2022_04_24_Janowski-Wagner
Jean Sibelius Sinfonie Nr. 7 C-Dur (1924) Jean Sibelius „Luonnotar“ Tondichtung für Sopran und Orchester op. 70 (1913) Richard Wagner „Siegfried-Idyll“ (1870) Alban Berg Drei Bruchstücke aus „Wozzeck“ (1923) Marek Janowski | Dirigent Camilla Nylund | Sopran Dresdner Philharmonie
Jean Sibelius
Sinfonie Nr. 7 C-Dur (1924)
Jean Sibelius
„Luonnotar“ Tondichtung für Sopran und Orchester op. 70 (1913)
Richard Wagner
„Siegfried-Idyll“ (1870)
Alban Berg
Drei Bruchstücke aus „Wozzeck“ (1923)
Marek Janowski | Dirigent
Camilla Nylund | Sopran
Dresdner Philharmonie
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SINFONIEKONZERT<br />
Sibelius, <strong>Wagner</strong>, Berg<br />
SO <strong>24</strong>. APR <strong>2022</strong>, 11.00 UHR UND 18.00 UHR<br />
KULTURPALAST
5 JAHRE NEUER KULTURPALAST<br />
YOUNG<br />
APOLLO<br />
DO 5. MAI | 19.30 UHR<br />
KULTURPALAST<br />
ANTONIO VIVALDI<br />
Ouvertüre zur Oper ›L‘Olimpiade‹<br />
JOHANN SEBASTIAN BACH<br />
Klavierkonzert d-Moll<br />
BENJAMIN BRITTEN<br />
Variationen über ein Thema von Frank Bridge<br />
›Young Apollo‹ für Klavier, Streichquartett<br />
und Streichorchester<br />
WOLFGANG HENTRICH | Leitung<br />
FABIAN MÜLLER | Klavier<br />
PHILHARMONISCHES KAMMERORCHESTER DRESDEN<br />
Tickets 25 € | 9 € Schüler:innen, Junge Leute<br />
ticket@dresdnerphilharmonie.de<br />
dresdnerphilharmonie.de<br />
© Markenfotografie
PROGRAMM<br />
Jean Sibelius (1865 – 1957)<br />
Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 105 (19<strong>24</strong>)<br />
Adagio – Vivacissimo – Adagio – Allegro molto moderato – Allegro moderato –<br />
Vivace – Presto – Adagio – Largamente molto – Affettuoso<br />
»Luonnotar«<br />
Tondichtung für Singstimme und Orchester op. 70 (1913)<br />
(Text aus dem finnischen Nationalepos »Kalevala« von Elias Lönnrot)<br />
Moderato<br />
Pause<br />
Richard <strong>Wagner</strong> (1813 – 1883)<br />
»Siegfried-Idyll«<br />
Sinfonische Dichtung (1870)<br />
Ruhig bewegt – Lebhaft – Sehr ruhig – Bedeutend langsamer<br />
Alban Berg (1885 – 1935)<br />
Drei Bruchstücke für Gesang und Orchester aus der<br />
Oper »Wozzeck« op. 7 (1923)<br />
nach Georg Büchners Drama – für den Konzertgebrauch eingerichtet<br />
von Alban Berg<br />
I. Langsam (I. Akt, 2. und 3. Szene)<br />
II. Thema: Grave, sieben Variationen und Fuge (III. Akt, 1. Szene)<br />
III. Langsam (III. Akt, 4. und 5. Szene)<br />
Marek <strong>Janowski</strong> | Dirigent<br />
Camilla Nylund | Sopran<br />
Solisten der Dresdner Kapellknaben (Alban Berg, III. Bruchstück)<br />
Dresdner Philharmonie<br />
Deutschlandfunk Kultur zeichnet das Konzert auf und sendet es<br />
am 15. MAI <strong>2022</strong> ab 20.03 Uhr.<br />
Das Konzert wird zudem gestreamt und ist auf der Plattform<br />
takt1 live zu sehen.<br />
Danach steht es in der Mediathek von takt1 zur Verfügung.<br />
1
STEFFEN GEORGI<br />
Das Ewig-Weibliche<br />
zieht uns hinan<br />
Goethes Schlusssatz aus dem »Faust«, er<br />
könnte dem heutigen Konzert als Leitmotiv<br />
dienen. Mindestens zwei starke<br />
Frauenfiguren bilden das Fundament<br />
des Programms: Luonnotar bei Sibelius,<br />
Marie bei Berg. Luonnotar, der Jungfrau<br />
der Lüfte oder Tochter bzw. Nymphe der<br />
Natur, wie sie auch ins Deutsche übersetzt<br />
wird, sind im Gesamtwerk von<br />
Sibelius nur zehn Minuten Musik explizit<br />
gewidmet. Doch sie beeinflusste das kompositorische<br />
Denken des Finnen mehr<br />
als zwanzig Jahre lang. Nicht anders die<br />
prägenden Frauen, welche Alban Berg<br />
als Mensch und als Künstler wieder und<br />
wieder in ihren Bann gezogen haben:<br />
Helene, Hanna, Marie, Lulu… Den beiden<br />
exzellenten Vokalkompositionen des frühen<br />
20. Jahrhunderts, »Luonnotar« und<br />
»Bruchstücke aus ‚Wozzeck‘«, gehen im<br />
heutigen Konzertprogramm jeweils nicht<br />
minder beziehungsreiche Werke voraus.<br />
Während Jean Sibelius sozusagen sich<br />
selber kommentiert mit der letzten seiner<br />
sieben Sinfonien, führt nach der Pause<br />
Richard <strong>Wagner</strong>s »Siegfried«-Idyll, eine in<br />
jeder Hinsicht bemerkenswerte Orchesterkomposition,<br />
zu Alban Berg hin.<br />
2
Eine Sinfonie wie ein Fluss<br />
Sibelius’ Siebente<br />
Vom Wasser haben wir’s gelernt<br />
»Ich möchte eine Sinfonie mit einem<br />
Fluss vergleichen. Dieser entsteht durch<br />
eine Unzahl kleiner Bäche, welche voranstreben.<br />
Der Fluss mündet breit und<br />
mächtig ins Meer. Jedoch – heutzutage<br />
gräbt man das Flussbett breit und mächtig<br />
aus – man macht ganz einfach einen<br />
Fluss. – Doch woher das Wasser nehmen?<br />
Mit anderen Worten: Man lässt nicht das<br />
Motiv, den musikalischen Einfall seine<br />
Form sich suchen, sondern legt die Form<br />
groß und mächtig fest, und versucht zugleich,<br />
sie auszufüllen. Aber woher das<br />
Wasser nehmen – die Musik.« Das Bild<br />
des Flusses passt sehr gut zum Aufbau<br />
der Sinfonie Nr. 7, obwohl Sibelius die<br />
berühmten Sätze auf die Vierte Sinfonie<br />
bezogen hatte. Sein sinfonisches Verständnis<br />
unterschied sich von dem der<br />
Klassiker demnach vor allem dadurch,<br />
dass die Themen nicht gegeneinander<br />
aufgestellt, sondern aus gemeinsamen<br />
Keimzellen entwickelt wurden, mehr<br />
Jean Sibelius 1920<br />
noch, dass sie selbst darüber entschieden,<br />
in welche Richtung sie fließen, welcher<br />
Form sie sich einpassen sollten.<br />
Der Einsame von Ainola<br />
Sibelius nahm die Arbeit an der Siebenten<br />
Sinfonie bald nach Beendigung der<br />
sechsten auf. Bei beiden Werken griff er<br />
auf Skizzen zurück, die seit den Tagen<br />
des Ersten Weltkrieges in der Schublade<br />
lagen und seitdem nicht mehr angerührt<br />
worden waren. Zunächst plante er eine<br />
dreisätzige »Fantasia sinfonica«, keine<br />
3
»Sinfonie«. Doch wich er im Verlauf der<br />
Arbeit von diesem Konzept ab und fügte<br />
der Sinfonie Nr. 7 später den Untertitel<br />
»In einem Satz« hinzu. Sie sei Ausdruck<br />
der »Lebensfreude und Lebenskraft«,<br />
freilich mit »Appassionato-Zutaten«, kündigte<br />
Jean Sibelius die Sinfonie an, deren<br />
Partitur er 19<strong>24</strong> abgeschlossen hatte. Die<br />
Uraufführung der Sinfonie Nr. 7 fand 1925<br />
in Stockholm unter Leitung des Komponisten<br />
und mit dem Titel »Fantasia<br />
sinfonica« statt. Es folgten Aufführungen<br />
unter bedeutenden Dirigenten, in Philadelphia<br />
(Leopold Stokowski), in Boston<br />
und New York (Sergei Kussewitzky). In<br />
Finnland erklang die Siebente Sinfonie<br />
zum ersten Mal 1927.<br />
Dass Sibelius nach dieser Sinfonie binnen<br />
33 Jahren, die er noch zu leben hatte,<br />
kein einziges Werk mehr veröffentlicht<br />
hat, führte zu den gegensätzlichsten Spekulationen.<br />
Während die einen behaupteten,<br />
Sibelius hätte ein zweiter Richard<br />
Strauss sein müssen, um angesichts der<br />
Entwicklung der Musik überhaupt noch<br />
komponieren zu können, mutmaßten<br />
die anderen, er bewahre seine Schätze<br />
im Schreibtisch auf, um sie nicht der<br />
Öffentlichkeit in einer Zeit zu übergeben,<br />
die ihm wenig musenfreundlich gesinnt<br />
schien. Aber in Sibelius‘ Nachlass wurde<br />
nichts gefunden, auch nicht eine vermutete<br />
Achte Sinfonie.<br />
Panta rhei – alles fließt<br />
Gerade in der Sinfonie Nr. 7 treibt<br />
Sibelius die Idee von der sich selbst<br />
generierenden Form auf die Spitze. Zur<br />
Einsätzigkeit und zum fast durchgehenden<br />
6/4-Takt hinzu kommt eine quasi<br />
monothematische Substanz. Einleitende<br />
Gedanken bereiten den Boden. Danach<br />
entfaltet sich die volle Pracht eines satten<br />
Streicherchores. Doch bleibt dieses<br />
Motiv Episode. Erst am Ende der Sinfonie<br />
kommt es bruchstückhaft und stark<br />
verwandelt nochmals vor. Das eigentliche<br />
Hauptthema in C-Dur tritt nach dem<br />
Ausschwingen dieses Teiles auf. Sibelius<br />
vertraut es der Solo-Posaune an. Aus dem<br />
markanten Posaunenthema erwächst<br />
allmählich eine immer schnellere Bewegung,<br />
die den Charakter der Musik völlig<br />
verändert, ohne dass ein neues Thema<br />
eingeführt worden wäre. Vielmehr ertönt<br />
nun – quer dazu – eine Moll-Variante des<br />
Posaunenthemas und konterkariert selbst<br />
den Vorgang, den es ursprünglich ausgelöst<br />
hatte.<br />
4
Die Musik erhält als neue Qualität das<br />
Phänomen des Gleichzeitigen, ohne<br />
chaotisch zu werden, im Gegenteil: Zwei<br />
Bewegungen, auf ganz und gar natürliche<br />
Weise aus einem einzigen Fluss erwachsen,<br />
der sich in zwei, dann mehrere Arme<br />
aufteilt, die jeder für sich mäandern,<br />
Inseln bilden, ruhig kreisen, wieder zusammenfinden,<br />
schneller strömen oder<br />
im Schilf verharren – das sind die Qualitäten<br />
von Sibelius‘ letzter Sinfonie.<br />
Noch einmal beginnt das Spiel verschiedener<br />
Motive mit einer Steigerung bis zu<br />
stürmischem Presto. Schließlich erscheint<br />
ein drittes Mal das Hauptthema,<br />
nunmehr eingebettet in den Klang des gesamten<br />
Bläserchores. Gegen Ende zitiert<br />
Sibelius eine Harmoniefolge aus seinem<br />
»Valse triste« (19<strong>04</strong>). Kündigt sich hier<br />
der Abschied an? Den Ausklang bildet<br />
eine Rückführung auf die Substanz der<br />
Einleitung. Der letzte Takt mündet nach<br />
dissonanten Verästelungen in den reinen<br />
C-Dur-Akkord.<br />
JEAN SIBELIUS<br />
* 8. Dezember 1865 in Hämeenlinna<br />
† 20. September 1957 in Järvenpää bei Helsinki<br />
Sinfonie Nr. 7 C-Dur<br />
ENTSTEHUNG<br />
zwischen 1918 und 19<strong>24</strong><br />
URAUFFÜHRUNG<br />
am <strong>24</strong>. März 19<strong>24</strong> in Stockholm mit dem<br />
Philharmonischen Orchester unter der Leitung<br />
des Komponisten<br />
ERSTMALS VON DER DRESDNER<br />
PHILHARMONIE GESPIELT<br />
13. September 1990, Dirigent: Jörg-Peter Weigle<br />
ZULETZT<br />
8. April 2001, Dirigent: Alfredo Perl<br />
BESETZUNG<br />
2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte,<br />
4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken,<br />
Streicher<br />
DAUER<br />
ca. 22 Min.<br />
5
Urzeitstimmung<br />
»Luonnotar« von Jean Sibelius<br />
Robert Wilhelm Ekman (1808–1873):<br />
Luonnotar<br />
Ein Geist, der das Gute will<br />
»Wahnsinnig schwierig«, jedoch insgesamt<br />
»brillant und großartig« fand die<br />
finnische Primadonna Aino Ackté (1876-<br />
1944) die Kalevala-Vertonung »Luonnotar«,<br />
jene Komposition von Jean Sibelius,<br />
um die sie ihn schon mehrfach gebeten,<br />
die sie 1913 endlich von ihm bekommen<br />
hatte, um sie mit großem Erfolg am 10.<br />
September 1913 beim »Three Choirs Festival«<br />
in Gloucester uraufzuführen. Die<br />
zehnminütige Tondichtung mit obligater<br />
Sopranstimme war Sibelius in der Tat zu<br />
einem seiner besten und individuellsten<br />
Werke gelungen, welche mit den Sinfonien<br />
Nr. 6 und 7 sowie mit der Tondichtung<br />
»Tapiola« gleichauf rangiert. Bereits<br />
1894 trug sich der Komponist mit dem<br />
Gedanken, die beiden zentralen Kalevala-<br />
Figuren Väinämöinen und Luonnotar<br />
in einer Oper zu verewigen. Doch aus<br />
»Veneen luominen« (Der Bootsbau) wurde<br />
6
nichts. Auch zu dem 1902 begonnenen<br />
»Zauberspruch« für Sopran und großes<br />
Orchester kam es nicht, so dass Luonnotar<br />
1905/1906 in ein nach ihr benanntes<br />
Orchesterwerk einfließen sollte. Dieser<br />
Komposition gab Sibelius jedoch im letzten<br />
Moment den Titel »Pohjolas Tochter«.<br />
Schließlich veranlasste ihn der Anstoß<br />
von Aino Ackté, nun tatsächlich im Sommer<br />
1913 die Luonnotar-Idee zu verwirklichen,<br />
auch wenn ihm dann plötzlich die<br />
Zeit dafür zu kurz erschien.<br />
Ei!« (Nein! Nein!). Da hebt Luonnotar ihr<br />
Knie aus dem Wasser, der Vogel nimmt<br />
den Brutplatz an. Doch die Schwangere<br />
kann das Nest mit den bereits bebrüteten<br />
Eiern nicht halten. Sie verliert die Eier ins<br />
Wasser, wo sie zerschellen – und als Himmel,<br />
Mond und Sterne ans Firmament<br />
aufsteigen. Luonnotar hat ihre mythische<br />
Bestimmung als Urmutter der Welt erfüllt.<br />
Was geschieht?<br />
Luonnotar, ein weiblicher Luftgeist,<br />
schwebt seit ewigen Zeiten über der Welt.<br />
Ihrer Einsamkeit überdrüssig, wechselt<br />
sie das Medium. Aus der Luft steigt sie<br />
ins Meer hinab. Vom Urozean wird sie<br />
schwanger, kann aber 700 Jahre lang<br />
nicht gebären. Ihre einstigen Gefährten,<br />
die Winde, treiben ein wildes Spiel mit<br />
ihr. Ach, wäre sie doch in der Luft geblieben,<br />
weint sie unter Schmerzen. Gequält<br />
wendet sie sich an Ukko, den allmächtigen<br />
Gott. Da erscheint ein Lebewesen<br />
neben ihr im Wasser, ein Vogel: satko,<br />
die Ente. Sie sucht einen sicheren Platz<br />
für ihr Nest, für das Urnest sozusagen.<br />
Mitten auf dem Meer mutet das Unterfangen<br />
hoffnungslos an, die Ente klagt »Ei!<br />
Albert Edelfelt (1854–1905):<br />
Sonnenuntergang<br />
7
Musik und Struktur<br />
Das Orchester malt zu Beginn eine Urzeitstimmung<br />
vor der Erschaffung der<br />
Welt. Die Sopranstimme, die später einen<br />
Tonraum von zwei Oktaven ausfüllen<br />
muss, erhebt sich mit einer achttaktigen<br />
Melodie, die Sibelius im Mai 1909 in der<br />
Bar »Riché« in Berlin im Beisein von Eliel<br />
Aspelin-Haapkylä erfunden und ihm<br />
dann überreicht haben soll. Man hört<br />
die Elemente Wind und Wasser und die<br />
instrumentale Leere rund um die einsame<br />
Urmutter, auch ihre Verzweiflung in markanter<br />
Seufzermotivik. In Flötengestalt<br />
nähert sich die Ente, dramatisch rauscht<br />
die Musik auf während ihrer vergeblichen<br />
und von den Winden gestörten Suche<br />
nach einer Bleibe. Der dreimalige Angstschrei<br />
der Ente, am Schluss ein dreigestrichenes<br />
»ces« im Pianissimo, verlangt<br />
der Sängerin alles ab, denn sie hat abwechselnd<br />
die Rollen der Erzählerin, von<br />
Luonnotar und von der Ente inne. Wie in<br />
Trance erkennt Luonnotar ihre Aufgabe,<br />
hilft dem Vogel über mystischen Harfenakkorden,<br />
doch das Scheitern scheint<br />
bereits mit einkomponiert.<br />
»Visionarico« mündet Sibelius zum Ende<br />
in einen rätselhaften Dreiklang in Fis-Dur,<br />
den sich die Violinen teilen.<br />
Text und Wirkung<br />
Die Textauswahl nahm Sibelius selber aus<br />
den Zeilen 111-<strong>24</strong>2 des ersten »Kalevala«-<br />
Gedichtes vor. Doch zahlreiche Zeilenumstellungen<br />
und der ohnehin nicht vorhandene<br />
Charakter einer realen Handlung<br />
erschwerten das Textverständnis selbst<br />
beim finnischen Publikum. Jean Sibelius‘<br />
Frau Aino berichtete von einer Aufführung:<br />
»Es war absolut phantastisch. Total<br />
gigantisch, was den Umgang mit dem<br />
8
Thema betrifft. Ich glaube, gewöhnliche<br />
Leute verstanden überhaupt nichts. Es<br />
war wie ein fremder Adler, der Ursprung<br />
aller Existenz aus dem Urweltall.« Ende<br />
Oktober 1913 schickte Sibelius die überarbeitete<br />
Partitur von »Luonnotar« an<br />
Breitkopf & Härtel: »Heute beehre ich<br />
mich mein neuestes Werk: Luonnotar<br />
(Kalevala). für Sopran und Orchester.<br />
Op. 70, Ihnen zum Verlag anbieten.« Die<br />
Partitur erschien aber erst 1981 gedruckt!<br />
Noch 1978 befand Robert Layton: »‘Luonnotar‘<br />
ist eines jener Werke, die häufiger<br />
gerühmt als aufgeführt werden.«<br />
JEAN SIBELIUS<br />
* 8. Dezember 1865 in Hämeenlinna<br />
† 20. September 1957 in Järvenpää bei Helsinki<br />
»Luonnotar«<br />
Tondichtung für Singstimme und Orchester<br />
op. 70<br />
TEXT<br />
aus dem finnischen Nationalepos »Kalevala« von<br />
Elias Lönnrot, Textauswahl vom Komponisten<br />
ENTSTEHUNG<br />
Vollendet 1913<br />
URAUFFÜHUNG<br />
10. September 1913 auf dem Gloucester Music<br />
Festival in England, Solistin: Aino Ackté,<br />
Dirigent: Herbert Brewer, Festival Orchestra<br />
ERSTMALS IN EINEM KONZERT DER DRESDNER<br />
PHILHARMONIE<br />
BESETZUNG<br />
Solo-Sopran, 2 Flöten, 2 Oboen, 3 Klarinetten,<br />
Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten,<br />
3 Posaunen, Pauken, 2 Harfen, Streicher<br />
DAUER<br />
ca. 10 Minuten<br />
9
Tönende Hingabe<br />
<strong>Wagner</strong>s »Siegfried-Idyll«<br />
<strong>Wagner</strong> dirigiert das Siegfried-Idyll an der Haustreppe in Tribschen,<br />
Liebig-Bilder 1913<br />
Tönende Hingabe<br />
Eine Flöte, eine Oboe, zwei Klarinetten,<br />
ein Fagott, zwei Hörner, eine Trompete<br />
und Streicher. Diese für Richard <strong>Wagner</strong><br />
ungewöhnlich kleine Besetzung aus<br />
Züricher und Luzerner Musikern stellte<br />
sich am Morgen des 25. Dezember 1870 im<br />
Treppenhaus der Villa Am Rhyn in Tribschen<br />
auf und musizierte unter <strong>Wagner</strong>s<br />
Leitung jenes idyllische Ständchen, das<br />
später unter dem Namen »Siegfried-Idyll«<br />
in die Musikgeschichte eingehen sollte.<br />
Doch zunächst war es nur der intime<br />
Gruß <strong>Wagner</strong>s an seine Frau Cosima zu<br />
ihrem 33. Geburtstag.<br />
10
Franz Liszts Tochter Cosima, die seit 1857<br />
mit Hans von Bülow verheiratet war und<br />
zwei Töchter von ihm hatte, trat 1863 als<br />
Geliebte in Richard <strong>Wagner</strong>s Leben ein.<br />
Auf <strong>Wagner</strong>s Betreiben berief der bayerische<br />
König Ludwig II. Hans von Bülow,<br />
Cosimas Ehemann und <strong>Wagner</strong>s Freund,<br />
1864 nach München. Die Presse spottete<br />
über die Privatsphäre der beiden Musiker<br />
– gemeinsam wehrten sie einen Skandal<br />
ab. Seit 1867 lebte Cosima mit <strong>Wagner</strong> in<br />
der Villa der Patrizierfamilie Am Rhyn in<br />
Tribschen bei Luzern zusammen, 1868<br />
dirigierte Bülow die Münchner Uraufführung<br />
der »Meistersinger« und verhalf<br />
<strong>Wagner</strong> zum bis dahin größten Erfolg.<br />
Nach der Geburt von Siegfried <strong>Wagner</strong>,<br />
des dritten Kindes und einzigen Sohnes<br />
von Cosima und Richard, resümierte Bülow<br />
1869: »Das Gebäude meiner Hörner ist<br />
somit auf die glänzendste Weise gekrönt<br />
worden.« Resigniert gab er der Trennung<br />
statt. Cosima und Richard <strong>Wagner</strong> heirateten<br />
im April 1870.<br />
Vor diesem Hintergrund lässt sich ermessen,<br />
weshalb <strong>Wagner</strong> die lang entbehrte<br />
Idylle gemeinsamen Glückes mit einer<br />
Komposition besingen muss. Cosima hütet<br />
zunächst ihr »süßes Geheimnis« ganz<br />
für sich. Noch 1874 wäre es ihr schrecklich<br />
gewesen, »dieses Werk der Öffentlichkeit<br />
hingeliefert zu sehen«. Doch 1877 zwingen<br />
einmal mehr finanzielle Sorgen <strong>Wagner</strong>,<br />
die von den Kindern respektlos »Treppenmusik«<br />
genannte Komposition einem<br />
Verlag zu übergeben. »Das Idyll geht<br />
heute ab, der geheimnisvolle Schatz wird<br />
zum Gemein-Gut, möge die Freude der<br />
Menschen daran dem Opfer gleichkommen,<br />
das ich bringe«, knirscht <strong>Wagner</strong> am<br />
19. November.<br />
Doch gibt er dem »Siegfried-Idyll« ein<br />
selbstverfasstes Gedicht bei, das den<br />
Stolz auf den Stammhalter der Familie in<br />
die Liebeserklärung an Cosima mit einbezieht.<br />
Das thematische Material geht<br />
zurück auf Skizzen zu einem Streichquartett,<br />
das <strong>Wagner</strong> in den ersten acht<br />
glücklichen Tagen mit Cosima 1864 am<br />
Starnberger See begonnen hat. Vor allem<br />
aber ist es eng verwoben mit dem 3. Aufzug<br />
der Oper »Siegfried«.<br />
11
Cosima und Richard <strong>Wagner</strong><br />
»Jetzt lock ich ein liebes Gesell!«<br />
Auf einem feuerumloderten Felsen wartet<br />
seit einer Generation Brünnhilde auf den<br />
Furchtlosen. Um zu ihr zu gelangen, muss<br />
er den Flammenwall bezwingen. <strong>Wagner</strong><br />
ist in seinem Element, es wabert die Lohe<br />
von zweiunddreißig Geigen, es stieben die<br />
Funken aus sechs Harfen. Schließlich, in<br />
aufsteigenden Violingirlanden, verlischt<br />
das Feuer. Vorsichtig nähert sich der<br />
Recke der schlafenden Gestalt. Walkürenritt<br />
und Wotans Abschied, Schicksal und<br />
Schwert – die Motive stehen Spalier, sind<br />
genauso neugierig wie Siegfried selbst.<br />
Siegfried vermutet einen Krieger, lüftet<br />
den Panzer und erkennt – das Weib. Er,<br />
der noch nie eine Frau gesehen hat. Was<br />
tut er? Er fleht nach der Mutter und lernt<br />
das Fürchten! Doch Siegfried nimmt sich<br />
vor zu lieben, »sollt’ ich auch sterbend<br />
vergehn!« Sein Eros weiß, dass er sich<br />
von den Banden der Furcht wieder lösen<br />
muss, die ihm die Gegenwart der Frau<br />
angelegt hat. Dazu wirft er alles in die<br />
Waagschale: Er will das Weib. Oder den<br />
Tod. Brünnhilde erschrickt vor so viel Ungestüm,<br />
sie fürchtet um ihre »Sinne, Weisheit<br />
und Wissen«, fürchtet, sich selbst zu<br />
verlieren im Akt der Hingabe: »Brünnhilde<br />
bin ich nicht mehr!« Recht hat sie.<br />
Doch <strong>Wagner</strong> wendet einen seiner raffiniertesten<br />
Tricks an: Er umgarnt die<br />
zaudernd Liebenden wie das verzückte<br />
Publikum mit einer berückend schönen<br />
Melodie. Im zarten Gespinst des just in<br />
diese Szene eingewobenen »Siegfried-<br />
12
Idylls« lösen sich alle Ängste in Luft auf.<br />
Phantastische Oper und reales Leben verschmelzen:<br />
Das Geburtstagsgeschenk an<br />
die seit vier Monaten mit Richard offiziell<br />
verbundene Cosima vom 25. Dezember<br />
1870 ist zugleich das innige Wiegenlied<br />
für den gemeinsamen Sohn Siegfried, der<br />
am 6. Juni 1869 das Licht der Welt erblickt<br />
hatte, zu einer Zeit also, als Cosima noch<br />
mit Hans von Bülow verheiratet war.<br />
Am 14. Juni war »Siegfried« fertig komponiert,<br />
am 15. bat Cosima Bülow um<br />
die Trennung. Am 16. willigte der in die<br />
Scheidung ein.<br />
Widmung des »Siegfried-Idylls«<br />
an Cosima <strong>Wagner</strong><br />
Es war Dein opfermuthig hehrerWille,<br />
Der meinem Werk die Werdestätte fand,<br />
Von Dir geweiht zu weltentrückter Stille,<br />
Wo nun es wuchs und kräftig uns erstand,<br />
Die Heldenwelt uns zaubernd zum Idylle,<br />
Uraltes Fern zu trautem Heimathland.<br />
Erscholl ein Ruf da froh in meine Weisen:<br />
‚Ein Sohn ist da!’ – der musste Siegfried heißen.<br />
Für ihn und Dich durft’ ich in Tönen danken, –<br />
Wie gäb’ es Liebesthaten hold’ren Lohn?<br />
Sie hegten wir in uns’res Heimes Schranken,<br />
Die stille Freude, die hier ward zum Ton.<br />
Die sich uns treu erwiesen ohne Wanken,<br />
So Siegfried hold, wie freundlich uns’rem Sohn,<br />
Mit Deiner Huld sei ihnen jetzt erschlossen,<br />
Was sonst als tönend Glück wir still genossen.<br />
13
RICHARD WAGNER<br />
* 22. Mai 1813 in Leipzig<br />
† 13. Februar 1883 in Venedig<br />
»Siegfried-Idyll«<br />
Sinfonische Dichtung für Kammerorchester<br />
WWV 103<br />
ENTSTEHUNG<br />
1870<br />
WIDMUNG<br />
(in der Urfassung:) »Tribschener Idyll mit<br />
Fidi-Vogelgesang und Orange-Sonnenaufgang,<br />
als Symphonischer Geburtstagsgruss. Seiner<br />
Cosima dargebracht von Ihrem Richard.«<br />
Richard <strong>Wagner</strong> komponierte das Werk für seine<br />
Frau Cosima zur Erinnerung an die Geburt ihres<br />
ersten Sohnes Siegfried, auch »Fidi« genannt.<br />
URAUFFÜHRUNG<br />
Uraufgeführt im engsten Familienkreis am<br />
Weihnachtstag 1870, der zugleich Cosimas 33.<br />
Geburtstag war, durch Mitglieder des Zürcher<br />
Tonhalleorchesters. Die Uraufführung fand auf<br />
einer Treppe in <strong>Wagner</strong>s Landhaus Tribschen bei<br />
Luzern in einer Kammerbesetzung statt.<br />
ERSTMALS VON DER DRESDNER<br />
PHILHARMONIE GESPIELT<br />
29. Dezember 1915, Dirigent: Florenz Werner<br />
ZULETZT<br />
3. Februar 2013, Dirigent: François-Xavier Roth<br />
BESETZUNG<br />
Flöte, Oboe, 2 Klarinetten, Fagott, 2 Hörner,<br />
Trompete und Streicher<br />
DAUER<br />
ca. 23 Minuten<br />
14
Entfremdungen<br />
Bruchstücke aus »Wozzeck«<br />
Abgrund Mensch<br />
Es begab sich in einer deutschen Stadt<br />
mit Militär und Universität anno 18<strong>24</strong>.<br />
Der Soldat Woyzeck hatte seine Geliebte<br />
Marie getötet und war als einer der ersten<br />
Täter der Kriminalgeschichte auf Zurechnungsfähigkeit<br />
untersucht worden. Herr<br />
Dr. Clarus befand ihn für schuldfähig,<br />
worauf Woyzeck zum Tode verurteilt und<br />
am 27. August 18<strong>24</strong> in Leipzig hingerichtet<br />
wurde. Später vermutete man, dass der<br />
Soldat unter Depression, Schizophrenie,<br />
Verfolgungswahn und Depersonalisation<br />
gelitten habe. Georg Büchners Dramenfragment<br />
nach dieser realen Geschichte<br />
regte Manfred Gurlitt und Alban Berg zu<br />
musikalischer Durchdringung an.<br />
Alban Berg, hineingeboren in die sozialen<br />
Verwerfungen der Wende vom 19. zum<br />
20. Jahrhundert, verstand sich nicht nur<br />
im Falle des Woyzeck-Stoffes auf subtilste<br />
Alban Berg<br />
Auslotung der weitreichenden zwischenmenschlichen<br />
Entfremdungen seiner<br />
Gegenwart. Er selbst hatte persönlich und<br />
in seinem engsten Umfeld mit Themen<br />
wie Schuld und Sühne umzugehen. Sein<br />
seismographischer Sinn für die allgemeinen<br />
Aspekte der fundamentalen Störungen<br />
von Kommunikation und Zusammenleben<br />
ging einher mit einem genialen<br />
musikalischen Sprachvermögen. Er ist<br />
ohne Frage der größte Komponist der<br />
Zweiten Wiener Schule.<br />
15
Von Woyzeck zu Wozzeck<br />
Mit der formalen Bündelung der »vielen<br />
losen, ja fragmentarischen Szenen« (Berg)<br />
von Georg Büchner zu einem Opernlibretto<br />
und mit dessen mehrschichtiger<br />
musikalischer Ausdeutung im Sinne einer<br />
psychologischen Durchleuchtung der Figuren<br />
gelang Alban Berg das erste Opern-<br />
Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts.<br />
Erstmals in Kontakt mit dem Stoff kam<br />
er im Jahre 1914. Bereits während seiner<br />
Militärzeit als Soldat der österreichischen<br />
Armee von 1915 bis 1918 arbeitete er am<br />
Libretto, in dem er sich zugleich immer<br />
weiter von Büchners Vorlage entfernte,<br />
gar den Namen des Helden von Woyzeck<br />
in Wozzeck änderte. Weitere drei Jahre<br />
dauerte es, die Partitur zu vollenden.<br />
Anschließend bedurfte es noch mehrerer<br />
Anläufe, die Uraufführung im Dezember<br />
1925 an der Berliner Staatsoper durchzusetzen.<br />
Zu neu, zu schwierig war das Werk<br />
für alle Beteiligten. Erich Kleiber, der<br />
leidenschaftliche junge Dirigent, benötigte<br />
sagenhafte 34 Orchesterproben, um die<br />
Uraufführung vorzubereiten.<br />
Die heute im Konzert erklingenden Bruchstücke<br />
extrahierte Berg 1923 aus der fertig<br />
komponierten Oper zum Zweck der breiteren<br />
Bekanntmachung. Sie erzielten bei<br />
ihrer ersten Aufführung unter Hermann<br />
Scherchen 19<strong>24</strong> in Frankfurt am Main<br />
großen Erfolg.<br />
Verführt und betrogen<br />
Die konzertanten »Bruchstücke« sind<br />
keine Bruchstücke im Sinne von Büchners<br />
diskontinuierlichen Fragmenten, sondern<br />
von Berg sorgfältig ausgewählte Szenen,<br />
die ihrerseits einer musikalisch schlüssigen<br />
Logik folgen. Berg beschränkt sich<br />
in den Bruchstücken auf die Darstellung<br />
der Marie, trotz verfügbarem Kindesvater<br />
alleinerziehende Mutter, unglückliche<br />
Gefährtin des manipulierten Soldaten<br />
Wozzeck, schließlich sein Opfer. »Ja, die<br />
ganze Tragödie dieser Frau ist damit gegeben.<br />
Und wiewohl die zwei Männer gar<br />
nicht darin vorkommen, weiß man alles«,<br />
schreibt Berg an Webern.<br />
Der zweite Mann neben Wozzeck ist der<br />
Tambourmajor: ein Eindruck schindender<br />
Gockel. In seinem musikalischen Auftritt<br />
eingangs der dritten Szene des ersten<br />
Aktes ist alles etwas zu groß und zu laut<br />
geraten: die großspurig-schrille Orches-<br />
16
trierung, die an sich banalen, hier aber<br />
überschießenden Quarten und Quinten,<br />
die aufdringliche Lautstärke. Irgendwie<br />
scheint er immer zu schnell zu kommen.<br />
Doch das Imponiergehabe des Blenders<br />
funktioniert: »Soldaten, Soldaten sind<br />
schöne Burschen«, trällert Marie. Das<br />
Frappierende daran ist, dass Bergs Musik<br />
keinen Zweifel daran lässt, welchen Soldaten<br />
Marie mit ihrer Schwärmerei meint.<br />
Sie besitzt doch nichts als die Liebe zu<br />
ihrem »Hurenkind« mit dem »unehrlichen<br />
Gesicht«. Warum sollte sie nicht<br />
von einem schmucken Soldaten träumen<br />
dürfen? Der andere, ihr Freund Wozzeck,<br />
sagt nichts dazu, die Musik tut es für ihn.<br />
Sünde und Strafe<br />
Im zweiten Bruchstück treffen wir auf<br />
Marie nach dem Treuebruch. Sie liest aus<br />
der Bibel Passagen über Ehebruch und<br />
Verzeihen. Mit tonloser Stimme spricht<br />
sie die Verse. Berg führt hier das Stilmittel<br />
des Melodramas ein, exakt rhythmisch<br />
vorgegebener Sprechgesang mit ungefähren<br />
Tonhöhen. Schneidend scharf<br />
brechen Maries persönliche Reflexionen<br />
immer wieder aus ihr heraus und mitten<br />
in das Gelesene hinein. Die Ebene der<br />
bitteren Realität verdeutlicht Berg mit expressivem<br />
Gesang. Zwei Seelen tönen hier<br />
aus einer Brust, die Identifikation mit der<br />
heiligen Maria Magdalena und die Wahrnehmung<br />
der eigenen heillosen Situation.<br />
Berg wählt eine symbolgetränkte Form:<br />
Einem siebentaktigen Thema (vier Takte<br />
für den Bibeltext, drei für Maries Exaltation)<br />
folgen sieben Variationen und eine<br />
Fuge. Beide Themen der abschließenden<br />
Doppelfuge sind siebentönig. Insgesamt<br />
ist die Szene 70 Takte lang. Wozzeck war<br />
in der Apokalypse an die sieben Todsünden<br />
gelangt, Marie las von den sieben<br />
Dämonen, die Jesus der Maria Magdalena<br />
austrieb. Wird er auch ihr vergeben? Marie<br />
fragt ihn im verzweifelten Duktus des<br />
Gekreuzigten, »Mein Gott, warum hast<br />
du mich verlassen?« aus Bachs Matthäuspassion.<br />
Der Schluss des Satzes bohrt sich<br />
tief in die Seele. Ein tröstlicher tonaler<br />
Ruhepunkt scheint endlich erreicht. Harfe<br />
und Celesta perlen gen Himmel. Doch<br />
der tiefe Orgelpunkt der Trompeten, Celli<br />
und Kontrabässe drückt bedrohlich nach,<br />
leise und böse.<br />
17
Das Leben – ein Kinderspiel<br />
Das dritte Bruchstück treibt nach dem<br />
Mord an Marie nun auch auf Wozzecks<br />
Tod zu. Motive aus allen vorausgegangenen<br />
Szenen unterstreichen das Unausweichliche<br />
der beiden Opfer. Die<br />
sprachlose Aggressivität Wozzecks<br />
liefert ihn den mächtigen Manipulierern<br />
aus. Marie hat sich zugleich angst- und<br />
lustvoll ihrem Schicksal ergeben. Beide<br />
finden eine Art Erlösung durch die Tat.<br />
Was bleibt, sind das amüsierte Kichern<br />
der Strippenzieher und der lapidar-teilnahmslose<br />
Reigen der Kinder als Symbole<br />
des ewig wiederkehrenden, stupiden<br />
Teufelskreises aus Armut und Abhängigkeit.<br />
Was soll Maries Sohn dazu sagen<br />
außer »Hopp-hopp«? Der Kuckuck im<br />
Walde könnte nicht weniger Anteilnahme<br />
zeigen. Gleichgültig lassen Flöten und<br />
Celesta die Zeit vertröpfeln.<br />
ALBAN BERG<br />
* 9. Februar 1885 in Wien<br />
† <strong>24</strong>. Dezember 1935 ebenda<br />
Drei Bruchstücke aus<br />
»Wozzeck« für Gesang<br />
und Orchester<br />
TEXT<br />
Alban Berg nach dem Dramenfragment<br />
»Woyzeck« von Georg Büchner (1837)<br />
ENTSTEHUNG<br />
1923<br />
URAUFFÜHUNG<br />
UA der Drei Buchstücke am 11. Juni 19<strong>24</strong> beim<br />
Internationalen Musikfest in Frankfurt, Dirigent:<br />
Hermann Scherchen<br />
UA der Oper »Wozzeck« am 14. Dezember 1925<br />
in Berlin, Dirigent: Erich Kleiber<br />
ERSTMALS IN EINEM KONZERT DER DRESDNER<br />
PHILHARMONIE<br />
BESETZUNG<br />
4 Flöten (2 auch Piccolo), 4 Oboen<br />
(1 auch Englischhorn), 4 Klarinetten<br />
(2 auch Es-Klarinette), Bassklarinette,<br />
3 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 4 Trompeten,<br />
Altposaune, 2 Tenorposaunen, Bassposaune,<br />
Tuba, Pauken, Schlagzeug, Celesta, Harfe,<br />
Streicher<br />
DAUER<br />
ca. 20 Minuten<br />
18
GESUNGENE TEXTE<br />
Jean Sibelius: »Luonnotar«<br />
Text: aus dem finnischen Nationalepos »Kalevala« von Elias Lönnrot (1802–1884)<br />
Übersetzung: Alfred Julius Boruttau (1877–1940)<br />
Einst webte hoch in höchster Höhe,<br />
einsam, Luonnotar, urerzeugt,<br />
ein Kind urew'ger Natur.<br />
Traurig trieb und trostlos hin ihr<br />
trübes, nimmer frohes Dasein.<br />
Steil zur Tiefe stieg sie nieder,<br />
sank zur schauernden See hinab.<br />
Sieben hundert und siebzig<br />
Sonnenjahre zog flüchtig sie,<br />
jene Jungfraue, fort und fern --<br />
hin durch weite Wasserfluten.<br />
Da steht auf ein wilder Sturmwind<br />
und türmt heulend die Wellen hoch.<br />
»Wehe, wehe, wehe, ach, mir Armen, warum atm' ich?!<br />
Wahrlich, besser wär' mir wohl, blieb ich auf bleicher Höhe<br />
leichter, lichter Lüfte, frohe, freie Jungfrau.<br />
Ach, Ukko, hehrer, heil'ger Vater!<br />
schicke Hilfe meiner Schande!«<br />
Flink und flüchtig flattert her ein<br />
Vöglein, flattert ostwärts, westwärts,<br />
schwingt sich auf Mittag und Mitternacht<br />
nirgends doch breitet sich ein Brutplatz ihm.<br />
19
»Nein! Nein! Nein!<br />
Häng' ich in die Winde mein Häuschen klein,<br />
bau' ich auf die bitt're Meeresflut<br />
mutig mein Bergenest,<br />
zerstört's der Sturmwind mir,<br />
spült es die wilde Welle weg wie Spreu.«<br />
Doch sieh', da streckt die Tochter der<br />
Luft ihr Knie aus dem kühlen Strudel,<br />
darauf baut der Vogel sein bergend Nest,<br />
brütet bang die Brut.<br />
Luonnotars Leib spürt bitt'rer Schmerzen Leid,<br />
zurück reißt rasend sie ihr Knie,<br />
tief in Tiefen das Nestchen taucht,<br />
und der Braus zerbricht die Eier alle.<br />
Doch herrlich stehen auf die Hälften,<br />
denn aus dem höchsten Schwung der Schale<br />
schmiedet sich des Himmels Schöne,<br />
aus dem obern Mark des Weißen<br />
wölbt sich des Mondes milder Weiher,<br />
und aus den Sprenkeln<br />
ersprießt das Sternenheer;<br />
das himmlische Sternenheer.<br />
20
Alban Berg: Drei Bruchstücke aus »Wozzeck«<br />
Text: Alban Berg nach »Woyzeck« von Georg Büchner<br />
I.<br />
1. AKT, 2. und 3. Szene<br />
(Orchesternachspiel und beginnende Militärmusik.<br />
Die Militärmusik – mit dem Tambourmajor an der Spitze – gelangt in<br />
die Straße vor Mariens Fenster.)<br />
Soldaten, Soldaten sind schöne Burschen.<br />
(Sie schlägt das Fenster zu; bleibt allein mit dem Kind; die Militärmusik<br />
ist plötzlich – als Folge des zugeschlagenen Fensters – unhörbar<br />
geworden.)<br />
Komm, mein Bub! Was die Leute wollen!<br />
Bist nur ein arm’ Hurenkind<br />
und machst Deiner Mutter doch so viel Freud’<br />
mit Deinem unehrlichen Gesicht!<br />
Eia popeia ...<br />
Mädel, was fängst Du jetzt an?<br />
Hast ein klein Kind und kein Mann!<br />
Ei, was frag’ ich darnach,<br />
Sing’ ich die ganze Nacht:<br />
Ei popeia, mein süsser Bu’,<br />
Gib mir kein Mensch nix dazu!<br />
Hansel, spann’ Deine sechs Schimmel an,<br />
Gib sie zu fressen aufs neu -<br />
Kein Haber fresse sie,<br />
Kein Wasser saufe sie,<br />
Lauter kühle Wein muss es sein!<br />
Lauter kühle Wein muss es sein!<br />
(Marie in Gedanken versunken ... )<br />
21
II.<br />
3. Akt, 1. Szene<br />
(Mariens Stube. Es ist Nacht. Kerzenlicht. Marie sitzt allein am<br />
Tisch und blättert in der Bibel. Das Kind ist in der Nähe.)<br />
(Marie liest:)<br />
»Und ist kein Betrug in seinem Munde erfunden worden« ...<br />
(Singt:)<br />
Herr Gott, Herr Gott! Sieh mich nicht an!<br />
(Blättert weiter und liest wieder)<br />
»Aber die Pharisäer brachten ein Weib zu ihm, so im Ehebruch lebte.<br />
Jesus aber sprach: ‚So verdamme ich dich auch nicht, geh’ hin, und<br />
sündige hinfort nicht mehr.’«<br />
(Singt:)<br />
Herr Gott!<br />
(Schlägt die Hände vors Gesicht. Das Kind drängt sich an Marie.)<br />
Der Bub’ gibt mir einen Stich in’s Herz. Fort!<br />
(Stößt das Kind von sich)<br />
Das brüst’ sich in der Sonne!<br />
(Plötzlich milder)<br />
Nein, komm, komm her!<br />
(Zieht das Kind an sich)<br />
Komm zu mir!<br />
(Spricht:)<br />
Es war einmal ein armes Kind und hatt’ keinen Vater und keine Mutter<br />
... war Alles tot und war Niemand auf der Welt, und es hat gehungert<br />
und geweint – Tag und Nacht.<br />
Und weil es Niemand mehr hatt’ auf der Welt ...<br />
22
(Singt:)<br />
Der Franz ist nit kommen, gestern nit, heut’ nit ...<br />
(Blättert hastig in der Bibel)<br />
Wie steht es geschrieben von der Magdalena? ...<br />
»Und kniete hin zu seinen Füßen und weinte und küsste seine Füße<br />
und netzte sie mit Tränen und salbte sie mit Salben ...«<br />
(Schlägt sich auf die Brust)<br />
Heiland! Ich möchte Die die Füße salben ...<br />
Heiland, Du hast Dich ihrer erbarmt, erbarme Dich auch meiner!<br />
(Orchester-Nachspiel, Fortsetzung der Fuge)<br />
III.<br />
3. Akt, 4. und 5. Szene<br />
(Der Mond bricht blutrot hinter den Wolken hervor.<br />
Wozzeck blickt auf. Geht in den Teich hinein. Ertrinkt.<br />
Orchester-Zwischenspiel: Adagio.)<br />
(Vor Mariens Haustür. Heller Morgen. Sonnenschein. Kinder spielen<br />
und lärmen. Mariens Knabe auf einem Steckenpferd reitend.)<br />
(Kinder singen, ad libitum instrumental:)<br />
Ringel, Ringel, Rosenkranz. Ringelreih’n, Ringel, Ringel,<br />
Rosenkranz, Ring ...<br />
(Sie unterbrechen Gesang und Spiel, da andere Kinder hereinstürzen.)<br />
(Mariens Knabe, immer reitend, ad libitum instrumental:)<br />
Hopp, hopp! Hopp, hopp! Hopp, hopp!<br />
23
DIRIGENT<br />
MAREK<br />
JANOWSKI<br />
Marek <strong>Janowski</strong> ist seit 2019/20<br />
Chefdirigent und Künstlerischer<br />
Leiter der Dresdner Philharmonie.<br />
Zuvor leitete er u. a. das Orchestre<br />
Philharmonique de Radio France<br />
und das Rundfunk-Sinfonieorchester<br />
Berlin.<br />
BIOGRAPHIE ONLINE<br />
<strong>24</strong>
SOPRAN<br />
CAMILLA<br />
NYLUND<br />
Camilla Nylund, geboren in Vaasa<br />
(Finnland), gehört zu den international<br />
begehrtesten Sängerinnen<br />
ihres Fachs und ist an allen bedeutenden<br />
Opernhäusern regelmäßiger<br />
Gast – an der Semperoper<br />
Dresden, der Wiener Staatsoper,<br />
der Bayerischen Staatsoper München,<br />
der Metropolitan Opera<br />
New York u. a. Das Repertoire der<br />
Künstlerin schließt alle großen<br />
Partien des klassisch-romantischen<br />
Repertoires ein, wobei Camilla Nylund<br />
besonders mit ihrer Interpretation<br />
der Partien Richard <strong>Wagner</strong>s<br />
und Richard Strauss‘ künstlerische<br />
Maßstäbe setzt. Eine Bereicherung<br />
erfuhr das Repertoire Camilla Nylunds<br />
zuletzt u. a. durch ihr Debüt<br />
als Marie in der Wozzeck-Neupro-<br />
duktion der Deutschen Oper am<br />
Rhein Düsseldorf. Ein besonderes<br />
Augenmerk Camilla Nylunds gilt<br />
auch dem Lied. 2019 erhielt sie den<br />
Finnischen Staatspreis für Musik.<br />
BIOGRAFIE ONLINE<br />
25
DRESDNER<br />
KAPELLKNABEN<br />
Die Dresdner Kapellknaben sind<br />
der Knabenchor der Dresdner<br />
Kathedrale. Hier gestalten sie an<br />
Sonntagen und Hochfesten die<br />
Gottesdienste mit. Außerdem sind<br />
sie häufig bei Konzerten im Inund<br />
Ausland zu erleben. Die Kapellknaben<br />
stehen in der Tradition<br />
des Sächsischen Hofes. Im Jahre<br />
1548 erließ Kurfürst Moritz von<br />
Sachsen eine »Cantoreiordnung«<br />
und errichtete damit für den Hofgottesdienst<br />
eine Hofkantorei, aus<br />
der neben den Kapellknaben auch<br />
die Hofkapelle (Sächsische Staatskapelle)<br />
hervorging. Besonders in<br />
der Zeit von 1615 bis 1672 erlangte<br />
die Kantorei eine hohe künstleri-<br />
sche Qualität, denn mit Heinrich<br />
Schütz stand dieser Institution ein<br />
damals wie heute sehr bekannter<br />
Komponist und Künstler als Hofkapellmeister<br />
vor. Als katholischer<br />
König von Polen engagierte August<br />
der Starke für seine Hofkirche<br />
Sängerknaben aus Böhmen.<br />
26
ORCHESTER<br />
DRESDNER<br />
PHILHARMONIE<br />
Musik für alle – Die Dresdner<br />
Philharmonie steht für Konzerte<br />
auf höchstem künstlerischen<br />
Niveau, musikalische Bildung für<br />
jedes Alter und den Blick über den<br />
musikalischen Tellerrand hinaus.<br />
Gastspiele auf fast allen Kontinenten<br />
und die Zusammenarbeit mit<br />
Gästen aus aller Welt haben den<br />
Ruf des Orchesters in der internationalen<br />
Klassikwelt verankert.<br />
Seit der Konzertsaison 2019/2020<br />
ist Marek <strong>Janowski</strong> zum zweiten<br />
Mal Chefdirigent und künstlerischer<br />
Leiter der Dresdner Philharmonie.<br />
BIOGRAFIE ONLINE<br />
27
IMPRESSUM<br />
HERAUSGEBER<br />
Intendanz<br />
der Dresdner Philharmonie<br />
Schloßstraße 2, 01067 Dresden<br />
T +49 351 4866-282<br />
dresdnerphilharmonie.de<br />
CHEFDIRIGENT UND<br />
KÜNSTLERISCHER LEITER<br />
Marek <strong>Janowski</strong><br />
INTENDANTIN<br />
Frauke Roth (V.i.S.d.P.)<br />
TEXT<br />
Steffen Georgi<br />
Der Text ist ein Originalbeitrag<br />
für dieses Heft;<br />
Abdruck nur mit ausdrücklicher<br />
Genehmigung des Autors.<br />
Textnachweise<br />
Übersetzung Luonnotar:<br />
www.lieder.net<br />
REDAKTION<br />
Dr. Claudia Woldt und<br />
Adelheid Schloemann<br />
BILDNACHWEISE<br />
Wikimedia commons<br />
S.3, 6, 7, 10, 12, 15<br />
Markenfotografie S. <strong>24</strong><br />
annas-foto.de S. 25<br />
Björn Kadenbach S. 27<br />
MUSIKBIBLIOTHEK<br />
Die Musikabteilung der<br />
Zentralbibliothek (2. OG) hält<br />
zu den aktuellen Programmen<br />
der Philharmonie für<br />
Sie in einem speziellen Regal<br />
am Durchgang zum Lesesaal<br />
Partituren, Bücher und CDs<br />
bereit.<br />
Preis 2,50€<br />
Änderungen vorbehalten.<br />
Wir weisen ausdrücklich<br />
darauf hin, dass Bild- und<br />
Tonaufnahmen jeglicher Art<br />
während des Konzertes durch<br />
Besucher grundsätzlich<br />
untersagt sind.<br />
Die Dresdner Philharmonie als Kultureinrichtung der Landeshauptstadt<br />
Dresden (Kulturraum) wird mitfinanziert durch<br />
Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag<br />
beschlossenen Haushaltes.<br />
MEDIZINISCHES<br />
LABOR<br />
OSTSACHSEN<br />
DRESDEN<br />
BAUTZEN<br />
GÖRLITZ<br />
Gesundheitsparter<br />
der Dresdner<br />
Philharmonie
QUATUOR ÉBÈNE &<br />
BELCEA QUARTET<br />
EIN GIPFELTREFFEN VON ZWEI DER WELTWEIT BESTEN<br />
STREICHQUARTETTFORMATIONEN<br />
DI 3. MAI | 19.30 UHR<br />
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Tickets ab 18 € | 9 € Schüler:innen, Junge Leute<br />
ticket@dresdnerphilharmonie.de<br />
dresdnerphilharmonie.de<br />
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TICKETSERVICE<br />
Schloßstraße 2 | 01067 Dresden<br />
T +49 351 4 866 866<br />
MO, MI 10 – 15 Uhr<br />
FR 14 – 19 Uhr<br />
DI, DO, SA, SO geschlossen<br />
Änderungen entnehmen Sie der Homepage<br />
ticket@dresdnerphilharmonie.de<br />
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