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Wochenzeitung Jungle World Nr. 17 Donnerstag, 27. April 2023 27. Jahrgang 5,00 Euro Österreich 5,60 Euro

# 17/2023

Zerfall der Junta.

Im Sudan kämpfen

rivalisierende Generäle

der Armee und

der Miliz RSF um die

Macht. Seite 12

Das sexy Raubtier. In den

Ruinen der alten Völklinger Hütte

fragt der Medienkünstler Julian

Rosefeldt danach, warum der

Kapitalismus so erfolgreich ist.

Dschungel-Seiten 2 bis 5

4 194449 705001

17

Heißer Mai. Die Proteste gegen Emma nuel

Macrons Rentenreform gehen trotz deren

Billigung durch den Verfassungs rat unvermin

dert weiter. Viele Franzosen fürchten um

das Sozialsystem als solches. Der Präsident

versucht, die Wogen zu glätten, bei seinen

Ort sterminen kommt es jedoch regel mäßig

zu Stromausfällen. Dazu gibt es harsche

Kritik an der Pariser Polizei und ein Interview

mit einer Sekretärin der linken Gewerkschaft

Sud-PTT auf den Thema-Seiten 3 bis 5

Biere, Bullen, Blöcke. Vor 36 Jahren brannte

in Berlin-Kreuzberg der »Bolle« aus. Eine Tour de

Force durch die Geschichte der autonomen

1.-Mai-Aktivitäten. Dschungel-Seiten 18 bis 23

Nicht mal Inflationsausgleich. Die Beschäftigten

im öffentlichen Dienst haben den höchsten

Tarifabschluss seit 50 Jahren erkämpft, eine

Mitgliederbefragung entscheidet, ob er angenommen

wird. Doch die jüngsten Reallohnverluste würde er

nicht ausgleichen. Seite 6

picture alliance / abaca | Huchot-Boissier Patricia/ABACA


Homestory

Schon wach? Nö, nicht so richtig, ist ja noch früh und in unseren

Social-Media-Gruppen ist wenig los. Erst gegen später setzt in den

redaktionsinternen Chat-Gruppen der Traffic ein. Redakteure und

Redakteurinnen bieten ihre zu groß gewordene Yucca-Palme an, teilen

Fundstücke aus dem Internet (»Im Bronx-Zoo in NYC gibt es

übrigens ein Gehege, das so heißt wie wir!« Foto vom Zoo-Eingang),

posten Szene-Interna und stellen wilde Fragen (»Haben wir oder jemand

einen Online-Zugang für die Junge Welt?). So weit, so gut.

Aber werden bei der Jungle World skandalöse Textnachrichten wie

im Hause Springer gepostet? Verdeckte Kampagnen initiiert? Wird

bepöbelt und gehatet? Transparenz wird in jedem Fall bei uns groß

geschrieben. Aus Anlass der Döpfner-Rants machen wir daher Teile

unserer Chatnachrichten zu kultursensiblen Themen (FDP, neue

Bundesländer) öffentlich. Urteilen Sie bitte selbst, ob Sie bei uns

irgendwelche verletzenden oder missverständlichen Darstellungen

und Ausdrucksweisen erkennen können.

»Hahaha, Ossi-Othering«, meint ein Redakteur aus dem inneren

Zirkel gewohnt zurückhaltend über Dirk Oschmanns Buch »Der

Osten, eine westdeutsche Erfindung«. Eine Kollegin wird deutlicher.

Anzeige

»Ich habe nichts gegen Ossis, meine Nachbarn sind sogar welche.

nehmen Pakete an + kontrollieren Hausmüll.« »Basically allesamt

Faschisten«, resümiert ein dritter Redakteur. Versuchte Wahlbeeinflussung,

gibt es das auch? Na, sicher. »Können wir bitte nochmal

einen Giffey-Hate-Text bringen vor der Wahl?« hakt ein aufmerksamer

Redakteur in einem Post an das Inlandsressort nach. Der FDP

wird politisch übrigens gar nichts zugetraut (»An die FDP denke ich

aus Prinzip nicht«), die alte Zahnärztepartei wird mit schlechtem

Wetter (»gute Farbe für Regenjacken @KatjaSuding«) und schlechtem

Geschmack in Verbindung gebracht (»Warum haben da alle

Frauen seltsame Doppelnamen?«). Aber wie geht es denn nun weiter?

Die Umsturzpläne des Springer-Chefs – »Vielleicht sollte man

aus der ehemaligen DDR eine Agrar- und Produktionszone mit Einheitslohn

machen« – werden bei uns als viel zu kleinteilig verlacht.

Umsturz geht anders. Wobei es praktische Bedenken gibt: »Hab’ 25

based Genossen max. – wird wohl nix.« Besonders schwarz sieht

ein anderer Kollege: »Wenn ich mir überlege, wer eine Revolution

machen könnte, möchte ich in echt lieber keine erleben.«

Inhalt

THEMA

3 Bernhard Schmid: In Frankreich hat der Verfassungsrat

die Rentenreform abgesegnet, die Proteste

gehen weiter

4 Léo Rosell: Das französische Sozialsystem ist ein

Vermächtnis aus der Nachkriegszeit

4 Linn Vertein: Anwälte prangern von willkürliche

Freiheitsberaubung durch die Pariser Polizei an

5 Moritz Pitscheider im Gespräch mit der Gewerkschafterin

Marie Vairon über den Widerstand gegen

die Rentenreform

INLAND

6 Stefan Dietl: Der Tarifabschluss im öffentlichen

Dienst reicht nicht als Inflationsausgleich

7 Johannes Reinhardt: Die FDP will Sozialausgaben

begrenzen

7 Jens Winter war mit der Letzten Generation in der

Kirche

8 Dominik Lenze: Angestellte von NGOs protestieren

gegen schlechte Arbeitsbedingungen

9 Thorsten Mense: Die kriminellen Machenschaften

einer Nazi-Familie in der sächsischen Kleinstadt

Colditz

9 Lothar Galow-Bergemann kommentiert die gewerkschaftliche

Forderung nach der Viertagewoche

REPORTAGE

10/11 Thomas Berger: In Nepal versucht eine Schule,

den schonenden Umgang mit Ressourcen zu lehren

AUSLAND

12 Hannah Wettig: Im Sudan kämpfen Armee und

eine Miliz gegeneinander

13 Catharina Hänsel: Das Oberste Gericht Indiens

entscheidet über die Legalisierung der Ehe für alle

13 Elke Wittich: Ron DeSantis, republikanischer

Gouverneur von Florida, kämpft gegen den Disney-

Konzern

14 Robin Eberhardt: Trotz brutaler Kriegführung

gerät das Militärregime Myanmars in die Defensive

15 Felix Sassmannshausen: Die EU hat nach dem

»Katargate« Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung

angekündigt

15 Katja Woronina: Der Kreml-Kritiker Kara-Mursa

wurde zu 25 Jahren Strafkolonie verurteilt

WISSENSCHAFT

16 Tobias Prüwer: Fanny Hesse revolutionierte die

Bakterienforschung mit einem Haushaltsmittel

INTERVIEW

17 Joseph Keady im Gespräch mit Shane Burley

über Antisemitismus und Verschwörungstheorien in

den USA

DISKO

18 Jörn Schulz: Der chinesische Führungsanspruch

bedroht vor allem Nachbarstaaten und arme Länder

ANTIFA

19 Bernhard Torsch: In Österreich hetzen Rechtsextreme

immer stärker gegen LGBT-Personen

HOTSPOT

20 Kai Schubert: Small Talk mit Sina Arnold von der

TU Berlin über Antisemitismus bei Migranten und

Muslimen

20 Svenna Triebler preist die abstrakte Schönheit

20 Margit Hildebrandt: Perus ehemaliger Präsident

Alejandro Toledo sitzt jetzt in Untersuchungshaft

DSCHUNGEL

2–5 Jens Winter: Julian Rosefeldt stellt in der Völklinger

Hütte aus

6/7 Tobias Prüwer: Darren Aronofskys Spielfilm

»The Whale« und die Kritik am Fat Suit

8/9 Charlie Bendisch im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin

Julia Ingold über Deutschrap

10/11 Luca Glenzer: Tristan Brusch klingt auf seiner

neuen Platte einmal mehr nach Hildegard Knef

12/13 Marco Kammholz: Tove Soiland und ihre

Schriften über »sexuelle Differenz«

14 Gabriele Summen und Maurice Summen: Ein

neues Buch von Judith Hermann und ein neuer Film

mit Isabelle Huppert

14 Elke Wittich: Was es bei der SPD zu essen gibt

14 Jana Sotzko über »Mercy« von John Cale

15 Andreas Michalke: Der Sohn hat plötzlich viele

Mütter

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SPORT

16/17 Fabian Kunow: Vor 30 Jahren stach ein Fan von

Steffi Graf auf die Tennisspielerin Monica Seles ein

IMPRINT

18–23 Ely Ora: Die feurige Geschichte des 1. Mai in

Kreuzberg

COMICS

24 Frau Kermle, Totes Meer, Neukölln Arkadien,

Leowald

HOME ∎∎∎ SEITE 2

27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17


Es bleibt laut. Mit Töpfen und Kochlöffeln begleiten Protestierende die Rede Emmanuel Macrons vor dem Pariser Rathaus am 17. April

picture alliance / NurPhoto / Guillaume Pinon

Macrons 100-Tage-Plan

Auch nachdem das Verfassungsgericht die Rentenreform in Frankreich

gebilligt hat, gehen die Proteste weiter. Präsident Macron, der nun

versucht, seine Beliebtheit wiederherzustellen, wendet sich dabei auch

der politischen Rechten zu.

Von Bernhard Schmid, Paris

»Ich gestehe ein, dass ich in der Debatte

nicht genügend präsent war«, sagte

der französische Staatspräsident Emmanuel

Macron zu Wochenbeginn im

Interview der Tageszeitung Le Parisien,

um anzukündigen: »Ich werde mich

stärker engagieren.«

Thema des Interviews war der rasante

Popularitätsverlust, den sich Macron

und seine Regierung unter Premierministerin

Elisabeth Borne eingehandelt

haben, als sie im März die umstrittene

Rentenreform ohne parlamentarische

Mehrheit per gewonnenem Misstrauensvotum

durchsetzten. Am 14. April

hat nun auch der französischen Verfassungsrat

– der Conseil constitutionnel,

der in Frankreich die Funktion eines

Verfassungsgerichts übernimmt – die

Reform abgesegnet (siehe S. 4). Nur

noch 26 Prozent der Franzosen erklärten

sich Ende vergangener Woche

allgemein »zufrieden« mit Macrons

Amtsführung. Hingegen wählten

47 Prozent die negativste Antwort, die

das Umfrageinstitut Ifop angeboten

hatte: »sehr unzufrieden«. Ausnahmslos

alle demoskopischen Institute stellen

große und stabile Mehrheiten fest,

die die Rentenreform ablehnen. Unter

den abhängig Beschäftigten lehnen bis

zu 90 Prozent das Vorhaben ab. In der

Umfrage des Institut Elabe sagten ferner

64 Prozent der Befragten, sie wünschten

eine Fortsetzung der Proteste durch

die Gewerkschaften, ungeachtet dessen,

dass der Verfassungsrat der Reform

zugestimmt hat.

Im Nachtprogramm des Privatfernsehsenders

BFM TV interpretierte der

Grünen-Politiker Yannick Jadot (Europe

Écologie – Les Verts) Macrons Eingeständnis

am Sonntagabend so: »Ich

habe noch nicht genug geredet. Ich

muss noch mehr reden!« Macrons Ankündigung

fassten viele eher als Drohung

denn als Angebot auf. Mehr reden

lassen wollten zahlreiche Französinnen

und Franzosen den Staatspräsidenten

nicht unbedingt. Als Macron am

Mittwoch voriger Woche im elsässischen

Muttersholtz eine Fabrik besuchen

wollte, fiel dort der Strom aus. Im

Nachbarstädtchen Sélestat empfing ihn

eine weitgehend feindselige Menschenmenge.

Drei Anwesende sollen

nun im September vor Gericht erscheinen.

Ihnen wird zur Last gelegt,

dass sie dem Präsidenten den Mittelfinger

entgegengereckt haben sollen.

Zu einem Stromausfall kam es auch

früh am Donnerstag voriger Woche, als

Macron das südfranzösische Département

Hérault besuchte – zunächst am

Flughafen von Montpellier, später an

der Mittelstufenschule in der ländlichen

Gemeinde Ganges, die der Staatschef

besichtigte. Im 4 000-Einwohner-Örtchen

demonstrierten rund 1 000

Menschen gegen ihn, die auf Kochtöpfe,

Deckel und Pfannen schlugen. Diese

Protestform wird seit vorvergangener

Woche immer populärer, am Montag

wurden erneut rund 400 französische

Städte auf diese Weise beschallt. Anlass

war der erste Jahrestag der Wiederwahl

Macrons.

Die Stromausfälle kommen nicht von

ungefähr. Die CGT-Gewerkschaft im

Energiesektor hatte zuvor angekündigt,

Politikern und Unternehmen unfreiwillige

»Energiesparmaßnahmen« aufzuerlegen.

Das war auch eine Reaktion

darauf, dass Macron in einer Fernsehansprache

am Abend des 17. April verkündet

hatte, innerhalb von »100 Tagen«

werde er nun Verbesserungen

den Bereichen Schule, Gesundheitssystem,

Soziales, Ökologie einleiten. Größtenteils

lässt sich Macron nicht auf

konkrete Zusagen ein, dem Lehrpersonal

an Schulen stellte er am vergangenen

Donnerstag auf dem Pressetermin

beim Schulbesuch im Département

Hérault jedoch eine Erhöhung des Nettolohns

um 100 Euro in Aussicht. Dabei

handelt es sich aber nur um die Wiederholung

dessen, was der von Macron

gewünschte »Lehrerpakt« vorsieht:

Lehrern im Gegenzug für eine zusätzliche

Vergütung weitere Aufgaben zuzuteilen.

Ein Vorschlag, den die Gewerkschaften

bereits in der Vergangenheit

kritisierten.

In Reaktion auf Macrons 100-Tage

Programm kündigte die CGT Energie

Träte Marine Le Pen am kom men -

den Sonntag gegen Emmanuel

Macron bei der Stichwahl um die

Präsident schaft an, würde sie

Umfragen zufolge mit 55 Prozent

haushoch gewinnen.

»100 Aktionstage« an. Macrons Ankündigung

diente wohl vor allem dazu, die

Gewerkschaften zur Mitarbeit zu bewegen

und dabei ihre in den Augen der

Regierung starrsinnige Ablehnung der

Rentenreform abzuschwächen. Nur

lehnen sämtliche französischen Gewerkschaften,

unabhängig von ihren

sonstigen Richtungsunterschieden,

Macrons Gesprächsangebot ab. Sie wissen

dabei die Bevölkerungsmehrheit

an ihrer Seite.

Zu den Strategien, mit denen Macron

seine Popularität wieder steigern

möchte, zählt auch ein indirektes, aber

deutliches Zugeständnis an die extreme

Rechte. In seinem Interview in der

Tageszeitung Le Parisien kündigte der

Präsident ein neues Ausländergesetz

an – eines in einer langen Reihe,

schließlich hat es seit 1980 bereits 29

neue Ausländergesetze (Stand 2022)

gegeben, eines alle 17 Monate. Es scheint,

als ob Macron hier die Handlungsfähigkeit

demonstrieren möchte, auf die

er in ökonomischen und sozialen Belangen

verzichtet, wo allein nur noch

der angebliche Sachzwang herrschen

soll. Im Dezember hatte Macrons Innenminister

Gérald Darmanin einen entsprechenden

Gesetzentwurf vorgelegt.

Da die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse

in Sachen Rentenreform

sich da bereits zu Ungunsten der Regierung

verschoben, entschloss man

sich, Darmanins Vorschlag zunächst

zu vertagen. Nun soll das Gesetzesvorhaben

erneut auf die Tagesordnung

gesetzt werden.

Macron und Darmanin möchten

neue Härten für straffällige Ausländer

und sonstige Ausreisepflichtige einführen:

So soll der Anteil der tatsächlich

vollzogenen Ausweisungen von Ausreisepflichtigen,

der derzeit bei 15 Prozent

liegt, erheblich angehoben werden.

Auch dem Arbeitskräftebedarf von

Unternehmen beispielsweise im Gaststätten-

und Baugewerbe will man berücksichtigen:

Arbeitnehmer ohne Papiere

in Sektoren mit Arbeitskräftemangel

sollen ihren Aufenthalt zukünftig

leichter legalisieren können. Letzteres

empört den rechten Flügel von LR

ebenso wie den Rassemblement national

(RN) und Éric Zemmour, den bekannten

Vorsitzenden der rechtsextremen

Partei Reconquête. Sie alle beschwören

eine Katastrophe in Gestalt

einer »massenhaften Einladung von

Illegalen zum Abholen von Aufenthaltstiteln«.

Für eine parlamentarische Mehrheit

wäre die weitreichende Zustimmung

von Abgeordneten der konservativen

Oppositionspartei Les Républicains

(LR) entscheidend. Auch die Rentenreform

auf herkömmlichen Weg durchs

Parlament zu bringen, scheiterte daran,

dass Macron nicht die Zustimmung

der Mehrzahl der LR-Abgeordneten erreichen

konnte. Darmanin baut darauf,

dass Verschärfungen

etwa bei der Verhängung

von Ausreiseverpflichtungen

und bei Abschiebungen

auch bei LR auf Zustimmung

stoßen.

Die konservative Partei

wählte im Dezember einen

neuen Vorsitzenden, Éric

Ciotti, der auf mehreren Feldern

– Innere Sicherheit,

Bürgerrechtspolitik, Einwanderung,

Islam, nationale Identität –

erklärtermaßen mit der ex tremen Rechten

konkurriert. Ciotti hatte im September

2021 angekündigt, falls es zu einer

Stichwahl um die Präsidentschaft

zwischen Macron und dem Rechtsextremen

Éric Zemmour käme (letztlich

erhielt Zemmour nur sieben Prozent

der Stimmen im ersten Wahlgang),

würde er für Zemmour stimmen, Marine

Le Pen hingegen sei ihm sozialpolitisch

»zu links«.

Dieses Image macht diese derzeit

aber eher populärer. Am Samstagmorgen

konnte die Fraktionsvorsitzende

des RN in der Nationalversammlung

beim Besuch einer Landwirtschaftsmesse

in Beaucroissant, in der Nähe

von Grenoble, in der Menge baden.

Umfragen verkünden, dass, wenn Le Pen

am kommenden Sonntag gegen Macron

bei der Stichwahl um die Präsidentschaft

anträte, sie diese mit 55 Prozent

haushoch gewinnen würde.

Die Parteiführung von Emmanuel

Macrons Partei, Renaissance, kündigte

Ende voriger Woche an, eine Sonderkommission

zur politischen Bekämpfung

des RN einzusetzen. Das Problem

dabei ist nur, dass sie dies bereits zum

dritten Mal in Folge seit 2019 ankündigt.

Marine Le Pen profitiert als lachende

Dritte vom Ringen zwischen Regierung

und Kapitalvertretern einerseits und

Gewerkschaften auf der anderen Seite,

jedenfalls solange die Gewerkschaften

den Abwehrkampf nicht gewinnen und

Macron weiterhin eine schlechte Figur

abgibt. Dabei hält Le Pen sich relativ

bedeckt. An Demonstrationen nimmt

ihre Partei nicht teil, platziert jedoch

vereinzelt populistischen Äußerungen

gegen die Rentenreform, ohne inhaltlich

viel beizusteuern (Jungle World

12/2023). Das funktioniert, weil der RN

zwar nicht auf der Straße präsent ist,

jedoch seit 2022 das Parlament als Bühne

nutzen kann und in zahlreichen

Fernseh-Talkshows vertreten ist. Auch

die linke parlamentarische Opposition

könnte von der Situation profitieren, allerdings

ist die linkspopulistische

Wahlplattform LFI (La France insoumise)

zerstritten und hat es überdies

nicht geschafft, den Gewerkschaften die

Führung der organisierten Proteste

streitig zu machen; so kann sie sich derzeit

nicht besonders profilieren.

Ursprünglich war die extreme Rechte

selbst für eine Erhöhung des Rentenantrittsalters

eingetreten. Als das Rentenmindestalter

noch bei 60 Jahren

lag, also vor Nicolas Sarkozys Rentenreform

vom Herbst 2010, propagierte der

Front national – so lautete der damalige

Parteiname des heutigen RN – eine

Anhebung des Renteneintrittsalters auf

65. Der verbreitete Unmut über die

Reform unter Sarkozy ließ die rechtsextreme

Partei dann jedoch Gegenteiliges

in ihre Wahlprogramme schreiben

und gegen eine Erhöhung wettern,

ohne das inhaltlich großartig zu begründen.

Zemmour, der dem RN gerne realpolitische

Aufweichung seiner Grundsätze

vorwirft und ideologische Prinzipientreue

von ihm oder gegen ihn einfordert,

blieb seinerseits den früheren

Forderungen des RN treu. Er sagte bereits

im Februar, wäre er Abgeordneter,

würde er der Rentenreform Macrons

zustimmen.

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

SEITE 3 ∎∎∎ THEMA


Von der Résistance zur Renaissance

Die Gegner der Rentenreform sehen diese als Angriff auf das franzö sische

Sozialsystem als Ganzes und das historische Erbe des gaullistischkommunistischen

Befreiungskompromisses. Auf den Schildern der

Demonstrierenden ist derzeit oft der kommunistische Minister Ambroise

Croizat zu sehen, der das französische Sozialsystem entwarf.

Von Léo Rosell, Paris

Obwohl der französische Verfassungsrat

ihm eine Frist von 15 Tagen ein geräumt

hatte, unterzeichnete Präsident

Emmanuel Macron sein Gesetz zur Reform

des französischen Renten sys tems

noch am Abend des 14. April. Nur wenige

Stunden zuvor hatte das Gremium –

angerufen von der Opposition, um die

Reform auf ihre Verfassungsmäßigkeit

hin zu prüfen – das Gesetzesvorhaben

bestätigt und außerdem den von Reformgegnern

eingebrachten Antrag, ein

Referendum über das Gesetz abzuhalten,

abgelehnt; ein solches Referendum

wäre das letzte Rechtsmittel gegen die

Reform gewesen. Damit steht im Grunde

fest, dass Macrons Rentenreform

kommen wird, außer Macron selbst tritt

noch von dem Vorhaben zurück. Die

anhaltenden Proteste (siehe S. 3) zeigen

jedoch, dass viele Franzosen das Sozialversicherungssystem

verteidigen

wollen.

Das französische Sozialmodell, das

seine Gegner als veraltet und unwirtschaftlich

ansehen, ist in den vergangenen

Jahrzehnten oft angegriffen

worden. In einem Leitartikel des Magazins

Challenges aus dem Jahr 2007 gab

Denis Kessler, der Vorsitzende von Scor

SE, einem der größten Rückversicherungsunternehmen

weltweit, den Kurs

vor: »Es geht heute darum, 1945 hinter

sich zu lassen und das Programm des

Conseil national de la Résistance nach

und nach abzuschaffen!« Das bei der Befreiung

Frankreichs eingeführte Sozialschutzmodell

gilt vielen Franzosen als

ein Erbe, das um jeden Preis zu verteidigen

sei, anderen hingegen als Ballast

für die Wirtschaft, den man möglichst

schnell abwerfen müsse.

Macron hat nie Zweifel daran gelassen,

wo er in diesem Konflikt steht. Bereits

während des Präsidentschaftswahlkampfs

2017 teilte der Kandidat der

Partei En marche (mittlerweile Renaissance)

seine Absicht mit, das aus der

Phase der Libération, der Befreiung von

der deutschen Besatzung und dem

Wiederaufbau der Republik, hervorgegangene

französische Sozialmodell zu

reformieren, und sagte am 4. September

2016 beim Nachrichtensender

France info: »Das Modell der Nachkriegszeit

funktioniert nicht mehr. Der

politische, wirtschaftliche und soziale

Konsens, der 1945 begründet und

1958 vervollständigt wurde, ist hinfällig.«

Wie Macron hier den sozialen

Rückschritt rhetorisch als Fortschritt verkauft,

ist typisch für sein politisches

Programm. Bereits im Jahr 2019 strebte

er eine vollständige Neugestaltung des

Rentensystems an – Ansprüche hätten

sich aus einem Punkte- statt nach dem

Umlageverfahren berechnen sollen –,

die aber nach wochenlangen Protesten

und dem Ausbruch der Pandemie begraben

wurde. Am 25. April 2019 beteuerte

Macron auf einer Pressekonferenz

noch, dass es in Anbetracht hoher

Arbeitslosigkeit und schlechter Arbeitsbedingungen

»heuchlerisch« wäre,

das gesetzliche Renteneintrittsalter

auf 64 Jahre zu erhöhen.

Nun, vier Jahre später, ist genau das

der wichtigste Teil des Reformprojekts,

das er und seine Premierministerin

Elisabeth Borne vorantreiben. Die Regierung

stellt die Reform als sozial

gerecht und notwendig für den Erhalt

des umlagefinanzierten Rentensystems

dar. Ihre Kritiker hingegen halten

sie für ungerecht, undemokratisch und

ideologisch motiviert. Einer Umfrage

der Informationsagentur Harris interactive

vom 27. März zufolge lehnen

mehr als 70 Prozent der Franzosen die

Reform ab. Im Januar gaben in einer

Studie des Institut Montaigne

nur sieben Prozent

der Erwerbstätigen an, die

Reform zu befürworten. Aus

Angst, für das politische

Projekt keine Mehrheit im

Parlament zu erhalten,

wählten Macron und seine

Premierministerin den

rigorosen Weg und nutzten

Artikel 49.3 der Verfassung,

der es ermöglicht, ein Gesetz

ohne Abstimmung im Parlament zu

verabschieden, sollte die Regierung

einen Misstrauensantrag abwehren

können – was gelang (Jungle World

12/2023).

Der harten Art und Weise, wie das

Gesetz quasi am Parlament vorbei

durchgesetzt wurde, folgte auf der

Straße die Härte der Polizei (Jungle

World 13/2023). Während die Demonstrationen

zunächst relativ ruhig verliefen,

kam es nach der Ankündigung,

den Artikel 49.3 anzuwenden, am

16. März zu einem repressiven Strategiewechsel

mit Hunderten von willkürlichen

Festnahmen und exzessiver Gewaltanwendung.

Daraufhin äußerten

neben verschiedenen Menschenrechtsorganisationen

wie Amnesty International

auch der Europarat und die

»Wir werden aus der Rente nicht

mehr das Vorzimmer des Todes,

sondern eine neue Etappe des

Lebens machen.« Ambroise Croizat,

Gründer des französischen

Sozialsystems, 1945

Vereinten Nationen Besorgnis über das

rücksichtslose Vorgehen der französischen

Exekutive.

Auffällig oft beziehen sich die Demonstranten

auf die lange Tradition des

französischen Sozialsystems. Insbesondere

ein Name ist immer wieder auf

Schildern zu lesen: Ambroise Croizat,

Gewerkschafter und Mitglied der französischen

KP. Als Minister für Arbeit

und soziale Sicherheit während der

Die Freiheit, nicht zu arbeiten. »Verteidigen wir unsere Freiheit!« schrieben Protestierende am 6. April an eine Wand Paris

Libération (1945–1947) führte er das allgemeine

Sozialversicherungssystem

ein. In seiner ersten Rede als Minister

vor der Verfassunggebenden Versammlung

am 3. Dezember 1945 fasste

Croizat sein Programm so zusammen:

»Von nun an schützen wir den Menschen

vor Bedürftigkeit. Wir werden

aus der Rente nicht mehr das Vorzimmer

des Todes, sondern eine neue

Etappe des Lebens machen.«

Die Entwickler dieser Sécurité sociale,

kurz Sécu genannt, wollten die Sozialpolitik

revolutionieren. Fast 80 Jahre

später und trotz einer Reihe von Reformen,

die die Grundprinzipien des

französischen Sozialmodells nach

und nach geschwächt haben, bleibt die

Vorstellung von der Rente als »fortgeführtes

Gehalt« dominant gegenüber

der liberalen Interpretation als »aufgeschobenes

Einkommen«. Das französische

Modell hat sich auch in den

vergangenen Jahren, sei es während der

Krise von 2008 oder der Covid-19-Pandemie,

als wirksame soziale Absicherung

erwiesen. Auch das trägt zweifellos

zur Verbundenheit vieler Franzosen

mit dem Sozialversicherungssystem

bei, das einst dem politischen Bestreben

entsprang, den Menschen die

»Angst vor dem Morgen« zu nehmen.

picture alliance / ZUMAPRESS.com / Joao Daniel Pereira / Atlantic

Polizei in

Sanktionslaune

Die französische Polizei ist für ihr gewalttätiges und willkürliches Vor -

gehen bei Demonstrationen gegen die Rentenreform wiederholt

kri tisiert worden. Nun hat ein Zusammenschluss von Rechtsanwälten

Strafanzeigen gegen Beamte erstattet.

Von Linn Vertein

Mehr als 100 Strafanzeigen unter anderem

wegen Einschränkung der Demonstrationsfreiheit

und Verletzung

der persönlichen Freiheit durch Mitarbeiter

und Mitarbeiterinnen des öffentlichen

Dienstes hat eine Gruppe

von Anwälten bei der Pariser Staatsanwaltschaft

eingereicht. Das teilte die

Gruppe in einer Pressemitteilung vom

31. März mit. In ihrer Stellungnahme

beziehen sich die Anwälte auf offizielle

Zahlen der Pariser Polizeipräfektur. An

den drei aufeinanderfolgenden Tagen

des 16., 17. und 18. März seien demnach

bei den Protesten gegen die Rentenreform

insgesamt 425 Personen von der

Pariser Polizei in Gewahrsam genommen

worden. Am 16. März hatte der

französische Präsidenten Emmanuel

Macron angekündigt, die Rentenreform

mit Hilfe des Artikels 49 Absatz 3

der Verfassung am Parlament vorbei

zu beschließen. Die bis dahin überwiegend

friedlichen Proteste gegen das

Gesetzesvorhaben wurden daraufhin

militanter, es gab Ausschreitungen mit

Sachbeschädigungen in Paris und

weiteren Städten.

Dass es nach den 425 Festnahmen in

nur 52 Fällen zu einer strafrechtlichen

Verfolgung kam, sehen die Anwälte als

Indiz dafür an, dass die Ingewahrsamnahmen

»ebenso überzogen wie unbegründet«

waren. »Hunderte von Demonstranten

werden für 24 Stunden

und bis zu drei Tage inhaftiert, die meisten

von ihnen wurden aber weder angeklagt

noch vor Gericht gestellt«, sagt

der Pariser Strafrechtsanwalt Raphael

Kempf. »Selbst Menschen, die sich

abseits des Geschehens aufhielten, wurden

an diesem Tag mitgenommen«, so

Kempf. »Die Festnahmen fanden größtenteils

ohne hinlängliche Begründung

eines Anfangsverdachts statt.«

Dem Nachrichtensender Euronews

sagte Kempfs Kollegin Coline Bouillon,

dass diese Praxis der »Gewahrsamssanktionen«

eine bekannte Strategie der

französischen Polizei gegen Demonstrierende

darstelle, bei denen diese mit

»unzulässigen Anschuldigungen« überzogen

würden, die »in Bezug auf den

Nachweis von Schuld haltlos« seien. Die

Tageszeitung Libération berichtete in

diesem Zusammenhang von zwei minderjährigen

österreichischen Schülern,

die auf Klassenfahrt gewesen seien und

am 16. März von der Pariser Polizei in

Gewahrsam genommen worden waren.

Schließlich musste sich die österreichische

Botschaft einschalten.

Bei allen 52 Personen, die einem

Staatsanwalt vorgeführt worden waren,

stellte man die Verfahren gegen Auflagen

ein. Darunter fielen Geldbußen

zwischen 200 und 500 Euro, Beschlagnahmung

des Mobiltelefons und Demonstrations-

sowie bis zu sechsmonatige

Aufenthaltsverbote für Paris. Der

Stellungnahme der Anwälte ist zu entnehmen,

dass in Frankreich für die Beschuldigten

keine Möglichkeit besteht,

gegen diese Auflagen Rechtsmittel

einzulegen. Die Anwälte kritisieren das

Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Sie

gehen davon aus, dass ihre Mandanten

im Falle einer Gerichtsverhandlung

einen Freispruch zu erwarten gehabt

hätten. Die Staatsanwaltschaft habe

sich ihrer Meinung nach »ein undurchsichtiges

und nicht mit Rechtsmitteln

ausgestattetes Sanktionsrecht« herausgenommen.

Dieser Einschätzung schließt sich

auch die linke Gewerkschaft der Richter

(Syndicat de la magistrature, SM)

an. Sie kritisiert neben der Polizeigewalt,

über die sich sowohl Amnesty International

als auch die Menschenrechtskommissarin

des Europarats, Dunja

Mijatović, bereits besorgt geäußert hatten,

die willkürlichen Festnahmen als

»Repression gegen die soziale Bewegung«.

Der Nachrichtensender Euronews zitiert

diesbezüglich Fabien Jobard, der

als Polizeisoziologe am Centre de recherches

sociologiques sur le droit et

les institutions pénales (CESDIP) arbeitet,

das dem französischen Justizministerium

untersteht. Jobard vertritt

die Einschätzung, dass in den »vergangenen

15 Jahren« eine Veränderung der

Polizeiarbeit stattgefunden habe. Der

Straftatbestand der »Beteiligung an einer

Gruppe mit dem Ziel, Gewalt oder

Schaden anzurichten«, der 2010 zur Bekämpfung

von Bandenkriminalität

eingeführt wurde, finde inzwischen vermehrt

Anwendung bei Demonstrationen.

Bei der Wahl zwischen repressiven

und präventiven Ansätzen tendiere

die Polizeistrategie »vermehrt zur präventiven

Seite«, so Jobard, Festnahmen

fänden immer häufiger bereits vor

Demonstrationen oder zu erwartenden

Krawallen statt.

Das französische Innenministerium

weist den Vorwurf willkürlicher Festnahmen

zurück. »Wir hoffen, dass wir

mit Hilfe der Anzeigen herausfinden

können, wie diese Menschen inhaftiert

worden sind und wer dafür verantwortlich

ist.« Ein Ergebnis erwarte er allerdings

frühestens in zwei Jahren, so

Kempfs Einschätzung gegenüber der

Jungle World.

THEMA ∎∎∎ SEITE 4

27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17


Marie Vairon, Gewerkschaftssekretärin, über die

Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich:

»Besonders

geschlossen und

selbstbewusst«

Seit drei Monaten kommt es in

Frankreich landesweit zu Streiks und

Demonstrationen gegen die geplante

Rentenreform. Warum dauern

die Unruhen so lange an?

Die Rentenfrage ist in Frankreich seit

jeher ein sehr sensibles Thema. Schon

1995 und 2019 stießen Pläne, die Zahl

der für eine abschlagsfreie Rente nötigen

Beitragsjahre zu erhöhen, auf

großen Widerstand. Während der derzeitigen

Proteste lässt sich allerdings

ein besonders geschlossenes und selbstbewusstes

Auftreten der Gewerkschaften

beobachten. Die Zustimmung

zu dieser Reform ist verschwindend

gering, und das gilt übrigens nicht nur

für Arbeiterinnen und Arbeiter, denn

es sind auch sehr viele Rentner auf der

Straße.

Es gehen also nicht nur diejenigen

auf die Straße, die direkt von der

Reform betroffen sind?

Nein. Neben vielen Rentnern haben

sich auch Studenten und Arbeitslose

den Protesten angeschlossen. Das ist

in Frankreich zwar keine Seltenheit, Präsident

Emmanuel Macron hat es dennoch

geschafft, verschiedene Interessengruppen,

unabhängig von ihrem

beruflichen Status, ihrem Alter und ihrer

Lebenslage, gegen seine Politik

aufzubringen. Ich habe völlig unterschiedliche

Demonstrationen gesehen,

bei denen Leute zusammenkamen, die

sonst nie zusammengefunden hätten.

Ich komme aus einer kleinen Stadt im

Département Drôme. Dort hat sich ein

Streikkomitee gegründet, an dem die

Gewerkschaften zwar beteiligt sind, aber

nicht federführend. Es sind Menschen,

die sich das erste Mal in ihrem

Leben an Streiks beteiligen. Die Rentenreform

war für sie einfach zu viel.

Die meisten Franzosen wollen nicht

bis 64 arbeiten, insbesondere nicht unter

schlechten Arbeitsbedingungen.

Macron sagt, dass »diese Reform

kein Luxus, kein Vergnügen, sondern

eine Notwendigkeit für das

Land ist« und dass sie einem egalitären

Prinzip folge, indem sie das

Renteneintrittsalter für alle anhebt.

Würde die Rentenreform alle Franzosen

gleichermaßen betreffen?

Alle gleichermaßen bis 64 arbeiten zu

lassen, mag auf den ersten Blick egalitär

erscheinen. Die Realität sieht aber

völlig anders aus, denn natürlich hängen

die Bedingungen des Renteneintritts

eng mit der Klassenzugehörigkeit

zusammen. Wenn man in einem wohlhabenden

Umfeld aufgewachsen ist,

das einem ein Studium ermöglicht, das

einem die Türen zu gutbezahlten Berufen

öffnet, hat man andere Möglichkeiten,

um sich im Alter zu fi nan zie ren.

Gutverdienende können auf private

Rentensysteme umsteigen oder sich

durch Immobilien und ähnliche Anlagen

absichern. Das ist deutlich schwieriger,

wenn man aus der Arbeiterklasse

kommt und schon als Jugendlicher

anfängt, körperlich hart zu

arbeiten.

Vor diesem Hintergrund sind Frauen

besonders häufig Verlierer dieser Reform,

da sie mehrheitlich in Pflegeberufen

arbeiten, die nicht nur schlecht

bezahlt, sondern auch körperlich belastend

sind. Auch andere Jobs kann man

ab einem bestimmten Alter nicht mehr

ausüben, weil der Körper das nicht

mitmacht. Wir von Sud-PTT vertreten

viele Menschen bei der Post, wo es Arbeiten

gibt, die man mit über 60 kaum

mehr ausführen kann. Post- oder Paketboten

sind in diesem Alter körperlich

häufig völlig lädiert: 400 Mal am

Tag ins Auto ein- und aussteigen, Pakete

heben und so weiter. Schon ab einem

Alter von 50 Jahren beobachten wir

vermehrt Schwierigkeiten bei den Mitarbeitern,

die zu immer mehr Krankschreibungen

und Fehlzeiten führen.

Aus diesem Grund trifft diese Rentenreform

Arme härter als Reiche und verstärkt

Ungleichheiten.

»Erst kürzlich wurden am Rande

einer Demonstration in der Bretagne

wieder vier Gewerkschafter mit

Reizgas angegriffen, geschlagen und

mit einer Schusswaffe bedroht.«

Sehen Sie einen Zusammenhang

zwischen dem Kampf gegen die

Rentenreform und anderen sozialen

Konflikten?

Bei Sud-PTT sind wir davon überzeugt,

dass sich in Wirklichkeit gerade allgemeiner

Unmut äußert. Das hat man

bei den Gelbwesten, aber auch bei

anderen Protesten gesehen, wie etwa in

den Raffinerien Ende letzten Jahres.

Es geht häufig um Arbeitsbedingungen,

insbesondere um Löhne. Es heißt, die

Menschen müssten länger arbeiten, weil

das Geld fehle, und dass wir keine großen

Lohnerhöhungen verlangen dürften,

weil die Unternehmen nicht für

den Fortbestand des Wirtschaftssystems

sorgen könnten. Aber die Unternehmen,

in denen wir arbeiten, erwirtschaften

Gewinne wie noch nie.

Die Leute können diese Erklärungen

nicht mehr hören. Die Streiks und Proteste

haben unter den Arbeiterinnen

und Arbeitern wieder Verbindungen

und Austausch geschaffen. Es wird wieder

darüber debattiert, was Ausbeutung

bedeutet, wie Wohlstand entsteht

und wie er verteilt ist. Und am Ende

dieser Diskussionen steht immer die

Frage, wie alle weniger arbeiten müssen

und besser leben können.

Welche Rolle spielt Ihre Gewerkschaft

Sud-PTT in den Protesten und

wie unterscheiden sich die Gewerkschaften

in ihren Forderungen voneinander?

Es gibt zwangsläufig Unterschiede zwischen

den Gewerkschaften. In Frankreich

gibt es da eine recht große Spannbreite:

von den großen traditionellen

Gewerkschaften wie der CGT, CFDT oder

Force ouvrière zu den kleineren wie

Unsa oder Solidaires. Die Sud-PTT würde

man wohl weit links einordnen.

Das U in SUD steht aber für »unité«

(Einheit), denn wir sind uns sehr wohl

bewusst, dass wir nur dann etwas erreichen

können, wenn Gewerkschaften

eng zusammenarbeiten. Nur so lassen

sich jede Woche viele Menschen auf die

Straße bringen oder spontane Versammlungen

organisieren. Neben den

großen wöchentlichen

Marie Vairon ist Generalsekretärin der Gewerkschaft

Sud-PTT (Solidaires, Unitaires, Démocratiques – Postes,

Télégraphes et Télécommunications). Die gelernte

Bankkauffrau lebt im Süden des Département Drôme,

zwischen Marseille und Lyon, und arbeitet seit 15 Jahren

bei der Post. Seit 13 Jahren ist sie bei der Sud-PTT aktiv.

Die Gewerkschaft, die vor allem in den Branchen Post

und Telekommunikation vertreten ist, wurde 1988 von

ehemaligen Mitgliedern der CFDT gegründet, die aus

dieser Gewerkschaft ausgeschlossen worden waren,

nachdem sie wilde Streiks unterstützt hatten.

Kundgebungen brauchen

wir unbedingt auch dezentrale

und selbstorganisierte

Arbeitskämpfe. Der

Widerstand gegen die Rentenreform

ist für uns ein

erster Schritt und es sind

noch viele weitere Dinge zu

bekämpfen. Unser gewerkschaftliches

Anliegen ist die Selbstorganisation

der Arbeiterinnen und Arbeiter.

Umfragen des Meinungsforschungsinstituts

Ifop zufolge hätte Marine

Le Pen vom rechtsextremen Rassemblement

national derzeit die größten

Erfolgsaussichten bei einer Präsidentschaftswahl.

Wieso hat die

Rechte in dieser Situation so einen

Zulauf?

Zurzeit erleben wir zwar einen neuen

Höhepunkt im Aufstieg rechtsextremer

Parteien und ihrer Ideen, aber diese

Entwicklung hat schon früher begonnen.

Man sieht, dass die arbeiterfeindliche

Politik, die Macron wie auch

schon seine Vorgänger vorantreibt,

letztlich Wut schürt und Menschen für

die Rhetorik der extremen Rechten

empfänglich macht. Dieses Klima ist

auch für uns gefährlich: Erst kürzlich

wurden am Rande einer Demonstration

in der Bretagne (am 18. März 2023 in

Lorient, Anm. d. Red.) wieder vier Gewerkschafter

mit Reizgas angegriffen,

geschlagen und mit einer Schusswaffe

bedroht. Dieses neue Ausmaß an Gewaltbereitschaft

macht uns große Sorgen.

Und wir wissen, dass auch die

Gewerkschaften eine wichtige Rolle

spielen, um klarzustellen, dass die

Ideen der extremen Rechten keine Lösungen

für unsere Probleme sind.

Welche Rolle spielen Parteien für

die Proteste? Sehen die Demonstranten

und Streikenden ihre Interessen

durch Jean-Luc Mélenchon und

seine Partei La France insoumise

vertreten?

Die linken Arbeiterinnen und Arbeiter

fühlen sich von Mélenchon offenbar

stärker vertreten als von anderen linken

Politikern, was sich an den Wahlergebnissen

erkennen lässt. Wir sind

eine Gewerkschaft, die sich für politische

Veränderungen der Gesellschaft

einsetzt, aber dafür keine engere Bindung

an politische Parteien anstrebt.

Wir denken, dass unsere Aufgabe darin

besteht, den Arbeiterinnen und Arbeitern

zu helfen, sich zu organisieren

und das System zu verstehen, in dem

wir leben.

In der zweiten Runde der jüngsten

Präsidentschaftswahlen riefen

ei nige linke Politiker und Gewerkschafter

dazu auf, für Macron zu

stimmen, um die extreme Rechte zu

verhindern. Bereuen viele Macron-

Wähler mittlerweile ihre Entscheidung?

Ich glaube nicht, dass diejenigen, die

sehr von Macron überzeugt waren und

das von ihm vorangetriebene Projekt

wirklich unterstützt haben, heute besonders

enttäuscht sind. Seine Reformen

sind für seine Unterstützer keine

Überraschung. Ich glaube, dass Enttäuschung

und Wut vor allem bei den

Menschen zu finden sind, denen man

gesagt hat, sie sollen Macron wählen,

um Marine Le Pen zu verhindern. Das

ist nicht das erste Mal, dass man ihnen

unpopuläre Politik aufdrängt, um die

extreme Rechte zu verhindern.

Von dieser Stimmung profitiert Le

Pen. Denn was bringt es eigentlich, die

Rechte zu verhindern? Letztlich werden

wir zwei Jahre länger arbeiten. Und

auch die Polizeigewalt, mit der wir

derzeit konfrontiert sind, ist schockierend.

Man hat uns gebeten, die freiheitliche

Demokratie vor den Rechten

zu schützen, und am Ende ist es Macrons

Politik selbst, die diese Werte angreift.

Menschen, die Macron als kleineres

Übel gewählt haben, sind nun

dementsprechend wütend. Die Sud-

PTT bezieht Stellung gegen die Ideen

Le Pens und wir haben das zum Zeitpunkt

der Wahlen klar gesagt, aber ohne

zur Wahl aufzurufen, ohne für Macron

zu werben. Unsere Aufgabe ist es nicht,

den Arbeitern zu sagen, wen sie wählen

sollen, sondern sie davon zu überzeugen,

dass die extreme Rechte keine

vernünftige Lösung für ihre Probleme

bereithält.

Interview: Moritz Pitscheider

Foto: Privat

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

SEITE 5 ∎∎∎ THEMA


picture alliance / SvenSimon / Malte Ossowski / SVEN SIMON

Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt. Verdi-Warnstreiks am Donnerstag voriger Woche am Flughafen Düsseldorf

Luft nach oben

Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben den höchsten

Tarifabschluss seit 50 Jahren erkämpft – doch die inflationsbedingten

Reallohnverluste der vorigen Jahre würde er trotzdem nicht

ausgleichen. Nun entscheidet eine Mitgliederbefragung, ob der

Abschluss angenommen wird.

Von Stefan Dietl

Als Frank Werneke Samstagnacht vor

die Kameras trat, konnte der Verdi-Vorsitzende

den höchsten Tarifabschluss

im öffentlichen Dienst seit fünf Jahrzehnten

verkünden. Der Abschluss

betrifft 2,5 Millionen Beschäftigten von

Bund und Kommunen. Doch trotz des

guten Tarifabschlusses war von Jubel

wenig zu spüren. Werneke sprach

zwar von einem »beachtlichen Ergebnis«,

Siegesstimmung verbreitete er

jedoch keineswegs. Mit der Entscheidung,

»diesen Kompromiss einzugehen,

sind wir an die Schmerzgrenze gegangen«,

sagte er.

Der Einigung vorausgegangen waren

die umfassendsten Warnstreiks im öffentlichen

Sektor seit Jahrzehnten. Mehr

als eine halbe Million Beschäftigte hatten

sich in den Wochen zuvor an den Arbeitsniederlegungen

beteiligt. Die

Streikbewegung erfasste neben Kliniken,

Kitas und Verwaltungen auch

Dienststellen, in denen es zum ersten

Mal überhaupt zum Ausstand kam,

wie manchen Kindergärten oder Einrichtungen

der Behindertenhilfe.

Seit Jahresbeginn sind Zehntausende

neue Mitglieder Verdi beigetreten. Wegen

der hohen Inflation war die Kampfbereitschaft

groß (Jungle World

14/2023). Bei den Tarifverhandlungen

forderten die Gewerkschaften 10,5 Prozent

mehr Gehalt mit einer garantierten

Mindesterhöhung von 500 Euro im

Monat. Insbesondere der kurz vor der

dritten Verhandlungsrunde ausgerufene

»Megastreik« (Spiegel), bei dem

Ende März an Flughäfen, auf Wasserstraßen

und im öffentlichen Nahverkehr

gestreikt wurde, während gleichzeitig

die Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft

EVG die Deutsche Bahn bestreikte,

erhöhte den Druck auf die Arbeitgeber

(Jungle World 13/2023).

Als Ende März auch die dritte Verhandlungsrunde

scheiterte, stimmten

die Gewerkschaften einem Schlichtungsverfahren

zu. Das nun vorliegende

Verhandlungsergebnis orientiert

sich weitestgehend an den Vorschlägen

der Schlichtungskommission. Neben

Verdi waren die Gewerkschaft der Polizei

(GdP), die Gewerkschaft Erziehung

und Wissenschaft (GEW), die Industriegewerkschaft

Bauen-Agrar-Umwelt (IG

BAU) sowie der DBB Beamtenbund und

Tarifunion an den Verhandlungen beteiligt.

Das Ergebnis ist zumindest den Zahlen

nach beachtlich. Für alle Beschäftigten

gibt es eine einmalige Inflationsausgleichszahlung

in Höhe von

3 000 Euro, die steuer- und abgabenfrei

ist. 1 240 Euro sollen im Juni ausgezahlt

werden, der Rest danach in monatlichen

Raten von 220 Euro. Die eigentliche

Lohnerhöhung – die Sonderprämie

fließt nicht in den Tariflohn ein – ist

erst für März 2024 geplant. Sie würde

aus einem Sockelbetrag von 200 Euro

plus 5,5 Prozent bestehen. Mindestens

sollen die Beschäftigten dadurch monatlich

340 Euro brutto mehr bekommen.

Für Auszubildende wurden ein Inflationsausgleich

von 1 500 Euro und

eine Gehaltserhöhung von 150 Euro ab

März 2024 vereinbart.

Die unteren Einkommensgruppen,

die auch am stärksten von der Inflation

betroffen sind, würden von dem vereinbarten

Sockelbetrag am meisten

profitieren. Verdi zufolge würde er für

manche eine dauerhafte Lohnsteigerung

bis zu 16,9 Prozent bedeuten, zusätzlich

zur Inflationsausgleichszahlung

von 3 000 Euro. Im Durchschnitt

würden die Entgelte über alle Einkommensgruppen

hinweg um 11,5 Prozent

steigen.

Verdi ist damit ein Tarifabschluss

gelungen, der vor allem der Kernklientel

der Gewerkschaft in den unteren

und mittleren Lohngruppen zugute

kommen würde. Was das genau

bedeuten würde, hat Verdi vorgerechnet.

Das Gehalt eines Müllwerkers in

der Entgeltgruppe 3 zum Beispiel würde

sich zusätzlich zur Inflationsprämie

von 3 000 Euro im Laufe der 24 Monate

dauerhaft um 357,34 Euro im Monat

und damit um 13,4 Prozent

erhöhen. Ein Busfahrer in

der Entgeltgruppe 5 würde

am Ende der Laufzeit

378,88 Euro mehr im Monat

und damit 12,41 Prozent

bekommen.

Trotz der hohen Abschlüsse

war die Verdi-Führung

bei der Vorstellung der Ergebnisse

zurückhaltend

und hütete sich, sie als Erfolg zu verkaufen.

Grund dafür dürfte die Kritik

sein, die von der gewerkschaftlichen

Basis kommt. Die war schon laut geworden,

nachdem die Schlichtungsempfehlung

Mitte April bekanntgegeben

worden war. Viele Gewerkschaftsmitglieder

hatten sich nach den wochenlangen

Mobilisierungen und Streiks

deutlich mehr versprochen.

Denn der Rekordlohnerhöhung steht

auch eine Rekordinflation gegenüber –

und das erzielte Ergebnis kann den inflationsbedingten

Reallohnverlust der

vergangenen drei Jahre nicht wettmachen.

Die einmalig für 2023 vereinbarte

Inflationsprämie könnte sich als unzureichend

herausstellen, denn es ist

unklar, wie stark die Preise im Lauf des

Jahres steigen werden. Auch die lange

Laufzeit des nun erzielten Tarifabschlusses

von 24 Monaten könnte für die

Gewerkschaft zum Problem werden. Bis

Ende 2024 wäre es nicht mehr möglich,

auf weitere Preisschübe zu reagieren.

Ein weiterer Nachteil der Einigung

ist, dass sich die Beschäftigten in diesem

Jahr ausschließlich mit Inflationsausgleichszahlungen

begnügen müssten

und eine Erhöhung der Gehälter erst

2024 erfolgen würde. Zwar wären die

Zahlungen dadurch steuerfrei und

landeten Netto auf den Konten der Beschäftigten,

sie würden jedoch nicht

Der Rekordlohnerhöhung steht eine

Rekordinflation gegenüber. Das

erzielte Ergebnis kann den

inflationsbedingten Reallohnverlust

der vergangenen drei Jahre nicht

wettmachen.

für die Rente und für Erhöhungen in

künftigen Tarifrunden zählen. Und

während die Vereinbarung zur Übernahme

von Auszubildenden fortgeschrieben

wurde, weigerten sich die Arbeitgeber,

die Regelung zur Altersteilzeit

zu verlängern.

Daher regt sich Widerstand gegen

den Tarifabschluss. Das Netzwerk für

eine kämpferische und demokratische

Verdi – ein Zusammenschluss linker

Gewerkschafter:innen – forderte

schon nach Bekanntgabe der Schlichtungsempfehlung,

die Verhandlungen

für gescheitert zu erklären und die

Urabstimmung zum unbefristeten

Streik einzuleiten. Nun wirbt das Netzwerk

für eine Ablehnung des Ergebnisses

durch die Mitgliedschaft. Auch

die Streikdelegierten der Berliner Betriebe

des öffentlichen Dienstes haben

in einer Resolution die Ablehnung

der Schlichtungsempfehlung gefordert.

»Wenn es notwendig wird,

trauen wir uns zu, die Urabstimmung

einzuleiten und in einem unbefristeten

Streik mehr zu erreichen und einen

echten Inflationsausgleich durchzusetzen«,

hieß es dort.

Bundesweite Unterstützung, insbesondere

unter Beschäftigten im Gesundheitswesen,

erfährt zudem ein

von Vertrauensleuten des Hamburger

Hafens, des Hamburger Flughafens

und des Hamburger Bündnisses für

mehr Personal im Krankenhaus initiierter

Brief an die Verdi-Verhandlungsleitung,

der für eine Fortsetzung der

Streiks bis zu einem echten Inflationsausgleich

wirbt.

Wie groß der Unmut an der gewerkschaftlichen

Basis tatsächlich ist, wird

sich in den kommenden Wochen zeigen.

Denn ob der Tarifabschluss angenommen

wird, liegt nun in der Hand der

Mitglieder. Diese stimmen bis zum

12. Mai in einer Mitgliederbefragung

über die Annahme der Vereinbarung

ab.

INLAND ∎∎∎ SEITE 6

27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17


Bloß kein linkes

Deutschland

Der Streit um den Bundeshaushalt für 2024 zieht sich in die Länge.

Finanzminister Christian Lindner (FDP) predigt Sparsamkeit und

fordert, das wichtigste sozialpolitische Vorhaben aus dem

Koalitionsvertrag zu opfern: die Kindergrundsicherung.

Von Johannes Reinhardt

Ausgerechnet der FDP-Vorsitzende

Christian Lindner predigt in seiner Rolle

als Bundesfinanzminister unentwegt

Verzicht. Lindner zufolge wird es

nach den derzeitigen Einnahmenschätzungen

für 2024 ein Defizit von 14

bis 18 Milliarden Euro geben. »Diese

Haushaltslücke muss erwirtschaftet

werden durch Verzicht«, so Lindner

Anfang April. »Wenn man dann noch

zusätzliche Ausgabenschwerpunkte

setzen will, zum Beispiel bei Verteidigung

oder Bildung, dann muss man

umso mehr woanders kürzen.« Hinzu

kämen noch die Mehrausgaben durch

die Tariferhöhungen im öffentlichen

Dienst (siehe S. 6). Diese betreffen

freilich vor allem die Kommunen. Der

Die FDP hat seit ihrem Eintritt in die

Regierungskoalition deutlich

schlechtere Umfragewerte als zuvor.

Die Partei will deshalb zeigen, dass

sie sich gegen die Grünen und die

SPD durchsetzen kann.

Bund rechnet hier lediglich mit Mehrausgaben

von 3,75 Milliarden Euro ab

dem Jahr 2025.

»Die Politik muss wieder lernen, mit

dem Geld auszukommen, das die Bürgerinnen

und Bürger erwirtschaften«,

so Lindner weiter – ein Verweis auf die

sogenannte Schuldenbremse, die der

Neuverschuldung enge Grenzen setzt.

Die Möglichkeit, durch höhere Steuern

oder den Abbau von Subventionen wie

dem Dienstwagenprivileg – also die unterdurchschnittliche

Besteuerung der

privaten Nutzung von Dienstwagen – die

Einnahmen zu erhöhen, weist Lindner

ebenfalls zurück.

Anfang April hätte Lindner eigentlich

bereits Eckwerte für den Haushalt 2024

vorlegen sollen. Wohl um den Streit in

der Koalition nicht zu sehr eskalieren

zu lassen, hatte er darauf verzichtet. Die

anderen Ministerien hatten Anfang

des Jahres für den Bundeshaushalt 2024

einen Mehrbedarf von 70 Milliarden

Euro angemeldet. Damit sollen unter

anderem die Kindergrundsicherung,

eine Reform des Gesundheitssystems

sowie Investitionen in Digitalisierung

und der Ausbau der Infrastruktur finanziert

werden. Zudem verlangt Bundesverteidigungsminister

Boris Pistorius

(SPD) mehr Geld für die Bundeswehr –

wohlgemerkt zusätzlich zum 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen

aus dem

vergangenen Jahr.

Die Situation scheint festgefahren

und wird das wohl auch mindestens

bis zur Bürgerschaftswahl in Bremen,

die am 14. Mai stattfinden soll, bleiben.

Die FDP hat seit ihrem Eintritt in die Regierungskoalition

deutlich schlechtere

Umfragewerte als zuvor,

als sie bei über zehn Prozent

lagen. Womöglich will

sie ihren Wählern zeigen,

dass sie sich gegen die Grünen

und die SPD durchsetzen

kann. »Wir kämpfen für

den Wert der Freiheit, für

wirtschaftliche Vernunft,

faire Lebenschancen und

ein modernes, nicht linkes

Deutschland«, sagte Lindner in bester

Wahlkampfmanier auf dem Parteitag

der FDP am Wochenende in Berlin.

Im Mittelpunkt des Haushaltsstreits

steht immer wieder das Projekt Kindergrundsicherung,

ein Versprechen

aus dem Koalitionsvertrag von SPD,

Grünen und FDP, bei dem aber immer

noch unklar ist, wie es genau ausgestaltet

werden soll (Jungle World 10/2023).

Klar ist, dass staatliche Leistungen insbesondere

für Kinder aus armen Familien

zusammengefasst werden sollen;

diese vereinheitlichte Leistung soll dann

einfacher als bisher digital beantragt

werden können. Bundesfamilienministerin

Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen)

plant mit jährlichen Mehrausgaben

von zwölf Milliarden Euro. Diese

Mehrkosten sollen zum Teil dadurch zustande

kommen, dass Leistungen zukünftig

leichter ausgezahlt werden sollen.

Derzeit werden viele Leistungen

für Kinder nicht beantragt, weil Berechtigte

ihre Ansprüche nicht kennen

oder die Beantragung zu kompliziert

ist.

Hingegen fordern Lindner und die

FDP, dass die Kindergrundsicherung,

wenn sie denn überhaupt in dieser Legislaturperiode

eingeführt werden

solle, ohne Mehrausgaben auskommen

müsse. Lindner verweist darauf, dass

die Ampelkoalition bereits das Kindergeld

zum Jahr 2023 erhöht hat. Unter

anderem dadurch seien die Leistungen

für Kinder schon um sieben Milliarden

Euro gestiegen, mehr sei nicht nötig.

Von dieser Erhöhung des Kindergelds

hatten freilich die Kinder arbeitsloser

Eltern oftmals nichts, denn das

Kindergeld wird mit dem sogenannten

Bürgergeld, das das Arbeitslosengeld II

(»Hartz IV«) abgelöst hat, verrechnet.

Paus hatte unterdessen vorgeschlagen,

zur Finanzierung der Kindergrundsicherung

die Kinderfreibeträge abzusenken

– das sind Steuervergünstigungen

für Eltern. Die Familienministerin

wies darauf hin, dass wohlhabende Eltern

durch diese Steuervergünstigungen

sogar mehr Geld vom Staat erhalten

als arme Eltern, die nur Kindergeld beziehen.

»Es wäre ein Durchbruch, diese

Ungerechtigkeit im System endlich zu

beseitigen«, sagte sie der Neuen Osnabrücker

Zeitung. Lindner lehnte diesen

Vorschlag ab, weil er ihn als Steuererhöhung

betrachtet.

Mitte April berichtete der Spiegel, dass

Lindner ein Gesetz plane, mit dem bis

zu 20 Milliarden Euro eingespart werden

sollten – und zwar vor allem in

den Ressorts mit den höchsten Sozialausgaben,

nämlich dem Arbeits- und

dem Familienministerium. Im Militärhaushalt

sollte demnach nicht gespart

werden. Das Bundesfinanzministerium

wies die Darstellung des Spiegel zurück.

Ein Ende der Haushaltsstreitigkeiten

in der Bundesregierung ist nicht in

Sicht. Vor der Bürgerschaftswahl in

Bremen dürfte sich niemand bewegen.

Doch es heißt, Lindner werde dem

Bundestag noch vor der Sommerpause,

also bis Juni, einen Haushaltsentwurf

für 2024 vorlegen. Dass Bundeskanzler

Olaf Scholz (SPD), Lindners Vorgänger

als Bundesfinanzminister, als der FDP

sehr gewogen gilt, verheißt nichts Gutes

für den Kampf gegen Kinderarmut.

Eher Kirchentag

als Chaostage

Die Letzte Generation lud zum Auftakt

ihrer Proteste in Berlin vergangene

Woche zum Brunch in eine Kreuzberger

Kirche. Es ging besinnlich zu.

Raucherecke von Jens Winter

Der Auftakt für die Berliner Protestwochen der Gruppe Letzte Generation

war ein gefundenes Fressen für all jene, die der Klimabewegung

vorwerfen, quasireligiöse Züge zu haben. Als Startpunkt für

ihre groß angekündigten Proteste, mit denen man die Hauptstadt

»zum Stillstand« bringen möchte, hatte die Gruppe eine Kirche ausgewählt.

Und so ging es am Mittwochmorgen vergangener Woche los mit

einem »Auftaktbrunch« in der St.-Thomas-Kirche in Berlin-Kreuzberg,

die in den achtziger Jahren schon Hausbesetzern Unterschlupf

geboten hatte. Es war die bis dahin größte öffentliche Veranstaltung

der Letzten Generation, die »inklusiver« werden und mehr

Menschen für ihren Protest gewinnen möchte, wie es in ihrem Telegram-Kanal

hieß. Der gemeinsame Brunch sollte dem Kennenlernen

dienen und die Möglichkeit bieten, sich am Protest zu beteiligen.

Das Setting orientierte sich an linken aktivistischen Traditionen:

Es gab ein großes veganes Buffet, Tofu-Crumbles und Antipasti,

dazu mehrere Reden, außerdem Orgelmusik, zu der man eingeladen

war, zu meditieren.

Die Gruppe war sehr bemüht darum, dass man sich bei ihr wohlfühlt.

Neue Personen wurden sofort angesprochen und wer noch

keine »Bezugsgruppe« hatte, konnte in kleinen Kennenlernrunden

schnell eine finden. Unter den etwa 300 weitestgehend jüngeren

Teilnehmern waren – neben 40 Pressevertretern – auch mehrere Mitglieder

der Gruppe Extinction Rebellion, mit der die Letzte Generation

eine Woche zuvor die Fassaden von Konzern- und Parteizentralen

mit Kunstöl übergossen hatte.

Nicht nur das hallende Echo des Kirchenraums verlieh den Reden

Pathos. Der Tonfall changierte teils zwischen Selbsthilfegruppe

und evangelischem Kirchentag. »Schau andächtig in das Gesicht der

Person neben dir, auch diese Person lebt mir dir auf dem Planeten

Erde«, eröffnete eine Aktivistin. Lars Ritter, der wegen Blockaden bereits

im Gefängnis gesessen hatte, sprach von der Angst, sich »offen

zu zeigen«, und davon, dass man in die Konfrontation gehen

müsse. »Konfrontation ist Demokratie«, sagte er, »und das, was

unsere Demokratie momentan nicht schafft, das schaffen wir durch

die Konfrontation auf der Straße.« Im Hintergrund läuteten die

Glocken.

Die aus dem Fernsehen bekannte Pressesprecherin der Letzten

Generation, Carla Hindrichs, sagte in ihrer Rede: »Viele Leute haben

wegen der hohen Energiepreise am Ende des Monats kein Geld

mehr. Währenddessen fliegen die Reichen mit Privatjets über unsere

Köpfe hinweg. Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten.«

Neben einem Tempolimit von 100 Stundenkilometern fordert die

Gruppe ein bundesweites Neun-Euro-Ticket und die Einführung eines

»Gesellschaftsrats«. Dieser soll per Los besetzt werden und ausarbeiten,

»wie Deutschland bis 2030 die Nutzung fossiler Rohstoffe

beendet«. Die Bundesregierung solle öffentlich zusagen, diese

Maßnahmen »in das Parlament einzubringen«, dort die »nötige

Überzeugungsarbeit« zu leisten und sie dann »in einer beispiellosen

Geschwindigkeit und Entschlossenheit umzusetzen«.

Nach dem Programm ging es los mit den Protesten. Statt der üblichen

Sitzblockaden gab es sogenannte Slow Walks – eine Neuheit

im aktivistischen Repertoire der 2021 gegründeten Gruppe. Mit diesen

langsamen und unangemeldeten Demonstrationen, die den

Verkehr blockieren, wollte man die Hürden senken, sich am Protest

zu beteiligen, wie es vorher auf einem Online-Strategietreffen erklärt

worden war.

In mindestens drei Richtungen ging es los. Sehr schnell hielt die

Polizei die jeweils bis zu 40 Personen umfassenden Protestzüge

auf, die von einer Traube Journalist:innen begleitet wurden. Zwei

Gruppen konnten sich dennoch durch Kreuzberg bis zum Alexanderplatz

und über die Karl-Marx-Allee bis zum Frankfurter Tor bewegen.

Sowohl Polizei als auch Demonstrierenden blieben weitestgehend

ruhig. Für den meisten Lärm sorgten Autofahrer und Passanten.

Der Beifahrer eines vorbeifahrenden Transporters kurbelte

sein Fenster herunter und schrie: »Geht arbeiten, ihr Arschlöcher!«

Ein Mitglied des Demozugs, der auf der Schillingbrücke über

die Spree Richtung Alexanderplatz von der Polizei festgesetzt worden

war, schaffte es, aufs Dach eines Polizeiwagens zu gelangen.

Unter Jubel setze er sich auf den Wagen, reckte die Hand in den Himmel,

zückte den Kleber und verteilte ihn auf seiner Handfläche.

Dafür, dass er sich dennoch nicht festkleben konnte, sorgte jedoch

ein schnell kletternder Beamter.

Aber nicht alles gleich für Schulen ausgeben! Lindner mit Bildungsministerin Stark-Watzinger beim FDP-Parteitag, 21. April

picture alliance / Geisler-Fotopress / Jean MW / Geisler-Fotopress

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Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

SEITE 7 ∎∎∎ INLAND


Für die gute Sache ackern

Arbeitskämpfe bei Nichtregierungsorganisationen waren bislang

unüblich. Nach einem ersten Vernetzungstreffen im Herbst laden

NGO-Beschäftigte im Mai zu einer Konferenz ein, um auf ihre

schlechten Arbeitsbedingungen hinzuweisen.

Von Dominik Lenze

Nichtregierungsorganisationen (NGOs)

beschäftigen sich oft mit ernsten und

wichtigen Angelegenheiten: dem Klima,

Menschenrechten oder Antisemitismus.

Der Wunsch, pünktlich Feierabend

zu machen, kann dagegen trivial

wirken.

Der moralische Druck in diesem Bereich

ist hoch. »Ich habe Ärger mit

meiner Chefin bekommen, weil ich am

Samstagabend um 22 Uhr nicht mehr

ans Diensthandy gegangen bin«, beschrieb

eine Betroffene den Leistungsdruck

in der Pressemitteilung zur Konferenz

»Arbeiten bei den Guten?«. Zu

der Versammlung haben Beschäftigte

von NGOs am 5. und 6. Mai nach

Frankfurt am Main eingeladen. Damit

wolle man den »Blick vom Leid in der

Welt auf die eigene Situation« richten.

Die gemeinnützigen Organisationen

haben sich über die vergangenen

Jahrzehnte immer mehr professionalisiert,

doch Arbeitsrechte oder gar Arbeitskämpfe

sind bei ihnen nach wie

vor unüblich. Es gehe um Selbstausbeutung

und Leistungsdruck, niedrige

Löhne und befristete Arbeitsverträge,

Überstunden und »tyrannische Chefs«,

heißt es in der Pressemitteilung. »Die

Liste der Probleme ist lang«, schreiben

die Initiatoren der Konferenz.

Obwohl es genug Gründe gebe, sich

zu organisieren, täten sich Beschäftige

in NGOs damit noch immer schwer,

sagte Lukas Schneider*, der die Konferenz

mitorganisiert, der Jungle World.

»Auch in NGOs, wo viele Linke arbeiten,

gehört Gewerkschaftsarbeit einfach

nicht zur Kultur.« Nur wenige NGO-

Beschäftigte seien Gewerkschaftsmitglieder.

Auch Betriebsräte hätten »Seltenheitswert

und deren Gründung wird

häufig als Affront wahrgenommen.

Das ist ein Bruch mit dem Familienverständnis,

dass in vielen NGOs

kultiviert wird«, so Schneider weiter.

»Eine NGO ist aber ein Betrieb und

wir sind letztlich Mitarbeitende. Es geht

hier um Lohnarbeit.« Dafür müsse

erst mal ein Bewusstsein geschaffen werden.

Ein erstes Vernetzungstreffen

gab es bereits im Herbst 2022. Etwa 50

Beschäftigte aus unterschiedlichen

NGOs hätten teilgenommen, so

Schneider. Die Konferenz im Mai ist

aus diesem Vernetzungstreffen

entstanden.

Viele NGOs, auch solche, die inzwischen

global operierende Organisationen

darstellen wie zum Beispiel Greenpeace,

sind ursprünglich aus dem Engagement

von Ehrenamtlichen heraus

entstanden. Doch selbst kleinere vereinsgetragene

Organisationen beschäftigen

Angestellte und freiberufliche

Honorarkräfte. Im Lauf der Zeit

sind aus vielen NGOs »hochgradig organisierte

und hinsichtlich ihrer Arbeitsprozesse

unternehmensähnliche Organisationen

geworden«, schreiben die

Politikwissenschaftlerinnen Christiane

Frantz und Kerstin Martens in ihrem

2006 erschienenen Buch »Nichtregierungsorganisationen

(NGOs)«. Hierbei

hätten NGOs Konzepte aus der betriebswirtschaftlichen

Managementlehre

übernommen.

Private Unternehmen bieten, statistisch

betrachtet, sogar mehr Sicherheit

für Beschäftigte als der sogenannte Dritte

Sektor. Dieser umfasst in Deutschland

nichtgewinnorientierte Organisationen

wie Vereine, Umweltschutzgruppen

oder Gewerkschaften. Nach

Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt

und Berufsforschung, einer Einrichtung

der Bundesagentur für Arbeit,

lag der Anteil befristet Beschäftigter

im Dritten Sektor 2021 bei 13,3 Prozent.

Im öffentlichen Dienst waren im

selben Jahr 8,9 Prozent der Mitarbeitenden

befristet beschäftigt, in der Privatwirtschaft

nur 5,2 Prozent.

Zudem gebe es keinen betriebsübergreifenden

Tarifvertrag für NGO-

Beschäftigte, so Schneider. Wie viel

Beschäftigte im Durchschnitt verdienen,

lasse sich nur schwer sagen. Da

Gehälter oft Verhandlungssache

sind, variierten sie

stark. 1 800 Euro netto seien

zum Beispiel in der politischen

Bildung keine Seltenheit.

»Und wenn man nur

befristet beschäftigt ist, verhandelt

man oft nicht«, so

Schneider weiter. Zudem

hätten NGOs es leicht, einen verlorenen

Mitarbeiter zu ersetzen.

André Pollmann ist Fachbereichsleiter

für besondere Dienstleistungen

bei Verdi in Berlin-Brandenburg. Er beschäftigt

sich seit knapp 20 Jahren

mit den Arbeitsbedingungen in NGOs

und weiß um die Herausforderungen.

»Man hat ja oft eine persönliche Beziehung

zum Vorgesetzten. In Stresssituationen

erlebt man den Chef als genauso

leidend wie sich selbst«, sagte

er der Jungle World. Die Gründung von

Betriebsräten würden viele Vorgesetzte

als »persönliches Versagen« erleben. Es

gebe aber auch »nennenswerte Erfolgsgeschichten«,

so Pollmann, zum

Beispiel die Gründung eines Betriebsrats

in der Bildungsstätte Anne Frank

Die Gründung von Betriebsräten in

NGOs würden viele Vorgesetzte als

»persönliches Versagen« erleben,

sagte André Pollmann (Verdi).

in Frankfurt am Main im Sommer

2020.

Kurz vor Weihnachten 2020 erhielten

alle drei Betriebsratsmitglieder der Bildungsstätte

Anne Frank eine Abmahnung,

berichtete die Frankfurter Rundschau.

Weil sich der Betriebsrat in seiner

Arbeit behindert sah, kam es 2021 zu

einem gerichtlichen Beschlussverfahren

vor dem Amtsgericht Frankfurt.

»Kolleginnen äußern keine Kritik zu

den auf ein Jahr befristeten Arbeitsverträgen,

weil sie Konsequenzen fürchten«,

begründete die Betriebsratsvorsitzende

Deborah Krieg die Gründung

der Arbeitnehmervertretung. Es seien

Sprüche gefallen wie: »Die Leute stehen

Schlange.« Der Betriebsrat warf der

Bildungsstätte zudem einen »autoritären

Führungsstil« vor. Ende April sei

das Verfahren schließlich einvernehmlich

beendet worden, teilte eine Sprecherin

der Bildungsstätte der Frankfurter

Rundschau mit. Die Konfliktparteien

hätten sich »außergerichtlich im

Rahmen eines Vergleichs geeinigt«.

Lukas Schneider arbeitete zu dieser

Zeit für die Bildungsstätte Anne Frank.

Aus seiner Sicht war die Leitung der Organisation

mit dem Engagement ihrer

Beschäftigten überfordert. »In vielen

NGOs gibt es Nachholbedarf, was gute

Personalführung angeht«, sagte er der

Jungle World. Oft kämen Menschen

wegen ihres Engagements in Führungspositionen,

würden aber für die neuen

Aufgaben nicht ausreichend geschult.

Es gebe »keine Kultur der Fortbildung«.

Hier wäre eine Veränderung möglich,

so Schneider.

Der Gewerkschafter Pollmann zählt

bessere Personalplanung neben Arbeitszeitkontrolle

und Entfristung zu

den wichtigsten Punkten, die geklärt

werden müssen. Dass das Haushalten

in Institutionen schwierig ist, die sich

über Spenden oder befristete und projektbezogene

Förderungen finanzieren,

weiß er. »Aber man muss mit der

prekären Situation umgehen und

darf sie nicht an die Mitarbeiter weitergeben.«

Pollmann hofft auf das Demokratiefördergesetz,

über das der Bundestag

gerade berät; die Bundesregierung hatte

einen Entwurf im Dezember 2022

beschlossen. Es soll eine gesetzliche

Grundlage schaffen, um Projekte zu

Demokratieförderung und Extremismusprävention

auch längerfristig zu

fördern, was bislang nicht möglich ist.

Damit will die Bundesregierung »Planungssicherheit«

schaffen.

Pollmann hofft, dass sich diese Planungssicherheit

dann auch in den

Anstellungsverhältnissen äußern werde.

Da staatliche Förderung im Spiel

sei, könne man sich in der Diskussion

über Arbeitsbedingungen an denen

im öffentlichen Dienst orientieren. So

etwas wie ein Tarifvertrag für NGO-

Beschäftigte liege zwar noch in weiter

Ferne. Doch künftig könnten mehr

NGO-Beschäftigte für bessere Arbeitsbedingungen

streiten. »Man hat ja

nichts zu verlieren, außer Kettenverträge«,

sagte er der Jungle World. Als Kettenverträge

bezeichnet man mehrere

befristete Arbeitsverträge, die aufeinander

folgen.

* Name von der Redaktion geändert.

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INLAND ∎∎∎ SEITE 8 27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17


Mehr Bock auf

weniger Arbeit

Die IG Metall geht mit der Forderung nach der

Viertagewoche in der Stahlindustrie in die Offensive.

Kommentar von Lothar Galow-Bergemann

Nazis mit grünem Daumen. Die Marihuana-Plantage, die am 28. März in Colditz gefunden wurde

Sächsische

Clankriminalität

Eine Drogenrazzia in der sächsischen Kleinstadt Colditz offenbarte

eine rechte Angstzone.

Von Thorsten Mense

Colditz ist eine Kleinstadt etwa 40 Kilometer

von Leipzig entfernt, wo sich

die Zwickauer und die Freiberger Mulde

treffen. Viel zu sehen und zu tun gibt

es hier nicht. Die einzigen Attraktionen

des Orts sind die Mulde, auf der man

paddeln kann, und das Schloss Colditz,

das zur NS-Zeit als Offiziersgefängnis

diente und in Großbritannien durch Filme

und Serien einige Berühmtheit erlangt

hat.

Seit ein paar Wochen ist der Ort auch

in Deutschland wieder bekannter geworden,

aber nicht deswegen, was Nazis

dort früher getrieben haben, sondern

deswegen, was Nazis heutzutage dort

treiben. Ende März durchsuchten 225

Einsatzkräfte des Zolls sowie der Bundespolizei

zwei Tage lang die Wohnund

Geschäftsräume der dort ansässigen

Familie N. Dabei wurde eine Cannabisplantage

mit 2 600 Pflanzen, fünfeinhalb

Kilogramm Crystal Meth und

32 000 Euro Bargeld sichergestellt, dazu

sieben Schusswaffen, ein Lamborghini

und ein Luxus-SUV.

Ralf N. und dessen zwei Söhne, Andreas

und Uwe, sitzen in Untersuchungshaft.

Die Mitglieder der Familie sind in

Colditz und darüber hinaus berüchtigt,

aber nicht als Drogenhändler, sondern

vor allem als gewalttätige Neonazis,

die den Ort fest in ihrer Hand haben. Bereits

2012 kam es gegen den Vater und

seine beiden Söhne zu einer Gerichtsverhandlung,

unter anderem wegen mehrerer

gemeinschaftlich begangener Körperverletzungen.

Einige der Opfer, darunter

Linke, Punks, aber auch Bundeswehrangehörige,

waren schwer verletzt

worden und hatten unter anderem

Schädel-Hirn-Traumen davongetragen.

Trotz der Schwere der Straftaten kamen

alle drei Familienmitglieder mit einer

Bewährungsstrafe davon.

Wegen Verstoßes gegen die Auflagen

landete der Vater dann aber 2014 doch

noch für eineinhalb Jahre im Gefängnis.

Sein Sohn Uwe folgte ihm kurz darauf,

nachdem er mit 1,8 Kilogramm Crystal

Meth aufgegriffen worden war.

Der Journalist Thomas Datt, der die

Die sächsische Polizei war an der

Razzia nicht beteiligt.

Der Verdacht drängt sich auf, dass

die Bundesbehörden ihr nicht ganz

vertrauen.

rechte Szene in der Region seit Jahren

verfolgt, veröffentlichte schon im März

2017 im Leipziger Stadtmagazin Kreuzer

einen »Report aus einer rechtsfreien

Zone im mittelsächsischen Hügelland«.

Darin kann man lesen, dass Drohungen,

Übergriffe und Anschläge der Familie

N., die schon damals in Sportwagen

durch den kleinen Ort heizte, zum Alltag

gehörten. An woh ner:innen beschrieben

ein Klima der Angst und Einschüchterung,

den Holzfachhandel

der Familie nannten sie »braune Halle«,

viele verließen aus Angst den Ort.

Zollfahndungsamt Dresden

Kurz vor Ostern überraschte die Gewerkschaft IG Metall mit der

Forderung nach Arbeitszeitverkürzung. Eine Viertagewoche mit

32 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich – mit dieser Forderung

will die Gewerkschaft in die Ende 2023 anstehende Tarifrunde

in der nordwestdeutschen Stahlindustrie gehen. Ihr Vorsitzender

Jörg Hofmann erwartet gar eine gesamtgesellschaftliche Wirkung:

Die Stahlindustrie sei schon oft Vorreiter für fortschrittliche Regelungen

gewesen. Insofern habe diese Forderung eine »grundsätzliche

Ausstrahlung über die Stahlbranche hinaus«.

Mit Recht verweist die IG Metall auf die intensiver werdende Debatte

über Arbeitszeitverkürzungen. Laut einer Forsa-Umfrage aus

dem vergangenen Jahr wünschen sich 70 Prozent der Beschäftigten

in Deutschland eine Viertagewoche.

Die Ankündigung der Gewerkschaft kommt zur richtigen Zeit, sie

setzt einen Kontrapunkt zu den belehrenden und anmaßenden

Tönen von Politikern und Arbeitgebern. Erst im Februar ermahnte

Andrea Nahles, ehemalige SPD-Vorsitzende und heutige Vorstandsvorsitzende

der Bundesagentur für Arbeit, junge Menschen mit erhobenem

Zeigefinger: »Arbeiten ist kein Ponyhof.« Und Steffen

Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände,

forderte längere Arbeitszeiten und »mehr Bock

auf Arbeit«. Arrogante Ansprüche, die meilenweit entfernt sind von

dem, was immer mehr Menschen bewegt, die aus guten Gründen

eben keinen Bock haben.

Die Arbeitgeber reagierten alarmiert. Mit Blick auf die Tarifrunde

im Herbst kommenden Jahres wiesen die Metall- und Elektrounternehmen

im Südwesten schon mal vorsorglich solche Forderungen

zurück. Die Viertagewoche gehe in die falsche Richtung, teilte der

Hauptgeschäftsführer von Südwestmetall, Oliver Barta, der Stuttgarter

Zeitung mit. Infolge des Fachkräftemangels wüssten viele Unternehmen

kaum noch, wie sie ihr Geschäft erledigen sollen. »Generell

weniger zu arbeiten«, wäre demnach »kein Beitrag zu einer

Lösung«, so Barta.

Prinzipiell ist es zu begrüßen, dass Gewerkschaften die Arbeitszeitverkürzung

zum Thema machen. Doch so offensiv, wie es nötig

wäre, ist die IG Metall dann doch nicht. Zwar verweist sie auch auf

»Lebensqualität und Gesundheit«, begründet ihre Forderung aber

vor allem mit der Sicherung von Arbeitsplätzen und einer erhöhten

Produktivität, mit der sie glaubt, Arbeitgeber ködern zu können.

Das unterscheidet sie nicht von vielen anderen Befürwortern der

Viertagewoche. Selbst der Co-Vorsitzende der Linkspartei, Martin

Schirdewan, stößt ins selbe Horn. Erfahrungen aus Schweden, Island

oder Belgien würden bereits zeigen, dass die Viertagewoche die

Arbeitsbelastung senke und die Produktivität erhöhe, so seine Argumentation.

Doch das unreflektierte Beschwören erhöhter Produktivität

versäumt es nicht nur, die zerstörerische Megamaschine aus

maximalem Profit und ewigem Wachstum zu kritisieren, die die

Beschäftigten jeden Tag mit ihrer Arbeit am Laufen halten. Es tut

sogar so, als könne deren rasendes Tempo ohne negative Folgen

noch weiter gesteigert werden. Mit permanent steigender Produktivität

immer noch mehr schädliche und überflüssige Betonbauten,

Containerschiffe, Flugzeuge und Autos zu bauen, führt in die Klimakatastrophe.

Produktivität wäre vernünftigerweise kein unhinterfragbares

Prinzip, dem sich fraglos zu unterwerfen ist, sondern von Fall zu

Fall gesellschaftlich auszuhandeln: Was soll produziert werden und

was nicht? Das aber setzte die Abkehr von der kapitalistischen

Wirtschaftsweise voraus. Dass diese in den Gewerkschaften bis dato

kaum kritisiert wird, hat allerdings einen handfesten Grund. Das

Problem ist, dass die ganze Gesellschaft und eben auch die Arbeitsplätze

der Gewerkschaftsmitglieder von der kapitalistischen Wirtschaft

abhängen: die Profite, die Arbeitsplätze, die Steuereinnahmen.

Doch die Gleichsetzung von sicherem Leben mit sicheren Arbeitsplätzen

ist das entscheidende Hindernis auf dem Weg in eine

bessere Zukunft. Es wäre daran gelegen, Kämpfe um radikale Arbeitszeitverkürzung

mit solchen um Klimaschutz und um Vergesellschaftung

zentraler Ressourcen zu verbinden.

Auf den Seiten der antifaschistischen

Rechercheplattform Chronik.LE lassen

sich Dutzende Einträge über rechte

Gewalt und neonazistische Aktivitäten

in Colditz finden, viele mit Bezug zur Familie

N.

»Bauen Rechtsextreme kriminelle

Netzwerke in Sachsen auf?« titelte die

Leipziger Volkszeitung (LVZ) nach den

Durchsuchungen, und man fragt sich,

ob das wirklich etwas Neues sei, gerade

in Sachsen. Aber wenigstens wird

durch die Razzia die Situation in Colditz

nun wieder öffentlich diskutiert.

Valentin Lippmann, der innenpolitische

Sprecher der Grünen-Fraktion im

Sächsischen Landtag, sprach von einer

»verfestigten Struktur von rechtsextremer

Clan-Kriminalität«, der SPD-Landtagsabgeordnete

und Innenexperte

Albrecht Pallas

zeigte sich besorgt, dass

»organisierte Nazis jahrelang

relativ frei ihr Unwesen

in der Stadt trieben«.

Anfang April war die Razzia

Thema im sächsischen

Innenausschuss, wo es auch

darum ging, warum die

sächsische Polizei nicht an der Razzia

beteiligt war und die lokale Polizeidirektion

erst zum Beginn des Einsatzes

von den Bundesbehörden informiert

wurde. Im Innenausschuss soll dies

dem MDR zufolge als gängiges Vorgehen

bezeichnet worden sein, und auch

der sächsische Landespolizeipräsident

Jörg Kubiessa wiegelte in der LVZ ab:

Bei Drogendelikten mit Grenzbezug sei

eben der Zoll zuständig.

Der Verdacht drängt sich aber auf,

dass die ermittelnden Behörden der

sächsischen Polizei nicht ganz vertrauen.

Zumindest legt diese nicht gerade

viel Engagement im Kampf gegen neonazistische

Strukturen an den Tag, was

sich auch am Fall Colditz zeigt, denn

die dortigen Verhältnisse sind seit Jahren

bekannt, ohne dass die Polizei der

Familie N. Einhalt gebieten konnte oder

wollte. Gegen die Familie sei dem

MDR zufolge nach Informationen aus

dem Innenausschuss eine dreistellige

Zahl von Ermittlungsverfahren geführt

worden, ohne dass sich die Situation

an Ort und Stelle verbessert hätte.

Die Berichte aus Colditz zeichnen das

Bild einer »national befreiten Zone«

in der sächsischen Provinz, in der die

Baseballschlägerjahre bis heute anhalten.

Drei wichtige Beteiligte sitzen

nun erst mal im Gefängnis. Bezeichnend

ist aber, dass die Männer einzig

wegen ihrer Drogengeschäfte aus dem

Verkehr gezogen wurden und nicht wegen

ihrer jahrelangen Ausübung rechten

Terrors. Wenig Beachtung findet bisher

auch, dass es ein geeignetes Umfeld

braucht, in dem solche faschistischen

Clanstrukturen agieren und sich

ausbreiten können. Colditz und der

Muldentalkreis sind bereits seit den

neunziger Jahren, schon bevor die Familie

N. in den Ort zog, ein Hotspot militanter

Neonazistrukturen und rechter

Gewalt. 1998 wurde ein elfjähriges türkisches

Mädchen bei einem Brandanschlag

schwer verletzt (Jungle World

40/1998). 30 Jahre später wurde die

AfD bei der Bundestagswahl mit fast

30 Prozent der Stimmen stärkste

Kraft im Ort. Es ist diese ungebrochene

rechte Hegemonie oder »Tradition«,

wie es in Sachsen gerne heißt, die in

den Blick genommen werden muss.

Die Familie N., so die Linkspartei-Landtagsabgeordnete

Kerstin Köditz, sei

»nur die Spitze des Eisbergs«.

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

INLAND ∎∎∎ SEITE 9


Schlechte Luft. Kathmandus Bürgermeister will die Zahl der Elektrofahrzeuge erhöhen

Dreckiges Wasser. Im Bishnumati in Kathmandu treibt jede Menge Müll

Grün ist die Hoffnung

In Nepals Hauptstadt Kathmandu ringen viele Menschen mit stark gestiegenen Kosten. Ein Besuch in einer

besonderen Schule zeigt, wie sich einige auch für die Umwelt einsetzen.

Von Thomas Berger (Text und Fotos)

Die zwei Bier, die Bhuwan Singh Thakuri

an diesem Abend unbekümmert in

einem Restaurant in Kathmandus Touristenviertel

Thamel bei Livemusik

trinkt, kosten jeweils umgerechnet fünf

Euro. Das können sich in Nepal nur die

wenigsten leisten – für einen nicht unerheblichen

Teil der Bevölkerung machen

zehn Euro den Verdienst einer halben

bis ganzen Woche aus. Schon dies

weist den jungen Mann als einen Angehörigen

der schmalen Mittelschicht

des Himalaya-Staats aus, seine Visitenkarte

zusätzlich als »Operational Manager«

einer Rating-Agentur. Thakuri

hat im Mai vorigen Jahres geheiratet,

mit 33 Jahren in einem für nepalesische

Verhältnisse hohen Alter.

»Ja, die Familie hat immer Druck gemacht«,

räumt er ein. Dass es keine arrangierte

Ehe war, sondern eine Liebesheirat,

ist auch nicht alltäglich. Nepal

hatte 2017 Unicef zufolge eine der höchsten

Raten von Kinderehen in Asien –

sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen.

Obwohl das gesetzliche Heiratsalter bei

20 Jahren liegt, gibt demnach mehr als

ein Drittel der 20- bis 24jährigen Frauen

Ein großes Problem Nepals ist, dass

Fachpersonal lieber für

unqualifizierte Tätigkeiten ins

Ausland geht, weil es dort besser

bezahlt wird als in einer Anstellung

im erlernten Beruf daheim.

an, bis zum Alter von 18 Jahren verheiratet

worden zu sein, und etwas mehr

als eine von zehn sogar bis zum Alter

von 15 Jahren. Nepalesische Jungen gehören

weltweit zu den häufigsten Kinderbräutigamen,

mehr als jeder Zehnte

ist verheiratet, bevor er 18 Jahre alt ist.

Die nepalesische Regierung diskutiert

dem Onlinenachrichtenmagazin The

Diplomat zufolge eine Senkung des gesetzlichen

Heiratsalters auf 18 Jahre.

Den Jungunternehmer Thakuri beschäftigt

der Braindrain aus Nepal:

»Gutausgebildete Akademiker, Ärzte

und Ingenieure, die im Ausland Hilfsarbeiten

verrichten – das geht doch

nicht.« Ein guter Freund Thakuris, der

sich jetzt in Australien als Putzkraft

durchschlägt, sei vorher als leitender

Chemiker einer großen Softdrinkfirma

bei der Qualitätskontrolle in deren

einziger nepalesischer Fabrik tätig gewesen.

Dass Fachpersonal lieber für

unqualifizierte Tätigkeiten ins Ausland

geht, weil es dort besser bezahlt wird

als in einer Anstellung im erlernten

Beruf daheim, ist ein großes Problem

Nepals. Thakuri selbst will bleiben. Seine

Frau arbeitet als Palliativkrankenpflegerin

in einem von einer ausländischen

Organisation finanzierten Krankenhaus.

Dafür bekommt sie an die

300 Euro im Monat – immerhin mehr

als die 180 Euro, die Berufskolleginnen

üblicherweise nach Hause brächten,

setzt Thakuri hinzu.

Mit den Verdienstmöglichkeiten ist es

in Nepal in der Tat nicht weit her. Der

Taxifahrer Niranjan erzählt, er nehme

am Tag um die 3 500 Rupien ein, umgerechnet

etwa 25 Euro. Den Sprung in

der Frontscheibe lässt er gar nicht erst

reparieren, aber Tanken lässt sich nicht

vermeiden. Der Benzinpreis schlägt

derzeit mit 175 Rupien (1,21 Euro) pro

Liter. Zuletzt wurde er Anfang Februar

um fast sechs Prozent erhöht. Die Regierung

hat der staatlichen Nepal Oil

Corporation (NOC) unlängst mehr Freiheiten

gegeben, Preissteigerungen

bei Treibstoffimporten

schnell an die Konsumenten

weiterzureichen.

Der wichtigste Handelspartner

der NOC ist eines der

größten Unternehmen der

Welt, die India Oil Corporation,

die Weltmarktpreise in

Rechnung stellt. Bei ihr

und der eigenen Regierung

steht die NOC mit rund 16 Milliarden

Rupien (etwa 110 Millionen Euro) in der

Kreide.

Niranjan ist vor zwei Jahrzehnten aus

dem bei Trekkern beliebten Langtang-

Tal an der Grenze zu China im Norden

nach Kathmandu gekommen und

einer der unzähligen Arbeitsmigranten

aus anderen Landesteilen, die in der

Anderthalb-Millionenstadt ihr Glück

suchen.

Auch der 25jährige Pradeep Thapa ist

als Taxifahrer auf der mehrspurigen

Ring Road und in den schmalen Seitenstraßen

unterwegs, in denen manchmal

zwei Autos kaum unbeschadet aneinander

vorbeikommen. Allerdings

ist das sein Zweitjob, er fahre nur abends

»für zwei oder drei Stunden«. Tagsüber

verkauft Thapa Reis und andere Waren.

Das allein bringe aber nicht genug ein,

da das Leben in der Metropole und landesweit

in letzter Zeit deutlich teurer

geworden sei. 2022 lag die Inflationsrate

bei über sieben Prozent im Vergleich

zum Vorjahr.

Auf vielen ihrer Touren kreuzen

Niranjan und Pradeep den Bagmati. Der

östliche und größere der beiden sich

träge dahinwindenden Flüsse Kathmandus

ist in vielen Abschnitten deutlich

sauberer als in früheren Jahren – das

Ergebnis zahlreicher Arbeitseinsätze

freiwilliger Gruppen. Alle paar Monate

beseitigen Einwohner Kathmandus

gemeinsam den Müll, inzwischen mit

spürbarem Ergebnis. Dem Schwesterfluss

Bishnumati westlich des Stadtzentrums

ist hingegen noch in jenem

dreckigen Zustand, in dem sich der Bagmati

unlängst befand. Jede Menge

Plastiktüten, leere Wasserflaschen, kaputtes

Kinderspielzeug und mancher -

lei mehr treibt in der grauen Brühe oder

hängt an den Ufern fest. Neben der

holprigen Uferstraße Parijat Sadak sortieren

zwei Müllsammler ihre Tagesausbeute.

Die stammt aus umliegenden

Siedlungsgebieten, nicht etwa vom

Fluss, der durch Abfall, eingeleitete Abwässer

und einen niedrigen Wasserstand

belastet ist.

Wasser ist Mangelware im einzigen

urbanen Ballungsraum des Landes.

Große Tanklaster sind mit dem kostbaren

Gut unterwegs, denn nur wenige

in Kathmandu haben das Geld, um sich

abgefülltes Flaschenwasser zu kaufen.

Auch nicht Musikstudentin Sharmila

Nepali, die in Budhanilkantha zu Hause

ist, einem der viele Vororte. Wenn die

Wasserreserven daheim aufgebraucht

sind, reiche es tagelang weder zum

Duschen noch für Haarewaschen oder

die Wäsche, erzählt sie. Dann werde

der wertvolle kleine Rest nur zum Kochen

und Trinken verwendet.

Im Mittelalter hatten Herrscher im

Kathmandu-Tal ein Trinkwasserversorgungssystem

bauen lassen, welches

das in Monsunzeiten überreichlich fallende

Wasser in Zisternen für regenärmere

Zeiten auffängt. Mit mystischen

Figuren kunstvoll verziert sind die

dhunge dhara, steinerne Trinkbrunnen,

von denen sich stadtweit noch etwa

300 erhalten haben. Rund die Hälfte ist

bereits ausgetrocknet, da immer mehr

Brunnen gebohrt werden, die den oberen

wasserführenden Bodenschichten

das Wasser entziehen und nicht mehr

genügend Regenwasser nachfließt.

Schon 2017 gab die für die städtische

Wasserversorgung zuständige öffentliche

Firma Kathmandu Upatyaka Khanepani

Limited bekannt, dass selbst in

der Monsunzeit lediglich 120 Millionen

Liter pro Tag zur Verfügung stünden,

in der Trockenzeit gar nur 73 Millionen.

Dabei liegt der Tagesbedarf eigentlich

bei 377 Millionen Liter.

Der Umgang mit wertvollen Ressourcen

wie Wasser, die Vermeidung von

Müll, der Umweltschutz ganz allgemein

– darum geht es an der Vajra-Akademie,

Nepals erster »grüner Schule«.

Die 2007 gegründete Bildungseinrichtung

mit angeschlossenem Internat

liegt an einem Berghang am Rande von

Lalitpur, neben der Hauptstadt und

Bhaktapur eine der drei historischen

Königsstädte im Kathmandu-Tal.

Eine Seitenstraße windet sich bis an

den Eingang zum Campus. Dort würden

inzwischen 357 Schülerinnen und

Schüler unterrichtet, und die Zahl

wachse stetig, wie der Schulleiter Bhupendra

Bikram Thapa erzählt. Platz

gibt es reichlich auf dem Schulgelände.

In der Mitte des Hofs fällt sofort ein

großes Modell auf: Nachgebildet sind

mehrere hohe Berggipfel, aber auch eine

Ziegelei, wie sie mit ihrem hohen

Schornstein gleich nebenan im Tal steht,

eine Siedlung und ein Bach. Zum jährlichen

Schulfest habe eine Schülergruppe

das gebastelt, ist von Pariwesh Pokhrel,

dem Lehrer für Naturwissenschaften, zu

erfahren. »Wir wollten den Eltern und

anderen Gästen zeigen, wie das ist mit

so einer Ziegelei und der Verschmutzung

durch sie, was es für die Umgebung

und die Menschen dort bedeutet.« Ziegeleien

stoßen gesundheitsschädlichen

Feinstaub aus, nach dem Wiederaufbau

der 2015 beim schweren Erdbeben oft

eingestürzten Schornsteine wurde nicht

überall moderne Filtertechnik installiert.

Nebenan im Modell erheben sich

die riesigen Himalaya-Berge Nuptse

und Lhotse, die nahe dem Mount Everest

in der Region Khumbu an der

Grenze zu Tibet weit über 7 000 Meter

in den Himmel ragen, Schilder verweisen

auf das Everest Base Camp, die Gokyo-Seen

und den Khumbu-Eisfall an

Nepals größtem Gletscher. »Wir alle

haben eine Verantwortung, unsere

Bergwelt zu erhalten«, sagt Pokhrel.

Er muss wieder in den Unterricht.

Wenige Schritte vom Modell entfernt

Mathe ist nicht alles. Suprabha und Pratisteha lernen in der Vajra-Akademie auch Umweltbewus

REPORTAGE ∎∎∎ SEITE 10

27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17


sitzen zwei Mädchen, in Matheaufgaben

vertieft. Sie gehen in die 9. Klasse. Das

Umweltbewusstsein, das ihnen hier vermittelt

wird, schätzt eine von ihnen,

Suprabha, ganz besonders an ihrer Schule.

»Aber auch das Gemeinschaftsgefühl

zwischen Schülern und Lehrern«, sagt

die Schülerin. Mathe und Naturwissenschaften

sind ihre Lieblingsfächer. Das

gilt ebenso für das zweite Mädchen, Pratisteha,

die den grünen Schulhof mit

den vielen Bäumen und Sträuchern

liebt. »Wir lernen hier, mit der Natur im

Einklang zu leben«, betont sie.

Suprabha, im etwas entfernten Nachbardistrikt

Sindhupalchowk zu Hause,

ist eine der 48 Schülerinnen und Schüler,

die im Internat wohnen. Anfangs

sei das schwierig gewesen, räumt sie ein.

Doch an der Vajra-Akademie habe sie

viel über sich selbst erfahren: »Ich bin

unabhängiger geworden. Und es geht

auch darum, sich um Kleinigkeiten zu

kümmern.« In der Schule wird weitgehend

auf Wegwerfprodukte aus Plastik

verzichtet. Doch schon das Thema in die

eigenen Familien und den außerschulischen

Freundeskreis zu tragen, sei nicht

einfach, berichten die beiden Mädchen.

»Ich habe aber das Gefühl, die Leute werden

sensibler dafür«, fügt Pratisteha

hinzu. Lernende und Lehrende hier verstehen

sich als Botschafter, doch in der

Welt vor den Schultoren, konstatiert

auch der Schulleiter Thapa, wächst das

Umweltbewusstsein nur langsam.

Gerade im Kampf gegen die Plastikflut

vermisst er mehr Engagement der

politisch Verantwortlichen. Bisher wurden

nur die besonders schädlichen

schwarzen Kunststoffbeutel verboten.

Gemessen am Gesamtproblem sei das

nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

»Wer mit nur einer Tasche zum Markt

geht und etwas mehr einkauft, bekommt

an jeder Ecke trotzdem Plastiktüten«,

so der Pädagoge. Immerhin:

Wer mit offenen Augen durch Kathmandu

geht, wird feststellen, dass es in den

Apotheken und diversen Geschäften der

Metropole nunmehr Jutebeutel gibt.

Der Wandel kommt in kleinen Schritten,

aber der Schulleiter fragt sich, ob die

Stadt und das ganze Land beim Plastikmüllproblem

noch viel Zeit hätten.

Unbeirrt zeigt sich das Team der Vajra-Akademie

als gutes Vorbild. Es gibt

einen eigenen Schulgarten, in dem Gemüse

angebaut wird, die Energie zum

Kochen des Mittagessens kommt aus

Solarstrom und anfallender organischer

Abfall wird in Biogas umgewandelt.

Zudem fahren die Schulbusse, die jetzt

zur Unterrichtszeit im Vorderhof parken,

mit Elektroantrieb. »Wir waren da

Vorreiter«, so Thapa. Inzwischen mehrten

sich auch Elektrofahrzeuge auf den

Straßen, berichtet er. Von den dreirädrigen

sogenannten Tempo-Taxis, die in

Kathmandu und Patan als Sammeltaxen

verkehren, tragen inzwischen sehr

viele einen grünen Seitenstreifen, der

sie als E-Mobile ausweist. Auch einzelne

Elektrobusse sind schon im Einsatz.

An der Vajra-Akademie werden vor

allem alternative Lernmethoden angewendet.

»Exkursionen und spezielle Projekte

dort draußen gehören für uns

dazu«, sagt der Schulleiter. An diesem

Konzept will hier niemand rütteln, obwohl

es derzeit etwas schwerer fällt, daran

festzuhalten. Die steigenden Kosten

treffen auch die Schule hart; manche

Ausgaben müssten im neuen Schuljahr

wohl auf den Prüfstand, sagt Thapa mit

ernstem Blick. Nicht aber die Ausflüge.

Stolz ist der Direktor, dass es die alternative

Bildungseinrichtung über die

Covid-19-Pandemie geschafft hat. Zwei

Jahre lang waren die Schulen für längere

Zeit geschlossen. »Wir haben Online-

Unterricht angeboten – und waren damit

in der Umgebung die Einzigen.« Die

Lehrkräfte hätten immer pünktlich ihr

Gehalt bekommen. Möglich sei das nur

mit einem Bankkredit und der fortgesetzten

Unterstützung einer Partnerorganisation

in den Niederlanden gewesen.

Sie und einige private Förderer, von

Jede Menge Plastiktüten, leere

Wasserflaschen, kaputtes Kinderspielzeug

und mancherlei mehr

treibt in der grauen Brühe oder hängt

an den Ufern des Bishnumati fest.

denen jedoch in der Pandemie manche

abgesprungen seien, hätten überdies

den weitgehend kostenfreien Schulbesuch

jener etwa 30 Prozent der Schüler

ermöglicht, die aus armen Familien

stammen.

Fotos der Jüngsten und weitere Deko-

Elemente hängen in den Fenstern der

drei untersten Klassen, also Nursery,

Lower und Upper Kindergarten. Dass

das Schulgeld eine Investition in die

Zukunft der eigenen Kinder ist und

nicht Profiten der Schule dient, versuche

man den Familien immer wieder

zu erklären, so Thapa. Er weiß, woher

bei manchen Familien das Misstrauen

rührt: In Nepal, gerade im Großraum

Kathmandu, sind in den zurückliegenden

Jahren jede Menge Privatschulen

entstanden. »Bei vielen handelt es sich

nur um Geschäftemacherei, und es gibt

zu wenig Qualitätskontrolle«, so sein

Vorwurf an die Behörden. Die Regierung

habe es zudem immer noch nicht geschafft,

ein kostenfreies Bildungswesen

für alle einzuführen.

Sogar die Luft am Rande von Lalitpur

ist spürbar sauberer als in der Innenstadt

der nahen Hauptstadt. Über dem

gesamten Kathmandu-Tal hält sich

dauerhaft eine Dunstglocke. Selbst die

Aussicht auf einige weiße Berggipfel

in der Umgebung, die es früher von den

Dächern höherer Gebäude gab, macht

der Smog unmöglich. Die Luftqualität

zeigen Messgeräte an manchen Straßenkreuzungen

den Passanten und an

Ampeln wartenden Fahrzeugführern

gut sichtbar an. Heutzutage ist im Stadtzentrum

an den meisten Tagen nur

noch vage zu erahnen, dass wenige Kilometer

entfernt eine äußere Bergkette

den hauptstädtischen Talkessel einfasst.

Wen man auch fragt auf den Straßen

Kathmandus – von der Politik, insbesondere

den drei wichtigsten Parteien

Nepali Congress (NC), Kommunistische

Partei Nepals – Vereinigte Marxisten-

Leninisten (CPN-UML) und Kommunistische

Partei Nepals – Maoistisches

Zentrum (CPN-MC), sind die meisten

Menschen mittlerweile bitter enttäuscht.

Sich auf die zurückliegende Parlamentswahl

beziehend, erzählt der

junge Taxifahrer Pradeep: »Ich habe im

November nicht gewählt. Und ebenso

zu meinen Verwandten gesagt, sie sollen

es nicht tun.« Den drei Parteien,

die sich immer wieder

zerstreiten und erneut

gegeneinander verbünden,

haben bei der Parlamentswahl

in der Hauptstadt viele

das Vertrauen entzogen

(Jungle World 50/2022).

»Deuba, Oli und Prachanda

– solange die drei da

oben sitzen, bleibt das Chaos«, sagt Puskal

Karki, der mit seinen Sprachkenntnissen

vor allem deutsche Gruppen auf

Trekkingtouren führt. Er meint damit

die Parteiführer Sher Bahadur Deuba

(NC), K. P. Sharma Oli (CPN-UML) und

den gegenwärtigen Premierminister

Pushpa Kamal Dahal (CPN-MC). Doch

es gebe Hoffnungszeichen wie den neuen

unabhängigen Bürgermeister Kathmandus,

Balendra Shah, sagt Karki. Shah

habe schon im Wahlkampf konkrete

Konzepte vorgestellt, um auch das Müllproblem

anzugehen. Seine Kampagne

konzentrierte sich neben der Abfallwirtschaft

auf die Kontrolle des Straßenverkehrs,

die Erbringung öffentlicher

Dienstleistungen, die Korruptionsbekämpfung

und die Erhaltung des kulturellen

Erbes der Stadt.

Shah wurde im Mai 2022 mit mehr

als 23 000 Stimmen Vorsprung vor seinen

Mitbewerbern von CPN-UML und

NC gewählt. Der 32jährige ist einer der

jüngsten Bürgermeister des Landes.

Der in die Politik gewechselte Rapper

und Ingenieur, der einen Youtube-

Kanal hat und sich nach dem Erdbeben

mit Tausenden Toten durch Hilfeleistungen

nebenbei einen Ruf als Sozialaktivist

erworben hatte, will nach

eigener Aussage dafür sorgen, dass die

lokale Bevölkerung in jeder Hinsicht

gesund leben kann. Der Ausbau der Infrastruktur

soll demnach einhergehen

mit einem beschleunigten Wechsel zu

Elektrofahrzeugen. Der Kampf gegen

die Luftverschmutzung, den Shah angekündigt

hat, ist überfällig: Kathmandu

hatte einer Studie im Fachmagazin

Respiratory Research zufolge

2019 bereits die weltweit höchste

altersbereinigte Sterblichkeitsrate für

chronische Lungenkrankheiten, 182,5 Fälle

pro 100 000 Einwohner. Immer

mehr Nepalesen benötigen zusätzlichen

Sauerstoff zur Atmung.

stsein

Bastelei von Schülern. Schulleiter Thapa und Lehrer Pokhrel neben einem Modell der Khumbu-Region im Himalaya

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

SEITE 11 ∎∎∎ REPORTAGE


Bloß weg. Zivilisten fliehen vor den Gefechten in Khartoum, 24. April

Reuters / El-Tayeb Siddig

Krieg statt Demokratisierung

In Khartoum und an anderen Orten im Sudan sind schwere Gefechte

zwischen einer Miliz und der Armee ausgebrochen. Der Konflikt droht,

zu einem umfassenden Bürgerkrieg zu eskalieren.

Von Hannah Wettig

So plötzlich brechen Kriege selten aus:

Am Morgen des 15. April, einem Samstag,

brachte Katharina von Schroeder,

eine Mitarbeiterin der Hilfsorganisation

Save the Children, ihren Sohn zum

Tenniskurs in seine Schule in der sudanesischen

Hauptstadt Khartoum. Kurz

darauf brachen Gefechte in der ganzen

Stadt aus, berichtete sie in der »Tagesschau«

der ARD. Tagelang habe sie mit

anderen Familien in der Schule ausharren

müssen, wie alle Einwohner der

Stadt gefangen dort, wo sie sich gerade

aufhielten, mit zur Neige gehenden Vorräten

bei 45 Grad Celsius. Warnungen

vor einer angespannten Sicherheitslage,

Erstaunlich ist die Intensität der

Kämpfe: Schwere Artillerie,

Kampfjets und Flugabwehrraketen

kommen zum Einsatz, scheinbar

wahllos werden Wohnhäuser,

Krankenhäuser, Schulen beschossen.

wie sie ausländische Staatsbürger gewöhnlich

vor solchen Ereignissen von

ihrer Botschaft erhalten, gab es keine.

Offenbar erwischte es auch die Diplomaten

unvorbereitet, ein Mitarbeiter

der EU-Kommission wurde angeschossen.

Die reguläre sudanesische Armee

und die auf eine Stärke von an die

100 000 Kämpfern geschätzte paramilitärische

Miliz der Rapid Support

Forces (RSF) geben sich gegenseitig die

Schuld daran, mit dem Schießen begonnen

zu haben. Die Armee beschuldigte

die RSF der illegalen Mobilisierung

in den vorangegangenen Tagen.

Die RSF behaupteten, die Armee habe

in einem Komplott mit Anhängern des

langjährigen autokratischen Präsidenten

Omar al-Bashir (1989–2019) versucht,

die volle Macht an sich zu reißen,

als sie auf strategisch wichtige Orte in

Khartoum vorrückte. Der oberste Befehlshaber

der Armee ist General Abdel

Fattah al-Burhan, der seit 2019 dem

regierenden sudanesischen Militärrats

vorsitzt. Sein Stellvertreter im Rat, General

Mohammed Hamdan Dagalo, allgemein

bekannt als Hemedti, kommandiert

die RSF. Diese sind hervorgegangen

aus den Janjaweed-Milizen, die al-

Bashir Anfang der nuller Jahre ausgerüstet

hatte, um den Aufstand in Darfur

brutal niederzuschlagen. Al-Burhan

und Dagalo befinden sich seit langem

in einem Machtkampf.

Warum der Konflikt gerade jetzt eskalierte,

ist unklar. Erstaunlich ist die

Intensität der Kämpfe: Schwere Artillerie,

Kampfjets und Flugabwehrraketen

kommen zum Einsatz,

scheinbar wahllos werden

Wohnhäuser, Krankenhäuser,

Schulen beschossen,

auch im Norden und Süden

des Sudan gibt es Kämpfe.

Manche Beobachter warnen

vor einem langen Bürgerkrieg,

die Bevölkerung versteckt

sich in ihren Wohnungen

und Kellern. Inzwischen

haben sich einige Menschen organisiert,

verteilen Wasser und Lebensmittel

und sprühen Parolen gegen

den Krieg.

Andere Experten sehen in den Kämpfen

eher einen Stellvertreterkonflikt.

Dagalo und al-Burhan waren einst Verbündete.

Gemeinsam brachen sie mit

dem islamistischen Regime al-Bashirs

und unterstützten im April 2019 die

Revolution, als nach vier Monaten friedlicher

Massenproteste der Diktator

nicht mehr zu halten war. Gemeinsam

putschten sie im Oktober 2021 gegen

die zivile Übergangsregierung des Ministerpräsidenten

Abdalla Hamdok,

errichteten eine Militärdiktatur und

setzten sich selbst als Präsident und

Vizepräsident ein (Jungle World 44/2021).

Beide versprachen den Übergang zu

einer demokratischen Regierung, verschoben

aber den Zeitpunkt der Machtübergabe

mehrmals. In den vergangenen

Monaten gab es deshalb Demonstrationen.

Im Dezember unterschrieben

beide eine Vereinbarung, die Macht

am 11. April an eine zivile Regierung zu

übergeben. Doch sie konnten sich

nicht einigen, wie schnell die paramilitärischen

RSF in die Armee integriert

werden sollten. Nach al-Burhans Ansicht

sollte dies innerhalb der kommenden

zwei Jahre passieren. Dagalo wollte die

Unabhängigkeit seiner Truppen erst

in zehn Jahren aufgeben.

Der Sudan-Experte Jean-Baptiste Gallopin

beschreibt, dass es Ägypten,

Saudi-Arabien und die Vereinigten Emirate

gewesen seien, die al-Burhan und

Dagalo als Militärvertreter ausgesucht

hätten, erst um die Revolution zu unterstützen

und dann um sich selbst an

die Macht zu putschen. Die Saudis

hätten demnach gute Erfahrungen mit

al-Burhan gemacht, der die sudanesischen

Truppen im Jemen im Rahmen

der von Saudi-Arabien angeführten Militärallianz

kommandiert habe, ebenso

mit Dagalo, dessen RSF dort kämpften.

Ägypten, Saudi-Arabien und den Emiraten

war al-Bashir schon länger ein

Dorn im Auge, da er gute Beziehungen

zu Katar und dem Iran unterhielt. Die

Revolutionsbewegung kam ihnen also

gelegen, doch dann begannen die Emirate,

Dagalo mit Waffen zu versorgen.

Gallopin zitiert einen ungenannten

Minister des letzten Bashir-Kabinetts,

es sei offensichtlich gewesen, dass

die Emirate einen Militärdiktator nach

ägyptischem Vorbild aufbauen wollten.

Die Ägypter unterstützten hingegen al-

Burhan.

Den Emiraten scheint es um das Goldgeschäft

zu gehen. Das organisiert Dagalo

gemeinsam mit russischen Söldnern

der Gruppe Wagner, die Goldminen

in der Zentralafrikanischen Republik

ausbeuten und das Gold über

den Sudan in die Emirate bringen. Flugzeuge,

die der russischen Söldnertruppe

gehören, haben nun nach gleichlautenden

Berichten internationaler Medien

Flugabwehrraketen an Dagalo geliefert.

Auch Russland hofiert Dagalo. Im März

2022 war er nach Moskau gereist, um

mit Außenminister Sergej Lawrow über

die Einrichtung eines russischen Militärhafens

am Roten Meer zu verhandeln.

Auch die EU rüstete Dagalo offenbar

indirekt aus. Unter Leitung der deutschen

Gesellschaft für Internationale

Zusammenarbeit (GIZ) wurden dem

Spiegel zufolge unter anderem Sicherheitskräfte

im Sudan ausgebildet und

Ausrüstung für den Grenzschutz bereitgestellt.

Seit 2015 flossen demnach

46 Millionen Euro in den Sudan zur

besseren Kontrolle der Grenzen, wovon

mutmaßlich auch Dagalo profitiert

habe, da die sudanesische Regierung

die RSF als Grenzschützer einsetzte.

Der Sudan liegt auf der Hauptfluchtroute

für Eritreer und Somalier. Zu

den Unterstützern Dagalos zählt auch

der Milizenführer Khalifa Haftar, der

in Libyen die Region um Bengasi kontrolliert.

Einem Informanten des Guardian

zufolge hat Haftar kurz vor Ausbruch

der Kämpfe Dagalo Informationen

darüber zukommen lassen, dass

al-Burhan gegen ihn vorgehen wolle.

Zuletzt hat auch Israel ein Interesse

an Dagalo, denn hinter al-Burhan stehen

der Zeitschrift Africa Confidential

zufolge die Islamisten. Dagalo trat

deutlich überzeugender als al-Burhan

für einen Friedensvertrag mit Israel

ein; der Sudan hatte Israel 1948 den

Krieg erklärt, dieser wurde nie offiziell

beendet. Der Sudan wurde Unterzeichner

des Abraham-Abkommens, eines

Friedensabkommens zwischen Israel

und einer Reihe arabischer Staaten, das

von der US-Regierung unter Präsident

Donald Trump vermittelt wurde. Dem

Nachrichtenportal Middle East Eye

zufolge konsultiert die israelische Regierung

derzeit al-Burhan, während

der israelische Auslandsgeheimdienst

Mossad mit Dagalo redet.

Dagalo hat auch Feinde. Einer seiner

größten Widersacher ist der Gründer

der Janjaweed-Milizen, Musa

Hilal, der jetzt auf Seiten al-Burhans

kämpft. Hilal und Dagalo bekämpfen

sich schon lange im Tschad und in der

Zentralafrikanischen Republik. Hilals

Tochter ist die Witwe des verstorbenen

Diktators des Tschad, Idriss Déby,

dessen Sohn Mahamat Idriss Déby Itno

seit 2021 das Land regiert. Dagalo unterstützt

die Rebellen im Tschad. In der

Zentralafrikanischen Republik wiederum

unterstützt Hilal die Rebellen,

während Dagalo gemeinsam mit Wagner-Söldnern

auf Seiten der Regierung

kämpft.

Doch diese Mächte bestreiten, am

Kriegsausbruch im Sudan beteiligt zu

sein. Aufschlussreich sind die Medien

in den Golfstaaten und Ägypten. Auf

den Websites von Gulf News und Arab

News fehlen Hintergrundberichte über

den Krieg. Die englischsprachige Ausgabe

der ägyptischen Staatszeitung al-

Ahram hat eine Woche nach Beginn

der Kämpfe zum Sudan kaum Substantielleres

zu berichten, als dass Papst

Franziskus zum Dialog aufruft. Es wirkt

so, als hätten die Hauptunterstützer

des sudanesischen Militärregimes im

Sudan ihrer Presse vorerst Zurückhaltung

verordnet.

Ägypten unterstützt einerseits im

Sudan al-Burhan, andererseits Haftar

in Libyen, der wiederum Dagalo unterstützt.

Zugleich hängt Ägypten am

Tropf der Petrodollars aus Saudi-Arabien

und den Emiraten. China scheint

bislang nicht involviert zu sein, obwohl

der Sudan Ende der neunziger

Jahre dessen Einfallstor in Afrika war.

Mit Milliardenzahlungen bauten die

Chinesen Sudans Infrastruktur aus.

Inzwischen hat China aber seine Importe

von sudanesischem Öl deutlich

reduziert. Früher bezog das Land etwa

sechs Prozent seiner Ölimporte aus

dem Sudan, mittlerweile ist es weniger

als ein Prozent.

Die USA und die EU spielen im Sudan

fast keine Rolle mehr und müssen den

Saudis danken, dass sie bei der Evakuierung

ihrer Bürger helfen. Mitverantwortlich

für die jetzige Situation sie dennoch,

da sie die sudanesische Demokratiebewegung

kaum unterstützt haben.

Statt den Militärputsch 2021 zu

verurteilen und die Generäle mit Sanktionen

zu belegen, führten sie wohlwollende

Gespräche mit den Kriegsverbrechern,

die zugleich die Demonstranten

im eigenen Land niederschießen

ließen. Im Sudan zeigte sich noch

deutlicher als beim sogenannten Arabischen

Frühling, dass Demokratisierung

kein primäres Ziel der westlichen

Staaten in dieser Region ist. Westliche

Diplomaten hätten 2019 gar versucht,

Aktivisten zu überzeugen, die Revolution

zu unterlassen, schreiben die Autoren

des Buchs »Sudan’s Unfinished

Democracy«.

AUSLAND ∎∎∎ SEITE 12

27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17


Umstrittene Normen

Vor dem Obersten Gericht in Indien wird über die Legalisierung gleichgeschlechtlicher

Ehen verhandelt. Die Akzeptanz von Homosexualität

wächst, doch es gibt heftigen Widerstand.

Von Catharina Hänsel, Delhi

Shikhandi wurde als Mädchen geboren,

wollte aber immer ein Junge sein, lebte

wie einer und heiratete. Weil seine Gattin

unzufrieden war, unterzog er sich

einer Umwandlung, um das Geschlecht

eines Mannes anzunehmen. Die Geschichte

dieses mythischen Kämpfers

im antiken Epos Mahabharata zeigt

Geschlechterambivalenz im historischen

Hinduismus. Im heutigen Indien

hingegen ist sie heftig umstritten.

Nach geltendem Recht dürfen nur

heterosexuelle Paare heiraten. Dies

könnte sich nun ändern. Derzeit findet

am Obersten Gerichtshof in Neu-Delhi

die Hauptverhandlung über die Legalisierung

der Ehe für alle statt. Mukul

Rohatgi, einer der Anwälte der Antragstellenden,

argumentiert, dass heteronormative

Gesetze ein viktorianisches

Erbe widerspiegelten, das überwunden

werden müsse.

Seit dem 20. April ist Indien nach offiziellen

Statistiken das bevölkerungsreichste

Land der Erde – und auch die

Hochzeitsindustrie wächst. Allein für

das erste Halbjahr 2023 wird ein Umsatz

von 159 Milliarden US-Dollar prognostiziert.

Ein Blick in Magazine wie Vogue

zeigt, dass ein lukrativer Markt bei

Ehen für alle erwartet wird.

Als Kund:innen sind LGBT interessant,

als Wähler:innen allerdings weniger

– für die nationale Parlamentswahl

im kommenden Jahr gelten die

Stimmen der LGBT-Community nicht

als entscheidend. Die regierende hindunationalistische

Bharatiya Janata

Party (BJP) ist längst im Wahlkampfmodus,

ihre konservative Basis lässt

sich mit Ausgrenzung besser mobilisieren

als mit Liberalität. Tushar Mehta,

als Solicitor General Anwalt der Regierung

in diesem Verfahren, versuchte

bis zuletzt, den Beginn der Verhandlungen

vor dem Obersten Gericht zu verhindern.

Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

entsprächen nicht den sozialen

Normen Indiens, so das Argument.

Für die BJP sind die religiösen hinduistischen

Schriften eine wichtige politische

Legitimationsquelle. Dass es in

ihnen neben Shikhandi viele weitere

nicht binärgeschlechtliche Charaktere

und nicht heterosexuelle Partnerschaften

gibt, prägt die Normen der Partei

jedoch nicht. Vor Gericht sprachen

sich außer religiösen Oberhäuptern des

Hinduismus auch solche des Islam,

des Jainismus, des Sikhismus und des

Christentums in seltener Einmütigkeit

gegen die Ehe für alle aus – da Eheschließungen

zur Fortpflanzung dienten,

seien sie nur zwischen Männern

und Frauen statthaft. Die sozialen Normen

Indiens sind jedoch im Wandel.

In einer repräsentativen Umfrage des

Pew Research Center von 2020 sprachen

sich 37 Prozent der Befragten dafür

aus, Homosexualität zu akzeptieren,

22 Prozentpunkte mehr als sechs

Jahre zuvor.

Fortschritte in der Gesetzgebung hat

es bereits gegeben. Transgender-Personen

werden als solche seit 2014 rechtlich

anerkannt. 2018 legalisierte des

Oberste Gerichtshof gleichgeschlechtlichen

Sex, der zuvor nach Paragraph 377

des Strafgesetzbuchs als Vergehen bestraft

worden war. In vielen südasiatischen

Ländern, darunter Pakistan, Sri

Lanka und Bangladesh, gilt das aus der

Kolonialzeit stammende gesetzliche

Verbot der Homosexualität bis heute.

Eine der Anwältinnen, die den Paragraphen

377 in Indien zu Fall gebracht

haben, ist Menaka Guruswamy. In einem

Vortrag an der Universität Oxford

erklärte sie 2020, warum die Forderung

nach der Ehe für alle der

nächste logische Schritt sei: »Eheschließungen

sind sowohl aus sozialer als

auch als legaler Perspektive wichtig.«

Demnach biete die Ehe für alle Chancen,

die soziale Akzeptanz für die Partnerschaft

zu erhöhen. In Indien hätten

Hochzeiten einen enormen gesellschaftlichen

Stellenwert. Die Ehe für

alle würde außerdem Zugang zu Rechten

verschaffen, die Verheirateten vorbehalten

sind – zum Beispiel bei Krankenversicherung

und Landbesitz, im

Steuerrecht und möglicherweise sogar

bei Adoptionen.

Guruswamy und ihre Partnerin

Arundhati Katju treten daher auch im

vorliegenden Fall als Anwältinnen

auf. Sie fordern, dass der Special Marriages

Act von 1954 angepasst wird. Da r-

in soll nicht mehr von Männern und

Frauen, sondern von »Personen« die

Rede sein. Der Special Marriages Act

regelt die Ehe von Paaren, die nicht

unter religiösem Recht heiraten wollen

oder können. Die geforderte Änderung

würde den verfassungsrechtlichen

Schutz für Minderheiten stärken.

Das wird allerdings nicht zwangsläufig

für Gerechtigkeit sorgen. Die Soziologin

Paro Mishra vom Indraprashta

Institute of Information Technology

in Delhi weist im Gespräch mit Jungle

World auf die bestehenden patriarchalen

Strukturen hin. »Die Ehe ist eine

Vor Gericht sprachen sich religiöse

Oberhäupter des Hinduismus, des

Islam, des Jainismus, des Sikhismus

und des Christentums in seltener

Einmütigkeit gegen die Ehe für alle

aus.

ungleiche Institution, die auf einer

Autoritätsbeziehung basiert.« Bei Hochzeiten

gehe es schon immer um die

sexuelle Kontrolle von Frauen, etwa

durch arrangierte Ehen. Durch Praktiken

wie Mitgiftzahlungen solle sichergestellt

werden, dass bestimmte finanzielle

Ressourcen innerhalb der eigenen

sozialen Gruppen (etwa Kasten

oder Klassen) blieben. Zugespitzt ließe

sich die Frau also als Eigentum des

Mannes betrachten – so stehen auch

Vergewaltigungen in der Ehe in Indien

nicht unter Strafe. Weil diese patriarchalen

Strukturen weiterhin in breiten

Bevölkerungsschichten sozial anerkannt

seien, sei nicht automatisch gewährleistet,

dass alle Personen in

der Ehe die gleichen Rechte erhielten.

»Selbst wenn solche Ehen geschlossen

werden – ob sie etwa beim Mieten

einer Wohnung oder beim Hauskauf

mit heterosexuellen Partnerschaften

gleich gewertet werden, sei dahingestellt.«

Die Regierung bezeichnet die Reformforderungen

als Ausdruck einer »urbanen,

elitären Sichtweise«. Dabei zeigen

Studien des Forschungsprogramms

Lokniti am Centre for Developing Societies

gemeinsam mit der

Azim-Premji-Universität,

dass die Akzeptanz für nicht

heteronormative Formen der

Partnerschaft in ländlichen

Gebieten sogar leicht höher

liegt als in den Städten.

Die Stimmen von lesbischen

Fabrikarbeiterinnen,

Tagelöhnerinnen und Landarbeiterinnen

hatte die

Aktivistin Maya Sharma bereits in ihrem

Buch »Loving Women« (2006) eingefangen.

So auch die Geschichte der Polizistinnen

Urmila Srivastava und Leela

Namdeo, die bereits 1988 mit dem Einverständnis

beider Familien nach hinduistischem

Ritual heirateten. Das Glück

währte allerdings nur kurz – als ihr

Vorgesetzter davon erfuhr, verloren sie

beide ihre Arbeit und wanderten ins

Gefängnis.

Das Bedürfnis nach rechtlicher Absicherung

solcher Eheschließungen

durch das Oberste Gericht ist also groß.

Die Entscheidung wird für Anfang

Mai erwartet.

Der Gouverneur

macht sich mausig

Ron DeSantis, der republikanische Gouverneur von Florida, führt

einen Feldzug gegen den Disney, der bislang eher ihm geschadet hat als

dem Konzern.

Von Elke Wittich

Der hingebungsvolle Kleinkrieg, den

der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis,

seit rund einem Jahr gegen den

Disney-Konzern führt, brachte ihm bislang

bemerkenswert wenige Erfolge.

Angefangen hatte alles damit, dass Anfang

2022 ein Gesetz verabschiedet

wurde, das die Behandlung von Themen

wie Geschlechter oder sexuelle Orientierung

in Grundschulen generell untersagt.

Dazu müsste dann eigentlich

auch ein Verbot jeglicher Erwähnung

von Heterosexualität gehören, aber

das ist de facto nicht der Fall, denn das

Gesetz richtet sich gegen LGBT.

DeSantis, der zeitweise als aussichtsreicher

republikanischer Präsidentschaftskandidat

gehandelt wurde, war

einer der maßgeblichen Befürworter

des meist als »Don’t Say Gay«-Gesetz

bezeichneten Parental Rights in Education

Act. Zu dessen Kritikern gesellte

sich im März vorigen Jahres auch der

damalige Generaldirektor von Disney,

Bob Chapek. Das empörte DeSantis

offenkundig sehr, seither verbringt er

eine Menge Zeit damit, immer neue

Ideen zu entwickeln, um »woke Disney«

auf die Nerven zu gehen – ein Kulturkampf

gegen einen Konzern, der ihm

als besonders schlimmes Beispiel für

die angeblich wertezersetzende Politik

vieler US-Unternehmen gilt.

Eine der schönsten Niederlagen des

Gouverneurs begann damit, dass er

im Februar dieses Jahres die Mitglieder

des von Disney – immerhin größter

privater Arbeitgeber des Bundesstaats

Florida – kontrollierten Gremiums entließ,

das die Selbstverwaltungsrechte

des Konzerns im Gebiet der Themenparks

ausübt, und durch von ihm handverlesenen

ultrakonservative Republikaner

ersetzte. Damit hätte eigentlich

alles in DeSantis’ Sinn verlaufen müssen

– hätten sich die von ihm Abgesetzten

nicht einen Trick einfallen lassen,

mit dessen Hilfe die geplante reibungslose

republikanische Machtübernahme

verhindert wurde. In letzter Minute

setzten sie eine Klausel in das Dokument

über die Verwaltungsbefugnisse des

Konzerns, in der König Charles III. von

England vorkommt: Die jetzigen Bestimmungen

sollen demnach bis 21 Jahre

nach dem Tod von dessen letztem

Nachkommen gelten.

Solche sogenannten Königsklauseln

werden in den USA benutzt, um Vorschriften

gegen Verträge mit unbegrenzter

Laufzeit zu umgehen. Der Tageszeitung

The Guardian zufolge greift

man bei solchen Datierungen auf die

britischen Royals zurück, weil deren

Stammbaum sehr gut dokumentiert

ist und Mitglieder der königlichen

Familie oft sehr lange leben.

DeSantis war allerdings noch lange

nicht fertig mit Disney: Florida könne

sich gut vorstellen, ein Hochsicherheitsgefängnis

gleich neben dem Disney-Themenpark

zu bauen, sagte er.

Danach kam er auf eine andere Idee:

Alle Beschlüsse des von ihm abgesetzten

Vorstands wurden rückwirkend für

ungültig erklärt. Die komfortable Parlamentsmehrheit

der Republikaner

wurde am 19. April dazu genutzt, neue

Bestimmungen für Sondersteuerbezirke

wie jenen des Disney-Konzerns

durchzusetzen. Demnach kann die

Regierung ab sofort nach Gutdünken

alles, was Unternehmensvorstände in

einem Zeitraum von bis zu drei Monaten

vor der Verabschiedung neuer Gesetze

beschlossen, rückgängig machen.

Juristen gehen der Tageszeitung Miami

Herald zufolge allerdings davon aus,

dass diese Regelung verfassungswidrig

sei und mittelfristig keinen Bestand

haben werde.

Warum DeSantis die Idee des Gefängnisbaus

wieder fallen ließ, ist unklar,

allerdings wurde sie prompt durch eine

neue ersetzt. Nunmehr möchten der

Gouverneur und seine Partei gern sogenannte

cheap housing-Projekte neben

den Vergnügungsparks errichten, mutmaßlich

in der Hoffnung darauf, dass

Disney-Besucher es nicht schätzen würden,

bei der Anfahrt zu Micky Maus

mit dem Anblick von Armut konfrontiert

zu werden.

Allerdings sind nicht alle Republikaner

von DeSantis’ Kleinkrieg begeistert.

Chris Christie, ehemaliger Gouverneur

von New Jersey, der ebenfalls Präsidentschaftsambitionen

hat, nannte

den Angriff auf ein Privatunternehmen

»unkonservativ« und sagte, der Gouverneur

Floridas sei »nicht die Person,

die ich dabei sehen möchte, wie sie dem

chinesischen Präsidenten gegenübersitzt,

um unsere nächsten Verträge mit

ihm zu verhandeln«. Beziehungsweise

in Gesprächen mit Wladimir Putin versucht,

den Krieg in der Ukraine zu beenden:

»Wenn jemand die Fallen, die Disney

ihm in den Weg gestellt hat, nicht

erkennt, finde ich das nicht sehr imponierend.«

Der Demokrat Jon Cooper, ehemals

führender Spendensammler für Joe Bidens

Wahlkampagne, twitterte am Wochenende:

»Wenn Ron DeSantis im Wahlkampf

um die Präsidentschaftskandidatur

gegen Micky Maus antreten würde,

könnte seine idiotische Fehde mit

Disney World sinnvoll sein. Bedauerlicherweise

für ihn tut er das nicht.«

DeSantis’ Chancen, nächster Präsident

der Vereinigten Staaten von Amerika

zu werden, sinken weiter. Bei einer

Pressekonferenz anlässlich seines Japan-Besuchs

am Montag, der eigentlich

seine außenpolitische Kompetenz

zeigen sollte, wurde er gefragt, was er

zu den aktuellen Meinungsumfragen

sage, die ihn weit abgeschlagen hinter

Donald Trump zeigen. Er antwortete

mit zornverzerrtem Gesicht, dass er ja

noch kein offizieller Kandidat sei und

man abwarten solle, wann und ob sich

das ändere.

Das Video des bizarren Auftritts verschwand

jedoch wegen einer bedeutenderen

Personalie rasch aus den Nachrichten:

Am Montag wurde bekannt,

dass der Sender Fox News den Moderator

Tucker Carlson fristlos gefeuert

hat. Nicht wenige Experten meinen nun,

dass er zum Vizepräsidentschaftskandidaten

von Donald J. Trump werden

könnte. Carlson hatte DeSantis’ Feldzug

gegen Disney unterstützt, viele seiner

Fans machen den Konzern nun für die

Entlassung verantwortlich.

Anders als Ron DeSantis bleibt Micky Maus populär. Begrüßung im Magic Kingdom Park in Lake Buena Vista, Florida

picture alliance / Ted Shaffrey

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

SEITE 13 ∎∎∎ AUSLAND


Für Paraden reicht der Platz noch. General Min Aung Hlaing beim »Tag der Streitkräfte« in Naypyidaw, 27. März

Die Generäle verlieren

die Kontrolle

Trotz des verstärkten Einsatzes der Luftwaffe gerät das Militärregime

Myanmars in die Defensive. Nun will es Scheinwahlen abhalten

lassen, von denen die Opposition ausgeschlossen ist.

Von Robin Eberhardt

Es war das tödlichste Bombardement

in Myanmar seit dem Militärputsch

am 1. Februar 2021: Nach Angaben Aung

Myo Mins, des Menschenrechtsministers

der oppositionellen Nationalen Einheitsregierung

(NUG), starben bei

dem Luftangriff auf das Dorf Pazigyi

am 11. April 186 Menschen, darunter

40 Minderjährige.

Die Junta behauptet, nur gegen »Terroristen«

zu kämpfen. Ende März hatte

der Anführer der Militärjunta, General

Min Aung Hlaing, in einer seiner seltenen

Reden am »Tag der Streitkräfte« gesagt:

»Die Terrorakte der NUG und

ihrer Lakaien, der sogenannten PDF,

müssen ein für alle Mal bekämpft werden.«

Die NUG setzt sich mehrheitlich

aus ehemaligen Abgeordneten der Nationalen

Liga für Demokratie (NLD),

der Partei von Aung San Suu Kyi, zusammen;

die PDF (People’s Defence Forces)

sind bewaffnete Gruppen, die zum Teil

unter dem Kommando der NUG, zum

Teil unabhängig von ihr die Junta bekämpfen.

Im September 2021 hatte die NUG

zum »Krieg gegen die Junta« aufgerufen,

die mit immer größerer Brutalität

gegen zivile Proteste vorgegangen

war. Die Armee – in Myanmar als Tatmadaw

bezeichnet – greift seitdem

auch mit der Luftwaffe die Zivilbevölkerung

an. Dem Armed Conflict Location

and Event Data Project, einer USamerikanischen

NGO, zufolge gab es

von Oktober 2022 bis Februar 2023 über

200 Luftangriffe in Myanmar. Im

März stellte ein Bericht der Vereinten

Nationen fest, dass die Gewalttaten

im Nordwesten und im Südosten Myanmars

aufgrund von »wahllosen Luftangriffen

und Artilleriebeschuss, massenhaftem

Niederbrennen von Dörfern

zur Vertreibung der Zivilbevölkerung

und Verweigerung des humanitären

Zugangs« zugenommen haben.

Die Jungle World sprach mit mehreren

picture alliance

Experten und Expertinnen über die

derzeitige Lage im Land.

Trotz des brutalen Vorgehens verliert

das Regime immer mehr die militärische

Kontrolle und scheint unfähig,

die politische Lage zu stabilisieren.

Nicht nur an den Rändern, auch

im Zentrum Myanmars kommt es zu

Kämpfen und Angriffen der Luftwaffe

wie dem auf das Dorf Pazigyi in der

Region Sagaing. Nyein Chan May, Vorsitzende

des Vereins German Solidarity

with Myanmar Democracy, sagte,

dies sei mittlerweile die meistumkämpfte

Region im Land. Jonathan Liljeblad

von der Australian National

University bestätigt, dass in der Region

Sagaing die Kämpfe mit am heftigsten

seien. Er ergänzt, dass es auch im Chin-

Staat an der Grenze zu Bangladesh

(einer der 15 Verwaltungsregionen Myanmars)

westlich der zweitgrößten

Stadt Mandalay sowie im Kayah- und

Karen-Staat an der thailändischen

Grenze zu gewalttätigen Auseinandersetzungen

komme.

»Die langjährige Losung crush all

destructive elements (alle destruktiven

Elemente zerschmettern, Anm. d. Red.)

ist wieder aktuell. Das sind alle, die die

Kontrolle des Militärs über das Land in

Frage stellen«, sagt Uta Gärtner, Autorin

mehrerer Bücher über Myanmar. Je

stärker der Widerstand sei, desto heftiger

reagiere die Militärführung. »Bei

den Dörfern geht es eigentlich nicht

gegen deren Bewohner, sondern gegen

Stützpunkte der bewaffneten Gegner,

der People’s Defence Forces. Ziel sind

die Gegner, die Zivilisten sind aus

»Humanitäre Hilfe und die

medizinische Versorgung werden

von der Junta gezielt torpediert.«

Theresa Bergmann, Asien-Expertin

bei Amnesty International

Sicht des Militärs Kollateralschäden«,

fährt Gärtner fort. Der Tatmadaw

wirft seinen Gegnern vor, Zivilisten als

menschliche Schutzschilde zu benutzen.

Die Luftangriffe seien ein Teil der

Gesamtstrategie der Militärführung,

meint Felix Heiduk von der Stiftung

Wissenschaft und Politik in Berlin. Es

gehe immer gegen die Teile der Bevölkerung,

die die »Terroristen« unterstützen,

was die Junta auch nicht leugne.

Das bestätigt Theresa Bergmann,

Asien-Expertin bei Amnesty International:

»Es werden Dörfer geplündert

und angezündet.« Zudem würden auch

Menschen bestraft, die verdächtigt

werden, die Opposition oder auch nur

Binnenvertriebene zu unterstützen.

»Humanitäre Hilfe und die medizinische

Versorgung werden von der Junta

gezielt torpediert.« Sie sieht in den

Luftangriffen schwere Kriegsverbrechen.

Amnesty International rufe

dazu auf, weltweit die Flugbenzinlieferungen

nach Myanmar einzustellen.

»Das Flugbenzin trägt dazu bei, dass

die Junta Kriegsverbrechen verübt.«

Nyein Chan May betont, dass der Tatmadaw

schon immer brutal gewesen

sei. »Das Militär versteht nur die Sprache

der Gewalt.« Außerdem sehe es in

der jetzigen Lage keinen anderen Ausweg

mehr. Die Luftangriffe zeigten

auch, dass die Junta am Boden keine

Kontrolle mehr habe. »Die Militärführung

gibt ja selbst zu, dass sie über

30 bis 50 Prozent der Gemeinden

keine Kontrolle habe«, sagt Heiduk. Der

Special Advisory Council for Myanmar,

eine unabhängige Expertengruppe,

ging schon im September davon

aus, dass die Junta nur noch 17 Prozent

des Landes sicher unter Kontrolle

habe, ihre Kräfte also dort nicht angegriffen

würden. Seither habe das die

Armee noch weitere Gebiete verloren,

so Heiduk. »Die Widerstandskräfte

werden immer stärker und ihre Angriffe

immer wirksamer.«

Obwohl das Regime offenbar immer

mehr in die Defensive gerät, wurden

für dieses Jahr Wahlen angekündigt. Mia

Kruska vom Myanmar-Institut in Berlin

betont, dies seien Scheinwahlen, die

nichts mit einem demokratischen

Prozess zu tun hätten. Der Putsch war

erfolgt, weil die Generäle das Ergebnis

der Wahlen des Jahres 2020, die der

NLD eine große Mehrheit verschafft

hatten, nicht akzeptierten – obwohl

die damalige Verfassung den Einfluss

der Armee sicherte, da sie ein Viertel

der Abgeordneten ernennen konnte.

Nach offiziellen Angaben haben

sich bis zum Ende der gesetzten Frist

Ende März 63 Parteien registrieren

lassen. Da ein Ende Januar erlassenes

Gesetz die Registrierung zur Voraussetzung

für das weitere Bestehen

der Parteien macht,

wurden über 40 Parteien

aufgelöst, die sich nicht registrieren

lassen wollten

oder die Auflagen nicht erfüllen

konnten – darunter

auch die NLD. Kruska bezweifelt

jedoch, dass es der

Junta gelingen werde, die

NLD aufzulösen, die loyalen Parteimitglieder

würden ihre Arbeit nicht einstellen.

Diese fänden seit dem Putsch

ohnehin unter erschwerten Bedingungen

statt.

Die NLD-Vorsitzende Aung San Suu

Kyi wurde in mehreren Prozessen zu

insgesamt 33 Jahren Gefängnis verurteilt,

zahlreiche andere Parteimitglieder

sind in Haft, der ehemalige NLD-

Abgeordnete U Phyo Zayar Thaw wurde

sogar hingerichtet. Die Zahl der politischen

Gefangenen wird auf über

13 000 geschätzt. Freie Wahlen seien

unmöglich, denn »die meisten Oppositionspolitiker

sind im Gefängnis und

werden dort gefoltert«, so Nyein Chan

May. »Die Bevölkerung von Myanmar

hat große Sorgen, dass die internationale

Gemeinschaft die Wahlen als beste

von den schlimmen Optionen ansehen

würde.«

»Mit der Auflösung der gegnerischen

Parteien sollen die Wahlen manipuliert

werden, damit nur die Anhänger

des Militärs gewinnen«, meint Liljeblad.

Die Junta beabsichtige, den Wahlablauf

so zurechtzubiegen, dass ein

Ergebnis nach ihrem Willen herauskomme.

»Die Abwesenheit politischer

Parteien bedeutet jedoch nicht, dass

es keine Opposition gibt, und die Demokratiebefürworter

werden auch ohne

politische Parteien weiter Widerstand

leisten.« Er sieht die Wahlen als einen

Versuch der Armee, der »internationalen

Gemeinschaft« zu demonstrieren,

dass sie das Land unter Kontrolle habe

und ihre Macht in Myanmar legitimiert

sei. Es sei aber fraglich, ob das

funktionieren werde. »Wenn sie nur in

den vom Militär kontrollierten Gebieten

abstimmen können, bedeutet dies,

dass nur ein Bruchteil der Bevölkerung

zur Wahl geht.«

Die Junta behauptet, Wahlen abhalten

zu können. »In Wirklichkeit ist die lokale

Verwaltung in vielen Teilen Myanmars

seit dem Putsch von 2021 zusammengebrochen«,

so Moe Thuzar vom

Myanmar Studies Programme der

Universität Singapur. Uta Gärtner sieht

das ähnlich: »Ein Ende der Kämpfe ist

nicht absehbar«, der Tatmadaw habe

über weite Gebiete die Kontrolle verloren.

Bei dieser militärischen Lage ist

fraglich, ob die Scheinwahlen überhaupt

stattfinden können.

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AUSLAND ∎∎∎ SEITE 14

27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17


Nach oben offen

Russische Gerichte verhängen immer längere Haftstrafen gegen

Oppositionelle. Nun wurde der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa

zu 25 Jahren Haft verurteilt.

Von Katja Woronina

25 Jahre Strafkolonie für einen russischen

Oppositionspolitiker stellen im

postsowjetischen Russland einen Rekord

dar. Die Justizverfahren orientieren

sich immer mehr an historischen

Vorbildern. Am 18. April, nur einen Tag

nachdem dieses drakonische Urteil

gegen Wladimir Kara-Mursa wegen

Hochverrats fiel, verabschiedete die

Staatsduma in zweiter und dritter Lesung

ein Gesetz, das als Höchststrafe

für Landesverrat statt der bislang festgeschriebenen

20 Jahre Haft in Zukunft

lebenslänglichen Freiheitsentzug

vorsieht. Noch im April will der Föderationsrat,

das russische Oberhaus, sich

damit befassen.

Kara-Mursa ist einer der engsten Wegbegleiter

des 2015 vor den Kreml-Mauern

im Zentrum Moskaus ermordeten

Oppositionspolitikers Boris Nemzow.

Auf dessen Anstoß hin betrieb Kara-

Mursa, der auch die britische Staatsangehörigkeit

besitzt und zeitweise in

den USA als Journalist tätig war, Lobbyarbeit

in Washington, die 2012 in die

Verabschiedung des sogenannten Magnitsky

Act durch den US-Kongress

mündete, mit dem russische Beamte

bestraft werden sollten, die für den

Tod des russischen Steueranwalts Sergej

Magnitskij in einem Moskauer Gefängnis

im Jahr 2009 verantwortlich sind.

Mit diesem politischen Erfolg der russischen

Opposition wurde eine Wende

im Umgang mit Russland eingeleitet.

Von nun an konnten die USA personenbezogene

Sanktionen gegen russische

Staatsvertreter verhängen, später

folgten auch Großbritannien und die

Europäische Union.

Nach Beginn des Angriffs auf die

Ukraine wurde Kara-Mursa zunächst

wegen angeblicher Falschaussagen über

die russischen Streitkräfte festgenommen.

Als weitere Anklagepunkte kamen

später die Zusammenarbeit mit dem

ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowskij

und öffentliche Kritik am Ukraine-Krieg

hinzu. Für schuldig wurde

er des Hochverrats befunden. Kara-

Mursa verglich seinen Prozess mit den

Schauprozessen unter Stalin in den

dreißiger Jahren.

In die Fänge der russischen Justiz

geraten auch Menschen, die sich mit

Mitteln der direkten Aktion zu Wehr

setzen. Es gab seit Kriegsbeginn Dutzende

Fälle von Brandstiftung an Militärkommissariaten

für die Rekrutierung.

Ende Januar fiel erstmals ein Urteil,

das eine solche Tat als »Terrorismus«

einstuft. Wladislaw Borisenko aus

Nischnewartowsk erhielt zwölf Jahre

Haft, der Mitte März verurteilte Kirill

Butylin aus dem Moskauer Umland 13.

Obwohl wegen Antikriegsaktionen,

bei denen Molotow-Cocktails zum Einsatz

kommen, gelegentlich mildere

Haftstrafen verhängt werden, weist die

Tendenz auf eine deutliche Anhebung

des Strafmaßes hin.

Am bislang härtesten traf es Roman

Nasrijew und Aleksej Nurijew, 28 und

37 Jahre alt, aus der Kleinstadt Bakal im

Gebiet Tscheljabinsk: 19 Jahre Haft

wegen versuchter Brandstiftung an einem

Verwaltungsgebäude, in dem

sich eine Wehrerfassungsstelle befindet.

Nur der Bodenbelag aus Linoleum

entzündete sich, der Wachschutz löschte

das Feuer umgehend. Auch diese Tat

stufte die Justiz als Terrorismus ein; Nasrijew

argumentierte vor Gericht, er

habe nicht den Eindruck, dass solche

Aktionen in der Bevölkerung Angst

Wie in einem schlechten Film. Wladimir Kara-Mursa am Tag seiner Verurteilung im Moskauer Gericht, 17. April

und Schrecken verbreiteten. Er habe

nur seine Ablehnung der Teilmobilisierung

und dem Krieg als solchen zum

Ausdruck zu bringen wollen. Das sehr

hohe Strafmaß könnte mit den Berufen

der beiden Kriegsgegner zu tun haben:

Nurijew ist beim Katastrophenschutzministerium

angestellt, Nasrijew

hat als Fahrer für den Wachschutz der

Nationalgarde gearbeitet. Dass sich in

staatlichen Strukturen Widerstand

gegen den offiziellen Kriegskurs breitmacht,

dürfte dem Machtapparat

missfallen.

Warnungen davor, die Rekrutierungsstellen

der Armee aufzusuchen, können

strafrechtlich verfolgt werden. So

wurden jüngst Strafermittlungen

gegen Marija Menschikowa vom unabhängigen

Studierendenmagazin Doxa

(Jungle World 23/2021) wegen »Rechtfertigung

von Terrorismus« eingeleitet,

worauf bis zu sieben Jahre Haft stehen.

Anlass bot den Behörden ein

Doxa-Beitrag im russischen sozialen

Medium Vkontakte. Menschikowa

hält sich als Doktorandin in Bochum

auf. »In einem faschistischen Regime

wird alles auf den Kopf gestellt: Krieg ist

Frieden und Freiheit ist Sklaverei. Und

die größte Bedrohung für die Faschisten

Warnungen davor, die Rekrutierungsstellen

der Armee aufzusuchen,

können in Russland strafrechtlich

verfolgt werden.

ist die Solidarität der Menschen, die sich

kümmern, was jetzt mit ›Terrorismus‹

gleichgesetzt wird«, sagte Menschikowa

der Nachrichten-Website Meduza über

das Verfahren gegen sie.

Im benachbarten Belarus läuft die

Abrechnung mit politischen Oppositionellen

ebenfalls auf vollen Touren.

Am Freitag vergangener Woche forderte

die Staatsanwaltschaft unter anderem

wegen Organisation von Massenunruhen

zehn Jahre Gefängnis für Roman

Protasewitsch. Der in umfassend geständige

ehemalige Chefredakteur des

Reuters / Maxim Shemetov

oppositionellen Telegram-Kanals Nexta

wurde 2021 festgenommen, nachdem

ein Ryanair-Flugzeug mit ihm als

Passagier in Minsk zur Landung gezwungen

worden war (Jungle

World 22/2021). Protasewitschs

damalige Lebensgefährtin,

die in Belarus zu

sechs Jahren Haft verurteilte

russische Staatsangehörige

Sofia Sapega, habe Meduza

zufolge nach Angaben der

russischen Botschaft Mitte

April in ihre Auslieferung an Russland

eingewilligt.

Vor dem Hintergrund einer immer

länger werdenden Liste staatlich Verfolgter

werden erfreulichere Nachrichten

bisweilen übersehen. Seit vergangener

Woche ist Julij Bojarschinow nach

fünfeinhalb Jahren Strafkolonie wieder

in Freiheit. Ein Militärgericht hatte

den Antifaschisten aus der anarchistischen

Szene 2020 für schuldig befunden,

einer terroristischen Gruppe namens

»Netzwerk« anzugehören (Jungle

World 27/2020).

Luxus nur für einige

Die meisten Verdächtigen des als »Katargate« bekannt gewordenen

Korruptionsskandals in der sozialdemokratischen Fraktion im

EU-Parlament sind aus der belgischen Untersuchungshaft entlassen

worden. Das EU-Parlament plant strengere Maßnahmen gegen

Korruption.

Von Felix Sassmannshausen

Mit Eva Kaili ist Mitte April die letzte

und wohl prominenteste Figur aus

dem mutmaßlichen Korruptionsnetzwerk

innerhalb der sozialdemokratischen

Fraktion im EU-Parlament aus

dem Gefängnis entlassen worden. Der

belgischen Staatsanwaltschaft zufolge

steht die griechische Politikerin nach

viermonatiger Untersuchungshaft nun

unter Hausarrest und wird mit einer

elektronischen Fußfessel überwacht.

Ihr und vier weiteren Haupttatverdächtigen

wird vorgeworfen, Bestechungsgelder

im Wert von über 1,5 Millionen

Euro aus Katar, Marokko und

wohl auch Mauretanien angenommen

zu haben und sich im Gegenzug öffentlich

im Sinne der Länder geäußert

und Abstimmungen zu ihren Gunsten

beeinflusst zu haben.

Im Zentrum der Ermittlungen steht

die NGO Fight Impunity, über die die

Gelder aus Katar und Marokko nach

Brüssel gelangt sein sollen, wie der

Spiegel vermutet. Diese NGO setzt sich

eigenem Bekunden nach für die Bekämpfung

von Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen

ein. Gegründet

wurde die Organisation von

Pier Antonio Panzeri im September

2019. Panzeri saß früher für den italienischen

Partito Democratico (PD) und

bis zur Gründung der NGO für die

linkssozialdemokratische Partei Articolo

Uno im EU-Parlament. Vor seiner

Wahl ins EU-Parlament im Jahr 2004

war er hoher Funktionär beim Gewerkschaftsbund

Confederazione Generale

Italiana del Lavoro, die lange Zeit der

kommunistischen Partei Italiens nahestand.

Schon seit Juli 2022 hatten belgische

Ermittler:innen unter der Leitung des

Oberstaatsanwalts Antoon Schotsaert

mit den Überwachungsmaßnahmen

bei den Verdächtigen begonnen. Auch

dadurch geriet der ehemalige Parlamentsmitarbeiter

von Panzeri und Lebensgefährte

von Kaili, Francesco

Giorgi, in den Blick der Fahnder. Er gilt

ebenfalls als Hauptverdächtiger in

dem Korruptionsfall. Berichten der Süddeutschen

Zeitung zufolge soll er sich

noch im Oktober gemeinsam mit Panzeri

in einem Hotel in Brüssel mit dem

katarischen Arbeitsminister Ali bin Samikh

al-Marri zu einer Geldübergabe

getroffen haben. Beide, Panzeri und

Giorgi, haben belgischen Ermittlungsbehörden

zufolge inzwischen gestanden.

Panzeri soll sich den Ermittler:innen

als Kronzeuge in der Korruptionsaffäre

zur Verfügung gestellt haben.

Nach dem gegenwärtigen Stand der

Ermittlungen stammen die meisten

Figuren des mutmaßlich korrupten

Netzwerks aus der europäischen Sozialdemokratie.

So auch die belgischen

Abgeordneten des Parti Socialiste, Maria

Arena und Marc Tarabella. Tarabella

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war als Vizevorsitzender im Katar-Unterausschuss

des EU-Parlaments tätig.

Er wird durch eine Aussage Panzeris

belastet, der zufolge er 120 000 bis

140 000 Euro über das Netzwerk erhalten

habe. Der Gewerkschafter Luca

Visentini wiederum hat nach Angaben

Panzeris mindestens 50 000 Euro erhalten.

Er war von 2015 bis 2022 Generalsekretär

des Europäischen Gewerkschaftsbundes

und kurz vor den Enthüllungen

im November 2022 zum Generalsekretär

des weltgrößten Gewerkschaftsverbands,

dem Internationalen

Gewerkschaftsbund, gewählt worden.

Visentini, Tarabella, Arena und auch

Kaili beteuern ihre Unschuld.

Ein Motiv für die Bestechungen war

wohl, dass Katar sich mit den Geldern

einen humaneren Anstrich im Zuge der

Fußball-Weltmeisterschaft 2022 erkaufen

wollte. Dies scheint zumindest

teilweise gelungen zu sein. So hatte das

EU-Parlament am 24. November vergangenen

Jahres eine Resolution beschlossen,

in der die Menschenrechtslage

in dem Land mit Verweis auf Aussagen

des Internationalen Gewerkschaftsbundes

teils beschönigend dargestellt

wurde. Beschlüsse der Ausschüsse

und der Plenarversammlung

in Hinblick auf Katar wurden »wahrscheinlich

durch Korruption und unzulässige

Beeinflussung geändert«, heißt

es in einer Resolution des EU-Parlaments

vom 15. Dezember 2022 zur Korruptionsaffäre.

Mit Blick auf Marokko ging es Recherchen

des Tagesspiegels zufolge unter

anderem um ein Fischereiabkommen

mit der EU aus dem Jahr 2019. Demnach

sind Teile des umstrittenen Territoriums

Westsahara der marokkanischen

Verwaltung zugeschlagen worden,

trotz scharfer Kritik, dass die EU damit

den Herrschaftsanspruch über das von

Marokko annektierte Territorium anerkannt

hat. Bei den Verhandlungen über

das Fischereiabkommen spielte der

Neuen Zürcher Zeitung zufolge Panzeri

eine Rolle dadurch, dass er die Parlamentsdelegation

für die Beziehungen

zu den Maghreb-Ländern und der Union

des Arabischen Maghreb leitete. In

dieser Funktion hat er demzufolge

Bestechungsgelder von hochrangigen

Beamten des Königreichs empfangen,

unter anderem von Abderrahim Atmoun,

einem marokkanischen Diplomaten,

der in Polen arbeitet.

Das Präsidium des EU-Parlaments

unter der Leitung von Roberta Metsola

kündigte als Reaktion auf den Korruptionsskandal

vergangene Woche in einem

14-Punkte-Plan Maßnahmen zur

Korruptionsbekämpfung an. Darunter

fallen strengere Transparenzrichtlinien,

eine längere sogenannte Abkühlungsperiode

zwischen der Abgeordnetentätigkeit

und möglichen Lobbyaktivitäten

im Parlament. Auch soll das bisher

bestehende Transparenzregister ausgeweitet

werden. »Die Reformen sind

erste Schritte, um das Vertrauen in

die europäische Entscheidungsfindung

wiederherzustellen«, sagte Metsola

nach der Verabschiedung des Plans.

Weitere Maßnahmen sollen am 4. Mai

im Unterausschuss über äußere Einflussnahme

auf die EU diskutiert werden.

Probeexemplar oder Abo: www.graswurzel.net

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

SEITE 15 ∎∎∎ AUSLAND


Algen aus dem Erzgebirge

Ohne sie stünde Robert Koch ohne Nobelpreis da: Mit einem

veganen Trick bereitete Fanny Angelina Hesse im erzgebirgischen

Schwarzenberg den Nährboden für die Bakterienforschung. Auf

dem Algen substrat Agar gelang Koch vor 140 Jahren der Nachweis

von Tuberkuloseerregern.

Von Tobias Prüwer

»Lina, warum schmilzt dein Wackelpudding

in dieser Hitze eigentlich nicht?«

Walther Hesse, der das fragte, muss an

jenem Sommertag 1881 immens frustriert

gewesen sein. Im Labor floss dem

Mediziner der Gelatine-Nährboden

weg, auf dem er Bakterienkolonien

züchtete. Dabei herrschten in Schwarzenberg,

einem Ort im sächsischen

Erzgebirge, immerhin nicht ganz so

hohe Temperaturen wie andernorts

im Deutschen Reich. Doch ohne Boden

keine Bakterienzucht, die Hitze ruinierte

jedes Experiment. Was würde

der berühmte Robert Koch über den

In Frankreich kochten Forscher wie

Louis Pasteur Fleischbrühe für die

Bakterienzucht.

Misserfolg sagen, dessen Mitarbeiter

Hesse war? Guten Rat gab seine Frau

und Assistentin Fanny Angelina »Lina«

Hesse. Sie nannte ihrem Walther einen

Küchentrick, den heute jeder Veganer

kennt. Der Tipp revolutionierte die

Bakterienerforschung und Schwarzenberg

ging in die Geschichte der Mikrobiologie

ein. Dort, wo heutzutage ein

nicht geringer Teil der Einwohnerschaft

reaktionär ist, brachte ein veganes

Mittel die Lösung, wo tierische

Produkte wie Fleischbrühe und Gelatine

versagten. Und die Hilfe kam aus

Übersee.

Diese Episode aus dem Leben seiner

Großeltern hat Wolfgang Hesse 1992

in einem Fachartikel für die Amerikanische

Gesellschaft für Mikrobiologie

festgehalten. Ob Walther Hesses verzweifelte

Frage genau diesen Wortlaut hatte,

ist freilich nicht überliefert. Verbrieft

aber ist, dass er sich über die feste Konsistenz

seines Nachtischs wunderte.

Fanny Hesse enthüllte ihm, dass sie Agar

als Geliermittel benutzte, ein in Asien

gebräuchliches Algenpräparat. Die

Schwarzenberger Episode war lange

nicht bekannt, wird sie erzählt, dann

als augenzwinkernde Anekdote über

die helfende Hausfrau. Das wird Fanny

Hesse keinesfalls gerecht. Denn sie

war vielmehr als das tätig, was man

heutzutage Laborassistentin nennt.

Und sie war weltläufig.

Fanny Angelina Eilshemius wurde am

22. Juni 1850 in New York City geboren.

Ihr Vater, ein Händler, stammte aus den

Niederlanden, die Mutter aus einer

französisch-schweizerischen Familie.

Erstes Wissen über das Kochen erhielt

Fanny von ihrer Mutter und den Bediensteten.

Im Alter von 15 Jahren absolvierte

sie eine Ausbildung

in Hauswirtschaftslehre in

der Schweiz. Walther Hesse

lernte sie kennen, als dieser

als Passagierschiffsarzt in

New York Station machte.

Zuvor hatte der gebürtige

Bischofswerdaer die Dresdner Kreuzschule

besucht und an der Universität

Leipzig Medizin studiert. Er traf Fanny

einige Monate später im Sommer 1872

in Dresden wieder, wo sie Urlaub machte.

Er hatte damals eine Stelle als Assistenzarzt

in Pirna. Es funkte und zwei

Jahre darauf heirateten die beiden.

Zunächst ließ sich das Paar in Zittau nieder,

wo Walther als Arzt praktizierte.

Dann zog es die Eheleute 1877 in die

Bergarbeitersiedlung Schwarzenberg.

Hier war Walther als Bezirksarzt angestellt,

in seiner Verantwortung lag vor

allem die Gesundheit der untertage Tätigen.

Neben der Heilpraxis waren die Hesses

an der medizinischen Forschung

interessiert. Darum nutzte Walther eine

Beurlaubung, um beim späteren Nobelpreisträger

Robert Koch in Berlin zu

arbeiten. Dieser machte ihn mit dem

mikrobiologischen Experimentieren

vertraut. Mit einigem Erfolg setzte

Hesse danach eigene Untersuchungen

in seinem Schwarzenberger Labor fort

und publizierte regelmäßig in Fachzeitschriften.

Er trug unter anderem zur

verbesserten Tuberkulosediagnose und

der Keimbefreiung von Wasser bei. Mit

Kräften half ihm dabei Fanny – neben

der Haushaltsführung und der Erziehung

der drei Söhne. So bereitete sie die

Petrischalen für die Bakterienzucht vor.

Als begabte Zeichnerin protokollierte sie

die Beobachtungen unterm Mikroskop

visuell und lieferte Illustrationen für die

Veröffentlichungen ihres Mannes.

Und Fanny löste das anhaltende Problem

des Nährbodens für die Bakterienzucht.

Dafür bedurfte es einer festen,

sterilisierbaren Substanz mit relativ

konstanten Eigenschaften. In Frankreich

kochten Forscher wie Louis Pasteur

Fleischbrühe für die Bakterienzucht. Da

darin aber zu viele verschiedene Bakterienarten

gedeihen, erwies sich diese

Grundlage für gezielte Forschung als

ungeeignet. Da war Gelatine schon ein

Fortschritt: Das hatte Walther Hesse

von Robert Koch gelernt. Aber das

Schwarzenberger Sommerklima erwies

sich als unerbittlich. Immer wieder

zerfloss die Gelatine in der Hitze, die

Bakterienkulturen verschwanden im

Schleim. Fannys Rat, es mit Agar zu versuchen,

überzeugte den Forscher

sofort. Man könnte von einem Durchbruch

sprechen.

Dabei ist Agar, manchmal auch als

Agar-Agar bezeichnet, kein Geheimrezept.

Nur war es damals in Deutschland

recht unbekannt. Das vor allem

aus Rotalgen gewonnene Präparat wird

seit Jahrhunderten überwiegend in der

ostasiatischen Küche eingesetzt, unter

anderem als Verdickungsmittel in

Suppen und Süßspeisen. Es eignet sich

hervorragend als Geliermittel, weshalb

es heutzutage als veganer Ersatz für

die aus Tierknochen gewonnene Gelatine

sehr beliebt ist. Mit Agar gelingen

Sülzen und Panna cotta auch ohne tierischen

Zusatz. Fanny kannte es von einem

Nachbarn in New York, der aus Java

eingewandert war. Seitdem nutzte sie

selbst Agar für ihre Puddings und Gelees

– und brachte es nach Sachsen mit.

Für die Mikrobiologie eignet sich

Agar besonders wegen seiner Temperaturstabilität.

Kocht man es in Wasser

auf, entsteht ein stabiles Gel, das bei

95 Grad flüssig wird – Gelatine hingegen

zerfließt bei 37 Grad. Für die meisten

Bakterien ist Agar unverdaulich,

was einen zusätzlichen Vorteil gegenüber

der Gelatine darstellt. Darum wird

das Algengel bis heute in der Mikrobiologie

verwendet und machte viele

Entdeckungen in diesem Bereich erst

möglich.

Walther Hesse berichtete alsbald Robert

Koch von seinem neuen Nährmedium,

der es dann auch in seinem

Labor einsetzte. Damit gelang Koch

sein Durchbruch bei der Tuberkuloseerforschung,

für die er den Medizinnobelpreis

erhielt. Er erwähnte bei der

öffentlichen Bekanntmachung im

März 1882, dass er das TBC-Bakterium

entdeckt hatte, auch das neue Kulturmedium

Agar. Den Namen Fanny Angelina

Hesse nannte er bei dem Auftritt

nicht. Ihr Verdienst ist weitgehend vergessen.

Wer ihn auf die Lösung brachte,

von Gelatine auf den Nährboden Agar

zu wechseln, verriet Robert Koch nie.

Das kam erst später heraus. An ihrer

Idee verdienten die Hesses keinen

Pfennig. Sie zogen 1890 nach Dresden,

wo Walther 1911 starb. Seine Frau überlebte

ihn um 23 Jahre.

So bereitete Fanny mit einem Rezept

aus Java, das sie in New York erhielt,

im sächsischen Erzgebirge den Nährboden

für die globale Bekämpfung der

Tuberkulose. Mehr Internationalismus

geht kaum. Es ist ein Treppenwitz der

Geschichte, dass es dort heutzutage

Morddrohungen hagelt, wenn wie

jüngst in Dresden eine »vegane Fleischerei«

eröffnet, die ihre Produkte

auch noch umbenennen muss. Man

frage mal Bakterien.

Ein Haushaltstrick aus Java. Fanny Hesse schlug Agar als Grundlage für die Bakterienzucht

vor, 1883

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WISSENSCHAFT ∎∎∎ SEITE 16

27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17


Shane Burley, Journalist und Autor, über

Antisemitismus und Verschwörungstheorien in

den USA:

»Das ist der

Triumph des

Populismus«

Wird Antisemitismus in der USA

ernst genug genommen?

Es ist ein Unterschied, ob man ihm Aufmerksamkeit

schenkt oder ihn ernst

nimmt. Wir schenken ihm sicherlich

viel Aufmerksamkeit, aber ich denke

nicht, dass wir ihn ernst nehmen. Es gibt

eine ganze Reihe von NGOs und Institutionen,

die sich damit befassen sollen,

aber ich finde nicht, dass sie richtig damit

umgehen. Offenkundig gibt es eine

Verschiebung hin zu explizitem Antisemitismus

bei der eher zum Mainstream

gehörenden Rechten. Der Rapper

Ye, früher Kanye West, ist ein gutes

Beispiel (Jungle World 49/2022). Es gibt

auch sehr expliziten Antisemitismus

in der Propaganda des Trumpismus und

der Maga-Bewegung (Make America

Great Again, 2016 von Donald Trump in

»Offenkundig gibt es eine

Verschiebung hin zu explizitem

Antisemitismus bei der eher zum

Mainstream gehörenden Rechten.«

seiner Wahlkampagne benutzter Slogan,

Anm. d. Red.) und bis zu einem gewissen

Grad bei den Nationalkonservativen,

die eine etwas intellektuellere

Version davon sind.

Gewinnt die »white supremacy« an

Einfluss?

Die weiße nationalistische Bewegung

wächst derzeit nicht mehr. Sie hat sich

stabilisiert, einige Organisationen sind

von ihr abgefallen. Eine akzelerationistische

Version (der Akzelerationismus

propagiert die Beschleunigung kapitalistischer

Krisenprozesse, Anm. d. Red.)

des Neonazismus ist ein wenig trendy

geworden, es gibt noch immer die Atomwaffen

Division und The Base, die Gewalt

gegen Juden propagieren, aber diese

Gruppen sind recht klein. Doch eine

spezifische Form des Antisemitismus

wird normalisiert, vor allem jene Variante,

die sich auf jüdische Eigenschaften

bezieht. Da geht es nicht nur um

jüdische Kontrolle, sondern darum, woher

diese Kontrolle kommt – entweder

wird das aus dem Talmud abgeleitet

oder aus fremdartigen Eigenschaften

der Juden. Das kann man vor allem bei

der Groyper-Bewegung (vor allem im

Internet aktive Gruppe rechtsextremer

Aktivisten, Anm. d. Red.) und ihrem Anführer

Nick Fuentes sehen.

Die Republikanische Partei hat derzeit

zwei einflussreiche Flügel: die Nationalkonservativen,

die sich um den Think

Tank Claremont Institute gruppieren,

und die Maga-Bewegung, die sich um

Trump sammelt. Beide bedienen sich

bei den Groypers und ihrem Umfeld,

denn dort ist man sehr umtriebig. Sie

sehen diese Aktivitäten und spiegeln

sie ihn einem moderateren Ton wider.

Deshalb glaube ich, dass die christlichnationalistische

Version des Antisemitismus

dessen dominierende Variante

werden wird.

Wie passt der Antisemitismus in den

größeren Rahmen der derzeitigen

»white supremacy«?

Er ist in gewisser Weise essentiell. Wir

bewegen uns in eine Richtung, die man

als postantisemitisch bezeichnen

könnte, wo der Antisemitismus so implizit

im Weltbild enthalten ist, dass er

keiner Juden mehr bedarf. Es gibt hier

drei Publikumsgruppen: die Mainstream-Rechte,

die christlichen Nationalisten

und die weißen Nationalisten.

Weiße Nationalisten brauchen Juden

in der klassischen Art, in der die Nazis

sie brauchten, als kontrollierende Macht,

die Nichtweiße manipuliert. Dann gibt

es die christlichen Nationalisten, die

eine Sichtweise der Juden wiederbeleben,

die jener vor dem Zweiten Vatikanischen

Konzil (1962–1965, legte fest,

dass die Juden nicht mehr

als von Gott verworfen oder

verflucht dargestellt werden

dürfen, Anm. d. Red.)

ähnelt. Weil sie sich online

über solche Ideen austauschen,

kommen sie mit eher

neonazistischen Ansichten

in Berührung. Manches ergibt

logisch keinen Sinn, etwa wenn

fundamentalistische Baptisten die Holocaustleugnung

übernehmen. Sie haben

keinen Grund, das zu tun, aber wenn

sie sich online mit anderen Antisemiten

austauschen, werden sie von deren

Gedankengut beeinflusst.

Wie sieht es im rechten Mainstream

aus?

Diese Strömung ist sehr stark von Verschwörungstheorien

geprägt, aber

auch Israel; deshalb ist es wirklich

schwer für sie,, dass die Juden im Zentrum

des Antisemitismus stehen. Das

macht das Leben der Juden nicht sicherer.

Je mehr man Verschwörungstheorien

propagiert, desto weniger sicher

sind Juden. Aber jetzt laden sie Juden

zum Mitmachen ein. Chaya Raichik, die

hinter dem rechtsextremen und LGBTfeindlichen

Twitter-Account »Libs of

Tiktok« steht, ist eine orthodoxe Jüdin.

Sie greift George Soros an und ihre Verschwörungstheorien

– von denen einige

explizit Juden benennen – hatten Einfluss

auf ein Dutzend oder mehr transfeindliche

Gesetze.

Es gibt also tatsächlich Juden, die mitmachen,

deshalb geschehen bizarre

Dinge. So haben Chassiden andere Juden

beschuldigt, von Soros bezahlt zu werden.

Es gibt Bilder von einem Satmar

(Mitglied einer chassidischen Gruppierung,

Anm. d. Red.), der beim Sturm auf

das Kapitol am 6. Januar 2021 neben jemandem

mit einem »Camp Auschwitz«-

T-Shirt stand. Es ist irre, ein verwirrendes

Durcheinander. Ob Juden im Zentrum

der Verschwörungstheorien bleiben

werden, ist eine andere Frage. Aber

die antisemitische Struktur wird weiter

bestehen.

Die Behauptung, Donald Trump sei

um seinen Wahlsieg betrogen

worden, und die Feindseligkeit gegen

Trans-Personen sind weiterhin

präsent. Wird das dauerhaft so

bleiben?

Das Angriffsziel werden nicht immer

Trans-Personen sein, aber die Dynamik

ist immer die gleiche. Manches, wie

spezifische Qanon-Verschwörungstheorien,

wird nicht mehr benötigt. Es gibt

jetzt viele Qs, viele Leute enthüllen Geheimnisse

auf dem Imageboard 4chan:

»Ich bin Insider im Außenministerium,

ich weiß, was sie tun!« Ein Grund,

warum sie Trans-Personen angreifen,

ist ihr Sieg bei der Abtreibung. Es ist also

leicht, zu einem anderen Thema zu

springen. Bei der Konzentration auf

Trans-Personen werden eine Menge

komplizierter Angelegenheiten vermischt

und nehmen scheinbar materielle

Form an. Es ist nicht nur wokeness,

es ist medizinische wokeness: »Eure Kinder

injizieren wokeness in ihre Körper!«

An diesem Punkt ist die Verbindung

zu Argumenten vollständig gelöst, und

man braucht keine kohärenten Theorien.

Man braucht überhaupt keine Theorien

mehr, man sagt einfach: »Einige

Leute sagen … « Das ist gewissermaßen

posttheoretisch, die Verschwörung findet

immer und überall statt.

Das ist auch der Triumph des Populismus,

denn das ist es, was der Populismus

verlangt: gegen das System sein,

ohne zu definieren, was das System ist

und was es bedeutet, dagegen zu sein.

Das bestimmende politische Ziel ist

derzeit, die Zentrale zu zerstören und

die dominierenden Institutionen anzugreifen

– so dass viele die Rechte und

die Linke als weitgehend austauschbar

wahrnehmen, sofern sie destruktiv sind.

Das ist auch bei der Linken ein Problem,

allerdings nicht im gleichen Ausmaß

wie bei der Rechten. Ich denke,

dass ein großer Teil der Anhängerschaft

Trumps seinen Begierden freien Lauf

lassen wird, um an einer Bewegung gegen

das System teilzunehmen.

Eine kleine, obskure Gruppe von

Neonazis hat kürzlich zu einem antisemitischen

»Tag des Hasses« aufgerufen.

Viele Medien schenkten

dem große Beachtung und schlugen

Alarm, doch so verschafften sie

dem Aufruf, der ansonsten wenig

Wirkung gezeigt hätte, große öffentliche

Aufmerksamkeit. Nicht

alarmistisch agieren, aber vor realen

Bedrohungen warnen – wie kann

man in effektiver Weise wachsam

sein?

Übertriebene Reaktionen sind nicht hilfreich.

Das gilt insbesondere für Antisemitismus,

weil es sich um ein so politisches

Thema handelt. Um es richtig zu

machen, muss man sich Zeit nehmen

und sich mit anderen in der Öffentlichkeit

koordinieren, so dass alles untersucht

wird und Informationen geteilt

werden. Dann muss man Wege finden,

es so zu präsentieren, dass die Menschen

zu einem wirklich informierten Verständnis

gelangen – jenseits der Sichtweisen

von Strafverfolgungsbehörden

und vielen NGOs, die nicht in der Lage

sind zu differenzieren. Ich denke nicht,

Anzeige

Shane Burley ist Experte für die extreme Rechte in

den USA. Er arbeitet als Journalist unter anderem für

»The Daily Beast«, »The Independent« und »Haaretz«,

zu seinen Buchveröffentlichungen gehört »Why We

Fight: Essays on Fascism, Resistance, and Surviving

the Apocalypse« (2021).

dass es eine Geheimformel dafür gibt.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass

es zwei Arten von Bedrohung gibt: die

Bedrohung durch eine wachsende

Bewegung und alles, was eine große Bewegung

tun kann, und die Bedrohung

durch die Gewalt kleiner Gruppen. Beide

sind wichtig und sie treten getrennt

auf.

Es gibt Dinge, auf die man achten

muss. Wandel und Anziehungskraft

sind immer von Bedeutung. Wenn eine

Person aus dem Mainstream sich in

wirklich grundlegender Weise verändert,

ist es wichtig, dem nachzuspüren. Und

wenn es ein großes Wachstum gibt, ist

das ebenfalls wichtig.

Die Entwicklung, die Ye genommen

hat, ist wichtig, weil sie einen grundlegenden

Wandel zeigt. Das Wachstum

und die Beständigkeit der Groypers –

der einzigen aus der Alt-Right übrig gebliebenen

Gruppierung, die ihre zahlenmäßige

Stärke gewahrt hat – ist

wichtig. Und die Einzigen, die diesen

Dingen nachgehen, sind die Antifaschisten,

die dafür viel Zeit aufwenden.

Es sollte mehr Diskussion und Zusammenarbeit

geben, damit die Menschen

die Veränderungen und Kontinuitäten

besser verstehen – und auch die Geschichte,

die zukünftige Entwicklung

und die Funktionsweise. Da es häufig

wiederkehrende Muster gibt, kann man

aus der Vergangenheit lernen.

Interview: Joseph Keady

privat

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

SEITE 17 ∎∎∎ INTERVIEW


Alles unter dem Himmel

China beansprucht eine globale Führungsrolle und schafft ökonomische

Abhängigkeitsverhältnisse. Das ist vor allem für Nachbarstaaten und

arme Länder eine Gefahr.

Von Jörn Schulz

Es gibt kaum einen Nationalismus, der

ohne die Idealisierung der Vergangenheit

auskommt. Im günstigsten Fall

bleibt das Folklore, oftmals aber werden

vorbürgerliche Herrschaftsverhältnisse

romantisiert und als Heilmittel

gegen tatsächliche oder vermeintliche

Fehlentwicklungen der Moderne

gepriesen. Besonders heikel wird es,

wenn die Vergangenheit imperial

war.

Das ist in China der Fall. Die propagierte

»Wiedererstehung«, deren

Grundsätze Hauke Neddermann an

dieser Stelle seltsamerweise ohne

einen Anflug von Kritik referiert hat,

beruft sich auf das Leitprinzip tianxia

(alles unter dem Himmel): Der »Himmelssohn«,

der Kaiser, muss die

Nachbarländer unter seine fürsorgliche

Obhut nehmen, wofür sie ihm Tribut

und Ehrerbietung zu zollen haben.

Präsident Xi Jinping formuliert zwar

nur den Anspruch, China müsse »ein

globaler Anführer« werden, offizielle

Doktrin ist jedoch, dass eine Vorherrschaft

angestrebt wird, derzeit vor allem

mit ökonomischen Mitteln. Mit

der »Neuen Seidenstraße« (Belt and

Road Initiative) werden Abhängigkeiten

geschaffen, und China ist als Gläubiger

keineswegs freundlicher als der Internationale

Währungsfonds. Als die

Es bleibt, sofern man die

Schwächung der USA und der EU

nicht als Selbstzweck gutheißt,

unklar, was China als Weltmacht

Positives bewirken könnte.

Regierung Sri Lankas ihre Schulden

nicht bezahlen konnte, musste sie 2017

dem chinesischen Staatskonzern China

Merchants Port den Hafen von Hambantota

für 99 Jahre überschreiben –

eine »Demütigung« eben jener Art, wie

sie China als Halbkolonie hinnehmen

musste. Bedrohlich ist der Aufstieg des

Landes vor allem für arme Länder, die

in ökonomische Abhängigkeit geraten,

und für Nachbarstaaten, die dem neuen

Himmelssohn nicht den gewünschten

Tribut zollen.

Unter ihnen ist Taiwan am stärksten

bedroht. Die Insel wurde 1683 annektiert,

im Zuge der Expansionspolitik

der Qing-Dynastie, die im 17. und

18. Jahrhundert auch Tibet, Xinjiang,

die Mongolei und weitere Gebiete eroberte.

Einige gingen wieder verloren,

doch die heutigen Grenzen Chinas

sind im Wesentlichen ein Ergebnis dieser

Feldzüge, die das Territorium weit

über das Gebiet der Bewässerungsgesellschaft

hinaus ausweiteten, die

die Grundlage der chinesischen Zivilisation

bildete.

China verpasste den Aufstieg zur imperialistischen

Macht knapp. Die

Gründe dafür sind nicht eindeutig geklärt.

Das Land hatte ein im Vergleich

zum vorindustriellen Europa effizienteres

Bildungs- und Verwaltungssystem

– doch eben deshalb blieben dissidente

Intellektuelle und das aufstrebende

Bürgertum zu lange marginal.

Nicht zuletzt das politische Chaos in

Europa ermöglichte die Aufklärung

und den Griff der Bourgeoisie nach

der Macht.

Der halbkoloniale Status zwang

China, die westlichen Kolonialmächte

begünstigende Handelsverträge abzuschließen

und einige Inseln,

Hafenstädte und

Küstenterritorien abzutreten.

Manche dieser Verträge

und Abtretungen wurden

bereits in den dreißiger

Jahren zurückgenommen,

die Entkolonialisierung

– unterbrochen durch

den japanischen Angriffskrieg

– endete nach dem Zweiten Weltkrieg

mit der Aufnahme in den UN-

Sicherheitsrat als ständiges Mitglied.

Der schnelle Aufstieg erfolgte aufgrund

eines Machtkalküls, war aber

wohl nur möglich, weil Chines:innen

im Westen mehr Achtung fanden als

etwa Afrikaner:innen.

Neben dem antichinesischen Rassismus

gab es immer eine Tendenz, die

Zivilisation Chinas zu bewundern. Sie

hat in der Tat viel zu bieten, die Überhöhung

und Mythologisierung einzelner

Merkmale ist aber immer interessengeleitet.

Hinter der seit dem 18. Jahrhundert

nachweisbaren konservativen

Bewunderung des »chinesischen

Weisen«, der Maß und Mitte zu halten

vermag, verbarg sich die Abwehr der

zersetzenden Aufklärung und der

Auflösung der Ständegesellschaft. Heutzutage

dominiert eher die Bewunderung

chinesischer Effizienz, die verärgerte

Kund:innen der Deutschen

Bahn, klischeeaffine Regisseure wie

Roland Emmerich (»2012«), gewerkschaftsfeindliche

Unternehmer:innen

und viele andere eint.

Auch die Haltung vieler Linker zu

China ist von Mythen und historischer

Ignoranz geprägt. Gern wird übersehen,

dass der Erfolg der »Ein-China-

Politik« ein Werk des US-Präsidenten

Richard Nixon war. Er erkannte 1972

den Anspruch der KPCh auf Taiwan

an, um Mao als Verbündeten gegen die

Sowjetunion zu gewinnen. Chinesische

Nationalist:innen betrachten die

mandschurische Qing-Dynastie zwar

als Fremdherrschaft, aber was »die tatarischen

Barbaren«, so der bürgerliche

Revolutionsführer Sun Yat-sen

1904, erobert hatten, wollten auch er

sowie Mao und seine Nachfolger nicht

hergeben.

Einst standen sich eine stalinistische

und eine rechtsextreme Diktatur

gegenüber. Doch während die Lohnabhängigen

auf dem Festland seit

dem Übergang zum Staatskapitalismus

mit dem Schlechtesten beider Welten –

Unterdrückung und Ungleichheit –

leben müssen, genießen sie auf Taiwan

seit der Demokratisierung nach 1987

bürgerliche Freiheiten. Zudem ist dort

seit 2019 die gleichgeschlechtliche

Ehe anerkannt und es gibt, anders als

in Tibet und Xinjiang, Minderheitenrechte.

Meist übergangen wird in der linken

China-Apologetik auch die Außenpolitik

während des Kalten Kriegs, die

selbst traditionellen antiimperialistischen

Ansprüchen schwerlich genügt.

Als Hauptfeind galt die Sowjetunion.

Deren Verbündete bekämpfte China

und unterstützte beispielsweise gemeinsam

mit den USA und dem Apartheidregime

Südafrikas die Guerilla

Scharf auf die Insel. »Wir werden die heilige Mission vollenden, Taiwan zu befreien und das Land zu einen«, Propagandaplakat, 1977

Der Aufstieg der Volksrepublik China verändert die

Welt. Felix Wemheuer zeigte auf, welche unterschiedlichen

linken Positionen es zu China gibt (10/2023).

Ralf Ruckus argumentierte, Chinas Prägung durch

kapitalistische Gewaltverhältnisse müsse Ausgangspunkt linker

Kritik sein (11/2023). Michael Heidemann kritisierte die Geringschätzung

bürgerlicher Freiheitsrechte bei vielen linken Diskussionen über

China (12/2023). Ernst Lohoff warnte, China strebe an, sein illiberales

Herrschaftsmodell international durchzusetzen (14/2023). Hauke

Neddermann meinte, deutsche Linke sollten bei der gegenwärtigen

Kritik an China die Rolle des europäischen Kolonialismus nicht vergessen

(15/2023). Tomasz Konicz argumentierte, dass die Diktatur

nach dem chinesischen Vorbild die Zukunft des Kapitalismus darstellen

könnte (16/2023).

picture alliance

Unita in Angola, war der wichtigste

Unterstützer Pol Pots, dessen Regime

nach heutigen Schätzungen mindestens

20 Prozent der kambodschanischen

Bevölkerung zum Opfer fielen, und

griff 1979 Vietnam an.

Es bleibt, sofern man die Schwächung

der USA und der EU nicht als Selbstzweck

gutheißt, unklar, was China als

Weltmacht Positives bewirken könnte.

Auch viele Linke scheinen die chinesische

Effizienz zu bewundern, die allerdings

auf dem Verbot freier Gewerkschaften

und einem strikten Überwachungsregime

beruht. Das chinesische

Modell hat Anziehungskraft auf

Linke mit autoritären Sehnsüchten. Früher

pries man die als kämpferischen

Kollektivgeist missverstandene stalinistische

Rücksichtslosigkeit, geblieben

ist eine Bewunderung für die Absage

an den »westlichen« Individualismus.

Eine bemerkenswerte Überschneidung

mit der konservativen China-

Bewunderung zeigte sich beispielsweise

bei Hans Modrow (Linkspartei), der

immer wieder das chinesische Streben

nach »Harmonie« lobte. Vermeintliche

Harmonie kann in einer hierarchischen

Gesellschaft nur durch Unterordnung

hergestellt werden, Xi Jinping

zufolge sind traditionelle Familienwerte

eine »wichtige Grundlage« der

»sozialen Harmonie«. Tianxia ist auch

ein innenpolitisches Ordnungsprinzip

der patriarchalen Herrschaft.

Die kaiserlichen »Himmelssöhne«

erwarteten von tributpflichtigen Staaten

auch die Anwendung chinesischer

Regierungsprinzipien. In dieser Hinsicht

hält China sich bislang zurück,

doch auch ohne Missionseifer stärkt

der Aufstieg des Landes andere Diktaturen.

So dürftig die Fortschritte in der

westlichen Außenpolitik sind – in Handelsverträgen

finden nunmehr auch Gewerkschaftsfreiheit

und Umweltschutz

Erwähnung. China stellt keine derartigen

Bedingungen und gewinnt damit

einen Wettbewerbsvorteil.

Ob die chinesische Regierung sich in

Zukunft offensiv gegen demokratische

Regierungsformen wenden und ihre

Interessen militärisch durchsetzen

wird, ist noch unklar. Die Probe aufs

Exempel dürfte der Umgang mit Taiwan

sein. Entscheidet sich China trotz

der immensen politischen und ökonomischen

Folgeschäden für eine Invasion,

ist militärische Aggression auch

bei anderen Konflikten zu erwarten,

etwa beim Streit mit Nachbarstaaten

um Inseln im Südchinesischen Meer.

Welche Rolle China als Weltmacht

spielen kann, hängt aber auch von der

innenpolitischen Entwicklung ab. Die

dauerhafte Stabilität des Herrschaftssystems

muss sich erst noch erweisen.

Dessen Grundprobleme sind die Mischung

aus Kommandowirtschaft und

privater Akkumulation sowie die Notwendigkeit,

eine weitgehend rechtlose

Bevölkerung nicht nur zu kontrollieren,

sondern auch zu ständig steigender

Produktivität zu zwingen.

Die chinesische Regierung behauptet,

die absolute Armut 2021 beseitigt zu

haben. Überprüfbar ist diese pünktlich

zum 100jährigen Jubiläum der KPCh

verkündete Erfolgsmeldung nicht, zweifellos

aber gibt es weitverbreitete relative

Armut. Die mit dem Gini-Koeffizienten

gemessene soziale Ungleichheit

hat den meisten Schätzungen zufolge

0,4 deutlich überschritten und ist

damit größer als in Deutschland oder

den USA – und es gibt 969 Milliardär:innen,

mehr als in jedem anderen

Land der Welt.

Die immense private Akkumulation

ist keine unmittelbare Gefahr für das

Regime. Die derzeit praktizierte Methode,

unbotmäßige Milliardäre für einige

Zeit verschwinden und dann geläutert

wieder auftauchen zu lassen, dürfte

aber auf Dauer nicht ausreichen. Jede

derartige Internierung birgt das Potential

eines Crashs auf dem Aktienmarkt.

Diese Gefahr lässt sich ebenso wenig

wegkommandieren wie der grundlegende

Widerspruch zwischen der Durchsetzung

staatlicher Ziele und privater

Investitionstätigkeit, die stets nach

dem höchstmöglichen Profit strebt.

Der Mehrheit der Bevölkerung scheint

derzeit das Versprechen des sozialen

Aufstiegs noch zu genügen. Zudem ist

der Ausbau des Überwachungssystems

mit seiner Bewertung des Alltagsverhaltens

ein neues Kontrollinstrument,

dessen Auswirkungen verheerend

sein könnten. Andererseits ist seine

Existenz der beste Beweis dafür, dass

sich die KPCh ihrer Legitimation und

der »Harmonie« nicht so sicher ist,

wie sie behauptet.

Deng Xiaoping, Ende der siebziger

Jahre de facto der Machthaber Chinas,

sagte zum Auftakt der Privatisierungspolitik:

»Es ist egal, ob eine Katze

schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie

fängt Mäuse.« Autoritäre Herrscher

betrachten die Welt aus der Raubtierperspektive.

Lohnabhängige nicht nur in

China sollten sich daher keine Illusionen

machen. Sie sind die Mäuse – und

die Katze geht nun auch in der Nachbarschaft

auf die Jagd.

DISKO ∎∎∎ SEITE 18

27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17


Risse im Regenbogen

Deutsches Haus

In Wien hat ein rechtsextremer Mob versucht, die Kinderbuchlesung

einer Drag Queen zu stören. Österreichische Rechtsextreme hetzen seit

einiger Zeit verstärkt gegen LGBT-Personen.

Von Bernhard Torsch

Ein Großaufgebot der Polizei war nötig,

um die beiden Seiten voneinander zu

trennen. Ein rechtsextremer Mob hatte

in Wien am Sonntag, dem 16. April,

versucht, die Kinderbuchlesung einer

Drag Queen im LGBT-Community-

Zentrum »Türkis Rosa Lila Villa« zu verhindern.

Den etwa 100 Rechtsextremen

– bestehend aus Identitären, FPÖ-

Vertretern und fundamentalistischen

Christen – standen deutlich mehr Gegendemonstranten

gegenüber. An jenem

Sonntag wurde einmal mehr deutlich,

dass auch Österreichs rechte Szene

inzwischen mit der Wahnidee Hetze

betreibt, LGBT-Personen verdürben Kinder

durch »Frühsexualisierung«.

Dabei hatte es zuvor auch in Österreich

Fortschritte im Kampf gegen

Homophobie gegeben. Seit dem 1. Januar

2019 dürfen Paare dort heiraten, egal

welches Geschlecht die Partner haben.

Diskriminierung aufgrund der sexuellen

Orientierung ist seit 2004 verboten.

Bereits 2002 war, nach mehreren entsprechenden

Urteilen des Europäischen

Gerichtshofs für Menschenrechte, das

sogenannte Schutzalter für Homosexuelle

jenem für Heterosexuelle angepasst

worden. Etliche Prominente hatten

sich seit der Jahrtausendwende

geoutet, Homo- und Transsexualität

wurde immer mehr als zur gesellschaftlichen

Normalität gehörend wahrgenommen,

Heterosexuelle und ihre queeren

Freund:innen guckten zusammen

den Eurovision Song Contest und hatten

dabei eine Gaudi, und sogar die FPÖ

hielt sich mit homophoben Attacken,

zumindest auf Ebene der Bundespolitik,

zurück.

Aber während dieser Phase der Liberalisierung

braute sich unbemerkt

von der breiten Öffentlichkeit etwas zusammen.

Rechte und rechtsextreme

Kreise, darunter federführend Alt- und

Neonazis sowie christliche Fundamenta

list:innen, hatten sich mit der gesellschaftlichen

Liberalisierung seit 1968

nie abgefunden.

In Kärnten organisierte die FPÖ-Politikerin

Kriemhild Trattnig politische

Veranstaltungen, auf denen sie gegen

die Frankfurter Schule und namentlich

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer

wetterte. Trattnig machte sie für die

»Zerstörung von Natur und Familie«

verantwortlich und warf ihnen vor, »Homosexualität

und Kinderschändung«

zu propagieren. Darin folgte Trattnig

den Thesen ihres Idols Christa Meves,

einer deutschen Kinderpsychologin, die

seit den frühen siebziger Jahren einen

publizistischen Kreuzzug gegen die

Sexualaufklärung von Kindern führte

und den heutzutage von Rechten so

gern verwendeten negativ konnotierten

Begriff der »Frühsexualisierung«

populär machte. Meves wiederum war

vom Nazi-Arzt und Euthanasietäter

Werner Villinger inspiriert, in dessen

unwissenschaftlichen Pamphleten

aus den zwanziger Jahren der Begriff

»Frühsexualisierung« erstmals auftauchte.

Trattnig gilt als eine der ideologischen

Bezugsfiguren der Identitären Bewegung

Österreich (IBÖ). Diese hetzt nicht

allein gegen Zuwanderung, sondern

auch gegen nichtheterosexuelle Menschen

und Lebensentwürfe. Vergangenes

Jahr fuhr die IB im Juni, als weltweit

im Zuge des Pride Month Demonstrationen

für LGBT-Rechte stattfanden,

die Kampagne »Patriot Month statt Pride

Month« (Jungle World 26/2022 )

Die Identitären sind seit der Offenlegung

ihrer Verbindungen zu einem

rechtsterroristischen Massenmörder

insgesamt stiller geworden – der Attentäter,

der in zwei Moscheen im neuseeländischen

Christchurch 51 Menschen

tötete, hatte mehrere Tausend Euro

an die österreichischen Identitären gespendet

(Jungle World 14/2019). Doch

im Zuge der Covid-19-Pandemie fanden

viele Rechtsextremisten ein neues

Reizthema und neue Verbündete. Zum

klassischen neonazistischen Milieu

war ein bunter Haufen an christlichen

Fanatikern und Verschwörungstheoretikerinnen

hinzugekommen, der auf

wöchentlichen Demonstrationen seinen

Wahn in die Welt brüllte. Zentral

auch bei den Seuchentodbefürwortern:

Homophobie. So zerriss die Szenegröße

Jennifer Klauninger bei einer Coronademonstration

am 5. September

2020 auf offener Bühne und unter großem

Jubel eine Regenbogenfahne,

wobei sie rief: »Ihr seid kein Teil der Gesellschaft!

Wir müssen unsere Kinder

vor Kinderschändern schützen!«

Von der Öffentlichkeit weitgehend

unbeachtet hatten in Österreich seit

Ende der neunziger Jahre evangelikale

Freikirchen und rechtskatholische

Sekten wie Opus Dei und Engelwerk

ihre Aktivitäten intensiviert. Diese

religiös-fundamentalistischen Kräfte

werben gezielt um einsame und verwirrte

Menschen, die sich von der Moderne

überfordert fühlen.

In solchen Milieus verbreiteten sich

Wahnvorstellung einer »satanischen

Verschwörung« einer »globalistischen

Elite«. Es gebe eine Weltverschwörung

mit dem Ziel, Kinder zu pervertieren

oder gar gleich dem Teufel zu opfern.

Hinter Euphemismen wie »Globalisten«

steckt nichts anderes als blanker Antisemitismus.

Als das Internet und vor

allem die sozialen Medien um das Jahr

2010 ihren Siegeszug begannen, vermischten

sich christlicher und neonazistischer

Antisemitismus. Mit dem Vehikel

des »Kinderschutzes« konnten sie

seither erheblich an Verbreitung gewinnen.

Ironischerweise sind die Hassreden

gegen die »Globalisten« weltweit

fast identisch. Ob in den Appalachen

oder in Ungarn, überall wettern

sie gegen »pädophile Eliten«, »Frühsexualisierung«

oder, was alle Ressentiments

zusammenfasst, die »Gender-

Ideologie«.

Die FPÖ hatte sich lange mit offener

homophober Hetze zurückgehalten.

Das lag womöglich auch am Wirken von

Jörg Haider, der in den Achtzigern die

Renaissance der österreichischen Rechten

einleitete. Unter Freiheitlichen galt

lange die Marschrichtung: Gegen alles

hetzen, außer gegen Schwule. Seit

Haiders Unfalltod 2008, und seit in der

FPÖ wieder Rechtsextreme der alten

Schule das Sagen haben, hat sich das

wieder geändert. Der oberösterreichische

FPÖ-Vorsitzende Manfred Haimbuchner

zum Beispiel ließ auf Facebook

ein Sharepic posten, auf dem neben

seinem Foto zu lesen stand: »Ich

will nicht, dass der Franz den Lois heiratet,

um den Sepp zu adoptieren.« Das

mag man unfreiwillig komisch finden,

aber die gefährlichen Zutaten sind alle

da, vor allem auch die Andeutung,

homosexuelle Paare würden Kinder zum

Zwecke des »Grooming« adoptieren,

also um sich die Gelegenheit zu verschaffen,

sie sexuell zu missbrauchen.

Noch sieht es laut Meinungsumfragen

danach aus, dass die große Mehrheit

in Österreich nicht zurück will in

Zeiten, in denen LGBT-Menschen strafrechtlich

verfolgt und gesellschaftlich

diskriminiert wurden. Der »Europäischen

Wertestudie« der Universität

Wien zufolge ist die Akzeptanz für Homosexualität

deutlich gewachsen.

1990 hatten noch 40 Prozent der Befragten

angegeben, sie hätten Homosexuelle

nicht gerne als Nachbarn, 2008 waren

es noch 25 Prozent und 2018 nur

noch 13 Prozent. Aber wie Beispiele aus

den USA, Ungarn und anderen Ländern

zeigen, braucht es für einen gesellschaftspolitischen

Rollback keine

Mehrheit, sondern bloß eine kritische

Masse.

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Ein Bild vom Spiel des 1. FC Köln gegen den

FSV Mainz vom 15. April sorgte im Nachhinein

in den sozialen Netzwerken für Unruhe.

T-Online berichtete von einem Stadionbesucher,

auf dessen Trikot statt eines Spielernamens

»Handgranate« und als Spielernummer

die Zahl »88« zu lesen war – unter

Rechtsextremen ein bekannter Code für

»Heil Hitler«. Die Stellen des Vereins seien

bereits informiert worden. Am 15. April hat

einer Pressemitteilung der Polizei zufolge

ein 38jähriger in Bremen-Neustadt eine

Polizistin rassistisch beleidigt; dort heißt

es, die Einsatzkräfte seien gegen 21.30 Uhr in die Roßbachstraße

gerufen worden, weil ein Mann dort randaliert habe. Bei der Sachverhaltsaufnahme

habe der Mann eine Polizistin mehrfach rassistisch

beleidigt. Zudem habe er Adolf Hitler und den Holocaust verherrlicht.

Der Mann war nach Angaben der Polizei alkoholisiert.

In der Nacht des 15. Aprils wurde nach Angaben der Polizei ein 22jähriger

Afghane beim Verlassen einer Toilette in der Regensburger

Maximilianstraße von vier Personen angegriffen. Der Betroffene

habe es geschafft, leicht verletzt zu fliehen und einen Notruf abzusetzen.

Die Polizei schließt eine politische Motivation der Tatverdächtigen

nicht aus. Am 18. April habe eine Frau einen 23jährigen

in einer Berliner U-Bahn rassistisch beleidigt, berichtete der Tagesspiegel.

Der Betroffene sei am Mehringdamm in die Bahn zugestiegen,

in der die Frau bereits geschrien und andere Gäste beleidigt

haben soll. Als er sie um Ruhe gebeten habe, habe sie ihn rassistisch

beleidigt und bespuckt. Am Mittag des 22. April hat ein 34jähriger

Mann auf dem Universitätsplatz in Rostock einen 44jährigen

Eritreer der Polizei zufolge »ausländerfeindlich« beleidigt und außerdem

versucht, ihn anzugreifen. Der 34jährige, der der Polizei

zufolge betrunken war, erhielt einen Platzverweis und eine Anzeige

wegen Bedrohung, Beleidigung, versuchter Körperverletzung und

wegen des Verwendens verfassungsfeindlicher Symbole. Kurz darauf

kehrte der Mann auf den Platz zurück und schlug dem 44jährigen

zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht. Der 34jährige wurde

daraufhin festgenommen. pb

Action

Donnerstag, 27. April

Leipzig. »Klaus Bittermann liest Wolfgang

Pohrt«. Klaus Bittermann liest

Briefe und Mails von Wolfgang Pohrt.

Naumanns Gaststube, Karl-Heine-

Straße 32, um 19 Uhr.

Samstag, 29. April

Bremen. »Alfred Sohn-Rethel. Ökonomie und Klassenstruktur des

deutschen Faschismus«. Wochenendseminar mit Moritz Zeiler.

Infoladen, St.-Pauli-Straße 10–12, um 11 Uhr. Anmeldung unter:

mail@talpe.org.

Mannheim. »Kritik der Bedürfnisse«. Workshop mit einleitendem

Referat von Thomas Ebermann. Jugendkulturzentrum Forum,

Neckarpromenade 46, um 11 Uhr. Anmeldung bis zum 15. April erforderlich

unter: info@ak-gegen-antisemitismus-und-antizionismus.net

Dienstag, 2. Mai

Hamburg. »Die feministische Revolution gegen das Mullah-Regime.

Wie die deutsche Iran-Politik sich ändern muss«. Vortrag und Diskussion

mit Ulrike Becker und Stephan Grigat. Gästehaus der Universität,

Rothenbaumchaussee 34, um 19 Uhr.

Mittwoch, 3. Mai

Dresden. »Das Unvermögen der Realität«. Vortrag und Diskussion

mit Roger Behrens. Objekt Klein A, Meschwitzstraße 9, um 19 Uhr.

Darmstadt. »Von Teheran nach Tel Aviv. Wie die Islamische Republik

Israel bedroht und wie die Beziehungen in Zukunft aussehen

könnten«. Vortrag und Diskussion mit Ulrike Becker. Schlosskeller,

Marktplatz 15, um 19.30 Uhr.

Impressum

Jungle World, Gneisenaustr. 33, 10961 Berlin

Fax (030) 747 86 26 79

Homepage http:// jungle.world

ISSN 1613-0766

Herausgegeben von Doris Akrap, Bernd Beier,

Christiane Bischoff, Ivo Bozic, Jesse Björn Buckler,

Tilman Clauß, Andreas Dietl, Irene Eidinger,

Holm Friebe, Richard Götz, Martin Hauptmann,

Holger Hinterseher, Julia Hoffmann, Sarah Käsmayr,

Stefanie Kron, Anton Landgraf, Felix Lösch,

Federica Matteoni, Carl Melchers, Martina

Mescher, Ferdinand Muggenthaler, Christine

Pfeifer, Georg Ramsperger, Tobias Rapp, Joachim

Rohloff, Stefan Rudnick, Dierk Saathoff, Eva

Schmid, Heiko von Schrenk, Stephanie Schoell,

Oliver Schott, Jörn Schulz, Tim Seidel, Regina Stötzel,

Markus Ströhlein, Isabel Teusch, Nicole Tomasek,

Udo Tremmel, Sam Tyson, Wolf-Dieter Vogel,

Elke Wittich, Deniz Yücel und anderen. Jungle

World erscheint in der Jungle World Verlags GmbH.

Redaktion CvD Bernd Beier (V.i.S.d.P.) (030)

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so sind die nicht aus ge händigten Teile –

und nur sie – dem Absender mit dem Grund der

Nicht aus hän digung zurückzusenden.

Donnerstag, 4. Mai

Bremen. »Wir lassen uns nicht unterkriegen. Junge jüdische Politik

in Deutschland«. Buchvorstellung und Diskussion mit Ruben Gerczikow

und Monty Ott. Kukoon, Buntentorsteinweg 29, um 19 Uhr.

Hannover. »Die Sehnsucht nach Identität. Zur Sozialpsychologie

eines affektiv hochbesetzten Konstrukts«. Vortrag und Diskussion

mit Rolf Pohl. Kulturzentrum Pavillon, Lister Meile 4, um 19 Uhr.

Stuttgart. »Russland zwischen Bandenherrschaft und Geopolitik.

Putins Racket-Staat im Krieg gegen die Ukraine«. Vortrag und

Diskussion mit Thorsten Fuchshuber. Stiftung Geißstraße 7, Geißstraße

7, um 19.30 Uhr.

Tipp der Woche

Sonntag, 30. April, Berlin. »Auf Spurensuche von Berliner Frauen

in der NS-Zeit zwischen Verfolgung und Widerstand«. Kiezspaziergang

in Marzahn mit der Gruppe Antifaschistinnen aus Anstand.

Gemessen an der Berliner Gesamtbevölkerung waren es nicht

viele, die gegen den Nationalsozialismus Widerstand geleistet und

Verfolgte unterstützt haben. Dennoch gab es sie. Wie aber wird

Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus im öffentlichen

Raum gedacht? Treffpunkt nach Anmeldung bis zum 29. April

über berlin.lokal@frauenwiderstand.de. Um 14 Uhr.

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

ANTIFA ∎∎∎ SEITE 19


Explosiver Erfolg

»Die Kategorie ›Muslim‹ ist

nur bedingt aussagekräftig«

Small Talk. Von Kai Schubert

Rakete zerstört, Startrampe beschädigt, gesundheitsschädlicher Feinstaub freigesetzt

– die durch Selbstzerstörung erfolgte Detonation des »Starship« von Space X

am 20. April schien ein Desaster zu sein. Der von Elon Musk geführte Konzern

gab jedoch auf seiner Website bekannt: »Erfolg kommt von dem, was wir lernen,

und wir haben sehr viel gelernt.«

REUTERS / Joe Skipper

Immer wieder wird über »muslimischen«, »arabischen«

und »migrantischen« Antisemitismus debattiert. Was

diese Begriffe genau bedeuten, ist dabei häufig unklar.

Der Mediendienst Integration veröffentlichte vergangene

Woche die Broschüre »Antisemitismus unter Menschen

mit Migrationshintergrund und Muslim*innen«,

in der die wichtigsten Studien zum Thema ausgewertet

werden. Die Jungle World sprach mit der verantwortlichen

Autorin, Sina Arnold von der TU Berlin.

Was sind die Probleme in der Berichterstattung

über Antisemitismus?

In der medialen Berichterstattung findet sich einerseits

eine – antirassistisch motivierte – Verharmlosung,

als gäbe es Antisemitismus nur unter weißen

Deutschen. Andererseits findet sich stärker noch

eine – rassistisch motivierte – Externalisierung, als

wäre Antisemitismus vor allem ein Problem von

Migrant:innen oder Muslim:innen. Diese Importthese

ist angesichts der Kontinuität des Antisemitismus

im Land der Täter natürlich absurd. Eine Studie unter

mehr als 500 Juden und Jüdinnen in Deutschland

hat gezeigt, dass 84 Prozent finden, dass der Antisemitismus

auch ohne die – oft muslimischen – Geflüchteten

ein Problem in Deutschland ist.

Was sind die Haupterkenntnisse der von Ihnen

ausgewerteten Forschungsarbeiten?

Antisemitische Einstellungen sind in der ganzen

Gesellschaft weit verbreitet. Bei Menschen mit Migrationshintergrund

sowie bei Muslim:innen gibt es

einige Besonderheiten: Manche Studien zeigen niedrigere

Zustimmungswerte zu sekundärem Antisemitismus,

der die Shoah relativiert und die Auseinandersetzung

mit ihr abwehrt, aber höhere Zustimmung

zu israelbezogenem Antisemitismus. Gleichzeitig gilt

es zu betonen, dass die Kategorien »Migrationshintergrund«

oder »Muslim« nur bedingt aussagekräftig

sind. Während etwa 25 Prozent der Sunnit:innen in

Deutschland das Judentum als Bedrohung wahrnehmen,

sind es unter Schi it:in nen 13 Prozent.

Bei Christen in

Deutschland

ist dieser Wert geringer, laut Religionsmonitor

acht Prozent. Muslime weisen Ihrer Broschüre zufolge

zudem höhere Zustimmungswerte bei sogenanntem

klassischem Antisemitismus auf, also

bei Vorurteilen über Juden als Gruppe. Warum

sind Kategorien wie »Muslim« und »Migrationshintergrund«

aber Ihrer Ansicht nach wenig

aussagekräftig?

Beim Migrationshintergrund gibt es große Unterschiede

zwischen Herkunftsländern sowie nach

Staatsbürgerschaft und Generation. Eingebürgerte

stimmen antisemitischen Aussagen seltener zu als

Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Und

mit der Länge des Aufenthalts in Deutschland

nimmt die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen

ab. Anstatt über »die Muslime« zu sprechen,

muss man in politischen und medialen Debatten

also stark differenzieren.

Bei antisemitischen Vorfällen gibt es eine auffällige

Diskrepanz: Es werden vergleichsweise wenige

Taten im Bereich des islamischen Antisemitismus

registriert, sowohl von der Polizei als auch

von zivilgesellschaftlichen Beobachtungsstellen.

Gleichzeit geben von antisemitischer Gewalt

Betroffene in Umfragen häufig Muslime als Täter

an. Sie deuten an, diese Identifizierung könne in

einigen Fällen womöglich unzutreffend sein – gibt

es noch andere mögliche Erklärungen für die

Diskrepanz?

Wenn sich jemand nicht eindeutig als Muslim identifiziert

– etwa durch entsprechende Kleidungsstücke

oder Aussagen –, dann kann man von außen ja nicht

sehen, woran die Person glaubt. Die Polizei erfasst

bei Tatverdächtigen nicht die Religionszugehörigkeit,

sondern die mutmaßliche Ideologie hinter der Tat.

Im Zweifelsfall klassifiziert sie antisemitische Straftaten

oft als »rechtsextrem«. Deshalb müssen auch

diese Zahlen stets mit Vorsicht genossen werden.

»Da gehört aber auch … Da gehört halt

auch … ich weiß nicht. Die Sachen, die uns

jetzt gerade abgehen.« Thomas Tuchel,

Trainer des FC Bayern München

Abstrakte Schönheit

Laborbericht. Von Svenna Triebler

»Mathe habe ich schon immer gehasst.« Selbst in bildungsbürgerlichen

Kreisen erntet man mit diesem

Satz zumeist emphatische Zustimmung – man stelle

sich die Reaktionen vor, wenn man das Gleiche über

das Lesen sagen würde. Die »Königin der Wissenschaften«

hat offensichtlich ein Imageproblem, und hartnäckig

halten sich Vorurteile, die Disziplin sei kompliziert

oder man müsse eben ein Talent dafür haben.

Das dürfte weniger an der Mathematik selbst liegen,

deren strikte Logik zumindest den Einstieg eigentlich

leicht machen sollte (zugegeben: Später kann es

etwas unübersichtlich werden, wenn man es beispielsweise

mit partiellen Differentialgleichungen zu

tun bekommt) als vielmehr an der Art des Unterrichts.

Wer wenigstens in der Oberstufe mal in den

intellektuellen Genuss eines selbst geführten Beweises

kommt, statt stur Aufgaben nach Schema F zu

lösen, darf sich da schon glücklich schätzen.

Die Hälfte der schulpflichtigen Bevölkerung ist zudem

noch immer mit Klischees konfrontiert, die

nicht selten zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden.

Die vergiftete Gratulation des Schulleiters zum

mündlichen Mathe-Abitur – »13 Punkte, und das bei

einem Mädchen!« – klingt der Autorin bis heute im

Ohr.

Die allgemeine Mathemuffligkeit zieht sich bis

ins Wissenschaftsfeuilleton der großen Medien. Dabei

hat die Welt der Formeln nicht nur jede Menge

ab strakte Schönheit, sondern manchmal auch kleine

Sensationen zu bieten: So gelang es offenbar jüngst

zwei Schülerinnen einer High School in New Orleans,

den Satz des Pythagoras mittels Trigonometrie zu

beweisen. Die einzige Meldung im deutschsprachigen

Raum dazu brachte

das österreichische Portal

Oe24 (und schrieb

konsequent von »Schülern«,

q. e. d.).

Wer sich auch nur

bruchstückhaft an den

Matheunterricht erinnert,

weiß, dass es sowohl

beim altbekannten

a² + b² = c² als auch bei Sinus und Cosinus um Dreiecke

geht. Letztlich basiert die Trigonometrie auf

dem ollen Pythagoras, weshalb es bislang gängige

Lehrmeinung war, dass der Versuch, das eine durch

das andere zu beweisen, zu unzulässigen Zirkelschlüssen

führen müsse.

Das wollten die Zwölftklässlerinnen Calcea Johnson

und Ne’Kiya Jackson, ermuntert von engagierten

Lehrerinnen, nicht als unumstößliche Wahrheit hinnehmen.

Ob ihr Gegenbeweis wasserdicht ist, muss

noch eine wissenschaftliche Begutachtung zeigen;

immerhin fanden die Teilnehmenden einer Konferenz

der American Mathematical Society, auf der

die Teenager als einzige Nichtakademikerinnen ihre

Arbeit vorstellten, schon mal keine Fehler.

Junge Frauen, schwarze zumal, die sich mit höherer

Mathematik beschäftigen – das könnte für so

manche in den USA zu woke sein. Ob der Satz des Pythagoras

deshalb wohl demnächst in den republikanisch

regierten Bundesstaaten von den Lehrplänen

verbannt wird?

Korruptes Quartett

Porträt. Von Margit Hildebrandt

Alejandro Toledo, von 2001 bis 2006 Präsident Perus,

muss sich als Letzter in einer Reihe von ehemaligen

Staatsoberhäuptern des Lands vor Gericht verantworten.

Er wird beschuldigt, Teil der »Operation Lava

Jato« (Autowäsche), einem der größten Korruptionsskandale

Lateinamerikas, zu sein und von den brasilianischen

Unternehmen Camargo Corrêa und Odebrecht

einen US-Dollarbetrag in zweistelliger Millionenhöhe

für den Bau der Interozeanischen Autobahn

Alejandro Toledo

zwischen Peru und Brasilien angenommen zu haben (Jungle World 8/2017). Das

Geld soll er dem Online-Portal Perú Reports zufolge zur Abzahlung privater Hypotheken

und zum Kauf von Luxusimmobilien im Namen seiner Schwiegermutter

verwendet haben. 2017 erließ ein peruanischer Richter einen internationalen

Haftbefehl gegen Toledo. Peru beantragte bereits 2018 seine Auslieferung aus den

USA, wo er 2019 festgenommen wurde; am Sonntag wurde er ausgeliefert. Die

Staatsanwaltschaft fordert eine Haftstrafe von 20 Jahren.

Toledo bestreitet die Vorwürfe und besteht darauf, dass er in Peru keinen fairen

Prozess erhalten werde. Er war der erste demokratisch gewählte Präsident nach

der autoritären Herrschaft Alberto Fujimoris, der den Kongress aufgelöst und einen

brutalen Feldzug gegen die Guerillaorganisationen Sendero Luminoso und MRTA

geführt hatte. Im damaligen Wahlkampf hatte der indigene Toledo einen »Bruch

mit der Vergangenheit« angekündigt, besonders was die Vetternwirtschaft unter

dem Fujimori-Regime anbetraf. Er entschuldigte sich öffentlich für die von der

Armee begangenen Menschenrechtsverletzungen.

Toledo sitzt nun in Untersuchungshaft im Barbadillo-Gefängnis in Lima – in

illustrer Gesellschaft. Zwei ehemalige peruanische Präsidenten sind hier bereits

inhaftiert: Fujimori seit 2009 für 25 Jahre wegen Menschenrechtsverletzungen,

Pedro Castillo wegen des Versuchs, im Dezember den Kongress Perus aufzulösen,

was zu Kämpfen führte und das Land in eine Krise stürzte. Gegen den ehemaligen

Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski wird ebenfalls wegen Geldwäsche ermittelt.

Alan García, der Toledo von 2006 bis 2011 als Präsident folgte, nahm sich das

Leben, als die Polizei ihn 2019 verhaften wollte. Toledos Anwalt in den USA, David

Bowker, hatte die Ermittlungen als »politische Verfolgung« bezeichnet.

Wikimedia Commons

HOTSPOT ∎∎∎ SEITE 20

27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17


dschungel

#

# 17 x

2023

Studio Julian Rosefeldt, Berlin

Jens Winter sieht sich die Ausstellung »When We Are Gone« mit Arbeiten von

Julian Rosefeldt in der Völklinger Hütte an ∎ Tobias Prüwer verteidigt Darren Aronofskys

»The Whale« gegen den Vorwurf, Fat Shaming zu betreiben ∎ Charlie Bendisch spricht

mit der Literaturwissenschaftlerin Julia Ingold darüber, wie literaturpreiswürdig Deutschrap

ist ∎∎∎ Essay: Ely Ora lässt die Geschichte des 1. Mai in Kreuzberg Revue passieren


Zum Weltuntergang

läuft Ambient-Pop

Die Ausstellung »When We Are Gone« in der Völklinger Hütte zeigt die opulenten Videoinstallationen

des Medienkünstlers Julian Rosefeldt. Diese erzählen die Geschichte des Kapitalismus von ihrem Ende her.

Von Jens Winter

Titelbild:

Banker außer Rand und

Band. »Euphoria«, 2022

Seiten 2 und 3:

Der Tiger, der mit der

Stimme von Cate

Blanchett im Supermarkt

Adorno zitiert.

»Euphoria«, 2022

Studio Julian Rosefeldt, Berlin

DSCHUNGEL ∎∎∎ SEITE 2

27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

SEITE 3 ∎∎∎ DSCHUNGEL



Studio Julian Rosefeldt, Berlin

Studio Julian Rosefeldt, Berlin

Gangsterballett im Berliner Westhafen. »The Swap«, 2015

Ein Hauch von »Cabaret«. »Deep Gold«, 2013/2014

Man sollte auf jeden

Fall, wenn

man vom Bahnhof

kommt, zuerst

nach rechts durch

das Tor mit der Aufschrift »Biergarten«

gehen. Nach einem 500 Meter

langen Fußweg, vorbei an grauen,

kasernenartigen Betonwänden, findet

man zwar keinen Biergarten, es eröffnet

sich jedoch ein Panorama, das

man so schnell nicht vergisst. Die

Völklinger Hütte, Unesco-Weltkulturerbe,

reckt ihre sechs Hochofengruppen,

ummantelt von einem gigantischen

Geflecht aus stählernen

Rohren und Gittern, in den Himmel

des Saarlands. Hier wurden 103 Jahre

lang Erz und Koks in Roheisen verwandelt.

1986 ist aus der Anlage

nahe Saarbrücken ein Industriedenkmal

und Kulturort geworden; die

Gebläsehalle dient als Ausstellungsraum.

Noch bis 3. September ist darin

die Ausstellung »When We Are Gone«

mit Arbeiten des Medienkünstlers

Julian Rosefeldt zu sehen.

Die Gigantomanie des Ortes findet

ihre Entsprechung im Werk des

Künstlers. Rosefeldt hat sich in der

Medienkunst durch opulente Videoarbeiten

zu den großen Themen Kapitalismus

und Globalisierung einen

Namen gemacht. Seine Multi-Screen-

Installationen, die mehrere Videos

parallel zeigen und zu einem großen

Ganzen verbinden, bauen auf der

Technik der Collage und auf Verfremdungseffekten

auf.

Aufsehen erregte sein Werk »Manifesto«

aus dem Jahr 2015. Auf 13 Bildschirmen

sah und hörte man der

Schauspielerin Cate Blanchett in 13 verschiedenen

Rollen vor eindrücklichen

Kulissen dabei zu, wie sie nach

Themen zusammengestellte Manifeste

vortrug. Die kostspielige Produktion

mit origineller Idee und Starbesetzung

war ein beeindruckendes Erlebnis.

An der in Rosefeldts Filminstallation dargestellten

Kapitalismuskritik ist nichts mehr echt. Sie

läuft in Dauerschleife, ist austauschbar und in ihrer

Warenförmigkeit längst Teil dessen, was sie kritisiert.

Die Ausstellung »When We Are

Gone« versucht, Kapitalismuskritik

mit dem Begriff des Anthropozäns

zu verbinden. So geht das Hauptwerk

»Euphoria« der Frage nach, warum

der Kapitalismus »so verführerisch

und erfolgreich ist«. Der Filminstallation,

die 2022 auf der Ruhrtriennale

zur Uraufführung kam, werden sechs

weitere zur Seite gestellt. In der Zusammenschau

sollen sie vor dem

Hintergrund des untergegangen Industriestandorts

der Völklinger Hütte

ein »eindrucksvolles Panorama des

Anthropozäns« erfahrbar machen.

Vor den wuchtigen Schwungrädern

der Gebläsehalle, die einst Luft in

die Hochöfen pusteten, beginnt der

durchdacht kuratierte Rundgang.

Die Filminstallation »Deep Gold«

(2013/2014), die ihren Protagonisten

durch die Roaring Twenties begleitet,

kündigt die großen Themen und

Techniken der Ausstellung an: Weltuntergang,

Verfremdung, Zitat und

Collage.

In dem im Berliner Westhafen gedrehten

»The Swap« (2015) kommt

der Kapitalismus ins Spiel. Der Kurzfilm

möchte auf die »faktische Absurdität

der undurchschaubaren Finanztransaktionen

des globalen

Handels« hinweisen. Darin sind stereotype

Gangsterfiguren zu sehen,

denen es in einer komplizierten und

sinnlosen Choreographie nicht gelingt,

einen Handel abzuwickeln.

Über die Finanzbranche erfährt man

wenig, dafür aber über ein bestimmtes

Verständnis derselben: Der Finanzmarktkapitalismus

erscheint als

Auswuchs krimineller Praktiken.

Diese verkürzte Form der Kapitalismuskritik

durchzieht die gesamte

Ausstellung. Insbesondere die Filminstallation

»Euphoria«bedient sich

dieses Musters. In einem imposanten

hohen Raum läuft der Hauptfilm auf

der großen Leinwand. Über im Raum

platzierte Bildschirme flimmern ein

Kinderchor und ein Schlagzeug.

Die große Leinwand zeigt derweil

»marginalisierte Figuren unserer Gegenwart«

(Pressemitteilung), die vor

apokalyptischen Kulissen über die Welt

und den Kapitalismus philosophieren.

Rosefeldt legt den Personen Zitate aus

Wissenschaft und Popkultur in den

Mund. In einer verfallenen Halle räsonieren

vor ausrangierten Bussen jugendliche

Skateboarder im Stile Donna

Haraways über die Kraft des Geschichtenerzählens.

Ein animierter Tiger

mit der Stimme von Cate Blanchett

schleicht durch einen menschenleeren

Supermarkt. Der Schauspieler Giancarlo

Esposito fährt im Taxi durch die

Straßen eines endzeitlich anmutenden

New York, seinem Fahrgast hält er

einen Vortrag über die Verkommenheit

des Kapitalismus und zitiert Dialoge

aus dem Film »Fight Club«

(1999). Doch nicht nur das Gesprochene,

auch die Szene selbst ist ein Zitat:

Esposito kennt man aus Jim Jarmuschs

Episodenfilm »Night on Earth« von

1991, in dem er sowohl Fahrgast als

auch Fahrer eines Taxis ist.

Kritik als Zitat des Zitats. An dieser

Kapitalismuskritik ist nichts mehr

echt. Sie läuft in Dauerschleife, ist

austauschbar und in ihrer Warenförmigkeit

längst Teil dessen, was sie

kritisiert. Mit seiner Zitattechnik steht

Rosefeldt in der Tradition einer audiovisuellen

Kunst, die die Übersättigung

durch Medienkonsum medial

zu adressieren versucht. Ihres

ursprünglichen Kontexts ebenso beraubt

wie die »Marginalisierten«,

die bloß Hüllen ohne eine eigene erzählenswerte

Geschichte darstellen,

verweisen die Zitate auf nichts als ihre

eigene Austauschbarkeit. Der anschwellende

Gesang des Kinderchors,

der die Szenen auf dem Hauptbildschirm

begleitet, verleiht der systemkritischen

Mimikry rituellen Ernst.

Ein Abgesang oder ein Neuanfang –

die Installation lässt diese Frage

offen.

Die meditativen Videoinstallationen

»In the Land of Drought«

(2015/2017) und »Penumbra« sind

ein Abgesang auf das Anthropozän,

auf das, was nach dem Zeitalter von

»Euphoria« kommen wird. Der Ausblick

ist düster: »In the Land of

Der in Berlin lebende Künstler Julian Rosefeldt studierte Architektur

in München und Barcelona. Ausgehend von der Geschichte des Films,

der Kunst und der Populärkultur verwendet Rosefeldt filmische Inhalte,

die er surreal verfremdet. Oft setzt er Humor und Satire ein, um

zu irritieren. In den vergangenen Jahren hat er sich vermehrt den großen

Themen der Gegenwart zugewandt und dazu Künstlermanifeste

ebenso wie Zeit- und Raumvorstellungen befragt. Sein besonderes

Interesse gilt neben Kunst und Film dem Theater und der Musik. Rosefeldt

hat seit 2011 eine Professur für Medienkunst an der Akademie

der Bildenden Künste in München inne.

Drought« zeigt Drohnenaufnahmen

von postapokalyptisch anmutenden

Landschaften, die von einem

fremden, unbewohnten Planeten zu

kommen scheinen, überfliegt Filmkulissen

antiker Städte in Nordafrika

sowie die Kohlenhalden des Ruhrgebiets.

Dazu erklingt Ambient-Musik.

Der kurze Film »Penumbra«,

der in der Schau seine Premiere hat,

schließt mit einem tranceartigen

Weltuntergangs-Rave.

Vermutlich gibt es für diese bildhaft

verknappte Kapitalismuskritik

kaum einen besseren Ort als die Ruine

der Stahlindustrie in der Völklinger

Hütte. Ein letztes Mal erheben

sich auf den Resten der alten Industriegesellschaft

die marginalisierten

Träume von einer besseren Welt, die

das große Ganze verändern wollen.

Was hier aufgeworfen wird, ist die Frage,

ob eine Kapitalismus- und Systemkritik

denkbar ist, die nicht einfach

ein »gutes Ich« gegen die

»böse Welt« stellt.

Julian Rosefeldt: When We Are Gone. Weltkulturerbe

Völklinger Hütte. Bis 3. September

DSCHUNGEL ∎∎∎ SEITE 4

27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

SEITE 5 ∎∎∎ DSCHUNGEL



Jenseits des Regenbogens. Charlie (Brendan Fraser) lebt isoliert in seiner Wohnung in Idaho

Existentiell

bedroht

Darren Aronofskys Spielfilm »The Whale« hat eine Kontroverse über

Fat Shaming ausgelöst. Aber selbst die Kritiker des Films loben den

Hauptdarsteller für seine unter die Haut gehende Darstellung eines

stark depressiven Menschen. Von Tobias Prüwer

© Courtesy of A24

»Am traurigsten fühlte ich mich,

als ich die langweiligen Kapitel las,

die nur Beschreibungen von Walen

enthielten. Weil ich wusste, dass uns

der Autor nur für eine Weile von seiner

eigenen langweiligen Geschichte

retten wollte.« Immer wieder liest

der übergewichtige Mann diese Sätze

in einem abgeranzten Hefter. Sie

scheinen sein Rettungsanker zu sein.

Warum sich der adipöse Charlie so

vehement an die Zeilen klammert, erkundet

der Film »The Whale« auf

berührend-beklemmende Weise. Der

US-amerikanische Regisseur Darren

Aronofsky entfaltet sein Drama um

einen 600 Pfund schweren Mann im

Stil eines intimen Kammerspiels,

das fast ausschließlich im Wohnzimmer

stattfindet. In der Rolle des depressiven

Englischlehrers brilliert der

wegen zahlreicher Krisen und einer

schweren Depression von vielen

bereits abgeschriebene Schauspieler

Brendan Fraser. Für die Rolle erhielt

er den Oscar, und zu Recht

wurde auch das Maskenbildnerteam

mit dem Preis ausgezeichnet.

»Warum schaltet er nie seine Kamera

ein?« Zu Beginn wundern sich

die Schüler in der Zoom-Konferenz,

warum sich ihr Nachhilfelehrer

Charlie nie via Webcam zeigt. Das hat

seinen Grund: Charlie leidet an

Adipositas und schämt sich dafür. Er

kann einfach nicht aufhören zu

essen, ja, er frisst sich irgendwo in

Idaho buchstäblich dem Tod entgegen.

Seine Wohnung kann er nicht

mehr verlassen, er bewegt sich darin

auch nur schwerfällig. Meistens

sitzt er auf der Couch. Fast Food liefert

der Bringdienst, Einkäufe übernimmt

die befreundete Krankenschwester

Liz, die weiß, dass Charlie

sterben wird, wenn er weitermacht

wie bisher. Auch um sein Selbstmitleid

zu überwinden, versucht Charlie,

mit seiner 17jährigen Tochter Ellie

Kontakt aufzunehmen, die bei ihrer

Mutter lebt. Er ködert das Mädchen

mit dem Angebot, ihr als Ghostwriter

bei einem Englisch-Aufsatz zu helfen.

Und erhält nun regelmäßig

Besuch von einer störrischen und

scharfzüngigen Teenagerin.

Dieser Film tut weh, gerade in den

heiteren Momenten. Wenn Charlie

lacht zum Beispiel und daran fast erstickt.

Jede Bewegung bereitet ihm

Schmerzen. Das stellt Regisseur Aronofsky

von Anfang an klar, wenn der

Lehrer nach Beendigung seines

Unterrichts zu einem Porno masturbiert

und dabei fast erstickt. Ironischerweise

tritt genau in dem Moment

ein junger Missionar durch die

stets offene Tür seines Zuhauses.

Die Haustür ist quasi Charlies Tor zur

Welt, die er nicht mehr betreten

kann – sie muss zu ihm kommen in

Form von Pizza oder in Gestalt von

Liz oder dem Laienprediger, der wie

aus dem Nichts auftaucht und ihn

aus dem Nahtod rettet. Der Film ist

voll solcher symbolischer Momente,

und natürlich legt der titelgebende

Wal literarische Deutungen nahe: Der

Wal steht für eine selbstzerstörerische

Jagd – wie bei Melville –, aber

auch für die Furcht vor dem Leben und

die mögliche Errettung – wie in der

biblischen Überlieferung.

Deutlich sind die Bezüge auf Jona,

der im Bauch eines Wals landet und

dadurch vor dem Ertrinken gerettet

wird. Charlie trauert um seinen verstorbenen

Lebensgefährten. Alan

starb an einer heimtückischen Krankheit

und konnte zuletzt keine Nahrung

mehr aufnehmen. Unfähig, sich

seine eigene Rolle beim Tod seines

Partners zu verzeihen, stopft Charlie

das Essen in sich hinein. Die Frage

nach Schuld und Verantwortung für

den anderen prägt die Dialoge mit

dem Missionar. Obgleich Charlie

nicht gläubig ist, sucht er nach einer

Art Erlösung, einer Transformation,

einem Neuanfang.

Auch Herman Melvilles Roman »Moby-Dick«,

auf den sich die eingangs

zitierten Zeilen beziehen, gibt eine

Dimension des Dramas vor. So wie

Kapitän Ahab voller Hass dem

weißen Wal nachjagen muss, der ihm

ein Bein abgerissen hatte, kann

Charlie seine Vergangenheit nicht loslassen.

Die schwierige Beziehung

zwischen Charlie und seiner Tochter

Ellie bildet den existentiellen

Konflikt des Films, den man erst

spät erfasst.

Fatsuits haben eine unrühmliche Tradition im

Hollywood-Kino, sie dienten zumeist dazu,

übergewichtige Charaktere in Komödienformaten

lächerlich zu machen.

Charlie ist ein Getriebener. Während

des ganzen Films ziehen sich dunkle

Wolken über dem grundsympathischen

Charakter zusammen. Der Film

ist perfekt konstruiert, die Dialoge

geschliffen, was einen Grund hat: Er

basiert auf dem gleichnamigen

Theaterstück von Samuel D. Hunter,

der auch das Drehbuch zum Film

geschrieben hat. In »The Whale« verarbeitet

er eine Phase seines Lebens,

als er selbst stark adipös war und unter

seinem Gewicht gelitten hat.

»The Whale« hat schnell eine Debatte

über Fat Shaming und die Legitimität

von Fatsuits zur Darstellung adipöser

Charaktere ausgelöst. »Ich kenne

viele Menschen, die übergewichtig,

glücklich und gesund sind, aber ich

war es nicht«, sagt Hunter im Interview

der Pressemitteilung. »Ich

hatte eine Menge unterdrückter Emotionen,

die aus meiner christlichfundamentalistisch

geprägten Jugend

stammten, in der meine Sexualität

auf hässliche Weise unterbunden wurde,

und das schlug sich in einer ungesunden

Beziehung zum Essen nieder.

Als ich ›The Whale‹ schrieb,

sprudelte das vermutlich alles aus

mir heraus.«

Wie das Bühnenstück setzt der Film

ganz auf die körperliche Präsenz und

den sprachlichen Vortrag des schwerst

depressiven Protagonisten. Vor allem

in den vielen Close-ups, bei denen

man jedes Äderchen an seinem Hals

pulsieren sieht, kommt man Charlie

ganz nah. Fraser gelingt es, nicht nur

mit der Mimik zu überzeugen. Auch

mit seiner Körpersprache vermag er

es, den – umstrittenen – Fatsuit mit Leben

zu füllen. Wer den Darsteller aus

Blödeleien wie »Airheads« und »Steinzeit

Junior« oder den Abenteuerspielchen

der »Mumie«-Reihe kennt, ist erstaunt

über seine Ernsthaftigkeit. Um

die Rolle auszufüllen, trug der Schauspieler

während der Drehtage über

Stunden eine schwere Körperfettprothese.

Zudem gelang es Maskenbildner

Adrien Morot, Frasers Gesicht so

realistisch zu modellieren, dass selbst

Härchen und Poren in Nahaufnahme

absolut echt wirken. Hinzu kommen

die brüchige Stimme und Kurzatmigkeit,

die unter die Haut gehen.

Der Aufwand, der betrieben wurde,

um den normalgewichtigen Darsteller

in den adipösen Charlie zu verwandeln,

ließ die Frage aufkommen,

warum man nicht gleich einen korpulenten

(besser noch einen korpulenten

schwulen) Schauspieler gecastet

hat. Allerdings beschäftigt sich der

Film nicht einfach mit einem übergewichtigen,

sondern mit einem extrem

übergewichtigen Menschen. Es

sei nicht möglich, mit einer Person,

die tatsächlich so enorm fettleibig ist,

einen solch anstrengenden Dreh zu

meistern, verteidigte Aronofsky seine

Casting-Entscheidung. Richtig ist,

dass Fatsuits eine unrühmliche Tradition

im Hollywood-Kino gespielt haben,

dienten sie doch zumeist dazu,

übergewichtige Charaktere in Komödienformaten

lächerlich zu machen.

Das ist bei »The Whale« anders. Nie

wird Charlie ausgestellt, nie blickt

der Film voyeuristisch auf den Übergewichtigen.

Es geht um Menschlichkeit.

Dieser Film ist mitreißend.

Besonders intensiv fallen die Streitgespräche

zwischen Charlie und seiner

Tochter Ellie aus, ihre Beziehung ist

komplex. Nur widerwillig besucht sie

ihren Vater, ist noch immer verletzt,

weil er die Familie verließ, als sie ein

Kind war. »Stranger Things«-Star Sadie

Sink spielt diese junge Frau, deren

dunkle Seite bisweilen aufblitzt. Hier

treten Verletzung und Entfremdung

zutage, es werden große Gefühle in

kleinen Gesten sichtbar – und das

Hoffen auf gegenseitiges Verzeihen.

»The Whale« ist Schauspiel pur.

Der Film packt den Zuschauer sofort

und lässt ihn dann melancholisch

gestimmt zurück, wenn Charlie am

Ende wieder den schmuddligen

Hefter hervorzieht und liest: »Er ist

einfach ein armes großes Tier. Ahab

tut mir auch leid, weil er denkt, sein

Leben würde besser, wenn er den

Wal tötet. Aber das wird ihm in Wirklichkeit

nicht helfen.«

The Whale (USA 2022). Regie: Darren Aronofsky.

Buch: Samuel D. Hunter. Darsteller:

Brendan Fraser, Sadie Sink, Hong Chau,

Samantha Morton, Ty Simpkins. Filmstart:

27. April

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27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

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In den USA keine Zukunftsmusik mehr. Der Rapper Kendrick Lamar (2. v. r.) 2018 nach der Verleihung des Pulitzer-Preises an ihn

»Rap hat hierzulande mit vielen

Vorurteilen zu kämpfen«

Ein Literaturpreis für einen Rapper? Das legte zumindest der Titel der Tagung »Gebt OG Keemo den Büchner-Preis!« nahe, die Ende März in

Berlin stattfand und auf der literaturwissenschaftliche Perspektiven auf Deutschrap diskutiert wurden. Die Organisatorin Julia Ingold sprach

mit der »Jungle World« über den Ausnahmerapper Lord Folter, die »Exotisierung der subalternen Erfahrung« und deutsch-jüdischen Rap.

Während der Tagung wurde erwähnt,

dass der Titel »Gebt OG

Keemo den Büchner-Preis!«

bewusst in Anführungsstriche gesetzt

wurde. War das also mehr

eine Spielerei als eine tatsächliche

Forderung?

Es ist eher als Parole gedacht. Es ging

nicht darum, dass der Büchner-Preis

an OG Keemo gehen soll, vielmehr

wollten wir darauf aufmerksam machen,

dass da eine ästhetisch anspruchsvolle

und auch politische Gegenwartslyrik

unterhalb des Radars

der klassischen Literaturkritik gemacht

wird.

Bei solch einer Parole denkt man

an die Vergabe des Pulitzer-Preises

2018 in der Kategorie »Musik«

an den Rapper Kendrick Lamar,

woraufhin manche forderten,

er hätte ihn besser in einer

der literarischen Kategorien

bekommen sollen. So außergewöhnlich

ist diese Forderung

gar nicht, oder?

Vor allem seit dem Literaturnobelpreis

für Bob Dylan hat sich zwar etwas

verändert, aber der englischsprachige

und der deutschsprachige

Raum unterscheiden sich da deutlich,

was die Anerkennung und Rezeption

von Popmusik generell und

Rap im Speziellen betrifft. Zwar gibt

es hier kanonisierte Popmusik wie

die von Ton Steine Scherben oder die

der Hamburger Schule, deren Vorreiter

schreiben dann auch Romane.

Rap hat hierzulande aber weiterhin

mit vielen Vorurteilen zu

kämpfen.

In den USA gab es vor 20 Jahren

sogar das Fernsehformat »Def Poetry

Jam«, in dem Rapper:innen

wie DMX oder Lauryn Hill neben

etablierten Lyriker:innen wie

Amiri Baraka aufgetreten sind.

Hierzulande hat so etwas wie Poetry

Slam einen eher bürgerlichen

Beigeschmack und wenig Berührungspunkte

mit Rap. Will sich

Rap als eigenständige Kunstform

picture alliance/AP Photo | Bebeto Matthews

nicht auch bewusst von derlei

abgrenzen?

Ich kann schwer für Rapper:innen

sprechen. Auf unserer Tagung hat

Grim104 betont: »Ich bin kein Schriftsteller,

kein Dichter, ich bin Rapper.«

Bei der Vorbereitung der Tagung

habe ich aber auch mit Lord Folter telefoniert,

der hätte ja eigentlich einen

Poetikvortrag halten sollen und

ist dann im Februar verstorben.

Der hat gesagt: »Ich habe so lange

auf diesen Anruf gewartet. Ich bin

Schriftsteller. Ich lese gerade Heraklit

und schreibe wie er.« Da war es sehr

willkommen. Samy Deluxe macht

auch seit zwei Jahrzehnten deutlich,

dass er Dichter ist.

Rapper wie Testo oder Panik Panzer

veröffentlichen auch Bücher.

Das Feuilleton bespricht immer

selbstverständlicher Rapalben.

Ist die Grenze zwischen Hoch-

und Populärkultur nicht so durchlässig

wie nie?

Auf jeden Fall. Im Vortrag von Sebastian

Berlich wurde ja auch deutlich,

dass die Auseinandersetzung mit Rap

im Feuilleton immer differenzierter

wird. Sozialromantische Gangsterstereotype

und »Haftbefehl ist der

neue Goethe«-Takes scheinen überwunden.

Mittlerweile schaut man

sich ernsthaft Ästhetik und Erzählverfahren

an. Feldwechsel sind in der

Popwelt nichts Neues, aber auch umgekehrt

werden Bestseller wie Sibylle

Bergs »GRM« nach einem Hip-

Hop-Genre benannt.

Das wurde in dem Fall ja auch

nicht nur positiv aufgenommen.

Man fragte sich, ob Berg damit

nicht eine Gegenkultur der britischen

Vorstadtviertel vereinnahmt

habe.

Ja, auf solche Fälle verwies auch der

Vortrag »Schwarze Stimmen, weiße

Publika: Race-Adressen im Deutschrap

um 2020« von Roman Widder.

Darin zeigte er, wie in der bürgerlichen

Kultur die Darstellung von Arbeit

fetischisiert wird und es häufig

heißt: »Da sprechen die Subalternen.«

Von der »Exotisierung der subalternen

Erfahrung« war im Vortrag

die Rede.

Genau. Natürlich gibt es in der Literatur

und auch in der Literaturwissenschaft

die Gefahr, das Prekariat zu

exotisieren. Aber es ist auch eine Bewegung

aufeinander zu, die sich

nicht aufhalten lässt. Rap entwickelt

sich derzeit zu einer so vielschichtigen

Kunstform, da kann die Literaturwissenschaft

nicht sagen: Wir bearbeiten

das nicht, weil wir da vielleicht

etwas fetischisieren. Gute Wissenschaft

schaut sich alles an. Die Frage

ist das Wie.

Die Tagung hat sich unter anderem

auch dem deutsch-jüdischen

Gangsta-Rap gewidmet. Was ist

an ihm so interessant?

Ich finde, Joscha Jelitzki hat ganz gut

herausgearbeitet, dass die deutschjüdischen

Rapper, die ihr Jüdischsein

thematisieren, häufig auf antisemitische

Stereotype zurückgreifen, auch

wenn sie die ironisch oder subversiv

bearbeiten. Der deutsch-jüdische

Gangsta-Rap scheint da auf die Dinge

zu reagieren, die auch vorher im

Gangsta-Rap verhandelt wurden.

Natürlich gibt es auch deutsch-jüdische

Rapper, die das anders machen.

Auch Max Herre, der ähnlich wie Ben

Salomo eher mit Conscious Rap assoziiert

wird, hat autobiographische

oder autofiktionale Tracks über seine

Vorfahren gemacht, die die Shoah

überlebt haben. Das ist im Grunde

Geschichtsschreibung der dritten

Generation, die zurzeit auch viel im

Literaturkontext diskutiert wird.

In einem Vortrag wurde Max

Czolleks Begriff der »wehrhaften

Poesie« auf die Rapperin Ebow

angewendet. Was zeichnet deren

Texte aus?

Ebow arbeitet ganz aktiv daran, sich

das Wort »Kanake« anzueignen. Aber

auch einen Rapper wie Apsilon kann

man mit Czolleks Begriff in Verbindung

bringen, der in seinem Song

»Köfte« rappt: »Man kann doch ein

braver Deutscher sein, wenn man

nur möchte. Doch ich möchte nicht,

nein danke, trinke Çay und esse

Köfte.« Das trifft sehr gut, was Max

Czollek mit wehrhafter Poesie meint:

diese Verweigerungshaltung. Apsilon

ist da noch einen Schritt radikaler

als Ebow. Und Ebow ist gewissermaßen

eine Vorreiterin. Mit Zeilen wie:

»In mir drinnen stecken 1 000 Leben

/ Hab Flure geputzt, Häuser gebaut,

wurde ausgenutzt, wurde ausgesaugt

… « – da geht es viel um die

Ausbeutungsverhältnisse in der

BRD. Und in »Prada Bag« rappt sie in

Bezug auf die Zurschaustellung von

Reichtum im Rap und deren bürgerliche

Rezeption: »Das Traurige daran

ist, dass du mehr Respekt vor dem Kapitalismus

an mir hast als vor mir

selbst.« Sie ist da fast eine politische

Theoretikerin des Rap.

Die Autorin Şeyda Kurt zitiert in

ihrem jüngsten Buch zu Beginn

Apsilon mit den Zeilen: »Mama

sagt, ich hab zu viel Hass, zu viel

Hass in meinem Herz, aber werf’

lieber den ersten Stein. Ich duck’

mich nicht. Nerven lange tot,

aber ich leb’.«

Vielleicht zeigt sich im Rap gerade

ein neues kritisches Bewusstsein. Der

Rapper Torch meinte einst: »Die

Punks wollten aus dem System raus

und die Rapper wollten ins System

rein.« Und Ebow rappt nun in »Asyl«:

»Wir sind wert, was der Pass uns an

Wert gibt.« Ein spannender Aspekt ist

auch die Adressierung. Häufig gilt:

Rassistisch diskriminierte Rapper:innen

erklären den weißen Deutschen

»Sozialromantische Gangsterstereotype und

›Haftbefehl ist der neue Goethe‹-Takes scheinen

überwunden. Mittlerweile schaut man sich ernsthaft

Ästhetik und Erzählverfahren an.«

ihre Welt. Und da ist auch ganz interessant,

dass sowohl Ebow als auch

Apsilon noch viel damit beschäftigt

sind zu schildern, was überhaupt

schiefläuft. Ein Prinzip dabei ist, ganz

viel Fremdsprache einfließen zu

lassen, und das ist schon ein Verdienst

von jemandem wie Haftbefehl: die

multilingualen Raptexte. Ebow macht

das beispielsweise mit kurdischen

Begriffen.

Und Apsilon lässt in seinen Musikvideos

türkische Untertitel

mitlaufen. Weil vorhin schon die

Sprache auf den kürzlich verstorbenen

Lord Folter kam: Warum

war er wichtig für Ihre

Forschung?

Für mich hat seine Musik gezeigt,

was lyrisch heute möglich ist im

Deutschrap. Er hat ja im Grunde hermetische

Lyrik verfasst, mit einer

unglaublichen Metapherndichte. Ich

nenne ihn auch den »König der Katachrese«,

das ist die absichtsvolle Verwendung

an sich unpassender Metaphern.

Er nimmt einen metaphorischen

Sprachgebrauch und führt ihn

zurück zu der wörtlichen Bedeutung.

Eine Zeile, die ich beeindruckend finde,

lautet: »Kein König ist der Baumkrone

würdig.« Seine Songs sind für

mich in sich geschlossene Gedichte.

Das ist vielleicht auch so ein Literaturwissenschaftsfetisch,

wenn man

sagt: Hach, das Werk ist ein in sich

geschlossenes Gebilde. Lord Folters

Texte verdienen aber auf jeden Fall

mehr philologische Untersuchungen.

Interview: Charlie Bendisch

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27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

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»Wenn es keine

Ambivalenzen gibt, dann

macht es mich depressiv«

Schlager, aber mittlerweile ganz unironisch: Tristan Brusch hat kürzlich sein neues Album

»Am Wahn« veröffentlicht. Es erinnert ein wenig an Hildegard Knef, ein wenig

an Tom Waits – und klingt so gut wie keine vorherige Platte des Musikers. Von Luca Glenzer

Die »reine Depression« interessiert ihn nicht: der Musiker Tristan Brusch

Rebecca-Kraemer

Es gibt Aspekte im gegenwärtigen

Musikgeschäft, an die man als Musiker

nicht allzu viele Gedanken

verschwenden sollte, will man in Zukunft

den kreativen Antrieb nicht

gänzlich stilllegen. Die Verhältnis zwischen

der Arbeit, die man in ein Album

steckt, und dem Geld, das man

damit am Ende verdient, ist so ein

Aspekt, den auch Tristan Brusch lieber

ausklammert. »Eigentlich ist es

komplett hirnrissig, heute noch mit

so viel Aufwand ein Album aufzunehmen«,

resümiert er im Gespräch

mit der Jungle World mit Blick auf

die Produktion von »Am Wahn«, seinem

neuen Album. Zu niedrig sind

die Klickzahlen auf den gängigen Streamingportalen

– von Plattenverkäufen

ganz zu schweigen. Brusch

sagt das insbesondere mit Blick auf

den Beginn seiner Musiklaufbahn,

als er seine Alben noch innerhalb

weniger Tage und Nächte im Schlafzimmer

seiner damaligen WG aufnahm.

Diese Lo-Fi-Arbeitsweise ist wohl

auch der Grund, warum ihm nicht

mehr ganz klar ist, wie viele Alben

genau er damals produziert hat.

Fest steht, dass »Am Wahn« sein drittes

seit 2018 ist. Damals erschien

»Das Paradies«, das künstlerisch in

mehrerer Hinsicht ein Wendepunkt

war. Nach über zehn Jahren, in denen

er englischsprachige Musik produziert

hatte, veröffentlichte er zum ersten

Mal eine LP, deren Texte ausschließlich

in deutscher Sprache verfasst

waren. In einem Interview mit

dem Musikmagazin Diffus ließ er sogar

verlautbaren, dass er langfristig

plane, Helene Fischer als »neue Schlagergöttin«

vom Thron zu stoßen.

Darauf wird er heutzutage eher nicht

mehr so gerne angesprochen – zu

oft musste das Zitat schon herhalten.

Dass er mit ihr ungefähr so viel zu

tun hat wie Rammstein mit feinfühliger

Musik, muss kaum weiter erläutert

werden.

Dann doch lieber Hildegard Knef

als Referenz, deren Album »Knef« aus

dem Jahr 1970 bis heute einen großen

Einfluss auf Brusch hat. Sie stellt

für ihn eine große Ausnahmeerscheinung

in der deutschsprachigen

Musik dar, die alles in allem doch

von einer enormen Grobschlächtigkeit

geprägt sei. »Wenn es keine Ambivalenzen

mehr gibt, wenn dir ein

Gefühl innerhalb von fünf Sekunden

auf dem Silberlöffel serviert wird,

dann macht es mich depressiv«, erzählt

er im Gespräch. »Vielmehr mag

ich es, wenn man ein tieftrauriges

Thema trotzdem noch mit einem gewissen

Witz verbinden kann. Diese

Liedtradition gab es in besonderer

Weise in der Weimarer Republik,

aber sie ist durch die Nazis komplett

zerstört worden. Was nicht zuletzt

daran lag, dass viele der damaligen

Kabarett- und Chansonmusiker

Juden waren.«

Knef habe als eine der wenigen in

der Nachkriegszeit an diese Tradition

von Musikern wie Kurt Weill oder

Hanns Eisler angeknüpft, deren

Ideen im angloamerikanischen Raum

auf wiederum ganz andere Weise

etwa von Musikern wie Tom Waits

weiterentwickelt wurden. Auch ihn

und seine unnachahmliche Verknüpfung

von Brachialität und Zerbrechlichkeit

hört man in der Musik Tristan

Bruschs immer wieder als Einfluss

heraus.

Dass Brusch bis heute von dieser

langen musikalischen Tradition

zehrt, hört man insbesondere seinen

beiden jüngsten Alben an. Kokettierte

er 2018 auf »Das Paradies« noch

ganz auf Höhe der Zeit mit den mitunter

unappetitlichen Trash-Elementen

der Biedermeier-Bürgerlichkeit,

die wieder und wieder ironisch durch

den Wolf gedreht werden – nachzuhören

und etwa in seinem damaligen

Hit »Zuckerwatte« –, zeugte »Am

Rest« drei Jahre später im Vergleich

dazu von einer enormen musikalischen

Weiterentwicklung und Reifung.

Die haben nicht zuletzt mit

veränderten Lebensverhältnissen zu

tun. In der Zwischenzeit war Brusch

Vater geworden und hatte eine Trennung

hinter sich, die sich auch auf

dem neuen Album noch bemerkbar

macht. »Das Paradies« betrachtet er

rückblickend dennoch mit einer gewissen

Milde: »Ich musste das, was

ich mache, einmal ironisch brechen.

Das brauchte ich damals irgendwie.«

Brusch verbindet romantische Lieder mit

Außenseiterballaden, pessimistische

Weltbetrachtungen mit einem Funken Hoffnung.

Doch diese Phase scheint längst

abschlossen, denn auch auf »Am

Wahn« setzt Brusch den 2021 eingeschlagenen

Weg musikalisch konsequent

fort. Dabei verbindet er romantische

Lieder mit Außenseiterballaden,

pessimistische Weltbetrachtungen

mit einem Funken Hoffnung,

der zwischen den Zeilen immer

wieder aufblitzt. Nicht ohne Grund

ließ Brusch 2021 Laut.de wissen, dass

ihn die reine Depression musikalisch

nicht interessiere. Und trotz aller

Schwermütigkeit, die sich in Liedern

wie »Glücklich« oder »Kein Problem«

Bahn bricht, rutscht seine Musik tatsächlich

nie in eine reine Beweihräucherung

der eigenen Wehleidigkeit

ab. Was nicht zuletzt seiner Fähigkeit

geschuldet ist, stets auch nicht nur

seine Gefühle zu registrieren, sondern

auch die anderer. »Wenn vorm Späti

36 der Opa seinen Billigkaffee trinkt /

Im Duft der neuen Rösterei nebenan

/ Vergisst er kurz die Wirklichkeit«,

singt Brusch mit seiner ausgeprägten

Beobachtungsgabe für subtile Alltäglichkeiten,

die man in der deutschsprachigen

Musik sonst nur von Songschreibern

wie Sven Regener oder

Christiane Rösinger kennt.

Auf den ersten Blick irritierend,

auf den zweiten naheliegend erscheint

dabei auch die Zusammenarbeit

mit der Chansonette Annett

Louisan im Song »Kein Problem«.

»Wir sind uns vor einiger Zeit über

den Weg gelaufen, weil wir mit Tim

Tautorat den gleichen Produzenten

haben«, führt Brusch aus. »Bevor wir

uns kennengelernt haben, hatte sie

für mich schon so eine Art Legendenstatus,

fast schon vergleichbar mit

Stars wie Harald Juhnke oder eben

auch Knef. Als wir uns dann trafen,

haben wir schnell festgestellt, dass

wir einen sehr ähnlichen Humor

haben und uns vor allem unsere Liebe

zu alter französischer Musik

sehr verbindet.« Dabei sieht er das

Lied insbesondere angelehnt an die

musikalische Zusammenarbeit zwischen

Serge Gainsbourg und Jane

Birkin, die Ende der sechziger Jahre

mit »Je t’aime« einen Welthit landeten.

Der wird Brusch und Louisan

aller Voraussicht nach zwar verwehrt

bleiben, doch die erotische Intimität,

die die Vorlage einst auszeichnete,

wird auch von ihnen mühelos

erzeugt.

Im Herbst wird Brusch eine kleine

Tournee spielen. Vorher aber will er

sich noch einem anderen Projekt widmen:

Vor kurzem wurde er angefragt,

die musikalische Leitung der

»Woyzeck«-Inszenierung am Berliner

Ensemble zu übernehmen – worum

er sich nicht zweimal bitten ließ.

Und es erscheint auch naheliegend

für einen wie Brusch, eine derartig

von inneren wie äußeren Widersprüchen

und Verstrickungen geplagte

Figur wie Woyzeck musikalisch zu

zeichnen. Fast schon zu naheliegend.

Tristan Brusch: Am Wahn (Four Music/

Tautorat Tonträger)

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27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

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Das neue

Geschlechterregime

2003 löste Tove Soiland den sogenannten Gender-Streit aus, nun sind einige ihrer Texte in einem Sammelband erschienen. Ausgehend

von Jaques Lacan und Luce Irigaray kritisiert sie darin das Geschlechterverhältnis, ohne bei Fragen nach Repräsentation stehenzubleiben.

Von Marco Kammholz

In den vergangenen Jahren hat sich

bei vielen linken und feministischen

Zusammenschlüssen eine eher ungewöhnliche

Praxis durchgesetzt: die

Pronomenrunde. Ob bei der persönlichen

Vorstellung, im Chat oder

beim Profilnamen in sozialen Medien,

eine wachsende Zahl an Personen

sieht sich dazu veranlasst, ihren

Mitmenschen explizit über das eigene

Geschlecht Auskunft zu geben.

Für die einen ist die Pronomenrunde

eine hilfreiche Unterstützung im

Zuge ihrer Geschlechtsangleichung,

für die anderen spielt sie dahingehend

eigentlich keinerlei Rolle. Sie

bietet aber auch eine Gelegenheit,

die eigene, vermeintlich geschlechterreflektierende

Tugendhaftigkeit zu

demonstrieren.

Nach der Lektüre von Texten der

schweizerischen feministischen Theoretikerin

Tove Soiland ist man geneigt,

die Frage nach dem Sinn von

solcherlei Sprachpraktiken auf eine

bei jüngeren Feministinnen vermutlich

eher unpopuläre Weise zu beantworten.

Die Pronomenrunde

könnte womöglich schlicht Ausdruck

der gegenwärtigen Sexualkultur

sein, »in der wir beständig dazu aufgerufen

sind, alle Facetten unseres

intimsten Seins offen und schamlos

zu entfalten«. Neun ihrer Texte sowie

drei Interviews sind nun im von

der Sozialwissenschaftlerin Anna

Hartmann herausgegebenen Sammelband

»Sexuelle Differenz. Feministisch-psychoanalytische

Perspektiven

auf die Gegenwart« erschienen.

Zwar liegt einer von Soilands Arbeitsschwerpunkten

auf der sprachlichen

Verfasstheit von Geschlechtlichkeit,

dabei aber gerade nicht auf

Fragen von Repräsentation, sondern

auf der Bedeutung des unbewussten

sprachlichen Ursprungs des Subjekts.

Aus Sicht der strukturalen Psychoanalyse

von Jacques Lacan, mit

der sich die Historikerin und Philosophin

intensiv beschäftigt hat, ist

die Sprache als ein Einbruch zu verstehen,

der die Trennung von Selbst

und nicht dem Selbst Zugehörigen

vollzieht. Fortan ist das Subjekt in

die Ordnung des Symbolischen eingetreten

und gekennzeichnet von

dem Verlust einer vermeintlichen Einheit.

Somit ist es das durch den französischen

Poststrukturalisten berühmt

gewordene gespaltene Subjekt

Dollar, welches ein prinzipiell begehrendes

bleiben wird. Denn, so der

Lacanianer August Ruhs: »Der Rest

des außersprachlichen Genießens

wird das Objekt a.«

Um die Stellung dieses Objekts

und Theorems kreisen die Fragen,

die Soiland an das Geschlechterverhältnis

richtet. In großer, aber kritischer

Nähe zur Lacan’schen Psychoanalyse

hat sie sich in den vergangenen

zwei Jahrzehnten wortstark in

die Debatten der Geschlechterforschung

und der feministischen Theorie

eingemischt.

In dem neuen Band, der subjekttheoretische,

geschlechterpolitische

und zeitdiagnostische Beiträge versammelt,

dechiffriert die Autorin in

ihren Texten nicht nur die Wandlungen

und Auslassungen in den

englisch- und deutschsprachigen Rezeptionen

der Schriften der französischen

Feministin und Psychoanalytikerin

Luce Irigaray, sondern auch

die unterschiedlichen Wege, die Vertreter

und Vertreterinnen des westliche

Postmarxismus oder der in der

Ljubljana School entwickelten Lacan-

und Marx-Rezeption einschlugen.

Soiland arbeitet mit Marx’ Wertkritik

und Warenanalyse, Irigarays

Theorie der sexuellen Differenz sowie

dem Lacan-Marxismus, den Slavoj

Žižek, Alenka Zupančič oder Massimo

Recalcati entworfen haben.

Sie macht dabei unter anderem auf

die Leerstellen der poststrukturalistischen

und queertheoretischen Interpretationen

von Lacan aufmerksam.

Es ist daher nicht überraschend,

dass sich das im Sammelband vertretene

Subjekt- und Geschlechterverständnis

mehr oder weniger grundsätzlich

vom Gender-Paradigma unterscheidet,

das die Autorin bereits

im Jahr 2003 während dem von ihr

ausgelösten sogenannten Gender-

Streit in Frage stellte. Soiland bestreitet

nicht, dass gesellschaftliche

Normen auf Vorstellungen von Geschlecht

einwirken, sie konzentriert

sich in ihrer theoretischen Arbeit

aber auf Geschlecht weniger als Zugehörigkeitskategorie,

sondern vielmehr

als Strukturmerkmal in Gesellschaft

und Psyche. Dabei weist sie

insbesondere auch die Übertragung

dekonstruktivistischer Annahmen

auf das Verständnis der Subjektgenese

zurück. Entgegen der von Judith

Butler vertretenen Position, wonach

Geschlecht sich anhand machtvoller

gesellschaftlicher Vorgaben bilde

und zugleich subversiv davon absetzen

könne, beharrt Soiland auf der

psychoanalytischen Perspektive,

wonach sich Geschlecht und Sexualität

entziehen und »sich das Begehren

grundsätzlich in einem Feld der

Unverfügbarkeit des Anderen situiert«.

Denkerin der sexuellen Differenz. Deutsche Ausgabe des 1974 erstmals veröffentlichten »Speculum« von Luce Irigaray

Die gendertheoretisch inspirierte

Vorstellung vom konstruierten

Charakter des Geschlechts sieht sie

»längst selbst zum Bestandteil des

gegenwärtigen Geschlechterregimes«

und zu einer spezifisch spätmodernen,

flexibilisierenden Technologie

Dierk Saathoff

des Selbst geworden. Der Gendertheorie

attestiert Soiland Unfähigkeit, die

von ihr als neopatriarchal und

postödipal verstandenen Geschlechterverhältnisse,

die ohne manifest

autoritäre Vaterfigur und ohne die

traditionelle bürgerliche Familienform

auskämen, einer tiefgreifenden

Kritik zu unterziehen.

Dass das Geschlechterverhältnis

eine paradoxe Gestalt angenommen

hat, in der die Gleichzeitigkeit von

fortschreitender Genderpluralisierung

einerseits und der beständig

gebliebenen, auf die Sorgearbeit bezogenen

Ungleichheit zwischen den

Geschlechtern andererseits herrscht,

führt Soiland auch auf eine mächtige

Verschiebung im Triebhaushalt der

Subjekte zurück. Lacan prognostizierte

1969 in seinem Seminar XVII, dass

die ödipale Barriere zukünftig nicht

mehr vorrangig im »Diskurs des Herren«,

also durch das Verbot des Zugangs

zum Körper der Mutter, verhandelt

werde, sondern durch den »Diskurs

der Universität«, in Form des Versprechens

der Existenz eines Wissens,

das den Zugang zum Begehrten

gewähre. Hier sieht Soiland eine die

Herrschaftstechnologien modernisierende

»Biopolitik des Genießens« und

ein neues »Phantasma der Demokratisierung

des Unmöglichen« am Werk.

Von den beiden ödipal konturierten Illusionen

– repressives Verbot und

permissive Zugänglichkeit – habe sich

mittlerweile Letztere durchgesetzt.

Dies hat weitreichende Konsequenzen,

allen voran für die weiterhin

mit Frauen assoziierte, gesellschaftlich

unbedingt notwendige Fürsorgearbeit:

Sie erscheint nun uneingeschränkt

verfügbar und als eine

»Ressource, die nichts kostet«.

Dem stellt Soiland wiederum Irigarays

»Denken der sexuellen Differenz

als Bedenken der menschlichen

Bedingtheit und Begrenzung von

Allmacht« gegenüber. Während Lacan

feststellte, dass die Frau im Unbewussten

nicht existiere und Symptom

des Mannes sei, kann mit der

Lacan-Leserin Irigaray auf der Frage

nach der Positionierung der Frauen

beharrt werden. Die im Band versammelten

Texte knüpfen daran an

und Soiland plädiert für eine »kollektive

Artikulation der Position von

Frauen« in einer spätmodernen

und neoliberalen Gesellschaft.

Soiland orientiert sich dabei mit

Irigaray an Lacans Theorie und korrigiert

diese überzeugend. Damit gelingt

es ihr auf außergewöhnliche

Weise, das Geschlechterverhältnis

und die Sexualkultur der Gegenwart

zu fassen und zu kritisieren. Einigen

der utopisch anmutenden Ausführungen,

wie beispielsweise denen

zur Möglichkeit einer »intersubjektiven

Subjektkonstitution, in der

jeder der beiden Pole in sich selbst

Soiland macht unter anderem auf die Leerstellen

der poststrukturalistischen und queertheoretischen

Interpretationen von Lacan aufmerksam.

als die ihm eigene Grenze die ›Kerbe

der Alterität des anderen‹« trage,

werden dem nicht Lacan-erprobten

Leser schwer verständlich sein, da

die Argumentation stets auf die im

Sinne Lacans sprachliche Verfasstheit

der menschlichen Existenz rekurriert.

Gleichwohl bildet der Sammelband

eine wertvolle Quelle für feministisch-psychoanalytische

Untersuchungen,

die beanspruchen, zeitgemäß

und dennoch unangepasst zu

sein. Denn subversiver als so manche

Pronomenrunde sind theoretische

Argumente allemal. Und von

denen kann man in Tove Soilands

Texten nicht wenige finden.

Tove Soiland: Sexuelle Differenz. Feministisch-psychoanalytische

Perspektiven auf

die Gegenwart. Herausgegeben von Anna

Hartmann. Unrast-Verlag, Münster 2022,

252 Seiten, 18 Euro

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Verstrahlt, bekifft, verkackt

Die Summens. Isabelle Huppert, Judith Hermann und Carsten Meyer lassen sich nicht

einschüchtern. Von Gabriele Summen und Maurice Summen

Wir haben alles verkackt! Das singt

Carsten »Erobique« Meyer auf der

neuen Single-Auskopplung seines

im Juni erscheinenden Albums

»No. 2«. Die lebende Discokugel erfreut

uns seit nunmehr 25 Jahren

mit herausragendem Live-Entertainment

zwischen Hamilton Bohannon

und Helge Schneider. Der Song

erinnert in der Melodieführung

ein wenig an »Family Affair« von

Sly &14 The Family Stone und bringt

die gesamtgesellschaftliche Lage

hervorragend auf den Punkt.

Aber es gibt Hoffnung! Deutsche

home growers dürfen demnächst

ganz legal dafür sorgen, dass wir angenehm

betäubt zu Erobiques Dystopie-Disco

die Hüften schwingen

können. Dazu müssen ein paar

Das Schrippenrätsel

Das Medium. Von Elke Wittich

Kiffer:innen allerdings erst einen

Cannabis-Social-Club gründen! Warum

hat die FDP eigentlich nicht verlangt,

dass unser künftiges Cannabis-Business

an die Börse geht? Ganz

nach amerikanischem Vorbild! Kiffen

für noch mehr Profit des oberen

einen Prozents!

Nicht von den Mächtigen beeindrucken

lässt sich Isabelle Huppert

in dem Politthriller »Die Gewerkschafterin«,

der auf wahren Begebenheiten

beruht: Als Sprachrohr der

Belegschaft des Atomkonzerns Areva

deckt sie in der Rolle der kämpferischen

Irin Maureen Kearney Machenschaften

in der französischen Atomindustrie

auf. Die Einschüchterungsversuche

gipfeln in einer Vergewaltigung.

Da sie sich aber nicht wie ein

typisches Opfer

verhält, zweifelt die

Polizei an ihrer

Glaubwürdigkeit.

Auch dem Publikum

kommen Zweifel;

frauenfeindliche Einstellungen

sind eben in uns alle

eingeschrieben. Trotz dramaturgischer

Schwächen sehenswert.

Und es gibt auch endlich wieder

ein neues Buch von Judith Hermann!

»Wir hätten uns alles gesagt«

beinhaltet zum einen ihre Frankfurter

Poetikvorlesungen. Aber die Berliner

Autorin nimmt sich auch mal

wieder mit traumwandlerischer

Schwere alle Freiheiten und erzählt

Geschichten. Da begegnet ein literarisches

Judith-Hermann-Double

nachts seinem

Psychoanalytiker

oder trifft Gestalten,

mit

denen die Erzählerin

Ende

der Neunziger in

»Sommerhaus, später«

abgehangen hat. Wie

nebenbei reflektiert Hermann das

Schreiben von Geschichten, in deren

Zentrum »ein schwarzes Loch ist,

aber es ist nicht schwarz, und es ist

nicht finster. Es kann im besten

Falle glühen.« Ja, glühen wie die neue

Single von Dexys, die den Zusatz

Midnight Runners abgelegt haben,

auf Repeat: »I’m Going to Get Free.«

Kevin Rowland bleibt ein leuchtender

Stern.

Unermüdlicher Avantgardist

Platte Buch. Von Jana Sotzko

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Selbständiger Finanz-Coach. Von Andreas Michalke

Was bisher geschah: Julia

und Andi haben plötzlich einen

Sohn. Der Sohn verhält

sich irgendwie verdächtig,

deshalb verfolgt Julia ihn bis

zum Stadtrand. An der Tür

eines Einfamilienhauses hört

sie, wie der Sohn die Bewohnerin

mit »Hallo Mama«

begrüßt … Als der Sohn am

nächsten Morgen das Haus

verlässt, klingelt sie an der

Tür. Die beiden Frauen stellen

fest, dass sie nicht die

einzigen Mütter des Sohnes

sind.

Zurück zum Computerspiel »Second Life«. Wo man

nicht unbedingt mit offenen Armen auf Userinnen

wartet, die sich zuletzt vor fünfzehnnochwas Jahren

eingeloggt haben und entsprechend nun weder

ihre damals angegebene E-Mail-Adresse, ihr Passwort

noch ihren Nick wissen.

Den immerhin wohl noch existierenden Account wieder in Besitz

zu nehmen, dauert. Lange. Sehr lange. Was vielleicht daran

liegt, dass damals, als man »Second Life« nach nicht allzu ausgiebigem

Ausprobieren den Rücken kehrte, eine Welt hinter sich ließ,

in der mit virtuellen Grundstücken Millionen verdient wurden

und alles unfassbar hip und großartig war. Entsprechend groß

sind die Sicherheitsvorkehrungen, wäre ja nicht auszudenken,

wenn sich jemand Neues einfach so in das Zweitleben-Universum

einschleichen würde.

Nach sehr ununterhaltsamen Prozeduren ist es endlich so weit:

Der Account von »Elquee Littleboots« kann wieder in Besitz genommen

werden. Littleboots? Meine Güte, was hatte man sich

denn dabei gedacht? Man weiß es nicht mehr, vielleicht war es

aber auch so, dass die Nachnamen irgendwie vorgegeben waren,

was wahrscheinlicher klingt, als dass man sich tatsächlich so einen

bekloppten Zunamen ausgesucht hatte. Der Rest ist schnell erzählt:

Elquee Littleboots hat nix, sieht nicht aus und kann nix, sondern

ist einfach bloß da. Mutmaßlich muss man jetzt irgendwas

tun, aber die richtige Welt hält da sehr viel Interessanteres bereit.

Wie zum Beispiel das Schrippenrätsel zu lösen. Während der

Pressekonferenz der Berliner SPD zum Thema Mitgliederbefragung

am Sonntag schwenkte die Kamera nämlich ganz kurz zu

einem Teller mit belegten Brötchen für die Medienleute. Es wirkte

so, als seien es hauptsächlich mit Käse belegte Schrippen, was

auch der Kollege vom ND so gesehen hat, aber wichtig sind in

solchen Fällen ja vor allem die Deko-Details: Tomaten, ja oder

nein? Paprikastreifen? Petersilie? Oder kleine Salzbrezeln? Wir werden

es wohl nie erfahren.

»I’m looking for mercy / More and

more« lautet die Schlüsselzeile in

»Mercy«, Eröffnungstitel von John Cales

gleichnamigen, bereits im Januar

erschienenen neuen Album. Immer

kälter werden die Lyrics, die Wölfe

heulen und Leben enden. Alles hier –

und so wird es sich durch die insgesamt

zwölf Tracks ziehen – bewegt sich

gen Abgrund in die Dunkelheit.

Dass der 81jährige Cale auf seinem

17. Studioalbum keine gemütliche Retronummer

veranstalten würde, war

abzusehen, wie halluzinatorisch dräuend

die lang angekündigte Platte jedoch

ausgefallen ist, überrascht dann

doch. Für die Apokalypse in einer

Stunde und elf Minuten hat der Avantgarde-Pionier

mit einer ganzen Reihe

junger Produzentinnen und Produzenten

zusammengearbeitet, darunter

Weyes Blood, Laurel Halo und

Actress. Ihr Dazutun und die hörbar

von vielen unerfreulichen Ereignissen

der vergangenen Jahre – von der

Regierungszeit Donald

Trumps über den Klimawandel

bis zu Covid-19

und »Brexit« – beeinflussten

Texte verankern

»Mercy« im Hier und

Jetzt. Was dem unermüdlichen

Avantgardisten

Cale dabei bisweilen verlorengeht,

sind sein großartiges

Songwriting und die Schärfe, die aus

der Reibung von Elektronik und

akustischen Instrumenten entsteht

und etwa auf dem Vorgänger »Shifty

Adventures in Nookie Wood« noch intensiv

zu hören war. Cales ohnehin

recht sonore Stimme versinkt zuweilen

in einem Meer aus Hall und endlos

gestapelten Klangflächen, Beats

verschleppen sich in ereignislosen

Loops. Das kann auf Dauer ermüden,

diese musikalische Atmosphäre der

Überforderung passt aber wiederum

gut zu einer ermüdenden Gegenwart.

Niemals wird John Cale – der es sich

angesichts seiner Diskographie ja

erlauben könnte – auf »Mercy« zum

altersweisen Nostalgiker, vielmehr

bleibt er sperrig und eigenbrötlerisch.

Die besten Momenten des Albums

sind dennoch jene, in denen aus dem

zähen Klangstrom einzelne Elemente

herausragen, etwa Natalie Merings

Stimme in »Story of Blood«, die

Streicher-Arrangements

in »Nico’s Song« oder

die gewohnt verfrickelten

Soundcollagen von Animal

Collective in »Everlasting

Days«.

John Cale: Mercy (Domino)

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27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

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Das Werk des Superfans. Monica Seles (verdeckt) kurz nach dem Angriff im April 1993 in Hamburg

Ein Fan aus Thüringen

Vor 30 Jahren stach in Hamburg ein Fan von Steffi Graf bei einem Tennisturnier auf deren größte

Konkurrentin Monica Seles ein. Ein Blick zurück in die frühen neunziger Jahre. Von Fabian Kunow

30. April 1993, Viertelfinale des Hamburger

Turniers der Women’s Tennis

Association. Es ist Spielpause im

zweiten Satz. In der Arena Am Rothenbaum

bewegt sich ein kleiner,

leicht untersetzter deutscher Mann in

Richtung der Weltranglistenersten

Monica Seles. Ihr Sieg im Match gegen

Magdalena Maleewa aus Bulgarien

scheint nur eine Frage der Zeit.

Monica Seles sitzt während einer

Pause im Spiel auf einer Bank.

Der Mann heißt Günter Parche. Er

trägt einen kleinen Beutel, in dem

ein 22 Zentimeter langes Fleischmesser

steckt, mit dem er der ungeschützten

Monica Seles in den Rücken

sticht. Die 19jährige springt schreiend

auf, geht ein paar Schritte und

bricht auf dem Tennisplatz zusammen.

Polizisten und Zuschauer

überwältigen den Angreifer.

Der Einstich ist mit rund zwei Zentimetern

glücklicherweise nicht

sehr tief. Ein halbes Jahr später vor

Gericht wird diese verhältnismäßig

leichte Verletzung dazu führen, dass

Parche mit einer Bewährungsstrafe

davonkommt. Er konnte glaubhaft

vermitteln, dass er Seles nur so verletzen

wollte, dass ihre Tenniskarriere

unterbrochen und »seine geliebte

Steffi« wieder die Nummer eins im

Frauentennis wird.

So kam es letztlich auch. Nach der

Attacke konnte Seles nicht mehr an

ihre alten Leistungen anknüpfen.

Parches Angaben decken sich mit den

Ermittlungen der Polizei. Er hätte

Monica Seles problemlos viel schwerer,

sogar tödlich verletzen können,

habe es aber nicht getan, sagte ein Polizeisprecher

in einer Fernsehdokumentation

des Norddeutschen Rundfunks

(NDR) über die Tat. In derselben

Doku sagte der frühere Tennisreporter

der ARD, Hans-Jürgen Pohmann,

so etwas sei nie zuvor

picture-alliance / Norbert Schmidt

passiert – zumindest nicht im Tennissport.

Die Tat wirft auch ein Licht auf die

frühen Jahre des gerade wiedervereinigten

Deutschland. Die Hamburger

Tennisanlage Am Rothenbaum

liegt dort, wo Tennisfreunde auch soziographisch

vermutet werden dürfen:

im Stadtteil Rotherbaum, wo

Steuerpflichtige nach Angaben des

Hamburger Statistikamts das Doppelte

des durchschnittliche Hamburger

Einkommens verdienen. Über

die Straße, im direkt angrenzenden

Harvestehude, ist es etwa dreimal

so viel wie der Hamburger Gesamtdurchschnitt.

Ab den späten achtziger Jahren

wird Tennis durch die Erfolge von Boris

Becker, Michael Stich und Steffi

Graf in Deutschland immens populär

– und durch das Fernsehen zum

Zuschauersport.

Das Viertelfinale zwischen Seles

und Maleewa schauten 10 000 Menschen

an Ort und Stelle an. Das ist

mehr als der damalige Zuschauerschnitt

fast aller Zweitligisten beim

Fußball der Männer in der Saison

1992/1993.

Obwohl Steffi Graf 1999 ihre Karriere

beendete und seitdem recht wenig

in der Öffentlichkeit zu sehen

ist – anders als beispielsweise Boris

Becker – dürfte sie nach wie vor die

bekannteste Sportlerin in Deutschland

sein.

Grafs Status als unbesiegbare

Volksheldin erreichte die DDR und

damit auch Görsbach im Landkreis

Nordhausen in Thüringen. Hier wohnte

Attentäter Parche seit 30 Jahren

bei seiner Tante, seine Mutter hatte

ihn weggegeben. Er war ein Eigenbrötler

und arbeitete als Dreher in einem

Motorenwerk. In einer Fernsehaufnahme

aus den Neunzigern

erzählte ein ehemaliger Vorgesetzter

einem Journalisten, dass Parche

nie durch Widerrede aufgefallen sei:

»der hat sich führen und leiten lassen,

war niemals böswillig, hat keine

Widerrede gehabt, im Gegenteil,

was man ihm gesagt hat, das hat er

gemacht.« Vor Gericht schwärmte

Parche über Steffi Graf: »Sie hat Augen

wie Diamanten und Haare wie

Seide. Der Himmel hat sie uns geschickt.«

Ein Gerichtspsychiater beschrieb

in einer NDR-Dokumentation

das Lebensumfeld Parches als

»Ein-Mann-Sekte«; er projiziere alles,

»was er an Wünschen hat«, auf »diesen

Fernsehstar«. Parche schrieb Graf

auch Briefe und schickte der Millionärin

Geld. Unterschrieben waren die

Briefe mit »Ein Fan aus Thüringen«.

»Ein Fan aus Thüringen« ist auch

der Name eines 2022 aufgeführten

Theaterstücks, das der junge Theaterregisseur

Demjan Duran in Berlin

inszeniert hat. Als »abseitiges Heldentum«

beschrieb Gerichtspsychiater

Hans-Ludwig Kröber im Prozess 1995

die Tat, weil Parche wusste, dass er

dafür strafrechtlich verfolgt werden

würde. Er habe sich für seine Steffi

geopfert, so der Psychiater. Tatsächlich

verhalf Parche Graf damit wieder

auf den Tennisthron. Und er

stoppte die sportliche Rivalität zwischen

Seles mit Graf, die drei Jahre

vorher begonnen hatte und seine

Steffi schlecht aussehen ließ.

Bis zum 20. Juli 1990 beim Frauentennisturnier

in Berlin schien Graf

mit 66 Siegen in Folge quasi unbesiegbar.

In diesem Traumfinale trat

die Weltranglistenerste Steffi Graf

gegen die Weltranglistendritte Monica

Seles an. Diese, damals erst 16 Jahre

alt, gewann.

Zwei Wochen später gelang Seles

die Wiederholung dieses Triumphs

bei den Paris Open, einem der vier

Grand-Slam-Turniere, ebenfalls im

Finale. Sie ist bis heute die jüngste Gewinnerin

des bedeutenden Turniers.

In den nächsten drei Jahren baute

Monica Seles ihre Dominanz aus. Das

lag vor allem an ihrer Spielweise.

Sie schlug beidhändig Vor- und Rückhand,

was ihr Spiel kraftvoll und

unberechenbar machte. Dazu kam

ein lautes Stöhnen beim Schlagen

des Balls, das ihr Markenzeichen

wurde, die konservative Tennis welt

verunsicherte und die Boulevardblätter

erfreute.

Grunting (Grunzen) ist seitdem

immer wieder Thema im Tennis, genauer

gesagt im Frauentennis. Die

geschlechtliche Dimension ist unübersehbar,

da es bei männlichen

Spielern als aggressiv gilt, bei Frauen

hingegen mit Sex assoziiert wird.

Was Boris Becker dazu brachte, im

Jahr 2015 ein »Stöhnverbot« zu fordern:

»Das hat ja auch etwas Sexuelles,

und man fragt sich: Das muss

doch die Stimmbänder reizen und

kann nicht gesund sein.« Michael

Stich hatte bereits 2009 kommentiert,

grunting sei »widerlich, hässlich

und unsexy«. Einige Sportsoziologen

sehen im Stöhnen und Ächzen

ein Anzeichen, wie sich Tennis

vom Sport der Oberschicht, der mit

einer gewissen Vornehmheit, Zurückhaltung

und ohne Erfolgsdruck ausgeübt

wurde, zum leistungsorientierten

Sport der aufstrebenden Mittelklasse

entwickelt hat.

Bemerkenswert ist an Monica Seles

außerdem, dass sie in ihrer aktiven

Zeit in den Medien als Jugoslawin

wahrgenommen wurde, obwohl Jugoslawien

in dieser Zeit immer weiter

zerfiel. Duran sagte der Jungle

World hierzu: »Seles hatte in ihren

Aussagen und Interviews nie politisch

Stellung bezogen. Sie gehörte

einer ungarischen Minderheit an

und war in Jugoslawien geboren und

als Jugoslawin wurde sie gesehen.

Andere Sportlerinnen haben sich

damals eindeutig als Kroatin oder

Serbin betitelt, um ein klares Statement

zu setzen.«

Duran verwies auf einen weiteren

Aspekt des Attentats. Die Tat sei nicht

nur individuelle Verrücktheit, vielmehr

müsse auch ein nationalistisches

Motiv mitgedacht werden. Er belegte

dies mit einem Auszug aus

dem Geständnis des Täters. »Dann

verlor Steffi Graf 1990 die German

Open in Berlin gegen Monica Seles.

Damals brach eine ganze Welt für

mich zusammen«, hatte Parche ausgesagt.

Er habe den Gedanken nicht

ertragen können, dass irgendjemand

Steffi Graf schlagen könnte. »Obwohl

sie immer noch die Nummer

eins auf der Weltrangliste war, erschütterte

mich dieses Ereignis so

sehr, dass ich daran dachte, mir das

Leben zu nehmen.« Das Schlimmste

für ihn sei die Tatsache gewesen, dass

sie ihr Spiel in Berlin verloren habe.

»Sie hatte anderswo schon mehrmals

Turniere verloren. Aber diesmal war

Vor Gericht schwärmt Parche über Steffi Graf:

»Sie hat Augen wie Diamanten und Haare

wie Seide. Der Himmel hat sie uns geschickt.«

es in Deutschland, und, was noch

schlimmer war, in Gegenwart unseres

Bundespräsidenten. Das alles

war zu viel für mich.« Duran führte

weiter aus, dass auch in Parches

Brief immer mal wieder Sätze fielen

wie: »Steffi ist so wunderbar deutsch.«

Das sei jedoch nie eingehend thematisiert

worden, »weder medial

noch vor Gericht«, so der Theaterregisseur.

Tatsächlich sollten immer gesellschaftliche

Stimmungen bei der Frage

nach den Motiven mitreflektiert

werden, wenn Täter mit »schwerer

Persönlichkeitsstörung«, wie ein

Gutachter Parche diagnostizierte, gewalttätige

Handlungen planvoll

umsetzen gegen Menschen, die ihnen

persönlich nichts getan haben. Nationalistisches

Anspruchs- und Herrschaftsdenken,

das sich ein knappes

halbes Jahr vorher beim Pogrom

in Rostock-Lichtenhagen und in dieser

Zeit an vielen anderen Orten entlud,

kann durchaus dazu beigetragen

haben, die Tennisweltrangliste

mit dem Messer zu verändern.

»Hätten Sie Frau Seles auch verletzt,

wenn sie eine Deutsche gewesen

wäre?« fragte die Richterin Parche damals,

der dazu lieber schwieg.

Im August ist Parche im Alter von

68 Jahren verstorben. Die letzten

14 Jahre lebte er in einem Pflegeheim

im thüringischen Nordhausen.

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27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

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Essay

Für und gegen

nächtliche

Ruhestörung

und sinnlose

Gewalt

Der Revolutionäre 1. Mai ist ein Ereignis mit bundesweiter, wenn nicht internationaler

Strahlkraft. Das Bild, das man sich andernorts von Kreuzberg und ganz

allgemein von radikalen Linken macht, ist davon maßgeblich geprägt. Ein

Rückblick auf 36 Jahre Revolutionärer 1. Mai in Kreuzberg. Von Ely Ora

Eine längst bekannte Feststellung, die zu akzeptieren noch immer Schwierigkeiten bereitet, aufgenommen am 1. Mai 1992 an einer Hausmauer in Kreuzberg

picture alliance / ZB | Bernd Settnik

Voriges Jahr liefen etwa 20 000 Leute

bei der abendlichen Revolutionären

1.-Mai-Demonstration von Neukölln

nach Kreuzberg. Nennenswerte Zusammenstöße

mit der Polizei gab es

dabei nicht. Das war mal ganz anders.

Alles begann am 1. Mai 1987 mit

heftigen Auseinandersetzungen zwischen

Teilen der Kreuzberger Bevölkerung

und der Polizei, bei denen die

Autonomen eine wichtige, aber nicht

die zentrale Rolle spielten. Die am

1. Mai geplünderte Filiale der längst

verblichenen Lebensmittelkette

»Bolle« am Görlitzer Bahnhof ging

in der Nacht auf den 2. Mai in Flammen

auf. Das war das Fanal der autonomen

1.-Mai-Aktivitäten.

Der Vorabend

Anfang der neunziger Jahre gab es feministische

Walpurgisnachtdemos,

die durch Schöneberg und Kreuzberg

zogen. Gänzlich ohne politisches Rahmenprogramm

kamen ab Mitte der

Neunziger Tausende Jugendliche am

Kollwitzplatz und später im Mauerpark

in Prenzlauer Berg auf teils

kommerziellen Festen zusammen,

wo es regelmäßig zu Auseinandersetzungen

mit der Polizei kam. Linksradikale

spielten dabei keine besonders

große Rolle.

Stärker von der linken Szene geprägt

waren die Aktivitäten, die sich

ab den nuller Jahren in Friedrichshain

rund um den Boxhagener Platz abspielten.

Vorher gab es teilweise auch

Konzerte mit antikapitalistischem

Schwerpunkt – vor allem gegen »Yuppisierung«

–, die von der Berliner

Anti-Nato-Gruppe (B.A.N.G.) organisiert

wurden und mit denen vor allem

Punks mobilisiert werden konnten.

Trotz einzelner Ausschreitungen

wurde es wie auch auf den 1.-Mai-

Demonstrationen auch hier in den

nuller Jahren immer friedlicher.

Eine Demonstration organisierte

die aus der Antifa-Bewegung hervorgegangene,

gemeinhin als antideutsch

verstandene Gruppe KP

B3rlin (Kritik & Praxis B3rlin) im Jahr

Bis 1987 war die Sache bei vielen

Westberliner Linken klar: Am Nachmittag

ist man auf dem Straßenfest am Lausitzer

Platz und morgens auf der DGB-Demo.

2004 gegen die EU-Osterweiterung.

Drei Jahre später folgte unter dem

Motto »Reduce it to the max: just

communism!« die faktische Nachfolgegruppe

TOP B3rlin (Theorie Organisation

Praxis) mit einer wütenden,

kahlrasierten Britney Spears auf den

Ankündigungsplakaten und durchaus

pointierten Sätzen im Aufruf

(»Der Prolet hat im Kapitalismus ein

Interesse an seiner Ausbeutung –

sonst hat er ja nichts!«).

Ab Anfang der zehner Jahre gab

dann in der bis dahin von der radikalen

Linken relativ stiefmütterlich behandelten

einstigen KPD-Hochburg

die Demonstration »Hände weg vom

Wedding!«, die seitdem alljährlich

durch den Bezirk zieht mit dem Ziel,

dass das seit Anfang der Neunziger

drohende »Kommen« des Wedding

einfach nicht stattfinden darf. Zumindest

jenseits des Sprengelkiezes,

der ist wohl verloren. Auch Bewährtes

kehrt zurück: Seit einigen Jahren

gibt es auch wieder eine feministische

Demo zur Walpurgisnacht.

Die Gewerkschaften

Bis 1987 war die Sache bei vielen Westberliner

Linken klar: Am Nachmittag

ist man auf dem Straßenfest am Lausitzer

Platz und morgens auf der

DGB-Demo. Gerne in widerspenstigen

Blöcken und gerne auch wütend am

Pfeifen, wenn die sozialdemokratische

(Gewerkschafts-)Prominenz spricht.

Mit den Kreuzberger Ereignissen 1987

und der ersten revolutionären Demonstration

1988 hat sich das aber

im Grunde erledigt. Einige kommunistische

und anarchosyndikalistische

Gruppen mit nostalgischer Liebe

zum Proletariat sahen darin aber keinen

Grund, ihre Praxis zu verändern,

und liefen isoliert am Ende der

sozialpartnerschaftlichen Bier-und-

Bratwurst-Manifestation mit.

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise

2008 mobilisierte im Folgejahr erstmals

auch ein Bündnis aus Deutscher

Kommunistischer Partei (DKP), ehemaligen

Antiimps und linken Gewerkschaftern

zum »Klassenkämpferischen

Block«, der seitdem, wenn auch

immer schwach besucht, ebenfalls

auf der 18-Uhr-Demo mitläuft. Viel

verändert an der Strahlkraft des

morgendlichen Events hat das nicht

und man kann davon ausgehen, dass

das trotz des Eierwurfs auf die Regie-

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27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

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rende Bürgermeisterin Franziska

Giffey (SPD) im vorigen Jahr auch so

bleibt.

Die Nazis

Als Anfang der Neunziger infolge des

Anschlusses der DDR an die BRD im

tiefsten Osten der Stadt erstmals Nazis

am »Tag der nationalen Arbeit«

durch ihre »national befreiten Zonen«

marschierten, war das für den allergrößten

Teil der radikalen Linken

kein Grund, etwas an ihren Gewohnheiten

zu ändern. In den nächsten

Jahren stieg die Antifaschistische Aktion

Berlin (AAB) zur führenden

Kraft der radikalen Linken in der Stadt

auf und auch bundesweit gewann

der revolutionäre Antifaschismus an

Bedeutung. So wurden ab Mitte der

Neunziger teilweise auch außerhalb

der Berliner Stadtgrenzen Hunderte

Menschen zu Protesten gegen Nazi-

Aufmärsche in der ehemaligen DDR

mobilisiert.

In manchen Jahren konnten Tausende

Menschen die Nazi-Aufmärsche

in Berlin empfindlich stören

und deutlich verkürzen, das gelang

aber nicht immer. Oft waren wenige

Hundert Antifas der polizeilichen

Übermacht hoffnungslos unterlegen.

Entscheidend war häufig, wie

engagiert sich die AAB und später

die Antifaschistische Linke Berlin

(ALB) der Sache widmete oder ob

sie sich doch eher auf die eigene Demonstration

konzentrierte, wie

es sämtliche andere linksradikalen

Gruppen getan haben. Die Naziaufmärsche

waren für sie ein lästiges

Ärgernis, die eigene Praxis

wollte man sich zumindest an diesem

Tag davon aber nicht diktieren lassen,

wenngleich kaum ein Bündnis

nicht pflichtschuldig »Naziaufmarsch

verhindern!« auf ihr Material

druckte.

In den zehner Jahren entwickelte

sich die AfD zur westdeutschen Parlaments-

und ostdeutschen Volkspartei

und ebenfalls im Osten entstand

eine ideologisch zwar diffuse, aber

mindestens latent völkische Massenbewegung.

Die ganz offen nationalsozialistischen

Kräfte verloren aber

ebenso wie die expliziten Antifa-

Gruppen an Ausstrahlungskraft und

so verlor dieser Kampf am 1. Mai

immer mehr an Relevanz.

Die 13-Uhr-Demo

13 Uhr. Oranienplatz. »Gegen Patriarchat

und Kapital kämpfen wir international!«

So fing alles an. Bis zu

20 000 Leute folgten alljährlich der

Demonstration durch Kreuzberg und

Neukölln, später Friedrichshain.

Themen waren die sogenannte Wiedervereinigung

(»Raus auf die Straße

statt heim ins Reich!«), Kurdistan, die

Unruhen in Los Angeles 1992, aber

auch die Anti-Olympia-Kampagne.

Das schon seit 1990 gespannte Verhältnis

zwischen sich explizit als

revolutionär verstehenden Maoisten

und sich explizit als undogmatisch

verstehenden Autonomen eskalierte.

Die Autonomen wollten weder Stalinnoch

Mao-Konterfeis und auch keinen

Lautsprecherwagen des Revolutionary

Internationalist Movement

(RIM) auf ihrer Demo, was insbesondere

Ostberliner Teilnehmer oftmals

genauso sahen. Nicht nur die RIM,

sondern auch andere kommunistische

Gruppen verteidigten die »Freiheit

der Propaganda und Agitation«.

Es kam 1992 zu Schlägereien, im Folgejahr

wurden dabei auch Holzstangen

eingesetzt. Einzelne Teilnehmer

applaudierten der Polizei, als sie den

RIM-Wagen aus der Demo zog. Daraufhin

galt die RIM vielen in der Szene

als eine Gruppe von »bewaffneten,

gewalttätigen Mao-Stalinisten«,

während sie selbst von »rassistischen

und antikommunistischen«

Ausgebrannte »Ente«. Nach der Randale am am 1./2. Mai 1987

picture alliance / Henning Langenheim

Angriffen der »Kapitulatoren« sprach.

Die 13-Uhr-Demo in ihrer bisherigen

Form war damit Geschichte.

Die Maoisten machten einfach weiter

und mobilisierten von 1994 an

jedes Jahr am 1.Mai um 13 Uhr zum

Oranienplatz und ließen dabei auch

in den restlos defensiven neunziger

Jahren ein Banner mit der Losung

»Keine Befreiung ohne Revolution!«

über der Oranienstraße flattern.

Einige antiimperialistische und kommunistische

Gruppen schlossen sich

der Demo in manchen Jahren an,

mehr als 3 000 Menschen konnten

aber nie wieder mobilisiert werden.

Durchaus beeindruckend aber war

die Vielfalt. Die Teilnehmer waren

deutlich internationaler und weniger

gymnasial und studentisch als bei

den sonstigen linksradikalen Veranstaltungen,

und wie bei den abendlichen

Auseinandersetzungen konnte

man auch schon hier migrantische

Jugendliche und deutsche (Straßen-)

Punks in Aktionseinheit sehen.

Die größten Teile der linken Szene

blieben aber fern. Nicht nur die Ereignisse

der frühen Neunziger, sondern

auch teils körperliche Übergriffe

auf Antideutsche prägten dort das

Bild der federführenden Revolutionären

Kommunisten (RK). In den nuller

Jahren wurde diese Demo, die zwar

explizit revolutionäre Inhalte, aber

kein militantes Auftreten hatte, immer

kleiner. 2010 liefen kaum mehr

100 versprengte Revolutionäre durch

die Oranienstraße, woraufhin das

Event mangels Teilnehmer eingestellt

wurde.

Explizit in ihre Tradition stellte sich

der Jugendwiderstand (JW) ab dem

Jahr 2016, anfangs mit identischer

Losung und ebenfalls immer um

13 Uhr, allerdings am Neuköllner Karl-

Marx-Platz. Während die RK auf allen

Ebenen versuchten, den Kreuzberger

Aufstand von 1987 als Bezugspunkt

zu wahren, gab sich der JW dort deutlich

weniger Mühe dabei und verwies

auf die veränderte »Klassenstruktur«

des Stadtteils. Ähnlichkeit

bestand jedoch in der prominenten

Würdigung von bewaffneten Kämpfen

der jeweiligen maoistischen Geschwisterparteien

in Lateinamerika

und Südostasien sowie einer, zumindest

damals, in der radikalen Linken

umstrittenen eindeutigen Solidarisierung

mit »Palästina«. Wobei man

mindestens im Fall des JW auch von

einem großen Hass auf Israel sprechen

kann. »9 mm für Zionisten!«

lautete eines ihrer Graffiti.

Viel mehr als 500 Leute konnten der

JW am 1. Mai jedoch nie begeistern.

Anfangs kamen auch noch andere

kommunistische und antiimperialistische

Gruppen zu der Demonstration,

doch sie wurde mit jedem Jahr

kleiner und war zusehends isoliert.

Auch hier waren es beim letzten Mal

weniger als 100 Teilnehmer.

Inhaltlich wurde noch ein weiterer

Unterschied zu den Vorgängern immer

deutlicher. Die stark migrantisch

geprägten RK gingen für das Abspielen

von Slimes »Deutschland«-Song

am 1. Mai ins Gefängnis und klagten

dagegen bis zum Verfassungsgericht.

Auf ihren Demos riefen sie »Tod dem

deutschen Vaterland – Schwarz-Rot-

Gold wird abgebrannt!« und »Nie wieder

Deutschland!« Der deutlich weniger

migrantisch geprägte JW bezeichnete

am 1. Mai von NPD bis Linke

alle Parteien als »Volksfeinde« und

schwärmte in seiner Auflösungserklärung

2019 von einer »roten Jugend«,

»die klar sagt, dass sie das Volk, die

Heimat und ihre Leute, die Jungs

und Mädels aus den Vierteln, liebt«.

Inzwischen sind einige dieser Patrioten

bei der Identitären Bewegung

(IB) und der rechtsextremen Kleinpartei

»Der III. Weg« angekommen.

Seit 2019 auf ist auch diese 13-Uhr-

Demonstartion Geschichte.

Der Osten

1992 gab es im Prenzlauer Berg eine

Demo unter dem Motto »Der Osten

schlägt zurück!« mit 1 000 Teilnehmern.

Auch eigene Straßenfeste

wurden organisiert. Schon in den Vorjahren

hatte es Vorbehalte gegeben,

dass die Kreuzberger 13-Uhr-Demonstration

ins vormalige Ostberlin

führt, und auch 1996 wurde eine

Demonstrationsroute durch den

Prenzlauer Berg kritisiert. In den darauffolgenden

Jahren verlor dieser

Ost-West-Konflikt aber immer mehr

an Bedeutung.

Die KPD/RZ

1994 brachten die zeitweise in der

Bezirksverordnetenversammlung vertretenen

Kreuzberger Patriotischen

Demokraten/Realistisches Zentrum

(KPD/RZ) unter dem Motto »Gegen

nächtliche Ruhestörung und sinnlose

Gewalt!« etwa 2 500 Leute auf die

Straße. »Deutsche Polizisten – Gärtner

und Floristen!«, schallte es durch

den Abend. Die deutlich humorloseren

Adressaten griffen auch diese

Demonstration an.

Die 16-Uhr-Demo

Von 1995 bis 1997 beteiligten sich antiimperialistische

Kräfte wie die Autonomen

Kommunisten (Autokomms)

an der Kreuzberger 13-Uhr-Demo.

Bei aller Skepsis vor der gleichzeitig

im Prenzlauer Berg protestierenden

»Pop-Antifa«, also der AAB, waren es

vor allem die explizit undogmatischen

Autonomen, mit denen man

nicht zusammenkam. Zum Bruch

mit der AAB kam es 2002, als sich diese

am (letztlich nicht verwirklichten)

Konzept »Denk Mai neu!« des

Politikprofessors Peter Grottian und

der SPD/PDS-Stadtregierung beteiligte.

Ronald Fritzsch, ein ehemaliges

Mitglied der Bewegung 2. Juni, sagte

dazu in der öffentlich-rechtlichen

»Abendschau«: »Dieses Land ist im

Krieg. Es wird Gewalt massiv nach

außen getragen. Und SPD und Grüne,

die für diese Gewalt verantwortlich

sind, sitzen auch im Bündnis.« Das

Gegeninformationsbüro (GIB) ergänzte:

»Vorauseilender Gehorsam

gegenüber den Herrschenden gehört

trotz eines strittigen Politikverständnisses

bisher nicht zur Politik

der AAB.«

Nun aber warf man ihr vor, mit

der Verlegung ihrer Demonstration

nach Mitte einen Beitrag zur Befriedung

Kreuzbergs zu leisten, und mobilisierte

unter dem Motto »Kriegstreiber

stoppen! Kapitalismus zerschlagen!«

um 16 Uhr zum Görlitzer

Bahnhof, wo sie von der 13-Uhr-

Demo abgeholt wurden und mit vielen

roten, aber auch palästinensischen,

baskischen und jugoslawischen

Fahnen durch Kreuzberg zogen.

2003 kam es vor dem Hintergrund

des Irak-Kriegs unter dem Motto

»Krieg dem Krieg nach außen und

nach innen!« zur ganz großen Einheitsfront

von Maoisten über Antiimperialisten

bis hin zur AAB und

der eher sozialreformistischen Gruppe

Für eine linke Strömung (Fels).

2004 folgte eine Neuauflage mit dem

Slogan »Sag Ja zum Nein!« ohne die

Maoisten am Potsdamer Platz mit

Schwerpunkt auf der Kritik der Sozialreformen

der sogenannten Agenda

2010. Seitdem hat dieses Milieu immer

zur 18-Uhr-Demo aufgerufen

und nur noch vereinzelt (teils unangemeldete)

Zubringerdemos mit

internationalistischem oder stadtpolitischem

Schwerpunkt organisiert.

Gerade Ersteres sorgt bei Antideutschen

für Kritik, denn die traditionell

antiimperialistischen Kräfte haben

ihre Position zum Nahost-Konflikt

seit den achtziger Jahren nur in

Nuancen verändert und arbeiten

oft mit palästinensischen und neuerdings

auch mit kleinen dezidiert

antizionistischen jüdischen Gruppen

zusammen.

Der Mayday

Mit dem Konzept des Mayday der

Gruppe Fels wurden erstmals 2005

explizit prekär Beschäftigte angesprochen

und bis zu 5 000 Menschen

mobilisiert. Weder revolutionäre

Parolen noch klassische autonome

Protestformen wollten die Veranstalter

dabei übernehmen. Mit betont

unmilitantem Auftreten und vielen

Techno-Trucks sollte ein ganz neuer

politischer Ausdruck gefunden werden.

»Krawall war vorgestern. Ende

In den nuller Jahren wurde diese Demo, die

zwar explizit revolutionäre Inhalte,

aber kein militantes Auftreten hatte, immer

kleiner. So liefen 2010 kaum mehr

100 versprengte Revolutionäre durch die

Oranienstraße, woraufhin das Event

mangels Teilnehmern eingestellt wurde.

des Krawalls war gestern. Politische

Inhalte sind jetzt«, jubelte das Fels-

Mitglied Felix Lee in der Taz.

Das »Jetzt« endete 2009. Die Gruppe

Fels räumte selbstkritisch ein,

dass die eigenen Ansprüche nicht erfüllt

worden waren. In der radikalen

Linken war das Konzept schon vorher

umstritten: »So streiken sie woanders!«

plakatierten die Autokomms

2008 als Antwort auf das Motto »Be.

Strike. Berlin!« mit Bildern von mit

Steinschleudern bewaffneten vermummten

Hafen- und Bergarbeitern

aus Südeuropa.

Der Grunewald

Anders als der Mayday nicht als Konkurrenz,

sondern eher als Ergänzung

zur abendlichen Großdemonstrationen

können die Protestaktionen im

»Problemkiez« Grunewald betrachtet

werden. Eher von realdadaistischen

und ökosozialistischen Kräften getragen,

wurde hier ab dem Ende der

zehner Jahre in satirischer Form die

ungleiche Vermögensverteilung angegriffen.

Zuwachs bekamen die Aktionen

vor allem in den Pandemiejahren

durch Fahrraddemonstrationen

aus ärmeren Stadtteilen, die

dann über die A 100, deren Verlängerung

noch immer droht, zur 18-Uhr-

Demo führten.

Die 18-Uhr-Demo

Nach den Vorkommnissen 1993 zogen

sich große Teile der Autonomen in

den Jahren 1994 und 1995 erst einmal

von 1. Mai zurück. 1996 kamen sie

zurück – und es wurde nun auch dem

Letzten klar, dass die achtziger Jahre

vorbei waren. Maßgeblich geprägt

wurde diese 13-Uhr-Demo nun von

der AAB. Diese verstand es überaus

geschickt, im unpolitischen Geist

der neunziger Jahre nach dem vielzitierten

»Ende der Geschichte« massentaugliche

linksradikale Politik zu

machen. Die Parolen wurden weniger

traditionalistisch und stärker

popkulturell geprägt (»Enough is

enough!«, »Für ein Ende der Gewalt!«,

»Macht verrückt, was euch verrückt

macht!«), mit dem Design hätte man

sich bei MTV bewerben können, es

traten namhafte Popmusiker auf und

inhaltlich wurde eine gewisse Uneindeutigkeit

bewahrt. Das weckte durchaus

Interesse. Das Symbol für diesen

Umbruch war der Truck. Viele andere

linksradikale Gruppen sahen darin

ein Zeichen der Entpolitisierung in

Richtung einer »autonomen Love Parade«.

Die unorganisierten Teilnehmer

waren weniger kritisch. Erstmals

seit 1993 kamen wieder bis zu 15 000

Demonstranten am 1. Mai zusammen.

Der 1. Mai 1987 war dabei jedoch

nicht mehr der dominierende Bezugspunkt.

Die Demonstration begann

am Rosa-Luxemburg-Platz. Und seit

1998 um 18 Uhr. Begründet wurde

das mit den Anti-Nazi-Aktivitäten am

Vormittag, doch die größere zeitliche

Nähe zu den abendlichen Ausschreitungen

hat der Popularität dieses

Events definitiv nicht geschadet.

1999, im Jahr der Nato-Intervention

in Jugoslawien und der Verhaftung

des PKK-Führers Abdullah Öcalan,

vereinigte man sich mit antiimperialistischen

und kommunistischen

Gruppen, die bisher um 13 Uhr demonstrierten,

um 18 Uhr in Kreuzberg.

Der AAB-Truck fuhr auf, Tausende

folgten, Atari Teenage Riot

spielten, die Einsatzkräfte rannten

am Kottbusser Damm davon, aber

dann hatte Innensenator Eckart Werthebach

(CDU) genug. 2000 verordne-

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27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

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te er der Demonstration mit dem

Motto »Imperialistische Zentren angreifen!

Soziale Revolution weltweit!«

sehr strenge Auflagen. 2001

dann verbot er die 18-Uhr-Demonstration

– und ließ die Nazis am

Morgen gewähren.

Das gab einen mächtigen Mobilisierungsschub.

Schon im Vorjahr

hatte der Vertreter der Autokomms

auf einer Pressekonferenz gesagt:

»Sei es, dass U-Bahnen abgesperrt

werden, dass hier Leute nicht nach

Kreuzberg einreisen können, dass

hier überall Straßenkontrollen stattfinden,

dass Leute abgewiesen werden,

dass Leute an den Straßenkontrollen

festgenommen werden, wie

wir es in den vergangenen Jahren erlebt

haben – das führt sicherlich

immer dazu, dass die Stimmung aggressiv

wird!«

Worte, die 2001 dann ergänzt wurden

durch: »Die Kreuzberger Bevölkerung

wird den Stadtteil den ganzen

Tag über besetzt halten, wird sich

den Aufforderungen der Polizei, nicht

nach Kreuzberg zu fahren, nicht hier

zu sein, widersetzen. Wir stellen uns

gegen den Polizeistaat einen wandernden

Kessel von Menschenansammlungen

vor ganz nach dem

Beispiel, wie es in Jugoslawien gewesen

ist, wo Tausende Bürger die Brücken

besetzt haben, um sich vor den

Nato-Bombern als menschlicher

Schutzschild in der Öffentlichkeit zu

präsentieren!«

Und so war es dann auch. 2001 fiel

die 18-Uhr-Demo aus, aber der Verlauf

des gesamten Tages wurde in der

radikalen Linken als großer Sieg

gefeiert. In stundenlangen Straßenschlachten

wurde der Kreuzberger

Mariannenplatz gegen die Polizei verteidigt.

Es waren nicht die von Werthebach

angekündigten »weniger

schlimmen Krawalle als in den Vorjahren«,

sondern die schwersten

Ausschreitungen seit zehn Jahren in

der Stadt und wahrscheinlich der bedeutendste

Fall von Kooperation zwischen

organisierten Linksradikalen

und Kreuzberger Bevölkerung seit

1989. Oder wie Ivo Bozic in der Jungle

World (19/2001) schrieb: »Dieses Jahr

(stand) offenbar der ganze Kiez hinter

den Steinewerfern.« 2002 dann gab

es kein Demoverbot.

Das AAB-Erfolgskonzept ging bald

nicht mehr auf. Mit dem 11. September

waren nicht nur die hedonistischen

neunziger Jahre unwiderruflich vorbei,

auch die Antifa verlor ihre Einheitlichkeit.

Der neue Fokus auf den

Konflikten im Nahen Osten spaltete

die Bewegung. In Berlin löste sich die

AAB zwei Tage vor der riesigen

Demonstration gegen den Irak-Krieg

2003 auf und spaltete sich. Der definitiv

aktionsorientierte, tendenziell

eher internationalistische und teilweise

sozialpopulistische Flügel der

Antifaschistischen Linken Berlin

(ALB) mobilisierte um 15 Uhr zum

Oranienplatz, der diskursorientierte,

eher antideutsch und teilweise wertkritisch

geprägte Flügel von Kritik und

Praxis (KP) stellte sich in die Tradition

der 18-Uhr-Demo am Rosa-Luxemburg-Platz

(und ließ dort pikanterweise

die Band Mia spielen, die noch im

selben Jahr mit »Was es ist« einen patriotischen

Gassenhauer veröffentlichte).

Das Motto »Nie wieder Frieden!«

zog aber weniger Menschen als

in den Vorjahren an, die 15-Uhr-Demo

war deutlich größer. Und während

im Aufruf der Irak-Krieg ähnlich wie

die deutsche Opposition dazu abgelehnt

wurde (»Unsere Kritik gilt einem

aus Hegemonialinteressen geführten

Krieg und einem aus Hegemonialinteressen

beschworenen

Frieden«), ließ es sich die bis dato eher

weniger aktivistische Redaktion Bahamas

nicht nehmen, mit USA- und

Israel-Fahnen an einem Block teilzunehmen.

Folgenlos blieb die Ankündigung

des B.A.N.G.-Pressesprechers

Gunnar Krüger, der laut Bahamas-

Redakteur Justus Wertmüller schon

wegen »Äußerlichkeiten« eine Unerträglichkeit

darstellte, die Demo anzugreifen,

sollten USA-Fahnen mitgeführt

werden.

1994 brachten die zeitweise in der Bezirksverordnetenversammlung

vertretenen

Kreuzberger Patriotische Demokraten /

Realistisches Zentrum (KPD/RZ) unter dem

Motto »Gegen nächtliche Ruhestörung

und sinnlose Gewalt!« etwa 2 500 Leute auf

die Straßen.

Mitte der nuller Jahre ließ dann

aber nicht nur die KP, sondern auch

die ALB den 1. Mai links liegen und

konzentrierte sich auf ihre Antifa-

Aktivitäten, was die Beteiligung an

1.-Mai-Aktivitäten erheblich schwächte.

Um 18 Uhr wurde nun unter dem

Motto »Kein Krieg! Kein Hartz! Kein

Demoverbot! 1. Mai – Straße frei!«

unangemeldet aus dem Straßenfest

»Myfest« heraus demonstriert, was in

der Szene als Erfolg verbucht wurde.

Die Größe der legalen Demo wurde

jedoch nicht erreicht und auch Zahl

und Schwere der militanten Auseinandersetzungen

gingen stark zurück.

2007 kehrte die ALB kurz vor dem

Rostocker G8-Gipfel zurück und organisierte

gemeinsam mit der Antifaschistischen

Revolutionären Aktion

Berlin (ARAB) federführend die alljährliche

Demonstration, bis sich beide

Gruppen auflösten und die maßgeblich

von ehemaligen Mitgliedern

beider Gruppen geprägte Radikale

Linke Berlin (RLB) übernahm. Mediales

Aufsehen erhielt die Demo durch

ihre Anmelder. 2008 war es Ralf Reinders,

ehemals Mitglied der Bewegung

2. Juni, der die Boulevardpresse

ebenso hyperventilieren ließ wie die

Anwesenheit von Inge Viett (ehemals

Bewegung 2. Juni und RAF) im Frontblock

der Demo im Jahr zuvor.

2009 titelte die B.Z. mit einem Porträt

von Kirill Jermak, der für die

Linkspartei in der Bezirksverordnetenversammlung

Lichtenberg saß: »Dieser

Linke-Politiker führt Krawall-

Demo an!« Heiko Werning kommentierte

die Personalie in der Taz: »So

sind sie, die Berliner Revolutionäre:

Lassen ihre Demo von einem Mitglied

der Regierungspartei anmelden!«

Doch so viel humorvolle Gelassenheit

blieb die Ausnahme. »Wer

stoppt diese Irren?« titelte die B.Z.

mit den Konterfeis aller Teilnehmer

der Pressekonferenz kurz vor der

Demonstration.

Und auch dort hielt man nichts von

verbaler Deeskalation: »Die Bullen

haben in Kreuzberg am 1. Mai nichts

zu suchen«, so ein Vertreter der Autonomen

im Hugo-Chávez-Shirt mit

Che-Guevara-Mütze. »Wir sehen uns

in der Tradition des Blutmais«, also

der von der Polizei mit Schusswaffen

aufgelösten Mai-Demonstration der

KPD 1929 mit 33 Toten, ergänzte der

ARAB-Vertreter. Aus dem klassenkämpferischen

Block heraus wurde

dem DGB-Vorsitzenden Michael

Sommer widersprochen: »Wir wollen

soziale Unruhen und wollen alles

dafür tun.« Die 18-Uhr-Demo mit dem

Motto »Kapitalismus heißt Krieg und

Krise!« war 2009 dann vielleicht

nicht größer als in den Vorjahren,

aber deutlich militanter. Es kam

schon während der Demonstration

zu Angriffen auf die Polizei.

Seither ziehen in schlechten Jahren

5 000, in guten Jahren 20 000 Menschen

durch Kreuzberg, teilweise mit

dem Ziel, in den Bezirk Mitte zu

gelangen. Immer wieder hieß es, die

Demonstration müsse endlich ins

»Zentrum der Macht« geführt werden.

In einigen Jahren wurde das

auch gemacht. Die Folge war, dass es

entweder zu heftigen Polizeieinsätzen

gegen die im östlichen Stadtzentrum

völlig isolierten Teilnehmer

kam (1994), deutlich weniger Leute

kamen (2004) oder eine riesige Masse

relativ leise an einem Feiertag in einer

völlig leeren Einkaufsmeile herumstand

(2013). »Als wäre es ein

Ostermarsch gewesen«, lästerte die

Taz. Die Autokomms hatten noch

zuvor auf der Plattform Indymedia

den Gang nach Mitte kritisiert. Man

müsse in den Kiezen bleiben, wo man

Rückhalt habe und die Kämpfe stattfänden.

Widerlegt wurden sie nicht. 2019

ging es auch aus Solidarität mit dem

besetzten Haus in der Rigaer Straße

94 nach Friedrichshain. Seit 2021

startet man in Neukölln. In all den

Jahren haben sich die Zusammensetzung

des Bündnisses und dessen politische

Inhalte verändert. Waren diese

Anfänge der zehner Jahre noch stark

von der Wirtschafts- und Euro-Krise

geprägt, wurden durch den Syrien-

Krieg und die darauffolgenden Fluchtbewegungen

ab Mitte des Jahrzehnts

antirassistische und internationalistische

Kämpfe zum Thema. Aus Protest

gegen die Teilnahme der antiisraelischen

Bewegung BDS (Boycott,

Divestment & Sanctions) verließ die

innerhalb des Bündnisses eher randständige

Kleinpartei Ökolinx (Ökologische

Linke) das Bündnis. Sie ist in

Berlin zwar von überschaubarer Größe,

stellte aber mit Jutta Ditfurth

eine prominente Rednerin.

2021 dominierte die Migrantifa die

Demonstration und den Frontblock.

Ungewöhnlich viele migrantische

Teilnehmer und ebenfalls nicht wenige

kurdische und palästinensische

Fahnen prägten diesen. Die Bahamas

schrieb von einer Wiederkehr des

eigentlich schon abgewendeten »Unheils«

in Form eben jener »Palästina-

Fahnen, Apartheidsvorwürfe und garantiert

aus Israel stammenden Berliner

Antifaschisten, die dem Spuk

ihren jüdischen Segen gaben«. In der

Jungle World (17/2021) hieß es, die

von dem Bündnis propagierte Öffnung

stärke »auch antizionistische

und antisemitische Positionen«.

Man muss nicht immer in die Ferne

schweifen, auch das hiesige (Dienstleistungs-)Proletariat

ist als revolutionäres

Subjekt keineswegs abgeschrieben.

Das diesjährige Plakat zieren in

zeitgemäßer intersektionaler Diversität

unter anderem Kurierfahrer,

Krankenpflegerinnen, Kassiererinnen

und Briefzusteller. Selbst der im

vergangenen Jahr von dem aus dem

RLB-Umfeld hervorgegangenen

Bund der Kommunist:innen (BdK)

plakatierte Bauarbeiter mit gelbem

Helm tauchte wieder auf. Der anarchistische

Block wuchs voriges Jahr

auf über 1 000 Teilnehmende und

könnte damit eventuell den Platz

einnehmen, den Antiimps und Autonome

bis Mitte der Neunziger und

vor allem Antifas in den darauffolgenden

Jahrzehnten hatten.

Peng

Der Urknall war 1987. Autonome kippten

eine Wanne um, die Polizei griff

daraufhin das Straßenfest am Lausitzer

Platz an, war von der Gegenwehr

völlig überwältigt und zog sich stundenlang

aus Kreuzberg zurück. Über

30 Geschäfte wurden geplündert.

Die »Bolle«-Filiale am Görlitzer Bahnhof

brannte aus.

Bei den Autonomen herrschte große

Euphorie, aber auch Erschrecken. In

dieser anarchischen Nacht gab es Körperverletzungen

und sexuelle Übergriffe

unter den Beteiligten, nicht selten

durch Betrunkene. Vom »Aufstand

der Arschlöcher« (Radikal) sprach

aber nur eine kleine Minderheit. Auch

die damalige Alternative Liste (AL)

konnte sich nicht eindeutig distanzieren,

zu deutlich wurde die sozialpolitische

Dimension dieses Aufstands.

In der Regierung angekommen,

versuchte sich die AL 1989 auch an

einem deeskalierenden Konzept.

»Hier spricht die Polizei. Bitte unterlassen

Sie das Bewerfen der Einsatzkräfte

mit Steinen«, hieß es auf der

Demo. Bis zu 1 500 Personen war das

allerdings egal, zu präsent war die

Polizeigewalt der vergangenen Jahre,

da blieb kein Raum für parteipolitisches

Kalkül. Außerdem konnte man

auf diese Weise zeigen, dass auch ein

SPD/AL-Senat nichts an der Notwendigkeit

militanter Aktionen änderte.

Manche Beobachter vermuteten indes,

die Polizei hätte den SPD/AL-Senat

auflaufen lassen wollen, indem man

die Randale zuließ. So nahm der

Abend seinen Lauf. »Beirut? Das ist

Berlin!« hieß es am Tag danach in

der B.Z. »Eine Schande für die Linke«,

titelte die Taz.

In den Neunzigern flauten die Ausschreitungen

deutlich ab, auch wenn

diese nun teilweise auch Friedrichshain

und den Prenzlauer Berg erreichten.

Doch es kam an jedem 1. Mai

in irgendeiner Form zu Auseinandersetzungen,

die 2001 dann noch einmal

einen neuen Höhepunkt erreichten.

Mit dem Myfest änderte sich das

Bild. Während CDU-Innensenatoren

viele Teilnehmer noch zum Steinwurf

animierten, schaffte es der rot-rote

Senat in Zusammenarbeit mit den

Kreuzberger Grünen, die Lage dauerhaft

zu entspannen. Das Myfest

unterschied sich von anderen linken

Straßenfesten in Kreuzberg, Friedrichshain

oder dem Prenzlauer Berg.

Diese Feste, an denen Autonome

und Kommunisten, die PDS/Die Linke

Gerade die nicht übermäßig wohlhabenden,

aber geschäftstüchtigen Teile der

oft migrantisch geprägten Bevölkerung

verkauften lieber überteuertes Dosenbier

oder orientalische Spezialitäten, als

sich den Straßenschlachten anzuschließen.

und die Grünen teilnahmen, hatten

einen klar politischen Charakter

und endeten teilweise auch im Tränengas.

Das Myfest war anders. Es bot als

eine Art leicht alternativer Vergnügungspark

vielfältige Unterhaltungsund

Verdienstmöglichkeiten. Gerade

die nicht übermäßig wohlhabenden,

aber geschäftstüchtigen Teile

der oft migrantisch geprägten Bevölkerung

verkauften lieber überteuertes

Dosenbier oder orientalische Spezialitäten,

als sich Straßenschlachten

anzuschließen. Die wieder aufflammenden

Ausschreitungen in den

Jahren 2009 und 2021 gingen ausschließlich

von der Demonstration

aus. Die Kreuzberger ließen sich

nicht zum Mitmachen animieren.

In diesem Jahr fällt das Myfest aus,

da der Veranstalter aufgegeben hat.

Ein sogenanntes Multikulti-Musikprogramm

soll das Publikum vom

Steinewerfen abhalten. Doch von den

Kreuzbergern droht ohnehin kaum

mehr Ungemach. Auch wenn die

Autokomms mit ihrer Ankündigung

»Hohe Mieten in Kreuzberg? Nicht

mit uns, ihr Schweine!« noch an eingefleischte

Häuserkämpfer appellieren,

ist das im Bezirk lebende Klientel

doch längst ein anderes. Inzwischen

weist Kreuzberg mit die teuersten

Mieten Berlins bei Neuvermietungen

auf und verliert den Ruf, der »linkeste«

Stadtteil zu sein, nicht nur den

Wahlergebnissen nach immer deutlicher

an das nördliche Neukölln. Dorthin

orientiert sich mittlerweile auch

die Demonstration.

Zwar provozierte die CDU-Fraktion

im Abgeordnetenhaus viele, als sie

die Vornamen der Tatverdächtigen

der Silvesternacht-Ausschreitungen

erfragen wollte. Es ist aber sehr unwahrscheinlich,

dass der designierte

Regierende Bürgermeister Kai Wegner

(CDU) derart stark zur diesjährigen

Mobilisierung beiträgt, wie das

sein Parteikollege Eberhard Diepgen

noch im Jahr 2001 vermochte.

Der »dschungel« gehört zur Wochenzeitung Jungle World.

Herausgegeben von Doris Akrap, Bernd Beier, Christiane Bischoff, Ivo Bozic,

Tilman Clauß, An dreas Dietl, Irene Eidinger, Holm Friebe, Richard Götz, Martin

Hauptmann, Holger Hegmanns, Holger Hinterseher, Julia Hoffmann, Sarah

Käsmayr, Stefanie Kron, Anton Landgraf, Federica Matteoni, Carl Melchers,

Ferdi nand Muggen thaler, Christine Pfeifer, Georg Ramsperger, Tobias Rapp,

Joachim Rohloff, Stefan Rudnick, Dierk Saathoff, Eva Schmid, Stephanie Schoell,

Heiko von Schrenk, Jörn Schulz, Tim Seidel, Maik Söhler, Regina Stötzel, Markus

Ströhlein, Isabel Teusch, Nicole Tomasek, Udo Tremmel, Sam Tyson, Wolf-Dieter

Vogel, Elke Wittich, Deniz Yücel und anderen.

Redaktion CvD Bernd Beier (V.i.S.d.P.) (030) 747 86 26 60 Feuilleton Heike

Runge (verantw.), Dierk Saathoff (030) 747 86 26 65 Sport Elke Wittich

(030) 747 86 26 50 Layout Max Altenburg, Eva Schmid, Stephanie Schoell, Sam

Tyson (030) 747 86 26 75 Lektorat Oliver Schott, Uli Krug (030) 747 86 26 70

Homepage https://jungle.world E-Mail [ressortname]@jungle.world

Jungle World erscheint in der Jungle World Verlags GmbH.

Hausanschrift: Gneisenaustr. 33, 10 961 Berlin

Geschäftsführung Christine Pfeifer, Irene Eidinger (030) 747 86 26 45

Verlag Friederike Wegner Anzeigen Friederike Wegner, Christine Pfeifer (030)

747 86 26 45 Druck A. Beig Druckerei und Verlag GmbH & Co. KG

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Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

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