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Leseprobe (PDF) - Allitera Verlag

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Eigentlich ist Rudolf Seehusen schon längst im Ruhestand. Doch<br />

als seine Frau, die ihre neue Heimat Frankfurt nicht so recht leiden<br />

kann, wegen »Umzugsdepression« in die Psychiatrische Klinik<br />

eingeliefert wird, ist es vorbei mit dem beschaulichen Rentnerdasein.<br />

Seehusen, ein ehemaliger Gerichtsdirektor, wird in einen Fall<br />

verwickelt, wie er brisanter kaum sein könnte: Die junge, engagierte<br />

Ärztin Claudia Stettin wird im Klinikpark ermordet aufgefunden,<br />

und sofort gerät einer ihrer Patienten, ein rückfällig gewordener Alkoholiker,<br />

unter dringenden Tatverdacht. Doch als Seehusen erfährt,<br />

dass Stettin über einen tödlichen Behandlungsfehler in der Klinik<br />

Bescheid wusste und darüber aussagen wollte, ist ihm klar, dass er<br />

den Mörder nicht unter den Patienten suchen muss – sondern unter<br />

den ehrenwerten Halbgöttern in Weiß.<br />

N orbert<br />

Leppert, 1945 in Lübeck geboren, arbeitete als Gerichtsreporter<br />

bei der »Frankfurter Rundschau« (von 1972 bis<br />

2003). Seine Berichterstattung über bedeutende Fälle in der Kriminalgeschichte<br />

der Bundesrepublik reichte von NS-Verfahren über Terroristenprozesse<br />

bis zu Wirtschaftskriminalität und Korruption. Im<br />

<strong>Verlag</strong> der Criminale sind außerdem seine Kriminalromane »Stadt<br />

im Zwielicht« und »Unter der Robe« erschienen.


Norbert Leppert<br />

Pseudo<br />

Kriminalroman


Weitere Informationen über den <strong>Verlag</strong> und sein Programm unter:<br />

www.verlag-der-criminale.de<br />

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation<br />

in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über abrufbar.<br />

März 2006<br />

<strong>Verlag</strong> der Criminale<br />

Ein Imprint der Buch&media GmbH, München<br />

© 2006 Buch&media GmbH, München<br />

Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink<br />

Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt<br />

Printed in Germany · ISBN 3-86520-172-5


Inhalt<br />

Eine Umzugsdepression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

So eine schöne Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

Erschöpft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />

Ohne Leben in den Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

Krankenzimmer 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />

Engel mit Harfe, heimwärts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />

Happy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />

Eine Tüte Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />

Chefarztvisite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />

Original und Fälschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50<br />

Armer Junge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54<br />

Waldheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60<br />

Home sweet home . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70<br />

Alte Frankfurter Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />

Maingold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81<br />

Eine Rechtsanwältin heult nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88<br />

Entlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94<br />

In der Höhle der Staatsanwältin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />

Der Kongress klatscht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />

Lokaltermin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />

»Liebe erbitte ich nicht …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117<br />

Schlusslied vom guten Onkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123


Rudolf Seehusen, Gerichtsdirektor im Ruhestand<br />

Madame Seehusen, seine 15 Jahre jüngere Frau<br />

Oberstaatsanwalt Marten, Seehusens Studienfreund<br />

Viola Bach-Finke, Staatsanwältin<br />

Rita Hessemer, Rechtsanwältin<br />

Gontard, Rechtsanwalt<br />

Dr. Claudia Stettin, Ärztin am Psychiatrischen Krankenhaus<br />

Mike Stettin, Pilot und Claudias Ehemann<br />

Professor Babenhaus, Ärztlicher Direktor<br />

Dr. Fritz Radeberg, Chefarzt<br />

Dr. Holm, Stationsarzt<br />

Achim Reichel, Krankenpfl eger<br />

Sonja, Krankenschwester<br />

Schahne und Ortschik, Patienten<br />

Witwe Stubenvoll, eine Nachbarin<br />

Personen<br />

Sämtliche Personen und die Handlung<br />

sind frei erfunden.<br />

Dass manche und manches<br />

dem Leser trotzdem<br />

irgendwie vertraut erscheinen können,<br />

ist allerdings nicht auszuschließen.<br />

N.L.


Eine Umzugsdepression<br />

Sind Sie sicher, dass Sie richtig sind? Hier, bei mir …?!«<br />

Seehusen sah auf den Mann, der vom Kurierdienst war und sein<br />

schweres Paket die Treppen hochschleppte.<br />

»Deutschherrnufer 68, zweiter Stock. Wie oft wollen Sie noch fragen?«<br />

»Und Sie wissen nicht, was im Paket ist?«<br />

»Fragen Sie Ihre Frau. Die hat es bestellt. Oder Sie verweigern die<br />

Annahme. Dann nehm ich es wieder mit.«<br />

Der Gerichtsdirektor zögerte. Seine Frau lag im Krankenhaus, seit<br />

einer Woche. Und in dieser Zeit war es bestimmt die sechste Warensendung,<br />

die für sie ankam.<br />

»Also, Chef, was is. Wollen Sie die Rechnung sehen …?!«<br />

Dreihundertsechzehn Euro. Und die Zustellgebühr.<br />

Was dachte sich seine Frau dabei?<br />

Mehr als zwanzig Jahre waren sie verheiratet und Madame See husen<br />

führte die Kasse, eisern und gefeit gegen jede Verführung. So dass er<br />

sich jedes Mal aufl ehnen, ja kämpfen musste, etwa wenn er eine neue<br />

Pfeife haben wollte, etwas Gutes, das – zugegeben – nicht billig war.<br />

Und diese Frau, die überall in der Wohnung Sparschweine postiert<br />

hatte, die sie regelmäßig fütterte, hatte ihre Tugend anscheinend abgeworfen<br />

mit einem Schlag. Und war nun dazu übergegangen, hemmungslos<br />

und für alles Mögliche Geld auszugeben.<br />

»Wohin damit, Chef?«<br />

Der Bote, jetzt viel freundlicher und in Erwartung eines Trinkgeldes,<br />

trug das Paket herein.<br />

Seehusen machte eine unbestimmte Handbewegung: »Stellen Sie<br />

es zu den anderen.«<br />

Dann schrieb er einen Scheck aus, legte fünf Euro dazu und kehrte,<br />

nachdem der Bote pfeifend abgezogen war, zurück in die Küche, wo<br />

sein Frühstück stand. Es trug alle Anzeichen der Not versorgung. Etwas<br />

zerbröselter Zwieback und Tee im Beutel, an dem das Fädchen<br />

oben ganz vergilbt war.<br />

Einzig Trost an diesem Morgen spendete sein Heidehonig, Erinnerung<br />

und Restbestand aus jener Zeit im Norddeutschen, wo er<br />

als Richter gewesen war, bevor es ihn nach der Pensionierung nach<br />

Frank furt getrieben hatte, mit Frau und Kater Salomo.<br />

7


Ach, Salomo.<br />

Seitdem der Kater verschwunden war, abgehauen durch einen Türspalt<br />

Richtung Apfelweinviertel und nicht wieder aufgetaucht, war es<br />

bei Seehusens schief gelaufen.<br />

Ein Unglück nach dem anderen.<br />

Und dann der Vorfall letzte Woche, als Madame Seehusen das Bewusstsein<br />

verloren hatte und der Notarztwagen sie ins Kranken haus<br />

brachte. Sie hatte eine Überdosis Tabletten eingenommen, womöglich<br />

ein Missgeschick, ein Dosierungsfehler, was bei hoch wirksamer Medizin<br />

bekanntlich sofort Folgen hat, gerade zu Be ginn der Therapie.<br />

So konnte, so mochte es gewesen sein; nur in den Nächten, wenn er<br />

wach lag und grübelte, kamen Seehusen Zweifel, dass es aus Versehen<br />

geschehen, und bei dem Gedanken, dass es Vorsatz gewesen war,<br />

fühlte er sich bedrückt wie nie.<br />

Eben war er mit Rasieren fertig, als es an der Tür klingelte.<br />

Doch nicht wieder einer, der auf Bestellung etwas brachte?<br />

Es war die Witwe Stubenvoll, Seehusens Nachbarin, der nichts im<br />

Haus entging. Schon gar nicht, sobald sie einen älteren – aber auch<br />

nicht zu alten – Herrn ausgespäht hatte, dem hilfreich sie die Hand<br />

reichen konnte.<br />

Umhüllt von einem Hausanzug, eine gewagte Komposition aus Kimono<br />

und Trainingshose, fl atterte die alte Dame vorbei an See husen<br />

ins Wohnzimmer, wobei sie vor sich einen Kasten trug, des sen Zweck<br />

er nicht sogleich erkannte.<br />

»Schauen Sie, was ich bringe«, schnatterte die Stubenvoll. »Eine<br />

Mikrowelle.«<br />

Misstrauisch besah er das Gerät.<br />

»Hat das meine Frau bestellt?«<br />

»Leihgabe von mir. Damit kann jeder kochen, auch Sie. Ich zeig<br />

es Ihnen, heut Abend. Dann zünden wir im Backhäuschen das Licht<br />

an … der Teller wird sich drehen, Sie werden sehen. Dazu dann von<br />

dem edlen Tropfen, mit dem Sie letztes Mal … hihi …«<br />

»Crémant«, unterbrach Seehusen. Kichernde alte Damen konnte<br />

er nicht ausstehen. »Crémant können Sie gleich haben. Bedienen Sie<br />

sich. Sie kennen sich ja aus.«<br />

Und ob die Stubenvoll sich auskannte!<br />

Seit Madame Seehusen ihren Platz hatte räumen müssen, war sie<br />

jeden Morgen aufgekreuzt, um Seehusen beim Aufräumen zu hel fen.<br />

Und dazu trank sie vom gut gekühlten, perlenden Crémant aus dem Elsass,<br />

redete und räumte auf, bis es dem Gerichtsdirektor in den Ohren<br />

summte und er sie sanft zur Tür hinausbugsierte.<br />

8


»Wollen Sie auch etwas?«, fl ötete es vom Kühlschrank her. »Wenn<br />

nicht, nehme ich einen für Sie mit.«<br />

»Die Oberärztin will mich sprechen«, sagte Seehusen. »Ich soll<br />

mittags in der Klinik sein.«<br />

Er stand im Schlafzimmer am Spiegel, im Kampf mit der Krawat te,<br />

die mal wieder viel zu kurz, weil zu dick geknotet war.<br />

Aus dem Arbeitszimmer hörte man ein Rascheln, dann das Reißen<br />

von Papier und Pappe, die knackte.<br />

»Ein Grillwagen!«, rief die Stubenvoll. »Mit Sonnenschirm und<br />

Elektroplatte. Und zwei Eisfächer. Aber wo …« – kleine Pause –<br />

»wollen Sie den aufstellen? Doch nicht auf dem Balkon. Da schei ßen<br />

nur die Tauben drauf!«<br />

»Deshalb der Schirm!«, rief Seehusen zurück.<br />

Er musste schmunzeln und fand, dass seine Frau nicht so falsch<br />

gewählt hatte. Man müsste nur noch jemand fi nden, der den Wagen<br />

zusammenbaute.<br />

Vielleicht Marten?<br />

Marten, sein jüngerer Studienfreund, war doch immer froh zu beweisen,<br />

dass er als amtierender Oberstaatsanwalt auch noch etwas<br />

anderes konnte als Anklage zu erheben.<br />

»Und hier, die Hängematte«, ließ sich Frau Stubenvoll vernehmen.<br />

»Fünf Motoren, zur Massage der …« – sie stockte, als läse sie die Anleitung<br />

– »… neu-algerischen Zonen. Wo wollen Sie d i e anbringen?«<br />

»Wird sich fi nden. Hat sich noch alles gefunden.«<br />

»Lieber Freund«, hauchte die Stubenvoll und stand plötzlich im<br />

Schlafzimmer. »Ihre Frau … tickt sie noch richtig? Verstehen Sie<br />

mich nicht falsch, oft sind es die besten Weiber, die haut es in den<br />

Wechseljahren aufs Kreuz, wie es keinem von euch Kerlen je gelungen<br />

ist …«<br />

Sie leerte ihr Glas und kam Seehusen bedenklich nah.<br />

»Stimmt es, dass Madame durchgeknallt und jetzt in der Klapse<br />

ist?«<br />

»Frau Stubenvoll«, mahnte der Gerichtsdirektor, wobei er ihr sanft<br />

das Glas wegnahm. »Für heute haben Sie genug geholfen. Kommen<br />

Sie morgen wieder …« Und damit schob er sie zur Tür hinaus.<br />

Eine Stunde später saß Seehusen in der S-Bahn, auf dem Weg in die<br />

Psychiatrie.<br />

Bei sich hatte er seine alte Mappe, voll gestopft mit Apfelsinen<br />

und zwei Fläschchen Eau de Toilette, ein Sonderangebot vom Hauptbahnhof,<br />

Einkaufsebene im Tiefgeschoss.<br />

Beim Studium des Fahrplans war ihm aufgefallen, dass es leich-<br />

9


ter schien, von Frankfurt aus eine Theaterpremiere in Köln oder ein<br />

Ballett in Stuttgart zu besuchen als einen Angehörigen, der aus der<br />

Innens tadt als psychiatrischer Fall weit abgelegen in die Rhein-Main-<br />

Anstalten verfrachtet war.<br />

Aber die Luft hier oben war besser, ausgetauscht und frisch.<br />

Seehusen, der das letzte Stück zur Klinik zu Fuß zurücklegte, atmete<br />

tief durch und spürte, wie ihm leichter wurde.<br />

Dieses Schuldgefühl, das auf ihm lastete, seit jenem Abend, als er<br />

spät heimgekommen und seine Frau bewusstlos aufgefunden hatte –<br />

warum es nicht einfach abschütteln, energisch und mit einem Ruck?<br />

Was, bitte, hatte er sich vorzuwerfen?<br />

Alles – oder sagen wir: vieles – hatte er getan, um ihr die Stadt<br />

schmackhaft zu machen, in die sie – gar nicht zu bestreiten – nur<br />

mitgezogen war, weil er es so gewollt hatte.<br />

Aber Madame Seehusen war fremd geblieben in Frankfurt und auf<br />

eine Weise ängstlich, die er an ihr nicht kannte. Ständig hockte sie im<br />

Haus herum, telefonierte stundenlang mit alten Freundinnen. Wollte<br />

er in die Alte Oper, hatte sie Migräne; lud er sie zum Essen ein beim<br />

Libanesen, passte ihr der Bauchtanz nicht; und während er nichts lieber<br />

tat, als draußen im Café zu sit zen, bei Cappuccino mit Milch und<br />

Süßstoff und täglich einer ande ren Zeitung, saß sie bolzengerade auf<br />

dem Stuhl, starr den Blick geheftet auf einige Strichjungen, die sich<br />

herumtrieben vor der öffentlichen Toilette und Drogen verkauften.<br />

An manchen Tagen kam sie überhaupt nicht aus dem Bett, dann<br />

wieder wirkte sie wie aufgedreht, kaufte wild ein und takelte sich auf,<br />

wie eine dieser Huren vor den Hotelhallen.<br />

Andauernd hatte er gedrängt, dass sie zum Doktor gehe, doch dazu<br />

kam es erst, nachdem Salomo, das Mistvieh, schnöde sich verdünnisiert<br />

hatte und Frau Seehusen achtundvierzig Stunden lang herumgeirrt<br />

war auf der Suche, bis sie nicht mehr weiter konnte und zusammenklappte<br />

unter der Alten Brücke.<br />

Von da an hatte sie Tabletten bekommen, wegen – wie der behandelnde<br />

Arzt sich ausdrückte – Umzugsdepression oder auch<br />

Entwurzelungssyndrom, was, wie der Gerichtsdirektor im Lexikon<br />

nachgeschlagen hatte, durchaus ernst zu nehmen war.<br />

»Machen Sie sich keine Sorgen«, hatte Frau Dr. Stettin, die Oberärztin,<br />

am Telefon erklärt. »Wir sehen uns in der Klinik. Wir sprechen<br />

über alles. Ich hab was reserviert für Sie, in der Angehörigengruppe.«<br />

Und bevor er sagen konnte, dass er sich völlig fi t fühle, bis auf – gelegentlich<br />

– ein Ziehen im Rücken, so dass Gymnastikgruppe ihm<br />

lieber wäre, hatte Frau Dr. Stettin wieder aufgelegt.<br />

10


Eben wollte Seehusen die Straße überqueren, als in hohem Tempo<br />

eine Wagenkolonne daherschoss.<br />

Zwei Polizeiautos, dahinter ein großer schwarzer Audi, etwas älteres<br />

Modell, Behördenkennzeichen.<br />

Der Mann im Fond, der an diesem frühen Herbsttag noch seinen<br />

Sommerhut aufhatte, war das nicht … Marten?<br />

Seehusen erinnerte sich, dass der Oberstaatsanwalt ein paar Tage<br />

hatte freimachen wollen, um im Vogelsberg nach seinem Bienenstock<br />

zu sehen. Doch wenn die Lage es erforderte, musste er sich bereithalten<br />

und zu einem kapitalen Mordfall selber ausrücken.<br />

Sollte in der Klinik etwas vorgefallen sein?<br />

Der Gerichtsdirektor beschleunigte seinen Schritt.<br />

11


12<br />

So eine schöne Frau<br />

Zur Oberärztin wollen Sie?«, fragte die Frau an der Pforte. »Tut<br />

mir Leid. Ich kann Sie nicht anmelden.«<br />

Sie senkte den Blick hinter der Glasscheibe und ihr Gesicht wirkte<br />

wie versteinert.<br />

»Ich bin angemeldet. Seehusen, Gerichtsdirektor.«<br />

»Wenn Sie vom Gericht sind … Station vier-zwo. Den Weg hoch<br />

bis zum Teich. Dann nach rechts. Ihre Kollegen sind schon da.«<br />

Also doch, es war etwas passiert.<br />

Seehusen fasste seine Mappe unter. Der »Gerichtsdirektor« war<br />

ihm so herausgerutscht, eine Angewohnheit, die ihn regelmäßig befi<br />

el, sobald er wieder in ländliche Umgebung kam, wie er sie aus seiner<br />

Zeit als Richter kannte.<br />

Ruhig war es hier und friedlich.<br />

Ein angenehmer Wind ging in den Bäumen entlang der Chaussee,<br />

die zum Wald führte. Auf den Bänken am Teich hockten einige<br />

Patien ten, die in der Sonne dösten oder rauchten.<br />

Als Seehusen sich näherte, sprang einer hoch und stürzte auf ihn<br />

zu, als hätte er die ganze Zeit schon gewartet.<br />

»Das machen die Geheimdienste«, tönte er wie mit einem Megaphon.<br />

»Dass sie an die Menschen gehen … immerzu, überall …«<br />

Und die Augen weit gerichtet in die Ferne schoss er an See husen<br />

vorbei und entschwand in seinem langen schwarzen Mantel hinten in<br />

den Büschen.<br />

»Der spinnt doch«, sagte eine Stimme neben Seehusen. »Hat seine<br />

Medizin nicht eingenommen.«<br />

Eine Hand schob sich bei ihm unter, hart und energisch, aber etwas<br />

klebrig. Im ersten Augenblick erschrak er und fasste seine Mappe<br />

fester.<br />

»Komm mit. Ich zeig dir etwas.«<br />

Am Arm des Gerichtsdirektors klammerte eine Frau, die an ihm<br />

zog und zerrte. Ihr Haar war grau und dünn, doch ihre Stimme war<br />

die eines Kindes, das quengelte.<br />

»Komm mit zu den Kaninchenställen.«<br />

»Hör mal«, sagte Seehusen und bemerkte gar nicht, dass er die Patientin<br />

duzte. »Ich hab jetzt keine Zeit. Aber ich schenk dir etwas.«<br />

»Eine Apfelsine. Danke.«


»Bringst du mich zur Oberärztin?«<br />

»Zu den Kaninchen. Bitte …«<br />

»Zur Oberärztin«, sagte Seehusen bestimmt.<br />

Er war bemüht, sich aus der Umklammerung zu lösen, ohne größeres<br />

Aufsehen zu veranstalten und der Frau dabei etwa wehzutun.<br />

Das war gar nicht so einfach, und als er es glücklich geschafft hatte,<br />

wandte er sich rasch ab wie zur Flucht.<br />

Im nächsten Augenblick fl og ihm seine Apfelsine an den Kopf, erlitt<br />

die Frau einen Wutanfall und rannte weg mit feurig-rotem Gesicht,<br />

während die anderen Patienten sich freuten und lachten. Ein Lachen,<br />

das kein Ende nehmen wollte, quietschend und drö hnend, anschwellend<br />

und ansteckend wie eine Krankheit, die nach kurzen Phasen des<br />

Stillstands sich in immer neuen Schüben aus tobte.<br />

Was für ein Empfang!<br />

Wie hatte Madame Seehusen das ausgehalten?<br />

Hoffentlich hatte sie jetzt ein Einzelzimmer, was an den ersten<br />

Tagen, als sie noch überwacht wurde auf der geschlossenen Stati on,<br />

nicht möglich gewesen war.<br />

Darüber musste er mit Frau Dr. Stettin als Erstes sprechen. Doch<br />

auf ihrem Zimmer schien die Oberärztin nicht zu sein. Zwei, drei Mal<br />

hatte Seehusen geklopft, und zwar an der Innentür, da die vordere,<br />

schwer mit Polstern gefütterte Tür ohnehin halb offen stand.<br />

Gerade wollte er sich im Zimmer nebenan erkundigen, als in dem<br />

langen Korridor des Krankenhauses ein Wind aufkam, eine durch<br />

Zugluft herbeigeführte Septemberbö, die Folgen hatte.<br />

Die Innentür fl og auf, hart schlug ein Fensterladen an und auf dem<br />

Schreibtisch der Frau Doktor fegte es die Papiere auseinander, wobei<br />

eines der Blätter hin zum Korridor schwebte und sanft vor Seehusens<br />

Füßen landete.<br />

Er hob es auf, trug es zurück an den Schreibtisch und wollte die<br />

Fensterläden schließen, als hinter ihm scharf eine Stimme ertönte.<br />

»Hände hoch! Polizei!«<br />

Bevor der Gerichtsdirektor etwas sagen konnte, bekam er einen<br />

Stoß in den Rücken, der ihn quer durchs Zimmer an die Wand gegenüber<br />

beförderte, wo er mit der Stirn an einen Bilderrahmen knallte.<br />

»Meine Herren!«, rief er, nachdem er sich vom ersten Schreck erholt<br />

hatte. »Tun Sie die Waffen weg. Ich werde Ihnen alles er klären.«<br />

»Pass auf, Sigurd«, sagte der ältere Beamte zu seinem Kollegen.<br />

»Die Harmlosen sind die Gefährlichsten.«<br />

Worauf Sigurd, im T-Shirt und das Haar hinten zum Zopf gebunden,<br />

Seehusen vorsichtshalber noch einen Tritt ans Schienbein<br />

versetzte, bevor er ihm Handfesseln anlegte.<br />

13


»Gründlich durchsuchen. Ich ruf den Staatsanwalt. Das könnte<br />

eine Spur sein.«<br />

Seehusen, dem die Fesseln wehtaten, versuchte sich die Handgelenke<br />

zu reiben.<br />

»Ein Missverständnis, meine Herren.«<br />

»Missverständnis«, höhnte der Kripo-Mann mit dem Zopf. »Bei<br />

Mord gibt es kein Missverständnis. Bei Mord gibt es nur Verdächtige.«<br />

Er hatte Seehusens Mappe umgestülpt – »Der reinste Mülleimer« –<br />

und wühlte in dem Inhalt.<br />

»Ich weiß, Sie tun Ihre Pfl icht«, sagte der Gerichtsdirektor. »Gestatten<br />

Sie eine Frage …«<br />

»Die Fragen hier stellen wir. Damit das klar ist.«<br />

Und sie legten sich ins Zeug: Ob und wie bekannt mit Frau Dr. Claudia<br />

Stettin und wann er sie zuletzt gesehen; wieso er, wenn er doch<br />

seine Frau besuchen wollte, nicht bei seiner Frau sei; und warum er<br />

zum Termin bei der Frau Oberarzt durchs Fenster eingestiegen sei?<br />

Doch der Gerichtsdirektor blieb ganz ruhig, beinahe heiter.<br />

»Wenn das eine Vernehmung ist«, sagte er, »dann sollten Sie mich<br />

auch belehren.«<br />

»Ach, so ist das«, regte sich Sigurd auf. »Einer, der sich aus kennt im<br />

Gesetz. Doch das nützt dir gar nichts, Opa.«<br />

Damit trat er schnell und so nah vor Seehusen, dass dieser unwillkürlich<br />

einen Schritt zurück tat, dabei ins Straucheln kam, sich<br />

nicht mehr halten konnte und schräg gegenüber vom Schreibtisch<br />

krachend auf der Untersuchungsliege landete.<br />

»Halt, halt, halt!«<br />

Von der Tür her meldete sich eine Stimme, voll tönend und gebieterisch.<br />

Und gleich darauf mit dem Ausdruck der Verwunderung: »Rudolf …<br />

was machst du hier!? Bist du etwa krank?«<br />

Das war Marten, mit seidenfeinem Sommerhut und auf der Nasenspitze<br />

eine Sonnenbrille, über die er halb belustigt, halb besorgt<br />

die Szene betrachtete.<br />

»Danke für die Nachfrage«, sagte Seehusen. »Und bitte diesen<br />

Grobian, dass er mir die Fesseln öffnet.«<br />

»Wenn du erlaubst«, sagte der Oberstaats anwalt, »übernehme ich<br />

das.« Und zu Sigurd, der ihm dabei helfen wollte: »Nächstes Mal<br />

schau gefälligst hin, bevor du deine Nummer ab ziehst.«<br />

Wieder an Seehusen gewandt: »Tut mir Leid. Du kannst dir ja die<br />

Aufregung vorstellen. Mord in der Klinik. Das kommt nicht alle Tage<br />

vor.«<br />

14


Sorgfältig schloss der Oberstaatsanwalt die Doppeltüren und legte<br />

seinen Hut ab. »Frau Dr. Stettin ist tot. Erdrosselt. Letzte Nacht, im<br />

Park hinter dem Zentralgebäude.«<br />

Er griff nach einem Foto, das schlicht gerahmt vor ihm auf dem<br />

Schreibtisch stand.<br />

»Eine schöne Frau. Und so ein hässliches Ende.«<br />

Seehusen sah das Foto an.<br />

Inmitten einer Gruppe von Ärzten, alle mehr oder weniger mit<br />

Bart, was einigen von ihnen ein eher düsteres Aussehen verlieh, stand<br />

eine fröhliche Person in einem reichlich kurzem Rock, die in die Kamera<br />

fl irtete.<br />

»Ist sie vergewaltigt worden?«<br />

»Das wird die Obduktion ergeben. Wir haben ihre Schuhe gefunden<br />

und auch die weißen Socken. Das heißt, eine Socke fehlt uns<br />

noch.«<br />

»Sonst nichts, keine weitere Spur?«<br />

»Du kennst die Schwierigkeit«, sagte der Oberstaatsanwalt. »Tatort<br />

Klinik. Da kannst du nicht einfach darauf loser mitteln … Übrigens,<br />

wie geht es Madame Seehusen? Wird sie bald entlassen?«<br />

»Darüber wollte ich mit der Ärztin reden. Und jetzt ist sie tot.«<br />

Seehusens Blick heftete sich an den weißen Kittel, der frisch gestärkt<br />

auf einem Bügel an der Garderobe hing.<br />

»Was wird meine Frau sagen? Sie hat Frau Stettin sehr gemocht.«<br />

»Ich fürchte, es hat sich längst herumgesprochen«, sagte Mar ten.<br />

»Claudia Stettin hatte Nachtdienst. Aber nur im Hintergrund, das<br />

heißt als Oberärztin wurde sie nur gerufen, wenn es einen schweren<br />

Fall gab und der Arzt vom Dienst sie benötigte. Genau so war<br />

es letzte Nacht. Zwei Patienten auf der Suchtstation hat ten versucht,<br />

sich das Leben zu nehmen … der AvD wusste nicht, wo ihm der Kopf<br />

stand. Eine Stunde ist die Oberärztin auf Station gewesen, dann hatte<br />

sich die Lage beruhigt. Und auf dem Rück weg zum Hauptgebäude,<br />

so gegen zwei Uhr im Park, an einer Stelle, die schlecht beleuchtet ist<br />

… ein Pfad, der als Abkürzung dient zwi schen den Pavillons … muss<br />

es dann passiert sein.«<br />

»War sie als Ärztin zu erkennen? Hatte sie einen Kittel an?«<br />

»Frau Stettin trug nie einen Kittel. Aus Prinzip. Weißt du, sie gehörte<br />

zu dem neuen Typ Psychiater, der … wie soll ich sagen …«<br />

Marten suchte nach dem Wort, wobei er seine Sonnen brille abnahm,<br />

jedes Glas kurz anhauchte und dann mit dem langen Zipfel<br />

seiner Krawatte gründlich putzte. »Der Chefarzt hat es mir berichtet.<br />

Der trägt natürlich einen Kittel. Und hatte sie wegen ihrer Weigerung<br />

bereits abgemahnt.«<br />

15


Das Telefon läutete.<br />

Der ältere Beamte, der an den Apparat ging, deckte mit der Hand<br />

die Muschel ab, ehe er sich an Marten wandte:<br />

»Der Pfl eger von der Suchtstation … Er hat etwas gefunden. Beim<br />

Bettenmachen. Eine weiße Socke …«<br />

Er zögerte und wusste nicht, ob er das Telefongespräch beenden<br />

sollte.<br />

»Also, worauf warten wir«, drängte der Oberstaatsanwalt. »An<br />

die Arbeit, Männer. Mit etwas Glück wird der Fall noch heute aufgeklärt.<br />

Und du, Rudolf, sammelst die Orangen ein. Und grüß dei ne<br />

Frau von mir …«<br />

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