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101 Monologe

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20 Sophokles · Antigone<br />

Sophokles (um 496 – 406 v. Chr.)<br />

Antigone<br />

Tragödie<br />

2 Rolle: Wächter<br />

Erste Aufführung: Etwa 443 v. Chr., Athen<br />

Szene: Vers 223–331<br />

Ort: Vor dem Königspalast in Theben<br />

Zur Situation: In Theben hat es einen blutigen Machtkampf um die Herrschaft gegeben: Die beiden<br />

Söhne des Oedipus, Eteokles und Polyneikes, die die Stadt ursprünglich abwechselnd hätten<br />

regieren sollen, haben gegeneinander Krieg geführt und sind beide vor den Toren Thebens im<br />

Kampf gestorben. Jetzt ist Kreon, ihr Onkel, König. Er hat angeordnet, dass Eteokles, als heldenhafter<br />

Verteidiger Thebens zu gelten habe und mit allen Ehren bestattet werden solle, Polyneikes<br />

aber, als Angreifer und Staatsfeind, keinesfalls begraben werden dürfe: »Sein Leib bleibt<br />

unbestattet, eine Beute von Hund und Vögeln, schändlich anzuschauen. Das ist mein Wille.«<br />

Nach dem griechischen Glauben bedeutet dies, dass Polyneikes nicht in das Reich der Schatten<br />

eingehen kann. Um seine Anordnung durchzusetzen, lässt Kreon den Leichnam bewachen. Jetzt<br />

kommt einer der Wachmänner zu ihm und muss eine Ungeheuerlichkeit berichten: Es hat<br />

jemand den Toten mit Sand bedeckt.<br />

Der Wächter kommt nicht freiwillig – das Los hat ausgerechnet ihn getroffen. Er hat auf dem<br />

Weg gezögert, er will am liebsten gleich wieder gehen; er fürchtet Kreons Zorn und hat – aus<br />

gutem Grund – Angst um sein Leben: »Kein Mensch ja liebt den Boten böser Mär.« So wichtig,<br />

wie den Bericht loszuwerden, ist es ihm deshalb, seine Unschuld zu beteuern. Mit vorsichtigem<br />

Witz versucht er, Kreon mild zu stimmen. Dieser fragt aber ungeduldig und mit wachsendem<br />

Unmut dazwischen, bis der Wächter mit der ganzen Geschichte herausrückt. (Unser Text lässt<br />

Kreons Einwürfe weg; zum Spielen ist es sicher gut, sie mitzudenken).<br />

Es scheint, dass der Wächter es wohl eher anständig fände, Polyneikes zu beerdigen und dass<br />

er den Befehl des Königs nicht mit Überzeugung durchsetzt: »Er streute durstigen Staub auf ihn<br />

und weihte ihm, was sich gehört.«<br />

WÄCHTER. Herr, ich behaupte nicht, ich sei vor Eile<br />

In Atemnot, weil mir die Füße flogen.<br />

Nein, Sorgenaufenthalte hatt’ ich viel<br />

Und drehte oft mich schon zum Rückweg um,<br />

Weil immerfort die Seele zu mir sagte:<br />

Was rennst du, Armer, in dein Strafgericht?<br />

Was bleibst du stehn, du Tropf? Erfährt es Kreon<br />

Von einem andern, kriegst du sicher Hiebe!<br />

Derart mich windend kam ich kaum vom Fleck –<br />

So werden kurze Wege lang. Zuletzt<br />

Hat der Entschluss gesiegt, zu dir zu geh’n.<br />

Und ist es auch nichts wert, ich sag es doch,<br />

Ich klammre mich an meinen Glauben fest:<br />

Sophokles · Antigone<br />

Was ich erleide, war mir vorbestimmt. [...]<br />

Ich will zuerst von mir erzählen: Ich<br />

War’s nämlich nicht und sah nicht, wer es war.<br />

Stürz ich ins Unglück, ist es ungerecht. [...]<br />

Ich sag’s ja schon: Es war jemand beim Toten,<br />

Der ihn begrub. Er streute durstigen Staub<br />

Auf ihn und weihte ihm, was sich gehört [...]<br />

Ich weiß nicht. Da war keines Spatens Stich,<br />

Kein Auswurf einer Hacke. Fest der Boden<br />

Und hart und ungebrochen, kein Geleis<br />

Von Rädern – spurlos war der Täter fort.<br />

Wie es der erste Tagesposten uns<br />

Anzeigt, ist’s allen ein bedenklich Wunder.<br />

Unsichtbar war er, nicht begraben, dünn<br />

Lag Staub auf ihm, wie um den Fluch zu bannen.<br />

Und keine Spur von Raubtier oder Hund<br />

Zu sehn, dass einer kam und an ihm zerrte.<br />

Da brausten wüste Worte aufeinander:<br />

Der Wächter schimpfte auf den Wächter, schließlich<br />

Kam’s schier zur Schlägerei – wer sollte es<br />

Verhindern? Jeder war der Missetäter,<br />

Und keiner wirklich, jeder stritt es ab.<br />

Durchs Feuer wären wir gegangen, hätten<br />

Ein glühend Eisen in die Hand genommen<br />

Und jeden Eid geschworen, dass wir nicht<br />

Die Täter waren und auch nicht die Hehler<br />

Von dem, der’s plante oder tat. Zuletzt,<br />

Als unsre Untersuchung nichts ergab,<br />

Da kam ein Vorschlag, dass vor Angst wir alle<br />

Die Köpfe hängen ließen. Keiner konnte<br />

Dagegen sprechen, keiner wusste auch,<br />

Wie man’s mit heiler Haut zustande brächte:<br />

Es hieß, man solle dir den Vorfall melden<br />

Und nicht verheimlichen. Und das ging durch.<br />

Mich Unglücksvogel traf das schöne Los,<br />

Weiß wohl, du hörst’s so ungern, wie ich’s sage,<br />

Kein Mensch ja liebt den Boten böser Mär.<br />

Darf ich was sagen oder soll ich gehn? [...]<br />

Der Täter kränkt dein Herz, ich nur dein Ohr. [...]<br />

Ja, hätten wir ihn nur! Doch ob er nun<br />

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