FOCUS 51/2022_Vorschau
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EDITORIAL<br />
Betr.: Ein bisschen Frieden<br />
Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />
Foto: Peter Rigaud/<strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />
Liebe Leserinnen,<br />
liebe Leser,<br />
vergangene Woche schlugen Justiz und<br />
Polizei bundesweit bei den sogenannten<br />
Reichsbürgern zu, die in ihrem Kampf<br />
gegen unseren Staat möglicherweise auch<br />
nicht vor Waffengewalt zurückschrecken.<br />
In dieser Woche gab es Durchsuchungen<br />
bei Mitgliedern der Bewegung „Letzte<br />
Generation“ auch wegen des Verdachts<br />
der Bildung einer kriminellen Vereinigung.<br />
Wirklich beunruhigend ist für mich<br />
nicht ein Prinz in Cordhosen, der davon<br />
träumt, die Demokratie zu beseitigen und<br />
Deutschland wieder zu einer Monarchie zu<br />
machen. Und auch die jungen Menschen,<br />
die glauben, etwas für das Weltklima zu<br />
tun, wenn sie den Verkehr behindern,<br />
indem sie sich auf Straßen oder Startbahnen<br />
kleben, ärgern mich mehr, als<br />
dass sie mich ängstigen. Wirklich beunruhigend<br />
ist am Ende dieses Jahres aus meiner<br />
Sicht etwas anderes: Der fortschreitende<br />
Prozess der Zerfaserung<br />
unserer Gesellschaft in immer<br />
kleinere und immer radikalere<br />
Gruppen, die keinen gemeinsamen<br />
Nenner mehr finden.<br />
Was verbindet Klima-Kleber,<br />
militante Monarchie-Träumer<br />
und Impfgegner außer der<br />
Überzeugung, dass für sie Gesetze<br />
und Regeln aufgrund<br />
ihrer vermeintlich höheren Einsicht<br />
oder höheren Ziele nicht gelten?<br />
Die leben zwar im selben Staat, aber in<br />
völlig unterschiedlichen Welten. Motto:<br />
Wer nicht dasselbe denkt wie ich, ist<br />
mein Feind und darf bekämpft werden.<br />
Doch das Phänomen der Radikalisierung<br />
ist nicht auf politische Gruppierungen<br />
beschränkt, es hat längst die Ebene des<br />
Einzelnen erreicht, eindrucksvoll dokumentiert<br />
in den sozialen Medien. Twitter<br />
ist da die härteste globale Arena der verbalen<br />
Verrohung, aber mehr Aufmerksamkeit<br />
durch gnadenlose Übertreibungen<br />
erreicht man auch in anderen „sozialen“<br />
Medien. Da präsentieren sich viele als<br />
Scharfrichter verbunden mit einer Selbstgewissheit,<br />
die sich vor dem Unfehlbarkeits-Dogma<br />
der Päpste nicht verstecken<br />
„Alles stärken,<br />
was uns<br />
verbindet“<br />
Frank-Walter<br />
Steinmeier<br />
aus seiner Rede<br />
vom 28. Oktober<br />
muss. Solches Denken, dessen bevorzugte<br />
Ausdrucksform die Unterstellung ist, zerstört<br />
auch den kleinsten gemeinsamen<br />
Nenner in der Gesellschaft ebenso wie im<br />
Privaten. Beispiel: Vor einem Jahr konnten<br />
Impfgegner und -befürworter manchmal<br />
nicht einmal mehr gemeinsam Weihnachten<br />
feiern. Familien und Freundeskreise<br />
sind zerbrochen. Hinzu kommen Spaltungstendenzen<br />
aus objektiven Gründen,<br />
wie die ungleiche Verteilung von Wohlstand<br />
im Osten und Westen des Landes,<br />
aber auch generell in der Gesellschaft wie<br />
zwischen Alt und Jung, Land und Stadt<br />
oder Arm und Reich.<br />
Deshalb hat für mich die wichtigste Rede<br />
dieses Jahres nicht Kanzler Olaf Scholz<br />
gehalten – Stichwort Zeitenwende, drei<br />
Tage nach dem russischen Überfall auf<br />
die Ukraine –, sondern Bundespräsident<br />
Frank-Walter Steinmeier am 28. Oktober<br />
bei einer Veranstaltung mit der Deutschen<br />
Nationalstiftung. Der Leitgedanke<br />
des Staatsoberhaupts lautete:<br />
„Alles stärken, was uns verbindet“.<br />
Er analysierte zunächst<br />
die Zeitenwende auf seine,<br />
auf sehr umfassende Weise.<br />
Wie aus einem Land mit dem<br />
Rückenwind der Wiedervereinigung,<br />
wirtschaftlichem<br />
Erfolg und einer anerkannten<br />
Führungsrolle ein Land im<br />
heftigen Gegenwind wurde.<br />
Ich gehörte zu den Gästen der Veranstaltung<br />
im Berliner Schloss Bellevue,<br />
und mein Gefühl war, dass sich der Präsident<br />
ungeachtet des Optimismus, zu<br />
dem ihn sein Amt verpflichtet, nicht ganz<br />
sicher ist, ob Deutschland dem Gegenwind<br />
standhält. Doch beeindruckt hat<br />
mich, dass der Bundespräsident unser<br />
Augenmerk nicht in erster Linie auf den<br />
Wehr- und den Sozialetat oder auf die<br />
Energiewende richten wollte, sondern<br />
auf den menschlichen Faktor. Wörtlich<br />
schrieb er der Nation ins Stammbuch:<br />
„Ich wünsche mir, dass wir uns bei all<br />
den Mühen nicht aus den Augen verlieren,<br />
dass wir unsere Kraft jetzt nicht<br />
im täglichen Gegeneinander vergeuden.<br />
Wenn wir zusammenhalten, wenn wir<br />
Mut und Ehrgeiz beweisen, dann bin ich<br />
mir sicher: Wir werden dieser Aufgabe<br />
gewachsen sein.“ 2023 hat wegen der<br />
gewaltigen Herausforderungen, vor die<br />
uns der Krieg in der Ukraine und seine<br />
Folgen für unser Land – Energiekrise,<br />
Flüchtlingskrise, Wirtschaftskrise sind<br />
dafür die Stichworte – stellen werden, das<br />
Potenzial für ein Super-Streitjahr.<br />
Ich habe Steinmeiers Rede deshalb als<br />
Appell verstanden, angesichts der schwierigen<br />
Corona-Jahre, die hinter uns liegen,<br />
und der vielleicht noch schwierigeren<br />
Krisenjahre, die noch kommen, achtsamer<br />
miteinander umzugehen. Streit ist<br />
doch nur produktiv, solange er sich verbindet<br />
mit der Neugier auf die Argumente<br />
des anderen. Wir müssen weg von<br />
der Unkultur der Verabsolutierung der<br />
eigenen Meinung, der immer weiteren<br />
Radikalisierung unserer Kommunikation.<br />
Vielleicht entscheidet das über die<br />
Zukunftsfähigkeit Deutschlands mehr<br />
als die Höhe von Hilfspaketen und Preisbremsen.<br />
Nicht Besserwisserei ist im<br />
Gegenwind gefragt, sondern der Wille<br />
zum Bessermachen, zum Anpacken. Und<br />
weil das so ist, sollten sich Politik und<br />
Gesellschaft im kommenden Jahr intensiv<br />
mit dem Vorschlag des Bundespräsidenten<br />
für die Einführung einer sozialen<br />
Pflichtzeit einsetzen. Steinmeier begründet<br />
sie so: „Demokratie geht nicht ohne<br />
Zusammenhalt. Zusammenhalt entsteht<br />
nicht von selbst. Er muss auch eingeübt<br />
werden. Er ist das Ergebnis von Menschen,<br />
von Empathie, von Verantwortung,<br />
von Nächstenliebe.“<br />
Diese Debatte werde hoffentlich „nicht<br />
wieder im Nichts enden“, fügte Steinmeier<br />
hinzu. Ich kann Ihnen versichern: Soweit<br />
es mich betrifft, wird das nicht geschehen!<br />
Denn es geht es um die Grundlagen unseres<br />
Zusammenlebens. Wir haben uns alle<br />
ein bisschen Frieden verdient.<br />
Herzlich Ihr<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>51</strong>/<strong>2022</strong> 3