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Leseprobe "Gegenwärtig! 100 Jahre neue Musik - Die Donaueschinger Musiktage

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Dirk Wieschollek<br />

Experiment und<br />

Restauration<br />

<strong>Die</strong> <strong>Donaueschinger</strong> <strong>Musik</strong>tage<br />

1970–1990<br />

Clytus Gottwald, Otto Tomek<br />

und Josef Häusler, 1975<br />

<strong>Die</strong> Darstellung und Kategorisierung künstlerischer Entwicklungen<br />

im chronologischen Korsett sauber abgrenzbarer<br />

Dezennien ist ein Instrument der Geschichtsschreibung,<br />

das bei aller Griffigkeit den Verdacht einer künstlich über<br />

Inhalte gestülpten Systematik nie ganz von sich weisen kann.<br />

Schließlich fallen Veränderungen künstlerischer Theorie und<br />

Praxis nicht pünktlich zum Dekadenwechsel vom Himmel.<br />

Dennoch beinhaltet der Wechsel von den 1960er zu den<br />

1970er <strong>Jahre</strong>n, auch im Hinblick auf die <strong>Donaueschinger</strong><br />

<strong>Musik</strong>tage, ein dermaßen großes Umbruchspotential, dass<br />

man mit Recht vom Beginn einer »<strong>neue</strong>n Zeit« sprechen könnte,<br />

an dem gesellschaft liche, ästhetische und organisatorischpersonelle<br />

Veränderungen folgenreich zusammen trafen.<br />

Zunächst einmal endete mit dem Tod Heinrich Strobels<br />

am 18. August 1970 eine Ära. <strong>Die</strong>se fiel zusammen mit der<br />

Blütezeit der Nachkriegsavantgarde, deren serielle und postserielle<br />

Protagonisten in Darmstadt und Donaueschingen<br />

ihre öffentlichkeitswirksame Bühne hatten. Nachfolger<br />

Strobels wurde 1971 zunächst Otto Tomek als <strong>neue</strong>r Hauptabteilungsleiter<br />

für <strong>Musik</strong> beim Südwestfunk (SWF, heute<br />

SWR).<br />

Tomek, der langjährige Leiter der Abteilung Neue <strong>Musik</strong><br />

des WDR und des Studios für elektronische <strong>Musik</strong> Köln<br />

sowie Programmkoordinator der Konzertserie »<strong>Musik</strong> der<br />

Zeit« war längst eine Schlüsselfigur der Neuen <strong>Musik</strong>, die aus<br />

dem Epizentrum der Kölner Avantgarde nach Donaueschingen<br />

kam und auf persönliche Kontakte zu den wichtigsten<br />

Kompo nistenpersönlichkeiten ihrer Zeit bauen konnte.<br />

Tomeks Programmgestaltung war jedoch keineswegs auf<br />

ideologische Verhärtungen aus, sondern trieb die programmatische<br />

Vielschichtigkeit, die Heinrich Strobel in seinen<br />

letzten <strong>Die</strong>nstjahren spürbar anstrebte, weiter voran. Mit der<br />

Gründung des Experimentalstudios der Heinrich-Strobel-<br />

Stiftung setzte Tomek 1971 eine Landmarke in der Geschichte<br />

der Neuen <strong>Musik</strong>. <strong>Die</strong> progressive Weiterentwicklung<br />

elektroakustischer Produktionsmöglichkeiten inspirierte<br />

zahlreiche bedeutende Auftragskompositionen des Festivals.<br />

1976 wurde Tomek, der 1977 als Hauptabteilungsleiter <strong>Musik</strong><br />

zum damaligen Süddeutschen Rundfunk ging, von Josef<br />

Häusler abgelöst, der seit 1959 beim SWF als Dramaturg und<br />

Redakteur arbeitete und das Festival schließlich bis 1991<br />

leitete.<br />

<strong>Die</strong> gesellschaftlichen Umbrüche im Kontext der 68er­ Bewegung<br />

mit ihren fundamentalen Relativierungen bürgerlicher<br />

Moral- und Wertvorstellungen ließen die damalige<br />

Kunstmusik – und somit Donaueschingens Programmplanungen<br />

– ebenfalls nicht unberührt und begünstigten<br />

eine wachsende Affinität zur Erweiterung und Auflösung traditioneller<br />

Aufführungsmodi. Das zeigte sich zu Beginn der<br />

1970er <strong>Jahre</strong> nicht nur in einer deutlichen Intensivierung des<br />

Jazz-Bereichs, sondern auch in der zunehmenden Integration<br />

musikalischer Aktivitäten und Konzeptionen, die über<br />

den Tellerrand einer konventionellen Partitur realisierung

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