MIT:INTERVIEW STREITGESPRÄCH „DEUTSCHLAND 2030“ „Das Individuum muss vor dem Kollektiv stehen“ Moderator Carsten Linnemann und Journalistin Anna Schneider (vorne) diskutierten mit den zugeschalteten CDU-Politikern Roland Koch, Friedrich Merz und Unternehmerin Sarna Röser. 20 mittelstandsmagazin <strong>01</strong>|22
MIT:INTERVIEW Wie könnte eine Vision von Deutschland im Jahr 2030 aus sehen? Und wie kann die Union diese Vision transportieren? Darüber diskutierten auf dem 15. Bundesmittelstandstag Welt-Chefreporterin Anna Schneider und Jungunternehmerin Sarna Röser mit dem CDU-Politiker Friedrich Merz und dem Chef der Ludwig-Erhard-Stiftung Roland Koch, moderiert von Carsten Linnemann. Linnemann: Wenn wir uns eine Reise ins Jahr 2030 vorstellen, was werden dann die größten Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft sein? Röser: Das ist ganz klar der demografische Wandel mit all seinen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme. Unser Rentensystem ist eine tickende Zeitbombe. Und da sind die Komplexe Klimaschutz und Energiewende, gerade vor dem Hintergrund der Versorgungssicherheit und Preisstabilität. Denn es sind die Unternehmen, die den gewünschten Umbau der Wirtschaft organisieren und dabei möglichst viele Arbeitsplätze erhalten müssen. Und hier spielt die Digitalisierung mit ihren Auswirkungen auf die Arbeitswelt eine große Rolle. Linnemann: All diese Probleme sind seit Jahren absehbar. Woran liegt es, dass die Politik die Probleme immer erst anzupacken scheint, wenn das Haus schon brennt? Merz: Wir haben in der Politik andere Mechanismen als in der Wirtschaft. Die Politik ist häufig reaktiv, während die Wirtschaft antizipativ agiert, also Entwicklungen vorwegzunehmen versucht. Die Politik muss deshalb mutiger sein, Probleme klar anzusprechen, auch wenn Teile der Bevölkerung darauf sensibel reagieren könnten. Das gilt umso mehr in einer Welt, die sich in einer immer größeren Geschwindigkeit dreht und mit der wir Europäer offensichtlich nicht Schritt halten. Aus meiner Sicht sind drei Themen bis 2030 für die Politik entscheidend. Erstens: Wie gelingt Wirtschaftspolitik in Zeiten des Klimawandels? Das zweite Thema ist die Gefährdung unserer inneren und äußeren Sicherheit durch internationale Krisen. Das dritte Thema sind die sozialen Sicherungssysteme im Zeichen des demographischen Wandels. Bei all diesen Themen muss die Politik – das gilt erst recht für uns in der Opposition – mutiger, schneller und glaubwürdiger werden. „Unser Rentensystem ist eine tickende Zeitbombe. “ Koch: Politik ist keine autonome Institution, die der Bevölkerung, den Unternehmen oder den Gewerkschaften die Zukunft vorschreiben kann. Politik bewegt sich in einem Rahmen. Dazu gehört, was zu einem bestimmten Zeitpunkt akzeptiert wird. Heute erleben wir, dass die Menschen ein großes Vertrauen in den Staat haben und sehr viel von ihm erwarten. Den freien Kräften des Marktes wird nicht viel Vertrauen entgegengebracht. Und das limitiert Politik. Um an Friedrich Merz anzuknüpfen: Ein Staat, der versucht, im Voraus zu planen, ist ein viel stärker regelnder Staat. Der reaktive Staat lässt andere erst einmal laufen – und greift ein, wenn es Handlungsbedarf gibt. Ein Staat, der meint, er wisse alles vorher und kann alles lenken, ist ein Staat, der den Anspruch erhebt, er sei so schlau, die Zukunft zu kennen. Daran habe ich erhebliche Zweifel. Ich glaube deshalb, dass die Politik die Bereitschaft zum Irrtum haben muss. Sarna Röser mittelstandsmagazin <strong>01</strong>|22 21