Leseprobe "Gegenwärtig! 100 Jahre neue Musik - Die Donaueschinger Musiktage

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Lydia Jeschke Passagen, Sprünge, Perspektiven gedacht und dann die Uraufführung von Adriana Hölszkys Konzert Lichtflug mit Solovioline und -flöte begeistert aufgenommen worden. Es folgt, wieder unter der Leitung des Chefdirigenten des SWF-Sinfonieorchesters Michael Gielen, ein erster Donaueschingen-Auftritt von Mathias Spahlinger: passage / paysage für großes Orchester dauert eine Dreiviertelstunde. Die letzte Viertelstunde des Stücks verwandelt das Orchester in eine Pizzicato-Maschine, die endlos zu wiederholen scheint. Als kleine rhythmische Unschärfen auftreten, schreibt man sie zunächst der Unaufmerksamkeit der Beteiligten zu, tatsächlich aber gehören sie, wie alles in diesem Stück, zu einem Prozess der Auflösung oder Umdefinition; so eindrücklich, dass sich schon während der Aufführung ebenso Begeisterung wie auch Lachen und Unmut Luft machen. Ich habe diese Aufführung als damals studentische Hörerin in der letzten Reihe als eine Art unentrinnbares Gesamtkunstwerk erlebt – mit offenem Ende für Bühne und Saal. Mathias Spahlinger wird in den folgenden Jahren weitere große Aufführungen in Donaueschingen haben, dieses im Wortsinn bahnbrechende Stück allerdings verschwindet zunächst. Erst nach Jahrzehnten ist es wieder gespielt worden – mit großem Erfolg. Was auch erst im Nachhinein sichtbar wird: Eine wichtige Personalie ist letztlich eine direkte Folge der politischen Entwicklungen 1989 / 90. Der Deutsche Fernsehfunk in Sachsen schickt im Herbst 1990 den als Lektor des volkseigenen Musikverlags Edition Peters in Leipzig beschäftigungslos gewordenen Armin Köhler für eine TV-Reportage nach Donaueschingen – etwas, das vor 1990 politisch nicht denkbar gewesen wäre. So aber entsteht ein erster Kontakt u. a. zum künstlerischen Leiter Josef Häusler; und ein knappes Jahr später wird Armin Köhler vom damaligen Südwestfunk zu dessen Nachfolger gewählt. Die Musiktage 1992 gestaltet er mit, nach dem Rückzug des SWF-Musikchefs Christof Bitter in den Ruhestand ist er ab 1993 allein verantwortlich. Oben: Armin Köhler mit Christof Bitter (oben links) und mit Josef Häusler (unten rechts) Rechte Seite: Mark Chung von den Einstürzenden Neubauten in Nam June Paiks Video Opera, 1993 Sand im Getriebe Neue Medien, Installation, Performance – andere Darbietungsformen ergänzen von nun an in jedem Donaueschinger Jahrgang die Konzerte. Mit ihnen kommen auch andere Künstler:innen ins Programm, anfangs teils belächelt und von der (Konzert-)Kritik eher verschwiegen. Für Nam June Paiks Video Opera, in der die Einstürzenden Neubauten auftreten, müssen 1993 erstmals aus Lärmschutzgründen Ohrstöpsel verteilt werden, bei Dror Feilers Werken wird sich das später wiederholen. Der Aktionskünstler FLATZ projiziert 1994 zu Trommel klängen von Nicolaus Richter de Vroe martialische Video bilder auf Großleinwand, um in Babylon-Komplex »Infor mations- und Reizüberflutung auf den Punkt zu bringen«. Beide Projekte polarisieren, sicherlich auch durch die schiere Wucht ihrer akustischen und optischen Mittel.
Die Donaueschinger Musiktage 1990–2020 104 / 105
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