159_StadtBILD_Oktober_2016
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Vorwort<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
nicht nur Touristen und Neubürger werden angenehm<br />
berührt durch die beträchtliche Anzahl Görlitzer Straßennamen,<br />
die an deutsche Schriftsteller erinnern, deren<br />
Reihe von Luther und Melanchthon über Böhme,<br />
Lessing, Wieland, Goethe und Schiller sowie Arndt und<br />
Körner bis zu Reuter und Hauptmann reicht. Einige von<br />
ihnen lebten und wirkten in der Stadt, andere hatten<br />
nur kurze Begegnungen mit ihr (Goethe, Körner, Hauptmann).<br />
Und obwohl in politischen Umsturzzeiten siegestrunkene<br />
politische Radikalinskis mit massenweisen Umbenennungen<br />
wüteten, so 1918, 1933, 1945 und 1989,<br />
blieben hier erfreulicherweise die Dichternamen immer<br />
unberührt. Etwas anderes ist es allerdings, wie heute<br />
mit diesem Erbe umgegangen wird. Wir freuen uns<br />
darüber, daß die Stadtverwaltung eine Reihe von Schulen<br />
in einen vorbildlichen baulichen Zustand versetzen<br />
konnte. Nun darf man hoffen, daß in den sanierten Räumen<br />
der Deutschunterricht seinem Namen gerecht wird<br />
und die Absolventen der Oberschulen und Gymnasien<br />
kenntnisreich und mit dem Herzen die deutsche Sprache<br />
beherrschen und gebrauchen, daß sie die Geschichte<br />
der deutschen Literatur überblicken und die Leistungen<br />
deutscher Schriftsteller dankbar in sich aufgenommen<br />
haben. Viel vermögen dabei auch Bibliotheksbesuche,<br />
Theateraufführungen und frühe Anregungen im Elternhaus.<br />
Literarische Wettbewerbe zeigten erstaunliche<br />
Ergebnisse. Andererseits aber gibt es berechtigte Klagen<br />
von Einwohnern und Gästen unserer Stadt darüber,<br />
wie im öffentlichen Raum mit Denkmälern umgegangen<br />
wird. Man bewundert mit Recht das Denkmal unseres<br />
ersten Oberbürgermeisters Gottlob Ludwig Demiani<br />
von Johannes Schilling, das an seinem nunmehr vierten<br />
Standort zwischen Theater, Kaisertrutz und Reichenbacher<br />
Turm einen würdigen Platz gefunden hat und sorgsam<br />
restauriert wurde. Viele kennen spätere Werke des<br />
Dresdener Bildhauers wie das Niederwalddenkmal am<br />
Rhein sowie das Reiterstandbild von König Johann vor<br />
der Semperoper oder die Figurengruppen auf der Brühlschen<br />
Terrasse in Dresden, und man staunt nun über<br />
das gelungene und vorbildlich erhaltene Frühwerk des<br />
Künstlers. Leider aber bleibt das eine Ausnahme. Görlitz<br />
erlebte 1942 den massenweisen Abriß von Denkmälern<br />
und Kirchenglocken für Kriegszwecke und müßte nun<br />
um so mehr bemüht sein, das Verbliebene angemessen<br />
zu pflegen. Aber das Goethedenkmal von 1902 mit der<br />
Büste von Johannes Pfuhl (auch Kriegsverlust), 1949<br />
mit einer Büstenkopie nach Rauch ergänzt, bietet ohne<br />
Brunnenbecken und Blumenrabatten stark verschmutzt<br />
einen jammervollen Anblick. Das Schillerdenkmal von<br />
1855 mit der Büste nach Dannecker an der Promenade<br />
in Blockhausnähe wird von den vorüberbrausenden<br />
Fahrzeugen kaum noch wahrgenommen. Der Brunnen<br />
mit dem Jacob-Böhme-Denkmal von Johannes Pfuhl<br />
verschwand nach 1970 in eine dunkle Ecke im Stadtpark,<br />
die Brunnenschale mit Erde gefüllt und der frühere<br />
Wasserzufluß unbrauchbar, von nächtlichen Metalldieben<br />
bedroht, eine Schande angesichts der weltweiten<br />
Bekanntheit des berühmtesten Görlitzers. Besonders<br />
schlimm stellt sich die Bronzebüste des Görlitzer Kupferstechers<br />
und Schriftstellers Johannes Wüsten von Theo<br />
Balden am heutigen Standort Ecke Johannes-Wüsten-<br />
Straße/ Joliot-Curie-Straße dar. Tiefe Schrammspuren<br />
am Hals, Krakeleien am Sockel, umrahmt von einem<br />
Abflußrohr, einem Kellerfenster und einer dunkelgrauen<br />
Steintafel mit eingetieften dunkelroten Buchstaben<br />
(unleserlich), häufig von Passanten mit allerlei Schnickschnack<br />
verunziert, auch jetzt zu seinem 120. Geburtstag,<br />
von dem man in der Stadt wohl nicht einmal Notiz<br />
nimmt. Die Hauptschuld an diesen schändlichen Zuständen<br />
fällt auf die zuständigen Behörden, die sich nicht mit<br />
Geldmangel herausreden können. Während man eine<br />
ansehnliche Summe für das umstrittene Projekt „Görlitz<br />
ART“ abzweigen konnte, interessiert das kulturelle Erbe<br />
an restlichen Denkmälern der tatsächlichen „Görlitzer<br />
Kunst“ wohl kaum noch. Es bleibt Sache der Bürger von<br />
Görlitz, die Pflichtvergessenen das Laufen zu lehren. Das<br />
meint auch<br />
Ihr Ernst Kretzschmar<br />
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Einleitung<br />
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