Leseprobe "Gegenwärtig! 100 Jahre neue Musik - Die Donaueschinger Musiktage
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Elisa Erkelenz<br />
»It Is After The End<br />
Of The World.«<br />
Über dekoloniale Fragen bei den<br />
<strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tagen<br />
Wer sich durch die Archive der <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage<br />
bewegt, findet allerhand Erstaunliches. Manches erzeugt<br />
Abscheu – wie etwa die »völkischen« Programme der NS-<br />
Zeit – bei anderem staunt man über die Paradigmenhaftigkeit<br />
und Größe dessen, was sich in einer kleinen Stadt am<br />
Schwarzwald Jahr für Jahr abgespielt hat, von skandalösen<br />
Uraufführungen über die Öffnung für den Jazz bis hin zu<br />
epochemachenden Werken von Schönberg, Berg, Hindemith,<br />
Boulez, Nono, Henze, Stockhausen, Xenakis oder Ligeti. <strong>Die</strong><br />
Programme der letzten <strong>100</strong> <strong>Jahre</strong> reflektieren den experimentellen<br />
Geist der Neuen <strong>Musik</strong> als inzwischen historische<br />
Gattung, nicht immer aber die sie umgebenden politischen<br />
Bewegungen. <strong>Die</strong> ersten Komponistinnen wurden mit Tona<br />
Scherchen-Hsiao und Cathy Berberian 1968 programmiert,<br />
selten war es fortan mehr als eine Komponistin pro Jahr.1<br />
Und wie sieht es mit der Öffnung für globale Strömungen jenseits<br />
des eurozentristischen Blicks aus?<br />
In seinem 1996 erschienenen Buch Spiegel der Neuen <strong>Musik</strong>:<br />
Donaueschingen schreibt Josef Häusler (Leiter der <strong>Musik</strong>tage<br />
von 1975–1991): »Mehrfach ist Donaueschingen in den fünfundsiebzig<br />
<strong>Jahre</strong>n seit 1921 ein musikalischer Schrittmacher<br />
gewesen, und wo es das nicht war, wo es anderwärts schon<br />
ans Licht getretene Erscheinungen aufgriff, hat es ihnen zu<br />
Breitenwirkung, verstärkter Resonanz, weiterem Ausbau<br />
verholfen. <strong>Die</strong> Geschichte der Donau eschinger <strong>Musik</strong>tage<br />
wird somit weithin zu einem Spiegel Neuer <strong>Musik</strong>.« <strong>Die</strong> »geographisch<br />
eng gesetzten Grenzen« beschreibt er selbst als<br />
»blinden Fleck« der Programmgestaltung. 25 <strong>Jahre</strong> später<br />
stellt der künstlerische Leiter Björn Gottstein fest: »Es ist<br />
immer noch eine unfassbar weiße Kunstform. Da gibt es eine<br />
Notwendigkeit des Handelns.«<br />
In der Tat sind die »Ausbrüche« aus der westlichen<br />
Perspek tive in der Historie des Festivals rar gesät. Das erste,<br />
was bei der Suche nach diversen Positionen auffällt, ist das,<br />
was nicht da war. Das, was fehlt. <strong>Die</strong>s sei betont, wenn im<br />
Folgenden beispielhafte Öffnungen und Einladungen vorgestellt<br />
werden. Sie erzählen – jede für sich – eine Geschichte<br />
des Umgangs mit »dem Fremden«, das keineswegs selbstverständlich<br />
im Programm präsentiert und vom Publikum<br />
rezipiert wurde.<br />
Mitglieder des Sun Ra Arkestra,<br />
im Vordergrund Alex Blake am<br />
Kontrabass, 1970<br />
Afrofuturismus<br />
Das experimentelle Jazzensemble Sun Ra Arkestra 1970 nach<br />
Donaueschingen zu holen, sei extrem schwierig gewe sen,<br />
erinnert sich Hartmut Geerken. Der 1939 geborene Geerken<br />
ist Sun Ra-Experte und hat nicht nur – damals für das<br />
Goethe-Institut in Kairo tätig – das legendäre Konzert des<br />
afrofuturistischen Arkestra vor den Pyramiden von Gizeh im<br />
Jahr 1971 organisiert, sondern auch die Platte It Is After The<br />
End Of The World der Sun Ra Konzerte in Berlin und Donaueschingen<br />
produziert. Organi siert und eingeladen zu den<br />
Konzerten hat der damalige SWR-Jazzredakteur Joachim<br />
Ernst Berendt – bekannt für seine Leidenschaft für außer