POPSCENE Mai 05/22
Das total umsonste Popkulturmagazin
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Einst wurde hier Erz mithilfe saarländischer<br />
Kohle in Eisen umgewandelt, einst war die Völklinger<br />
Hütte einer der modernsten Industrieanlagen<br />
in Europa. 1873 gegründet, 1986 stillgelegt,<br />
1994 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Seither<br />
staunen Menschen aus aller Welt über den<br />
„letzten erhaltene Hochofenkomplex, der die<br />
Roheisenproduktion in einer beeindruckenden<br />
Authentizität und Vollständigkeit abbildet“, wie<br />
es in der Beschreibung der Welterbeliste heißt.<br />
Doch nicht nur Technikbegeisterte pilgern nach<br />
Völklingen, sondern auch Kunstfans. Denn die<br />
Völklinger Hütte sich in den vergangenen Jahren<br />
auch in der Urban-Art-Welt einen Namen<br />
gemacht. Am 1. <strong>Mai</strong> wurde die sechste Biennale<br />
eröffnet. Noch bis zum 6. September werden<br />
Entwicklungen und Positionen der Kunst, die<br />
sich aus Street-Art und Graffiti entwickelt hat,<br />
präsentiert. Zu sehen sind unter anderem Rauminstallationen,<br />
Arbeiten auf Leinwand, Plastiken,<br />
Schablonen-Graffitis, Paste-Ups, Augmented<br />
Reality und Murals, die vor Ort entstanden sind.<br />
„Ausnahmslos jede Künstlerin und jeder Künstler<br />
ist fasziniert von der Würde und Aura der historischen<br />
Hallen, Rohrsysteme und Wände, dem Rost<br />
und der Rauheit antworten die Roughness und<br />
Unangepasstheit, die im besten Fall der Urban<br />
Art eigen ist“, erklärt Dr. Ralf Beil, Generaldirektor<br />
des Weltkulturerbes Völklinger Hütte.<br />
Dass das Zusammenspiel von Industrieanlagen<br />
mit Urban Art gelingt, dass sie zu kongenialen<br />
Dialogpartnern werden, ist für ihn keine Überraschung:<br />
„Die Völklinger Hütte hat mit allen<br />
anderen Industrieanlagen der Jahrhundertwende<br />
im Inland die Basis jenes Reichtums erwirtschaftet,<br />
der all die Jugendstilviertel ermöglicht<br />
hat, die – floral-ornamental verziert – die Städte<br />
Europas um 1900 maßgeblich erweitert haben.<br />
Die Schwerindustrie war im Fall von Völklingen<br />
sogar die Keimzelle aller Urbanität: Eine Stadt<br />
im Wortsinn entstand erst mit und um das Werk<br />
zwischen Saar-Ufer und Eisenbahngeleisen. Deshalb<br />
könnte es keinen passenderen Ort für eine<br />
Urban Art Biennale geben als das Weltkulturerbe<br />
Völklinger Hütte.“<br />
Von spektakulär bis amüsant, von politisch bis<br />
poetisch: Mehr als 60 Künstler sind bei der diesjährigen<br />
UrbanArt Biennale vertreten. Unter ihnen<br />
ist der Franzose Maxime Drouet, der in der<br />
1.000 Quadratmeter großen Erzhalle mit künstlerisch<br />
bearbeiteten Zugfenstern und -türen die<br />
abstrakte Variante eines 23 Meter langen Zugwaggons<br />
entstehen ließ. Das iranische Duo Icy<br />
and Sot errichtete in der Möllerhalle aus gelben<br />
Bauhelmen eine Pyramide zu Ehren der Arbeit.<br />
Auf der Staubwand hat der Franzose Rero mit<br />
dem 78 Meter langen und sechs Meter hohen,<br />
durchgestrichenen Schriftzug „HELL-O-WORLD“<br />
seine Botschaft hinterlassen. An der Fassade<br />
des Saarstahlgebäudes der ehemaligen Stranggussanlage<br />
an der Bahnhofsunterführung ist ein<br />
großformatiges Porträt eines türkischen Hüttenarbeiters<br />
vom deutschen Street-Art-Künstler<br />
Hendrik Beikirch zu sehen.<br />
Auch die Trennscheiben der Unterführung, die<br />
die Stadt mit dem Weltkulturerbe verbindet, die<br />
ehemalige Röchling-Bank und viele weitere auratische<br />
Orte in der Stadt und auf dem Hüttenareal<br />
werden zu Orten der Kunst. Dies gilt ebenso wieder<br />
für das „Paradies“, das Areal der Kokerei, wo<br />
früher Hitze, Staub und Feuer herrschten und wo<br />
sich die Natur ihr Terrain zurückerobert hat. Dr.<br />
Ralf Beil: „Hier wurde die industrielle Überformung<br />
nach und nach zurückgenommen und es<br />
ist ein mitunter verwunschenes Territorium für<br />
Flora und Fauna entstanden. Pflanzen und Tiere<br />
sind dort weitgehend sich selbst überlassen und<br />
eben nicht eingehegt als Garten oder Zoo – den<br />
aktuell prägenden Naturerfahrungsräumen<br />
des westlich zivilisierten Menschen. Auch dies<br />
kommt der Urban Art entgegen, die sich gerne<br />
Nischen und Brachen der städtischen Entwicklung<br />
sucht, um ihr ganzes, mitunter subversives<br />
Potenzial zu entfalten.“<br />
Text: Katharina Rolshausen<br />
Bild: Weltkulturerbe Völklinger Hütte<br />
Karl Heinrich Veith / Rero<br />
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