08.10.2021 Aufrufe

Leseprobe "Gegenwärtig! 100 Jahre neue Musik - Die Donaueschinger Musiktage

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Younghi Pagh-Paan<br />

Mein Fenster<br />

3. Juni 1974: Ich komme am Flughafen in Frankfurt am Main an und<br />

fahre weiter mit dem Zug nach Freiburg im Breisgau, wovon ich so oft<br />

träumte. Ab Oktober werde ich dort an der Hochschule für <strong>Musik</strong> bei<br />

Professor Klaus Huber Komposition studieren. Damals habe ich wenig<br />

Ahnung, wie meine Lebenslinie weiter verlaufen wird.<br />

Am 18. Oktober 1974 fahren wir – unser Lehrer Klaus Huber und seine<br />

Studierenden – mit dem Auto nach Donaueschingen. Der Reiseweg<br />

ist wunderschön, Schwarzwald, Täler und Häuser, wie in einer<br />

märchenhaften Welt. Nach circa einer Stunde erreichen wir unser<br />

Reiseziel. Als wir in den Konzertsaal eintreten, bin ich total überrascht:<br />

so viele Konzertbesucher, eine energiegeladene Atmosphäre,<br />

fröhliche Gesichter.<br />

In Erinnerung an die Uraufführung von Inori von Karlheinz Stockhausen<br />

habe ich immer noch die Szene vor Augen: In der Mitte des<br />

Saals steht ein hohes Podium für einen Solisten. Stockhausen dirigiert<br />

das Orchester.<br />

Maulwerke von <strong>Die</strong>ter Schnebel: Wir, die Zuhörer, stehen alle vor den<br />

vielen Monitoren. Aber was die Kunst aus dem Monitor ausstrahlt … ich<br />

bin mehr als erschrocken. Ein groß geöffneter Mund, in der Mitte das<br />

Gaumenzäpfchen in Bewegung und dazu die Klänge. Vieles kann ich<br />

nicht verstehen und beinahe verliere ich den Boden unter den Füßen.<br />

Ich schwebe wie in einem kleinen Ballon, allein … ohne Halt.<br />

Ein junger Komponist, Wolfgang Rihm, 22 <strong>Jahre</strong> alt. <strong>Die</strong> weltberühmten<br />

John Cage und Luciano Berio. Und noch mehrere Uraufführungen von<br />

vielen Komponisten …<br />

Mit einem Schlag bin ich am Boden zerstört. Inmitten der begeisterten<br />

Konzertbesucher fühle ich mich total allein. Eine unnütze Kompositionsstudentin.<br />

Ich bin ja gerade erst aus Korea in Deutschland angekommen.<br />

Wie soll ich so etwas Neues verstehen? Allmählich tröste ich<br />

mich selbst und finde mich wieder.<br />

Auch wenn ich nur die Grundkenntnisse von chinesischen Schriften<br />

und Gedanken habe: Vor allem das Daodejing von Laozi lese ich sehr<br />

gern und denke oft darüber nach. Vor dem kalten Bahnhof in Donaueschingen<br />

fällt mir der darin enthaltene Vers 11 ein, in dem es um<br />

Nützliches und Unnützes geht. Seither ist Laozi mein Wegweiser dafür<br />

geworden, mich selbst »loszulassen«.<br />

Wenn ich Atemschwierigkeiten habe, denke ich an die Tage in Donaueschingen,<br />

was ich erlebt habe und nun in meinem Erinnerungskasten<br />

bewahre: Das nenne ich »mein Fenster«. Wenn ich frische Luft und<br />

Licht brauche, öffne ich »mein Fenster«. Was unnütz war, ist für mich<br />

nützlich geworden.<br />

Eine Szene aus John Cages<br />

Song Books, 1974<br />

Am 18. Oktober 1980 steht mein Stück SORI für großes Orchester als<br />

Uraufführung in Donaueschingen auf dem Programm. <strong>Die</strong> Zeiten sind<br />

vorbeigeflogen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!