunst widmete.<br />

Doch auch auf dem Feld des Kompositorischen wurden,<br />

in bewusster Abgrenzung zu einer zunehmend als »akademisch«<br />

empfundenen postseriellen Avantgarde, Elemente<br />

offener Formgefüge, theatrale Erweiterungen und multimediale<br />

Formate vorangetrieben. Damit verbunden war die<br />

Destruktion traditioneller Schönheitsbegriffe des Instrumentalklangs<br />

in der Emanzipation des Geräuschs und der<br />

klangperformativen Einbeziehung von Alltagsobjekten. Das<br />

Experimentelle und Visuelle erlebte in der ersten Hälfte der<br />

1970er <strong>Jahre</strong> eine Blütezeit in der Neuen <strong>Musik</strong>, um dann für<br />

Jahrzehnte wieder weitestgehend in der Versenkung zu verschwinden.1<br />

Von der <strong>Musik</strong> loskommen<br />

Angesichts der <strong>neue</strong>n musikübergreifenden Prämissen<br />

wundert es nicht, dass Mauricio Kagel zu einer der prägendsten<br />

Figuren am Beginn des <strong>neue</strong>n <strong>Donaueschinger</strong> Jahrzehnts<br />

avancierte, der in diversen künstlerischen Disziplinen<br />

die Kommunikationsbedingungen und sozialen Mechanismen<br />

von Kunst, <strong>Musik</strong> und Gesellschaft samt deren Insti tutionen<br />

ironisch hinterfragte.<br />

Nach den <strong>Donaueschinger</strong> Aufführungen seiner Filme<br />

Duo (1967 / 68) und Hallelujah (1969), die grundlegende musika<br />

lische »Produktionsverhältnisse« instrumentaler und<br />

vokaler Natur musiktheatralisch reflektierten, markierte<br />

Ludwig van (1969 / 70) einen der aufsehenerregendsten Beiträge<br />

im Jahrgang 1970. Kagels Film zum Beethovenjahr,<br />

ur aufgeführt am 28. Mai bei den Wiener Festwochen,<br />

ironisierte den Mythos Beethoven als Entlarvung biedermeierlicher<br />

Rezeptionsmechanismen der bürgerlichen<br />

Klassik-Kultur und stieß auf derartiges Interesse, dass eine<br />

zweite Vorführung eingerichtet wurde.<br />

Mauricio Kagel bei einem Glas Wein<br />

mit Igor Strawinsky, 1982<br />

Tief ins Mark des <strong>Donaueschinger</strong> Selbstverständnisses als<br />

Brutstätte bedeutender Orchesterkompositionen traf 1973<br />

die Realisierung von Zwei-Mann-Orchester (1971–1973), die<br />

das edelste Instrumentarium musikbürgerlicher Hochkultur<br />

gleichsam mit Füßen trat. Kagel negierte den zur<br />

Verfügung stehenden Orchester apparat komplett und<br />

entwarf eine von zwei Spielern mit allerhand Schnüren und<br />

Pedalen zu betätigende <strong>Musik</strong>maschine aus Instru menten,<br />

Alltagsgegenständen und Schrottfundstücken, die den<br />

Konstruktionen von Jean Tinguely alle Ehre machte – eine<br />

Apotheose von Straßen musik und schräger Arte Povera statt<br />

glänzender orches traler Virtuosität.2


Dirk Wieschollek<br />

Experiment und Restauration


<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage 1970–1990<br />

76 / 77<br />

Linke Seite: Wilhelm Bruck in Mauricio<br />

Kagels Zwei-Mann-Orchester, 1973<br />

Oben: Diskussion »Sinfonieorchester in verwandelter Welt« mit<br />

u. a. Karlheinz Stockhausen, Otto Tomek und Carl Dahlhaus (v. l.)<br />

im Sudhaus der Fürstenbergischen Brauerei, 1971


Lydia Jeschke<br />

Passagen, Sprünge, Perspektiven<br />

gedacht und dann die Uraufführung von Adriana Hölszkys<br />

Konzert Lichtflug mit Solovioline und -flöte begeistert aufgenommen<br />

worden. Es folgt, wieder unter der Leitung des<br />

Chefdirigenten des SWF-Sinfonieorchesters Michael Gielen,<br />

ein erster Donaueschingen-Auftritt von Mathias Spahlinger:<br />

passage / paysage für großes Orchester dauert eine Dreiviertelstunde.<br />

<strong>Die</strong> letzte Viertelstunde des Stücks verwandelt das<br />

Orchester in eine Pizzicato-Maschine, die endlos zu wiederholen<br />

scheint. Als kleine rhythmische Unschärfen auftreten,<br />

schreibt man sie zunächst der Unaufmerksamkeit der Beteiligten<br />

zu, tatsächlich aber gehören sie, wie alles in diesem<br />

Stück, zu einem Prozess der Auflösung oder Umdefinition; so<br />

eindrücklich, dass sich schon während der Aufführung ebenso<br />

Begeisterung wie auch Lachen und Unmut Luft machen.<br />

Ich habe diese Aufführung als damals studentische Hörerin<br />

in der letzten Reihe als eine Art unentrinnbares Gesamtkunstwerk<br />

erlebt – mit offenem Ende für Bühne und Saal.<br />

Mathias Spahlinger wird in den folgenden <strong>Jahre</strong>n weitere<br />

große Aufführungen in Donaueschingen haben, dieses im<br />

Wortsinn bahnbrechende Stück allerdings verschwindet<br />

zunächst. Erst nach Jahrzehnten ist es wieder gespielt<br />

worden – mit großem Erfolg.<br />

Was auch erst im Nachhinein sichtbar wird: Eine wichtige<br />

Personalie ist letztlich eine direkte Folge der politischen<br />

Entwicklungen 1989 / 90. Der Deutsche Fernsehfunk in<br />

Sachsen schickt im Herbst 1990 den als Lektor des volkseigenen<br />

<strong>Musik</strong>verlags Edition Peters in Leipzig beschäftigungslos<br />

gewordenen Armin Köhler für eine TV-Reportage<br />

nach Donaueschingen – etwas, das vor 1990 politisch nicht<br />

denkbar gewesen wäre. So aber entsteht ein erster Kontakt<br />

u. a. zum künstlerischen Leiter Josef Häusler; und ein<br />

knappes Jahr später wird Armin Köhler vom damaligen<br />

Südwestfunk zu dessen Nachfolger gewählt. <strong>Die</strong> <strong>Musik</strong>tage<br />

1992 gestaltet er mit, nach dem Rückzug des SWF-<strong>Musik</strong>chefs<br />

Christof Bitter in den Ruhestand ist er ab 1993 allein<br />

verantwortlich.<br />

Oben: Armin Köhler mit Christof Bitter<br />

(oben links) und mit Josef Häusler<br />

(unten rechts)<br />

Rechte Seite: Mark Chung von den<br />

Einstürzenden Neubauten in Nam June<br />

Paiks Video Opera, 1993<br />

Sand im Getriebe<br />

Neue Medien, Installation, Performance – andere Darbietungsformen<br />

ergänzen von nun an in jedem <strong>Donaueschinger</strong><br />

Jahrgang die Konzerte. Mit ihnen kommen auch andere<br />

Künstler:innen ins Programm, anfangs teils belächelt und<br />

von der (Konzert-)Kritik eher verschwiegen. Für Nam June<br />

Paiks Video Opera, in der die Einstürzenden Neubauten auftreten,<br />

müssen 1993 erstmals aus Lärmschutzgründen Ohrstöpsel<br />

verteilt werden, bei Dror Feilers Werken wird sich das<br />

später wiederholen. Der Aktionskünstler FLATZ projiziert<br />

1994 zu Trommel klängen von Nicolaus Richter de Vroe martialische<br />

Video bilder auf Großleinwand, um in Babylon-Komplex<br />

»Infor mations- und Reizüberflutung auf den Punkt zu<br />

bringen«. Beide Projekte polarisieren, sicherlich auch durch<br />

die schiere Wucht ihrer akustischen und optischen Mittel.


<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage 1990–2020<br />

104 / 105


Lydia Jeschke<br />

Passagen, Sprünge, Perspektiven<br />

Der Schlagzeuger FM Einheit<br />

(Einstürzende Neubauten), 1993


<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage 1990–2020<br />

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Nina Noeske<br />

Keine Scheu vor<br />

Grenzbezirken<br />

53 <strong>Jahre</strong> Komponistinnen<br />

in Donaueschingen<br />

Oben links: Tona Scherchen-Hsiao, 1967<br />

Oben rechts: Cathy Berberian, 1968<br />

Unten: Tona Scherchen-Hsiao, Cathy<br />

Berberian und der Cellist Emilio Poggioni<br />

von der Società Cameristica Italiana<br />

nach der Uraufführung von Wai, 1968<br />

Während auf den Darmstädter Ferienkursen bereits 1949 – im<br />

vierten Jahr des Bestehens des Festivals – ein Werk einer<br />

Frau, der damals 25-jährigen US-amerikanischen Komponis<br />

tin Dika Newlin, zu hören war, war dies auf den <strong>Donaueschinger</strong><br />

<strong>Musik</strong>tagen erst knapp zwanzig <strong>Jahre</strong> später,<br />

1968, möglich. Neben Cathy Berberians bereits zwei <strong>Jahre</strong><br />

zuvor komponiertem und international gefeiertem Vokalstück<br />

Stripsody erklang am 19. Oktober 1968 die im Auftrag<br />

der <strong>Musik</strong>tage entstandene Komposition Wai für Stimme,<br />

Streichquartett und Schlaginstrumente der 30-jährigen Tona<br />

Scherchen-Hsiao, Tochter der Komponistin Xiao Shuxian und<br />

des Dirigenten Hermann Scherchen. In diesem 20-minütigen<br />

Stück mit szenischer Komponente – die Sängerin bewegt sich<br />

zu einer ausgefeilten Lichtregie im Raum und bedient zudem<br />

das Schlagwerk – übernahm Berberian ebenfalls den Vokalpart.<br />

Der anonyme Autor des Spiegel-Artikels »Erstmals Wai«<br />

vom 13.10.1968, erschienen sechs Tage vor der Uraufführung<br />

des Werks, ist von der Sängerinnen-Diva sichtlich fasziniert,<br />

während er zu Wai – das er damals womöglich noch gar nicht<br />

kannte – nur knapp bemerkt: »Zur Fernost-<strong>Musik</strong> turnt die<br />

Interpretin Gymnastik-Übungen aus Maos Volksertüchtigungs-Programm.«1<br />

Von der kritischen Distanz der Komponistin<br />

zur chinesischen Politik ist keine Rede. Ansonsten<br />

waren die unmittelbaren Pressereaktionen geteilt: Erich<br />

Limmert zufolge spiele die »junge, hochbegabte Komponistin<br />

[…] bereits gefährlich geläufig mit modisch-seriellen Anregungen«,2<br />

und Bernd Müllmann konstatierte: »Ihr klanglich<br />

hervorragend ausgewogenes Stück litt unter der Länge.«3<br />

Laut Bill <strong>Die</strong>tz, der 2017 die Audio-Dokumente sämtlicher<br />

Publikumsreaktionen in Donaueschingen im Rahmen eines<br />

künstlerischen Projekts auswertete, wurde während der Aufführung<br />

von Wai »kräftig und aggressivst gehustet«, ja, das<br />

Stück wurde regelrecht »ausgehustet«.4 Hans Heinz Stuckenschmidt<br />

zufolge handelte es sich bei Scherchens Stück um<br />

»das Problemstück des Weekend« in Donaueschingen, wie<br />

es wenige Tage nach der Uraufführung in der Frankfurter<br />

Allgemeinen Zeitung heißt: »Ich bekenne, selten bei moderner<br />

<strong>Musik</strong> die Botschaft der hochstrebenden Leere so vernommen<br />

zu haben wie hier. Ist die Arbeit als dramatische Szene<br />

gemeint, so war ihre Wiedergabe auf dem Podium verfehlt.<br />

Ist sie als musikalische Form gedacht, so genügt dafür weder<br />

die technische Traktierung der vier Instrumente noch die<br />

Perkus sionskulisse oder die Einarbeitung der anfangs solistisch<br />

auftretenden Menschenstimme. Begabung ist mitunter<br />

spürbar; doch geht somnambul den falschen Weg.«5 Als<br />

Reaktion auf den Verriss schrieb die Komponistin, die sich<br />

selbst zwölf <strong>Jahre</strong> später als »extrem nervöses, hyper sensibles<br />

Wesen« charakterisierte, als eine »Wildkatze, die auf<br />

dem Planeten Erde ihre Erkundungsgänge tut«,6 dem <strong>Musik</strong>kritiker<br />

einen Brief. In diesem bat sie ihn, einen Blick in die<br />

Partitur ihres Stücks zu werfen, um sich ein fundiertes Urteil<br />

zu bilden – denn ihr zufolge vermochte sich der »Esprit«<br />

von Wai bei der Uraufführung aufgrund der Größe des


53 <strong>Jahre</strong> Komponistinnen in Donaueschingen<br />

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Younghi Pagh-Paan<br />

Mein Fenster<br />

3. Juni 1974: Ich komme am Flughafen in Frankfurt am Main an und<br />

fahre weiter mit dem Zug nach Freiburg im Breisgau, wovon ich so oft<br />

träumte. Ab Oktober werde ich dort an der Hochschule für <strong>Musik</strong> bei<br />

Professor Klaus Huber Komposition studieren. Damals habe ich wenig<br />

Ahnung, wie meine Lebenslinie weiter verlaufen wird.<br />

Am 18. Oktober 1974 fahren wir – unser Lehrer Klaus Huber und seine<br />

Studierenden – mit dem Auto nach Donaueschingen. Der Reiseweg<br />

ist wunderschön, Schwarzwald, Täler und Häuser, wie in einer<br />

märchenhaften Welt. Nach circa einer Stunde erreichen wir unser<br />

Reiseziel. Als wir in den Konzertsaal eintreten, bin ich total überrascht:<br />

so viele Konzertbesucher, eine energiegeladene Atmosphäre,<br />

fröhliche Gesichter.<br />

In Erinnerung an die Uraufführung von Inori von Karlheinz Stockhausen<br />

habe ich immer noch die Szene vor Augen: In der Mitte des<br />

Saals steht ein hohes Podium für einen Solisten. Stockhausen dirigiert<br />

das Orchester.<br />

Maulwerke von <strong>Die</strong>ter Schnebel: Wir, die Zuhörer, stehen alle vor den<br />

vielen Monitoren. Aber was die Kunst aus dem Monitor ausstrahlt … ich<br />

bin mehr als erschrocken. Ein groß geöffneter Mund, in der Mitte das<br />

Gaumenzäpfchen in Bewegung und dazu die Klänge. Vieles kann ich<br />

nicht verstehen und beinahe verliere ich den Boden unter den Füßen.<br />

Ich schwebe wie in einem kleinen Ballon, allein … ohne Halt.<br />

Ein junger Komponist, Wolfgang Rihm, 22 <strong>Jahre</strong> alt. <strong>Die</strong> weltberühmten<br />

John Cage und Luciano Berio. Und noch mehrere Uraufführungen von<br />

vielen Komponisten …<br />

Mit einem Schlag bin ich am Boden zerstört. Inmitten der begeisterten<br />

Konzertbesucher fühle ich mich total allein. Eine unnütze Kompositionsstudentin.<br />

Ich bin ja gerade erst aus Korea in Deutschland angekommen.<br />

Wie soll ich so etwas Neues verstehen? Allmählich tröste ich<br />

mich selbst und finde mich wieder.<br />

Auch wenn ich nur die Grundkenntnisse von chinesischen Schriften<br />

und Gedanken habe: Vor allem das Daodejing von Laozi lese ich sehr<br />

gern und denke oft darüber nach. Vor dem kalten Bahnhof in Donaueschingen<br />

fällt mir der darin enthaltene Vers 11 ein, in dem es um<br />

Nützliches und Unnützes geht. Seither ist Laozi mein Wegweiser dafür<br />

geworden, mich selbst »loszulassen«.<br />

Wenn ich Atemschwierigkeiten habe, denke ich an die Tage in Donaueschingen,<br />

was ich erlebt habe und nun in meinem Erinnerungskasten<br />

bewahre: Das nenne ich »mein Fenster«. Wenn ich frische Luft und<br />

Licht brauche, öffne ich »mein Fenster«. Was unnütz war, ist für mich<br />

nützlich geworden.<br />

Eine Szene aus John Cages<br />

Song Books, 1974<br />

Am 18. Oktober 1980 steht mein Stück SORI für großes Orchester als<br />

Uraufführung in Donaueschingen auf dem Programm. <strong>Die</strong> Zeiten sind<br />

vorbeigeflogen.


192 / 193


Jennifer Walshe<br />

Many Donaueschingens<br />

In 2000, I attended the summer courses in Darmstadt for the first time.<br />

It was a few weeks after my 26th birthday, I was young and very new<br />

to the scene. During one of the »Studiokonzerte« which took place<br />

over the last days of the course, I performed my piece as mo cheann<br />

with the violinist David Ryther. When I came off-stage, there was a<br />

middle-aged man waiting to meet me. He was grinning ear to ear, and<br />

very excited about my piece. He introduced himself as Armin Köhler,<br />

gave me his card, and asked me to send him more of my music. Pianist<br />

Nicolas Hodges witnessed the exchange, his jaw dropped. »Do you<br />

know who that is?« he said. I replied that I didn’t. »One of THE most important<br />

people in new music!« He just seemed like a very nice guy.<br />

Two years later I was in Donaueschingen to perform here we are now,<br />

the first of three pieces that Armin would commission from me for the<br />

festival. Anton Lukoszevieze, Dirk Rothbrust, John Kenny and myself<br />

spent the week before the festival rehearsing in a quiet town. Then we<br />

witnessed the transformation the festival brought – a sudden flood<br />

of hundreds of visitors, the landlady of the hotel leaving baskets of<br />

sweets at the doors of all the musicians, the flagpoles flying the flags<br />

of the composers featured at the festival. The Irish flag was clearly<br />

brand new. You could see the creases. And there was Armin, once<br />

again, running up to me after my performance, overflowing with enthusiasm<br />

and warmth.<br />

I went home, and a few months later a fat envelope came through the<br />

door. Here was the »Pressespiegel« for the festival, an inch thick. So<br />

many articles, and so many containing my name. My rudimentary German<br />

wasn’t up to the task. This was 2002 – the articles weren’t online,<br />

and there was no easy way to get them translated. »No bother! No<br />

such thing as bad publicity!« said my father. To this day, I have no idea<br />

what the articles said. The performance went as well as I could have<br />

hoped, Armin liked my piece, and that was what mattered most.<br />

Nine years passed, and in 2011, I took the train from Lugano, where<br />

I’d done a solo performance the night before, through the Alps to<br />

reach Donaueschingen once again. The Neue Vocalsolisten Stuttgart<br />

were premiering my new piece WATCHED OVER LOVINGLY BY SILENT<br />

MACHINES, for voices and film. When you’re a young student, this is<br />

what you dream being a composer might be like. A fantastic ensemble<br />

who you trust completely. A glamorous train journey through mountain<br />

passes. A prestigious festival with an after-party at a Prince’s<br />

house. But the reality was that I was in bad shape. On a personal level,<br />

I’d had a very difficult year. Hours after I arrived, I was overwhelmed<br />

and holding back tears in »Zum Hirschen«, as all of new music networked<br />

frantically around me. Nevertheless, something softened for<br />

me, over the short time I was there. The Neue Vocalsolisten, as ever,<br />

gave a brilliant performance. And I hadn’t counted on how many<br />

people I’d bump into there. How many smiling faces, how many warm<br />

greetings and hugs. The Irish flag, still looking fresh out of the bag. And<br />

Armin, appearing after the concert, beaming.


194 / 195<br />

Two years later, on a spring morning, I stood in the laneway outside my<br />

house in Ireland, waiting for Armin and his colleague Bernd Künzig to<br />

arrive. They’d caught a plane to Dublin, a train to Carrick-on-Shannon,<br />

and were now on their way to my house in a taxi. The weather was<br />

co-operating, for once, and they arrived thrilled at being literally in<br />

the middle of nowhere in the Irish countryside. They’d come to see the<br />

archive of my visual work, because part of it would be included in the<br />

following year’s festival. I told them my sister and brother-in-law had<br />

offered to give us all lunch at their farm up the road. They had a baby,<br />

and also cats. Did that sound ok? »It sounds great!« said Bernd. »I love<br />

cats! And Armin loves babies!« Armin did indeed dote on my little<br />

nephew, and dandled him upon his knee. It’s a beautiful thing, when<br />

your professional and personal lives collapse briefly and comfortably<br />

into one another.<br />

The following year, I went again to Donaueschingen, to install exhibitions<br />

of my visual work, and to perform a new piece, THE TOTAL<br />

MOUNTAIN. The performances went excellently, the audiences responded<br />

very well, but something was missing. Armin was very ill, and<br />

he couldn’t attend. A month later, very sadly, Armin passed away.<br />

In 2018, I went into hospital in London for a medical procedure. I would<br />

be put under general anesthetic, and I was a bit nervous. The consultant<br />

surgeon came to talk to me before the surgery. This was the<br />

NHS, so it was the first, and most likely last time I’d ever talk to the<br />

surgeon, unless something went wrong. The surgeon was German. As<br />

she examined me, we made small talk. What do you do, she asked. I’m<br />

a composer. What sort of music. Oh, Neue <strong>Musik</strong>. Experimental, sometimes<br />

with film. Was my music ever performed at Donaueschingen, she<br />

asked. Yes! I said, completely shocked. Had she been there? I asked.<br />

Yes, she replied. Many times, my husband and I like to go to the festival.<br />

After the examination, I texted a family member that the surgeon<br />

who would be doing the procedure had been to Donaueschingen.<br />

»Wow!! That’s a GOOD OMEN!!!« they texted back. And I thought how<br />

much the story would have delighted Armin, that the festival that had<br />

helped launch my career, that helped form who I am as a composer,<br />

might also bring me luck.


Elisa Erkelenz<br />

»It Is After The End<br />

Of The World.«<br />

Über dekoloniale Fragen bei den<br />

<strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tagen<br />

Wer sich durch die Archive der <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage<br />

bewegt, findet allerhand Erstaunliches. Manches erzeugt<br />

Abscheu – wie etwa die »völkischen« Programme der NS-<br />

Zeit – bei anderem staunt man über die Paradigmenhaftigkeit<br />

und Größe dessen, was sich in einer kleinen Stadt am<br />

Schwarzwald Jahr für Jahr abgespielt hat, von skandalösen<br />

Uraufführungen über die Öffnung für den Jazz bis hin zu<br />

epochemachenden Werken von Schönberg, Berg, Hindemith,<br />

Boulez, Nono, Henze, Stockhausen, Xenakis oder Ligeti. <strong>Die</strong><br />

Programme der letzten <strong>100</strong> <strong>Jahre</strong> reflektieren den experimentellen<br />

Geist der Neuen <strong>Musik</strong> als inzwischen historische<br />

Gattung, nicht immer aber die sie umgebenden politischen<br />

Bewegungen. <strong>Die</strong> ersten Komponistinnen wurden mit Tona<br />

Scherchen-Hsiao und Cathy Berberian 1968 programmiert,<br />

selten war es fortan mehr als eine Komponistin pro Jahr.1<br />

Und wie sieht es mit der Öffnung für globale Strömungen jenseits<br />

des eurozentristischen Blicks aus?<br />

In seinem 1996 erschienenen Buch Spiegel der Neuen <strong>Musik</strong>:<br />

Donaueschingen schreibt Josef Häusler (Leiter der <strong>Musik</strong>tage<br />

von 1975–1991): »Mehrfach ist Donaueschingen in den fünfundsiebzig<br />

<strong>Jahre</strong>n seit 1921 ein musikalischer Schrittmacher<br />

gewesen, und wo es das nicht war, wo es anderwärts schon<br />

ans Licht getretene Erscheinungen aufgriff, hat es ihnen zu<br />

Breitenwirkung, verstärkter Resonanz, weiterem Ausbau<br />

verholfen. <strong>Die</strong> Geschichte der Donau eschinger <strong>Musik</strong>tage<br />

wird somit weithin zu einem Spiegel Neuer <strong>Musik</strong>.« <strong>Die</strong> »geographisch<br />

eng gesetzten Grenzen« beschreibt er selbst als<br />

»blinden Fleck« der Programmgestaltung. 25 <strong>Jahre</strong> später<br />

stellt der künstlerische Leiter Björn Gottstein fest: »Es ist<br />

immer noch eine unfassbar weiße Kunstform. Da gibt es eine<br />

Notwendigkeit des Handelns.«<br />

In der Tat sind die »Ausbrüche« aus der westlichen<br />

Perspek tive in der Historie des Festivals rar gesät. Das erste,<br />

was bei der Suche nach diversen Positionen auffällt, ist das,<br />

was nicht da war. Das, was fehlt. <strong>Die</strong>s sei betont, wenn im<br />

Folgenden beispielhafte Öffnungen und Einladungen vorgestellt<br />

werden. Sie erzählen – jede für sich – eine Geschichte<br />

des Umgangs mit »dem Fremden«, das keineswegs selbstverständlich<br />

im Programm präsentiert und vom Publikum<br />

rezipiert wurde.<br />

Mitglieder des Sun Ra Arkestra,<br />

im Vordergrund Alex Blake am<br />

Kontrabass, 1970<br />

Afrofuturismus<br />

Das experimentelle Jazzensemble Sun Ra Arkestra 1970 nach<br />

Donaueschingen zu holen, sei extrem schwierig gewe sen,<br />

erinnert sich Hartmut Geerken. Der 1939 geborene Geerken<br />

ist Sun Ra-Experte und hat nicht nur – damals für das<br />

Goethe-Institut in Kairo tätig – das legendäre Konzert des<br />

afrofuturistischen Arkestra vor den Pyramiden von Gizeh im<br />

Jahr 1971 organisiert, sondern auch die Platte It Is After The<br />

End Of The World der Sun Ra­ Konzerte in Berlin und Donaueschingen<br />

produziert. Organi siert und eingeladen zu den<br />

Konzerten hat der damalige SWR-Jazzredakteur Joachim<br />

Ernst Berendt – bekannt für seine Leidenschaft für außer­


Über dekoloniale Fragen bei den <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tagen<br />

196 / 197


Gordon Kampe<br />

DO-NAU-<br />

ESCHINGEN!<br />

Als ich noch Elektriker war, besuchte ich mal eine Fachmesse für Elektrotechnik<br />

und war schwer begeistert von den fabelhaften <strong>neue</strong>n<br />

Schuko-Steckdosen und vollkommen abgestoßen von der jüngsten<br />

Lötkolben-Generation. Ein knappes Vierteljahrhundert später habe<br />

ich dann dem Fachpublikum das eigene Produkt vorgestellt, allerdings<br />

auf der einschlägigen Messe für Avantgardemusik: DO-NAU-<br />

ESCHINGEN! Und – jenseits aller Routine – der Puls war am Anschlag.<br />

<strong>Die</strong>ses freundliche Städtchen in der Nähe von Villingen-Schwenningen<br />

ist für viele Komponistinnen und Komponisten ein Ort irgendwo zwischen<br />

Elysium und Mordor. Wir arbeiten ein Jahr oder länger an einem<br />

Stück – und präsentieren es dann fast ausschließlich vor Leuten aus<br />

der eigenen Branche: Wird dieses Werk endlich das 21. Jahrhundert<br />

einläuten? Wird es Standards setzen? Ist es radikal, politisch, multimax-trans<br />

-medial oder eher minimalistisch-postkonzeptuell? Hat das<br />

Werk einen Stachel, und wenn ja: wo pikst er hin und warum? Was ist<br />

eigentlich ein Werk und kann es sich, um im Jargon zu bleiben, auf<br />

dem Markt durchsetzen? Niemand weiß dies alles wirklich. Perfekt aufs<br />

Zielpublikum hin designte und wild bejubelte Stücke können sonntags<br />

heilig gesprochen werden und montags darauf schon verschwunden<br />

sein, aber auch One-Trick-Ponys brauchen ja Auslauf.<br />

Immer wieder wurde kritisch eingewandt, dieses DO-NAU-ESCHINGEN<br />

sei bloß ein Elfenbeinturm, der Welt abhandengekommen. Ich sage:<br />

Gut so. Denn wir brauchen von Zeit zu Zeit auch jene »Elfenbeintürme«,<br />

Orte, an denen präsentiert, diskutiert, gestritten und gefeiert<br />

wird. In atmosphärisch und akustisch »herausfordernden« Turn- und<br />

Mehrzweckhallen wird weitgehend schnickschnacklos ein gigantischer<br />

Aufwand betrieben, um diesen einen Moment der Aufführung so<br />

perfekt, so leidenschaftlich, so ernsthaft und – im Wortsinne – auch so<br />

schön wie nur möglich werden zu lassen. Wir brauchen solche Orte, an<br />

denen gefragt werden kann, was »<strong>Musik</strong>« eigentlich ist und wo derjenige<br />

mit der endgültigen Antwort darauf eher beargwöhnt wird. Wie<br />

überall wird es immer dann »komplex«, wenn man sich nicht mehr aus<br />

jenem schnieke eingerichteten Turm heraustraut, weil man sich dort<br />

oben lieber mit lauter anderen Avantgarde-Rapunzeln gegenseitig<br />

die Haare rauft.<br />

Alles ändert und entwickelt sich. Auch dieses mythenumwobene Festival.<br />

Im Gegensatz zum Lötkolben aber muss <strong>Musik</strong> nicht funktionieren.<br />

Vielleicht darf sie nicht einmal »funktionieren«. Sie kann es nicht jeder<br />

und jedem recht machen, und fügen sollte sie sich schon gar nicht.<br />

Komponistinnen und Komponisten, <strong>Musik</strong>erinnen und <strong>Musik</strong>er brachten<br />

hier in Donaueschingen ihre eigenen Inhalte mit und mussten nicht<br />

auf ein durch feuilletonistische Kurzzeiterregungen hervorgebrachtes<br />

Festivalmotto reagieren. Atmosphères, passage / paysage, limited<br />

approximations … et cetera: Meilensteine wie diese sind vielleicht nur<br />

in diesem kleinen Ort im Südwesten möglich gewesen. In Donaueschingen<br />

gilt alles der <strong>Musik</strong>.<br />

Der Hornist Karl Arnold mit jungen<br />

Neue-<strong>Musik</strong>-Fans, 1964


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Autor:innen<br />

Joanna Bailie ist Komponistin und Klangkünstlerin.<br />

Ihr Werk umfasst Kammermusik und Installationen und<br />

konzentriert sich auf die Verwendung von »Real-Life«­<br />

Materialien sowie auf das Zusammenspiel von auditiven und<br />

visuellen Phänomenen.<br />

Gerhart Baum war von 1966 bis 1998 Mitglied des Bundesvorstands<br />

der FDP und von 1978 bis 1982 Bundesminister des<br />

Innern. Seit 1994 ist er als Rechtsanwalt tätig. Daneben ist er<br />

ein Förderer klassischer und zeitgenössischer <strong>Musik</strong>.<br />

Elisa Erkelenz hat deutsch-französische Literatur und<br />

Kultur management in Bonn, Paris und Hamburg studiert.<br />

Heute ist sie als freie Autorin, Kuratorin und Dramaturgin<br />

vor allem im Feld transtraditioneller zeitgenössischer <strong>Musik</strong><br />

tätig.<br />

Alexander Farenholtz war von 2002 bis 2020 Gründungsvorstand<br />

und Verwaltungsdirektor der Kulturstiftung des<br />

Bundes, zuvor u. a. geschäftsführender Leiter des Kulturprogramms<br />

der Weltausstellung EXPO 2000 Hannover und<br />

Geschäftsführer der documenta in Kassel.<br />

Stefan Fricke ist Leiter der Redaktion Neue <strong>Musik</strong>, Jazz<br />

und Klangkunst beim Hessischen Rundfunk (hr2-kultur),<br />

zudem Honorarprofessor an der Hochschule für <strong>Musik</strong> der<br />

Johannes­ Gutenberg-Universität Mainz sowie Mitherausgeber<br />

der Zeitschrift <strong>Musik</strong>Texte.<br />

Frank Hilberg, Redakteur für Neue <strong>Musik</strong> bei WDR 3, lebte<br />

mit, litt an und wird sterben durch: staubige <strong>Musik</strong>.<br />

Lydia Jeschke ist Redaktionsleiterin Neue <strong>Musik</strong> und Jazz<br />

im SWR. Sie hat über Luigi Nono promoviert und ist im<br />

Wechsel Dramaturgin und künstlerische Leiterin des Festivals<br />

Neue <strong>Musik</strong> Rümlingen. Sie leitet SWR2 Jetzt<strong>Musik</strong> in<br />

Eclat und ist seit 2020 im Vorstand des SWR Experimentalstudios.<br />

Gordon Kampe studierte Komposition u. a. bei Hans­<br />

Joachim Hespos und Nicolaus A. Huber. 2016 erhielt er den<br />

Komponistenpreis der Ernst-von-Siemens-<strong>Musik</strong>stiftung.<br />

Seit 2017 ist er Professor an der Hochschule für <strong>Musik</strong> und<br />

Theater Hamburg, ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt im<br />

Bereich des <strong>Musik</strong>theaters.<br />

Friedemann Kawohl studierte <strong>Musik</strong>theorie bei Gösta<br />

Neuwirth und <strong>Musik</strong>wissenschaft bei Helga de la Motte­<br />

Haber in Berlin. Er publiziert vor allem zu Themen des<br />

Urheberrechts und der regionalen <strong>Musik</strong>geschichte.


Kurzbiografien<br />

212 / 213<br />

Gerhard R. Koch studierte Germanistik, Philosophie und<br />

Soziologie in Frankfurt, geprägt durch Theodor W. Adorno.<br />

Seit den 1960er <strong>Jahre</strong>n ist er <strong>Musik</strong>kritiker der FAZ, von 1976<br />

bis 2003 war er Feuilleton-Redakteur. Er hat u. a. Lehraufträge<br />

an der Universität Wien, Schwerpunkte: Neue <strong>Musik</strong>,<br />

<strong>Musik</strong>theater, Ästhetik.<br />

Bernd Künzig studierte Germanistik, <strong>Musik</strong>wissenschaft<br />

und Geschichte. Er arbeitet zu Positionen aktueller Kunst,<br />

Literatur, Film und <strong>Musik</strong>. Ab 2009 war er Redakteur für<br />

Neue <strong>Musik</strong>, seit 2019 ist er Opernredakteur beim SWR2 in<br />

Baden-Baden.<br />

Helmut Lachenmann ist Komponist und war bis 1999 Professor<br />

an der Hochschule für <strong>Musik</strong> und Darstellende Kunst<br />

in Stuttgart. 1997 erhielt er den Ernst von Siemens-<strong>Musik</strong>preis.<br />

Isabel Mundry studierte Komposition bei Frank Michael<br />

Beyer, Gösta Neuwirth und Hans Zender. Seit 2004 ist sie<br />

Kompositionsprofessorin an der Zürcher Hochschule der<br />

Künste, seit 2011 zudem an der Hochschule für <strong>Musik</strong> und<br />

Theater in München.<br />

Julia Neupert studierte in Leipzig (<strong>Musik</strong>wissenschaft,<br />

Germanistik) und Karlsruhe (<strong>Musik</strong>journalismus) und<br />

arbeitet seit 2012 als <strong>Musik</strong>redakteurin bei SWR2 mit inhaltlichem<br />

Schwerpunkt auf zeitgenössischem Jazz und<br />

improvisierter <strong>Musik</strong>.<br />

Martin Schüttler ist Komponist und Performer. Sein künstlerischer<br />

Schwerpunkt liegt auf der Rekontextualisierung<br />

sozialer, medialer oder körperlicher Gegebenheiten von und<br />

mit <strong>Musik</strong>. Seit 2014 ist er Professor für Komposition an der<br />

Hochschule für <strong>Musik</strong> und Darstellende Kunst in Stuttgart.<br />

Manos Tsangaris, Komponist, Trommler und Installationskünstler,<br />

ist seit 2009 Professor für Komposition an der<br />

Hochschule für <strong>Musik</strong> Dresden. Komponieren heißt für ihn<br />

Lesarten auslösen, die Räume erschließen.<br />

Jennifer Walshe ist Komponistin und Performerin und lehrt<br />

seit 2016 als Professorin für Performance an der Hochschule<br />

für <strong>Musik</strong> und Darstellende Kunst in Stuttgart.<br />

Dirk Wieschollek ist freier <strong>Musik</strong>publizist mit Schwerpunkt<br />

Gegenwartsmusik. Er hat zahlreiche Beiträge zur Komposition<br />

und Klangkunst des 20. und 21. Jahrhunderts veröffentlicht.<br />

Andreas Wilts ist Historiker und Leiter der Fürstlich<br />

Fürsten bergischen Institute für Kunst und Wissenschaft in<br />

Donaueschingen. Im Oktober 2015 wurde er zum Präsidenten<br />

der Gesellschaft der <strong>Musik</strong>freunde Donaueschingen gewählt.<br />

Olaf Nicolai studierte Literatur- und Sprachwissenschaft<br />

in Leipzig, Wien und Budapest (Promotion 1992). Seit Anfang<br />

der 1990er <strong>Jahre</strong> arbeitet er als Künstler und ist seit 2011<br />

Professor für Bildhauerei an der Akademie der Bildenden<br />

Künste München.<br />

Nina Noeske ist seit 2014 Professorin für <strong>Musik</strong>wissenschaft<br />

an der Hochschule für <strong>Musik</strong> und Theater Hamburg nach<br />

beruflichen Stationen in Weimar, Hannover und Salzburg;<br />

Forschungsschwerpunkt: <strong>Musik</strong>geschichte vom 18. bis<br />

21. Jahrhundert.<br />

Younghi Pagh-Paan studierte Komposition in Seoul und<br />

Freiburg (u. a. bei Klaus Huber). Nach Gastprofessuren in<br />

Graz und Karlsruhe war sie von 1994 bis 2011 Professorin für<br />

Komposition an der Hochschule für Künste Bremen.<br />

Stefan Prins ist Komponist, Improvisator und Co-Direktor<br />

des Nadar Ensembles. Er promovierte 2017 in Komposition an<br />

der Harvard University. Seit 2020 ist er Professor für Komposition<br />

und Leiter des Hybrid Music Lab an der Hochschule für<br />

<strong>Musik</strong> Dresden.


Bildnachweis<br />

Archiv Breitkopf & Härtel Wiesbaden: 79, 101. | Archiv Redaktion<br />

Neue <strong>Musik</strong> SWR2: 11, 80, 83, 86, 88, 90 / 91, 104 (oben), 105,<br />

106 / 107, 108, 122 / 123, 144, 184, 206, 193. | Erika Baruch: 68. | Bettina<br />

Ehrhardt: 207. | Ensemble Modern: 113 (oben). | Heinz Finke:<br />

177 (unten), 200, 201. | Fondation Hindemith Blonay: 33, 34 / 35,<br />

37, 39. | Stefan Fricke: 156. | Fürstlich Fürstenbergisches Archiv<br />

Donau eschingen: 13, 14, 15, 16, 17, 18, 20 / 21, 22, 24 / 25, 27, 28, 36, 40,<br />

41 (unten), 42. | Heinrich-Strobel-Archiv / Elke Dorsch-Wagner:<br />

52 / 53. | Astrid Karger: 71, 111, 118 (oben), 120, 145 (oben). | Armin<br />

Köhler: 115, 119, 162, 204, 205. | Franz Krickl: 1, 75, 82, 85, 94,<br />

95, 96, 102, 103, 109, 110, 150, 154, 164 / 165, 167 (oben), 168, 171,<br />

182 / 183, 186, 187, 188. | Christina Kubisch: 157, 159. | Hans Kumpf:<br />

104 (unten), 181. Pieter Matthynssens: 129. | Olaf Nicolai: 175.<br />

Uwe Oldenburg: 140. | Charlotte Oswald: 158. | Friedel Pragher:<br />

74, 76, 81, 151, 208. | Kirsten Reese: 152, 153. | Robert-Häusser-<br />

Archiv / Curt-Engelhorn-Stiftung Mannheim: 211. | Susanne<br />

Schapowalow: 137 (unten). | Roland Sigwart: 160 / 161. | Staatsarchiv<br />

Freiburg / Sammlung Willy Pragher: 48, 49, 51, 52, 54,<br />

56 / 57, 58, 59, 60 / 61, 62, 63, 64, 65, 131, 132 / 133, 134, 135, 136, 137<br />

(oben). | SWR / Rolf Bayer: 203. | SWR / Ralf Brunner: 113 (unten),<br />

114, 116, 117, 118 (unten), 121, 124, 125, 145 (unten), 146 / 147, 166, 167<br />

(unten), 189, 190. | SWR / Gustav-Adolf Castagne: 177 (oben links),<br />

177 (oben rechts), 216. | SWR / Kurt Grill: 41 (oben), 87, 138 / 139, 141,<br />

143, 197, 198. | SWR / Käte Krome: 66, 67, 77, 92 / 93, 142. | Trimpin:<br />

163. | Irmtraud Wirth: 78, 178 / 179, 180.<br />

Wir danken allen Fotografinnen und Fotografen für die Über lassung<br />

ihrer Bilder zum Abdruck in diesem Buch. Wir danken allen<br />

Archiven für die freundliche Genehmigung der Nutzung ihrer<br />

Bilder.<br />

Trotz intensiver Recherche bemühungen konnten die Urheber nicht<br />

in allen Fällen ausfindig gemacht werden; bei berechtigten Forderungen<br />

wenden Sie sich bitte an den Verlag.


Impressum<br />

Bibliografische Information der Deutschen<br />

National bibliothek: <strong>Die</strong> Deutsche Nationalbibliothek<br />

verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte<br />

bibliografische Daten sind im Internet über<br />

http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

<strong>Die</strong> Verwertung der Texte und Bilder, auch<br />

auszugsweise, ist ohne Zustimmung der Rechteinhaber<br />

urheberrechtswidrig und strafbar. <strong>Die</strong>s<br />

gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen,<br />

Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung in<br />

elektronischen Systemen.<br />

<strong>Die</strong> Publikation wurde gefördert durch: das Land<br />

Baden-Württemberg, die Baden-Württemberg<br />

Stiftung, die Ernst von Siemens <strong>Musik</strong>stiftung,<br />

die Kulturstiftung des Bundes und den Südwestrundfunk.<br />

Herausgeber und Verlag bedanken<br />

sich herzlich dafür.<br />

ISBN 978-3-89487-828-3<br />

© 2021 by Henschel Verlag in der<br />

E. A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig<br />

Umschlaggestaltung: Lena Haubner, Weimar<br />

Umschlagvorderseite: Franz Krickl<br />

Umschlagrückseite: Robert-Häusser-Archiv /<br />

Curt-Engelhorn-Stiftung Mannheim<br />

Layout und Satz: Lena Haubner, Weimar<br />

Lithographie: Grafotex Leipzig<br />

Lektorat: Sabine Melchert<br />

Herstellung, Druck und Bindung:<br />

feingedruckt – Print und Medien, Neumünster<br />

Printed in the EU<br />

www.henschel-verlag.de


Geschichte und Energie<br />

eines einmaligen Festivals<br />

Donaueschingen ist nicht nur eine beschauliche Stadt im Südwesten<br />

Deutschlands, sondern auch ein zentraler Punkt auf der Landkarte der<br />

musikalischen Avantgarde: Hier finden seit einhundert <strong>Jahre</strong>n die <strong>Donaueschinger</strong><br />

<strong>Musik</strong> tage statt. <strong>Die</strong> Besonderheit des international ältesten<br />

Festivals für Neue <strong>Musik</strong> besteht nicht im bloßen Zurschaustellen musi kalischer<br />

Gegenwartsphänomene, sondern im Wagnis, immer wieder neu<br />

zu fragen, was <strong>Musik</strong> heißen und bedeuten kann.<br />

www.henschel.de<br />

978-3-89487-828-3

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