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Wochenzeitung Jungle World Nr. 17 Donnerstag, 27. April 2023 27. Jahrgang 5,00 Euro Österreich 5,60 Euro
# 17/2023
Zerfall der Junta.
Im Sudan kämpfen
rivalisierende Generäle
der Armee und
der Miliz RSF um die
Macht. Seite 12
Das sexy Raubtier. In den
Ruinen der alten Völklinger Hütte
fragt der Medienkünstler Julian
Rosefeldt danach, warum der
Kapitalismus so erfolgreich ist.
Dschungel-Seiten 2 bis 5
4 194449 705001
17
Heißer Mai. Die Proteste gegen Emma nuel
Macrons Rentenreform gehen trotz deren
Billigung durch den Verfassungs rat unvermin
dert weiter. Viele Franzosen fürchten um
das Sozialsystem als solches. Der Präsident
versucht, die Wogen zu glätten, bei seinen
Ort sterminen kommt es jedoch regel mäßig
zu Stromausfällen. Dazu gibt es harsche
Kritik an der Pariser Polizei und ein Interview
mit einer Sekretärin der linken Gewerkschaft
Sud-PTT auf den Thema-Seiten 3 bis 5
Biere, Bullen, Blöcke. Vor 36 Jahren brannte
in Berlin-Kreuzberg der »Bolle« aus. Eine Tour de
Force durch die Geschichte der autonomen
1.-Mai-Aktivitäten. Dschungel-Seiten 18 bis 23
Nicht mal Inflationsausgleich. Die Beschäftigten
im öffentlichen Dienst haben den höchsten
Tarifabschluss seit 50 Jahren erkämpft, eine
Mitgliederbefragung entscheidet, ob er angenommen
wird. Doch die jüngsten Reallohnverluste würde er
nicht ausgleichen. Seite 6
picture alliance / abaca | Huchot-Boissier Patricia/ABACA
Homestory
Schon wach? Nö, nicht so richtig, ist ja noch früh und in unseren
Social-Media-Gruppen ist wenig los. Erst gegen später setzt in den
redaktionsinternen Chat-Gruppen der Traffic ein. Redakteure und
Redakteurinnen bieten ihre zu groß gewordene Yucca-Palme an, teilen
Fundstücke aus dem Internet (»Im Bronx-Zoo in NYC gibt es
übrigens ein Gehege, das so heißt wie wir!« Foto vom Zoo-Eingang),
posten Szene-Interna und stellen wilde Fragen (»Haben wir oder jemand
einen Online-Zugang für die Junge Welt?). So weit, so gut.
Aber werden bei der Jungle World skandalöse Textnachrichten wie
im Hause Springer gepostet? Verdeckte Kampagnen initiiert? Wird
bepöbelt und gehatet? Transparenz wird in jedem Fall bei uns groß
geschrieben. Aus Anlass der Döpfner-Rants machen wir daher Teile
unserer Chatnachrichten zu kultursensiblen Themen (FDP, neue
Bundesländer) öffentlich. Urteilen Sie bitte selbst, ob Sie bei uns
irgendwelche verletzenden oder missverständlichen Darstellungen
und Ausdrucksweisen erkennen können.
»Hahaha, Ossi-Othering«, meint ein Redakteur aus dem inneren
Zirkel gewohnt zurückhaltend über Dirk Oschmanns Buch »Der
Osten, eine westdeutsche Erfindung«. Eine Kollegin wird deutlicher.
Anzeige
»Ich habe nichts gegen Ossis, meine Nachbarn sind sogar welche.
nehmen Pakete an + kontrollieren Hausmüll.« »Basically allesamt
Faschisten«, resümiert ein dritter Redakteur. Versuchte Wahlbeeinflussung,
gibt es das auch? Na, sicher. »Können wir bitte nochmal
einen Giffey-Hate-Text bringen vor der Wahl?« hakt ein aufmerksamer
Redakteur in einem Post an das Inlandsressort nach. Der FDP
wird politisch übrigens gar nichts zugetraut (»An die FDP denke ich
aus Prinzip nicht«), die alte Zahnärztepartei wird mit schlechtem
Wetter (»gute Farbe für Regenjacken @KatjaSuding«) und schlechtem
Geschmack in Verbindung gebracht (»Warum haben da alle
Frauen seltsame Doppelnamen?«). Aber wie geht es denn nun weiter?
Die Umsturzpläne des Springer-Chefs – »Vielleicht sollte man
aus der ehemaligen DDR eine Agrar- und Produktionszone mit Einheitslohn
machen« – werden bei uns als viel zu kleinteilig verlacht.
Umsturz geht anders. Wobei es praktische Bedenken gibt: »Hab’ 25
based Genossen max. – wird wohl nix.« Besonders schwarz sieht
ein anderer Kollege: »Wenn ich mir überlege, wer eine Revolution
machen könnte, möchte ich in echt lieber keine erleben.«
Inhalt
THEMA
3 Bernhard Schmid: In Frankreich hat der Verfassungsrat
die Rentenreform abgesegnet, die Proteste
gehen weiter
4 Léo Rosell: Das französische Sozialsystem ist ein
Vermächtnis aus der Nachkriegszeit
4 Linn Vertein: Anwälte prangern von willkürliche
Freiheitsberaubung durch die Pariser Polizei an
5 Moritz Pitscheider im Gespräch mit der Gewerkschafterin
Marie Vairon über den Widerstand gegen
die Rentenreform
INLAND
6 Stefan Dietl: Der Tarifabschluss im öffentlichen
Dienst reicht nicht als Inflationsausgleich
7 Johannes Reinhardt: Die FDP will Sozialausgaben
begrenzen
7 Jens Winter war mit der Letzten Generation in der
Kirche
8 Dominik Lenze: Angestellte von NGOs protestieren
gegen schlechte Arbeitsbedingungen
9 Thorsten Mense: Die kriminellen Machenschaften
einer Nazi-Familie in der sächsischen Kleinstadt
Colditz
9 Lothar Galow-Bergemann kommentiert die gewerkschaftliche
Forderung nach der Viertagewoche
REPORTAGE
10/11 Thomas Berger: In Nepal versucht eine Schule,
den schonenden Umgang mit Ressourcen zu lehren
AUSLAND
12 Hannah Wettig: Im Sudan kämpfen Armee und
eine Miliz gegeneinander
13 Catharina Hänsel: Das Oberste Gericht Indiens
entscheidet über die Legalisierung der Ehe für alle
13 Elke Wittich: Ron DeSantis, republikanischer
Gouverneur von Florida, kämpft gegen den Disney-
Konzern
14 Robin Eberhardt: Trotz brutaler Kriegführung
gerät das Militärregime Myanmars in die Defensive
15 Felix Sassmannshausen: Die EU hat nach dem
»Katargate« Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung
angekündigt
15 Katja Woronina: Der Kreml-Kritiker Kara-Mursa
wurde zu 25 Jahren Strafkolonie verurteilt
WISSENSCHAFT
16 Tobias Prüwer: Fanny Hesse revolutionierte die
Bakterienforschung mit einem Haushaltsmittel
INTERVIEW
17 Joseph Keady im Gespräch mit Shane Burley
über Antisemitismus und Verschwörungstheorien in
den USA
DISKO
18 Jörn Schulz: Der chinesische Führungsanspruch
bedroht vor allem Nachbarstaaten und arme Länder
ANTIFA
19 Bernhard Torsch: In Österreich hetzen Rechtsextreme
immer stärker gegen LGBT-Personen
HOTSPOT
20 Kai Schubert: Small Talk mit Sina Arnold von der
TU Berlin über Antisemitismus bei Migranten und
Muslimen
20 Svenna Triebler preist die abstrakte Schönheit
20 Margit Hildebrandt: Perus ehemaliger Präsident
Alejandro Toledo sitzt jetzt in Untersuchungshaft
DSCHUNGEL
2–5 Jens Winter: Julian Rosefeldt stellt in der Völklinger
Hütte aus
6/7 Tobias Prüwer: Darren Aronofskys Spielfilm
»The Whale« und die Kritik am Fat Suit
8/9 Charlie Bendisch im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin
Julia Ingold über Deutschrap
10/11 Luca Glenzer: Tristan Brusch klingt auf seiner
neuen Platte einmal mehr nach Hildegard Knef
12/13 Marco Kammholz: Tove Soiland und ihre
Schriften über »sexuelle Differenz«
14 Gabriele Summen und Maurice Summen: Ein
neues Buch von Judith Hermann und ein neuer Film
mit Isabelle Huppert
14 Elke Wittich: Was es bei der SPD zu essen gibt
14 Jana Sotzko über »Mercy« von John Cale
15 Andreas Michalke: Der Sohn hat plötzlich viele
Mütter
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SPORT
16/17 Fabian Kunow: Vor 30 Jahren stach ein Fan von
Steffi Graf auf die Tennisspielerin Monica Seles ein
IMPRINT
18–23 Ely Ora: Die feurige Geschichte des 1. Mai in
Kreuzberg
COMICS
24 Frau Kermle, Totes Meer, Neukölln Arkadien,
Leowald
HOME ∎∎∎ SEITE 2
27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Es bleibt laut. Mit Töpfen und Kochlöffeln begleiten Protestierende die Rede Emmanuel Macrons vor dem Pariser Rathaus am 17. April
picture alliance / NurPhoto / Guillaume Pinon
Macrons 100-Tage-Plan
Auch nachdem das Verfassungsgericht die Rentenreform in Frankreich
gebilligt hat, gehen die Proteste weiter. Präsident Macron, der nun
versucht, seine Beliebtheit wiederherzustellen, wendet sich dabei auch
der politischen Rechten zu.
Von Bernhard Schmid, Paris
»Ich gestehe ein, dass ich in der Debatte
nicht genügend präsent war«, sagte
der französische Staatspräsident Emmanuel
Macron zu Wochenbeginn im
Interview der Tageszeitung Le Parisien,
um anzukündigen: »Ich werde mich
stärker engagieren.«
Thema des Interviews war der rasante
Popularitätsverlust, den sich Macron
und seine Regierung unter Premierministerin
Elisabeth Borne eingehandelt
haben, als sie im März die umstrittene
Rentenreform ohne parlamentarische
Mehrheit per gewonnenem Misstrauensvotum
durchsetzten. Am 14. April
hat nun auch der französischen Verfassungsrat
– der Conseil constitutionnel,
der in Frankreich die Funktion eines
Verfassungsgerichts übernimmt – die
Reform abgesegnet (siehe S. 4). Nur
noch 26 Prozent der Franzosen erklärten
sich Ende vergangener Woche
allgemein »zufrieden« mit Macrons
Amtsführung. Hingegen wählten
47 Prozent die negativste Antwort, die
das Umfrageinstitut Ifop angeboten
hatte: »sehr unzufrieden«. Ausnahmslos
alle demoskopischen Institute stellen
große und stabile Mehrheiten fest,
die die Rentenreform ablehnen. Unter
den abhängig Beschäftigten lehnen bis
zu 90 Prozent das Vorhaben ab. In der
Umfrage des Institut Elabe sagten ferner
64 Prozent der Befragten, sie wünschten
eine Fortsetzung der Proteste durch
die Gewerkschaften, ungeachtet dessen,
dass der Verfassungsrat der Reform
zugestimmt hat.
Im Nachtprogramm des Privatfernsehsenders
BFM TV interpretierte der
Grünen-Politiker Yannick Jadot (Europe
Écologie – Les Verts) Macrons Eingeständnis
am Sonntagabend so: »Ich
habe noch nicht genug geredet. Ich
muss noch mehr reden!« Macrons Ankündigung
fassten viele eher als Drohung
denn als Angebot auf. Mehr reden
lassen wollten zahlreiche Französinnen
und Franzosen den Staatspräsidenten
nicht unbedingt. Als Macron am
Mittwoch voriger Woche im elsässischen
Muttersholtz eine Fabrik besuchen
wollte, fiel dort der Strom aus. Im
Nachbarstädtchen Sélestat empfing ihn
eine weitgehend feindselige Menschenmenge.
Drei Anwesende sollen
nun im September vor Gericht erscheinen.
Ihnen wird zur Last gelegt,
dass sie dem Präsidenten den Mittelfinger
entgegengereckt haben sollen.
Zu einem Stromausfall kam es auch
früh am Donnerstag voriger Woche, als
Macron das südfranzösische Département
Hérault besuchte – zunächst am
Flughafen von Montpellier, später an
der Mittelstufenschule in der ländlichen
Gemeinde Ganges, die der Staatschef
besichtigte. Im 4 000-Einwohner-Örtchen
demonstrierten rund 1 000
Menschen gegen ihn, die auf Kochtöpfe,
Deckel und Pfannen schlugen. Diese
Protestform wird seit vorvergangener
Woche immer populärer, am Montag
wurden erneut rund 400 französische
Städte auf diese Weise beschallt. Anlass
war der erste Jahrestag der Wiederwahl
Macrons.
Die Stromausfälle kommen nicht von
ungefähr. Die CGT-Gewerkschaft im
Energiesektor hatte zuvor angekündigt,
Politikern und Unternehmen unfreiwillige
»Energiesparmaßnahmen« aufzuerlegen.
Das war auch eine Reaktion
darauf, dass Macron in einer Fernsehansprache
am Abend des 17. April verkündet
hatte, innerhalb von »100 Tagen«
werde er nun Verbesserungen
den Bereichen Schule, Gesundheitssystem,
Soziales, Ökologie einleiten. Größtenteils
lässt sich Macron nicht auf
konkrete Zusagen ein, dem Lehrpersonal
an Schulen stellte er am vergangenen
Donnerstag auf dem Pressetermin
beim Schulbesuch im Département
Hérault jedoch eine Erhöhung des Nettolohns
um 100 Euro in Aussicht. Dabei
handelt es sich aber nur um die Wiederholung
dessen, was der von Macron
gewünschte »Lehrerpakt« vorsieht:
Lehrern im Gegenzug für eine zusätzliche
Vergütung weitere Aufgaben zuzuteilen.
Ein Vorschlag, den die Gewerkschaften
bereits in der Vergangenheit
kritisierten.
In Reaktion auf Macrons 100-Tage
Programm kündigte die CGT Energie
Träte Marine Le Pen am kom men -
den Sonntag gegen Emmanuel
Macron bei der Stichwahl um die
Präsident schaft an, würde sie
Umfragen zufolge mit 55 Prozent
haushoch gewinnen.
»100 Aktionstage« an. Macrons Ankündigung
diente wohl vor allem dazu, die
Gewerkschaften zur Mitarbeit zu bewegen
und dabei ihre in den Augen der
Regierung starrsinnige Ablehnung der
Rentenreform abzuschwächen. Nur
lehnen sämtliche französischen Gewerkschaften,
unabhängig von ihren
sonstigen Richtungsunterschieden,
Macrons Gesprächsangebot ab. Sie wissen
dabei die Bevölkerungsmehrheit
an ihrer Seite.
Zu den Strategien, mit denen Macron
seine Popularität wieder steigern
möchte, zählt auch ein indirektes, aber
deutliches Zugeständnis an die extreme
Rechte. In seinem Interview in der
Tageszeitung Le Parisien kündigte der
Präsident ein neues Ausländergesetz
an – eines in einer langen Reihe,
schließlich hat es seit 1980 bereits 29
neue Ausländergesetze (Stand 2022)
gegeben, eines alle 17 Monate. Es scheint,
als ob Macron hier die Handlungsfähigkeit
demonstrieren möchte, auf die
er in ökonomischen und sozialen Belangen
verzichtet, wo allein nur noch
der angebliche Sachzwang herrschen
soll. Im Dezember hatte Macrons Innenminister
Gérald Darmanin einen entsprechenden
Gesetzentwurf vorgelegt.
Da die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse
in Sachen Rentenreform
sich da bereits zu Ungunsten der Regierung
verschoben, entschloss man
sich, Darmanins Vorschlag zunächst
zu vertagen. Nun soll das Gesetzesvorhaben
erneut auf die Tagesordnung
gesetzt werden.
Macron und Darmanin möchten
neue Härten für straffällige Ausländer
und sonstige Ausreisepflichtige einführen:
So soll der Anteil der tatsächlich
vollzogenen Ausweisungen von Ausreisepflichtigen,
der derzeit bei 15 Prozent
liegt, erheblich angehoben werden.
Auch dem Arbeitskräftebedarf von
Unternehmen beispielsweise im Gaststätten-
und Baugewerbe will man berücksichtigen:
Arbeitnehmer ohne Papiere
in Sektoren mit Arbeitskräftemangel
sollen ihren Aufenthalt zukünftig
leichter legalisieren können. Letzteres
empört den rechten Flügel von LR
ebenso wie den Rassemblement national
(RN) und Éric Zemmour, den bekannten
Vorsitzenden der rechtsextremen
Partei Reconquête. Sie alle beschwören
eine Katastrophe in Gestalt
einer »massenhaften Einladung von
Illegalen zum Abholen von Aufenthaltstiteln«.
Für eine parlamentarische Mehrheit
wäre die weitreichende Zustimmung
von Abgeordneten der konservativen
Oppositionspartei Les Républicains
(LR) entscheidend. Auch die Rentenreform
auf herkömmlichen Weg durchs
Parlament zu bringen, scheiterte daran,
dass Macron nicht die Zustimmung
der Mehrzahl der LR-Abgeordneten erreichen
konnte. Darmanin baut darauf,
dass Verschärfungen
etwa bei der Verhängung
von Ausreiseverpflichtungen
und bei Abschiebungen
auch bei LR auf Zustimmung
stoßen.
Die konservative Partei
wählte im Dezember einen
neuen Vorsitzenden, Éric
Ciotti, der auf mehreren Feldern
– Innere Sicherheit,
Bürgerrechtspolitik, Einwanderung,
Islam, nationale Identität –
erklärtermaßen mit der ex tremen Rechten
konkurriert. Ciotti hatte im September
2021 angekündigt, falls es zu einer
Stichwahl um die Präsidentschaft
zwischen Macron und dem Rechtsextremen
Éric Zemmour käme (letztlich
erhielt Zemmour nur sieben Prozent
der Stimmen im ersten Wahlgang),
würde er für Zemmour stimmen, Marine
Le Pen hingegen sei ihm sozialpolitisch
»zu links«.
Dieses Image macht diese derzeit
aber eher populärer. Am Samstagmorgen
konnte die Fraktionsvorsitzende
des RN in der Nationalversammlung
beim Besuch einer Landwirtschaftsmesse
in Beaucroissant, in der Nähe
von Grenoble, in der Menge baden.
Umfragen verkünden, dass, wenn Le Pen
am kommenden Sonntag gegen Macron
bei der Stichwahl um die Präsidentschaft
anträte, sie diese mit 55 Prozent
haushoch gewinnen würde.
Die Parteiführung von Emmanuel
Macrons Partei, Renaissance, kündigte
Ende voriger Woche an, eine Sonderkommission
zur politischen Bekämpfung
des RN einzusetzen. Das Problem
dabei ist nur, dass sie dies bereits zum
dritten Mal in Folge seit 2019 ankündigt.
Marine Le Pen profitiert als lachende
Dritte vom Ringen zwischen Regierung
und Kapitalvertretern einerseits und
Gewerkschaften auf der anderen Seite,
jedenfalls solange die Gewerkschaften
den Abwehrkampf nicht gewinnen und
Macron weiterhin eine schlechte Figur
abgibt. Dabei hält Le Pen sich relativ
bedeckt. An Demonstrationen nimmt
ihre Partei nicht teil, platziert jedoch
vereinzelt populistischen Äußerungen
gegen die Rentenreform, ohne inhaltlich
viel beizusteuern (Jungle World
12/2023). Das funktioniert, weil der RN
zwar nicht auf der Straße präsent ist,
jedoch seit 2022 das Parlament als Bühne
nutzen kann und in zahlreichen
Fernseh-Talkshows vertreten ist. Auch
die linke parlamentarische Opposition
könnte von der Situation profitieren, allerdings
ist die linkspopulistische
Wahlplattform LFI (La France insoumise)
zerstritten und hat es überdies
nicht geschafft, den Gewerkschaften die
Führung der organisierten Proteste
streitig zu machen; so kann sie sich derzeit
nicht besonders profilieren.
Ursprünglich war die extreme Rechte
selbst für eine Erhöhung des Rentenantrittsalters
eingetreten. Als das Rentenmindestalter
noch bei 60 Jahren
lag, also vor Nicolas Sarkozys Rentenreform
vom Herbst 2010, propagierte der
Front national – so lautete der damalige
Parteiname des heutigen RN – eine
Anhebung des Renteneintrittsalters auf
65. Der verbreitete Unmut über die
Reform unter Sarkozy ließ die rechtsextreme
Partei dann jedoch Gegenteiliges
in ihre Wahlprogramme schreiben
und gegen eine Erhöhung wettern,
ohne das inhaltlich großartig zu begründen.
Zemmour, der dem RN gerne realpolitische
Aufweichung seiner Grundsätze
vorwirft und ideologische Prinzipientreue
von ihm oder gegen ihn einfordert,
blieb seinerseits den früheren
Forderungen des RN treu. Er sagte bereits
im Februar, wäre er Abgeordneter,
würde er der Rentenreform Macrons
zustimmen.
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 3 ∎∎∎ THEMA
Von der Résistance zur Renaissance
Die Gegner der Rentenreform sehen diese als Angriff auf das franzö sische
Sozialsystem als Ganzes und das historische Erbe des gaullistischkommunistischen
Befreiungskompromisses. Auf den Schildern der
Demonstrierenden ist derzeit oft der kommunistische Minister Ambroise
Croizat zu sehen, der das französische Sozialsystem entwarf.
Von Léo Rosell, Paris
Obwohl der französische Verfassungsrat
ihm eine Frist von 15 Tagen ein geräumt
hatte, unterzeichnete Präsident
Emmanuel Macron sein Gesetz zur Reform
des französischen Renten sys tems
noch am Abend des 14. April. Nur wenige
Stunden zuvor hatte das Gremium –
angerufen von der Opposition, um die
Reform auf ihre Verfassungsmäßigkeit
hin zu prüfen – das Gesetzesvorhaben
bestätigt und außerdem den von Reformgegnern
eingebrachten Antrag, ein
Referendum über das Gesetz abzuhalten,
abgelehnt; ein solches Referendum
wäre das letzte Rechtsmittel gegen die
Reform gewesen. Damit steht im Grunde
fest, dass Macrons Rentenreform
kommen wird, außer Macron selbst tritt
noch von dem Vorhaben zurück. Die
anhaltenden Proteste (siehe S. 3) zeigen
jedoch, dass viele Franzosen das Sozialversicherungssystem
verteidigen
wollen.
Das französische Sozialmodell, das
seine Gegner als veraltet und unwirtschaftlich
ansehen, ist in den vergangenen
Jahrzehnten oft angegriffen
worden. In einem Leitartikel des Magazins
Challenges aus dem Jahr 2007 gab
Denis Kessler, der Vorsitzende von Scor
SE, einem der größten Rückversicherungsunternehmen
weltweit, den Kurs
vor: »Es geht heute darum, 1945 hinter
sich zu lassen und das Programm des
Conseil national de la Résistance nach
und nach abzuschaffen!« Das bei der Befreiung
Frankreichs eingeführte Sozialschutzmodell
gilt vielen Franzosen als
ein Erbe, das um jeden Preis zu verteidigen
sei, anderen hingegen als Ballast
für die Wirtschaft, den man möglichst
schnell abwerfen müsse.
Macron hat nie Zweifel daran gelassen,
wo er in diesem Konflikt steht. Bereits
während des Präsidentschaftswahlkampfs
2017 teilte der Kandidat der
Partei En marche (mittlerweile Renaissance)
seine Absicht mit, das aus der
Phase der Libération, der Befreiung von
der deutschen Besatzung und dem
Wiederaufbau der Republik, hervorgegangene
französische Sozialmodell zu
reformieren, und sagte am 4. September
2016 beim Nachrichtensender
France info: »Das Modell der Nachkriegszeit
funktioniert nicht mehr. Der
politische, wirtschaftliche und soziale
Konsens, der 1945 begründet und
1958 vervollständigt wurde, ist hinfällig.«
Wie Macron hier den sozialen
Rückschritt rhetorisch als Fortschritt verkauft,
ist typisch für sein politisches
Programm. Bereits im Jahr 2019 strebte
er eine vollständige Neugestaltung des
Rentensystems an – Ansprüche hätten
sich aus einem Punkte- statt nach dem
Umlageverfahren berechnen sollen –,
die aber nach wochenlangen Protesten
und dem Ausbruch der Pandemie begraben
wurde. Am 25. April 2019 beteuerte
Macron auf einer Pressekonferenz
noch, dass es in Anbetracht hoher
Arbeitslosigkeit und schlechter Arbeitsbedingungen
»heuchlerisch« wäre,
das gesetzliche Renteneintrittsalter
auf 64 Jahre zu erhöhen.
Nun, vier Jahre später, ist genau das
der wichtigste Teil des Reformprojekts,
das er und seine Premierministerin
Elisabeth Borne vorantreiben. Die Regierung
stellt die Reform als sozial
gerecht und notwendig für den Erhalt
des umlagefinanzierten Rentensystems
dar. Ihre Kritiker hingegen halten
sie für ungerecht, undemokratisch und
ideologisch motiviert. Einer Umfrage
der Informationsagentur Harris interactive
vom 27. März zufolge lehnen
mehr als 70 Prozent der Franzosen die
Reform ab. Im Januar gaben in einer
Studie des Institut Montaigne
nur sieben Prozent
der Erwerbstätigen an, die
Reform zu befürworten. Aus
Angst, für das politische
Projekt keine Mehrheit im
Parlament zu erhalten,
wählten Macron und seine
Premierministerin den
rigorosen Weg und nutzten
Artikel 49.3 der Verfassung,
der es ermöglicht, ein Gesetz
ohne Abstimmung im Parlament zu
verabschieden, sollte die Regierung
einen Misstrauensantrag abwehren
können – was gelang (Jungle World
12/2023).
Der harten Art und Weise, wie das
Gesetz quasi am Parlament vorbei
durchgesetzt wurde, folgte auf der
Straße die Härte der Polizei (Jungle
World 13/2023). Während die Demonstrationen
zunächst relativ ruhig verliefen,
kam es nach der Ankündigung,
den Artikel 49.3 anzuwenden, am
16. März zu einem repressiven Strategiewechsel
mit Hunderten von willkürlichen
Festnahmen und exzessiver Gewaltanwendung.
Daraufhin äußerten
neben verschiedenen Menschenrechtsorganisationen
wie Amnesty International
auch der Europarat und die
»Wir werden aus der Rente nicht
mehr das Vorzimmer des Todes,
sondern eine neue Etappe des
Lebens machen.« Ambroise Croizat,
Gründer des französischen
Sozialsystems, 1945
Vereinten Nationen Besorgnis über das
rücksichtslose Vorgehen der französischen
Exekutive.
Auffällig oft beziehen sich die Demonstranten
auf die lange Tradition des
französischen Sozialsystems. Insbesondere
ein Name ist immer wieder auf
Schildern zu lesen: Ambroise Croizat,
Gewerkschafter und Mitglied der französischen
KP. Als Minister für Arbeit
und soziale Sicherheit während der
Die Freiheit, nicht zu arbeiten. »Verteidigen wir unsere Freiheit!« schrieben Protestierende am 6. April an eine Wand Paris
Libération (1945–1947) führte er das allgemeine
Sozialversicherungssystem
ein. In seiner ersten Rede als Minister
vor der Verfassunggebenden Versammlung
am 3. Dezember 1945 fasste
Croizat sein Programm so zusammen:
»Von nun an schützen wir den Menschen
vor Bedürftigkeit. Wir werden
aus der Rente nicht mehr das Vorzimmer
des Todes, sondern eine neue
Etappe des Lebens machen.«
Die Entwickler dieser Sécurité sociale,
kurz Sécu genannt, wollten die Sozialpolitik
revolutionieren. Fast 80 Jahre
später und trotz einer Reihe von Reformen,
die die Grundprinzipien des
französischen Sozialmodells nach
und nach geschwächt haben, bleibt die
Vorstellung von der Rente als »fortgeführtes
Gehalt« dominant gegenüber
der liberalen Interpretation als »aufgeschobenes
Einkommen«. Das französische
Modell hat sich auch in den
vergangenen Jahren, sei es während der
Krise von 2008 oder der Covid-19-Pandemie,
als wirksame soziale Absicherung
erwiesen. Auch das trägt zweifellos
zur Verbundenheit vieler Franzosen
mit dem Sozialversicherungssystem
bei, das einst dem politischen Bestreben
entsprang, den Menschen die
»Angst vor dem Morgen« zu nehmen.
picture alliance / ZUMAPRESS.com / Joao Daniel Pereira / Atlantic
Polizei in
Sanktionslaune
Die französische Polizei ist für ihr gewalttätiges und willkürliches Vor -
gehen bei Demonstrationen gegen die Rentenreform wiederholt
kri tisiert worden. Nun hat ein Zusammenschluss von Rechtsanwälten
Strafanzeigen gegen Beamte erstattet.
Von Linn Vertein
Mehr als 100 Strafanzeigen unter anderem
wegen Einschränkung der Demonstrationsfreiheit
und Verletzung
der persönlichen Freiheit durch Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen des öffentlichen
Dienstes hat eine Gruppe
von Anwälten bei der Pariser Staatsanwaltschaft
eingereicht. Das teilte die
Gruppe in einer Pressemitteilung vom
31. März mit. In ihrer Stellungnahme
beziehen sich die Anwälte auf offizielle
Zahlen der Pariser Polizeipräfektur. An
den drei aufeinanderfolgenden Tagen
des 16., 17. und 18. März seien demnach
bei den Protesten gegen die Rentenreform
insgesamt 425 Personen von der
Pariser Polizei in Gewahrsam genommen
worden. Am 16. März hatte der
französische Präsidenten Emmanuel
Macron angekündigt, die Rentenreform
mit Hilfe des Artikels 49 Absatz 3
der Verfassung am Parlament vorbei
zu beschließen. Die bis dahin überwiegend
friedlichen Proteste gegen das
Gesetzesvorhaben wurden daraufhin
militanter, es gab Ausschreitungen mit
Sachbeschädigungen in Paris und
weiteren Städten.
Dass es nach den 425 Festnahmen in
nur 52 Fällen zu einer strafrechtlichen
Verfolgung kam, sehen die Anwälte als
Indiz dafür an, dass die Ingewahrsamnahmen
»ebenso überzogen wie unbegründet«
waren. »Hunderte von Demonstranten
werden für 24 Stunden
und bis zu drei Tage inhaftiert, die meisten
von ihnen wurden aber weder angeklagt
noch vor Gericht gestellt«, sagt
der Pariser Strafrechtsanwalt Raphael
Kempf. »Selbst Menschen, die sich
abseits des Geschehens aufhielten, wurden
an diesem Tag mitgenommen«, so
Kempf. »Die Festnahmen fanden größtenteils
ohne hinlängliche Begründung
eines Anfangsverdachts statt.«
Dem Nachrichtensender Euronews
sagte Kempfs Kollegin Coline Bouillon,
dass diese Praxis der »Gewahrsamssanktionen«
eine bekannte Strategie der
französischen Polizei gegen Demonstrierende
darstelle, bei denen diese mit
»unzulässigen Anschuldigungen« überzogen
würden, die »in Bezug auf den
Nachweis von Schuld haltlos« seien. Die
Tageszeitung Libération berichtete in
diesem Zusammenhang von zwei minderjährigen
österreichischen Schülern,
die auf Klassenfahrt gewesen seien und
am 16. März von der Pariser Polizei in
Gewahrsam genommen worden waren.
Schließlich musste sich die österreichische
Botschaft einschalten.
Bei allen 52 Personen, die einem
Staatsanwalt vorgeführt worden waren,
stellte man die Verfahren gegen Auflagen
ein. Darunter fielen Geldbußen
zwischen 200 und 500 Euro, Beschlagnahmung
des Mobiltelefons und Demonstrations-
sowie bis zu sechsmonatige
Aufenthaltsverbote für Paris. Der
Stellungnahme der Anwälte ist zu entnehmen,
dass in Frankreich für die Beschuldigten
keine Möglichkeit besteht,
gegen diese Auflagen Rechtsmittel
einzulegen. Die Anwälte kritisieren das
Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Sie
gehen davon aus, dass ihre Mandanten
im Falle einer Gerichtsverhandlung
einen Freispruch zu erwarten gehabt
hätten. Die Staatsanwaltschaft habe
sich ihrer Meinung nach »ein undurchsichtiges
und nicht mit Rechtsmitteln
ausgestattetes Sanktionsrecht« herausgenommen.
Dieser Einschätzung schließt sich
auch die linke Gewerkschaft der Richter
(Syndicat de la magistrature, SM)
an. Sie kritisiert neben der Polizeigewalt,
über die sich sowohl Amnesty International
als auch die Menschenrechtskommissarin
des Europarats, Dunja
Mijatović, bereits besorgt geäußert hatten,
die willkürlichen Festnahmen als
»Repression gegen die soziale Bewegung«.
Der Nachrichtensender Euronews zitiert
diesbezüglich Fabien Jobard, der
als Polizeisoziologe am Centre de recherches
sociologiques sur le droit et
les institutions pénales (CESDIP) arbeitet,
das dem französischen Justizministerium
untersteht. Jobard vertritt
die Einschätzung, dass in den »vergangenen
15 Jahren« eine Veränderung der
Polizeiarbeit stattgefunden habe. Der
Straftatbestand der »Beteiligung an einer
Gruppe mit dem Ziel, Gewalt oder
Schaden anzurichten«, der 2010 zur Bekämpfung
von Bandenkriminalität
eingeführt wurde, finde inzwischen vermehrt
Anwendung bei Demonstrationen.
Bei der Wahl zwischen repressiven
und präventiven Ansätzen tendiere
die Polizeistrategie »vermehrt zur präventiven
Seite«, so Jobard, Festnahmen
fänden immer häufiger bereits vor
Demonstrationen oder zu erwartenden
Krawallen statt.
Das französische Innenministerium
weist den Vorwurf willkürlicher Festnahmen
zurück. »Wir hoffen, dass wir
mit Hilfe der Anzeigen herausfinden
können, wie diese Menschen inhaftiert
worden sind und wer dafür verantwortlich
ist.« Ein Ergebnis erwarte er allerdings
frühestens in zwei Jahren, so
Kempfs Einschätzung gegenüber der
Jungle World.
THEMA ∎∎∎ SEITE 4
27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Marie Vairon, Gewerkschaftssekretärin, über die
Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich:
»Besonders
geschlossen und
selbstbewusst«
Seit drei Monaten kommt es in
Frankreich landesweit zu Streiks und
Demonstrationen gegen die geplante
Rentenreform. Warum dauern
die Unruhen so lange an?
Die Rentenfrage ist in Frankreich seit
jeher ein sehr sensibles Thema. Schon
1995 und 2019 stießen Pläne, die Zahl
der für eine abschlagsfreie Rente nötigen
Beitragsjahre zu erhöhen, auf
großen Widerstand. Während der derzeitigen
Proteste lässt sich allerdings
ein besonders geschlossenes und selbstbewusstes
Auftreten der Gewerkschaften
beobachten. Die Zustimmung
zu dieser Reform ist verschwindend
gering, und das gilt übrigens nicht nur
für Arbeiterinnen und Arbeiter, denn
es sind auch sehr viele Rentner auf der
Straße.
Es gehen also nicht nur diejenigen
auf die Straße, die direkt von der
Reform betroffen sind?
Nein. Neben vielen Rentnern haben
sich auch Studenten und Arbeitslose
den Protesten angeschlossen. Das ist
in Frankreich zwar keine Seltenheit, Präsident
Emmanuel Macron hat es dennoch
geschafft, verschiedene Interessengruppen,
unabhängig von ihrem
beruflichen Status, ihrem Alter und ihrer
Lebenslage, gegen seine Politik
aufzubringen. Ich habe völlig unterschiedliche
Demonstrationen gesehen,
bei denen Leute zusammenkamen, die
sonst nie zusammengefunden hätten.
Ich komme aus einer kleinen Stadt im
Département Drôme. Dort hat sich ein
Streikkomitee gegründet, an dem die
Gewerkschaften zwar beteiligt sind, aber
nicht federführend. Es sind Menschen,
die sich das erste Mal in ihrem
Leben an Streiks beteiligen. Die Rentenreform
war für sie einfach zu viel.
Die meisten Franzosen wollen nicht
bis 64 arbeiten, insbesondere nicht unter
schlechten Arbeitsbedingungen.
Macron sagt, dass »diese Reform
kein Luxus, kein Vergnügen, sondern
eine Notwendigkeit für das
Land ist« und dass sie einem egalitären
Prinzip folge, indem sie das
Renteneintrittsalter für alle anhebt.
Würde die Rentenreform alle Franzosen
gleichermaßen betreffen?
Alle gleichermaßen bis 64 arbeiten zu
lassen, mag auf den ersten Blick egalitär
erscheinen. Die Realität sieht aber
völlig anders aus, denn natürlich hängen
die Bedingungen des Renteneintritts
eng mit der Klassenzugehörigkeit
zusammen. Wenn man in einem wohlhabenden
Umfeld aufgewachsen ist,
das einem ein Studium ermöglicht, das
einem die Türen zu gutbezahlten Berufen
öffnet, hat man andere Möglichkeiten,
um sich im Alter zu fi nan zie ren.
Gutverdienende können auf private
Rentensysteme umsteigen oder sich
durch Immobilien und ähnliche Anlagen
absichern. Das ist deutlich schwieriger,
wenn man aus der Arbeiterklasse
kommt und schon als Jugendlicher
anfängt, körperlich hart zu
arbeiten.
Vor diesem Hintergrund sind Frauen
besonders häufig Verlierer dieser Reform,
da sie mehrheitlich in Pflegeberufen
arbeiten, die nicht nur schlecht
bezahlt, sondern auch körperlich belastend
sind. Auch andere Jobs kann man
ab einem bestimmten Alter nicht mehr
ausüben, weil der Körper das nicht
mitmacht. Wir von Sud-PTT vertreten
viele Menschen bei der Post, wo es Arbeiten
gibt, die man mit über 60 kaum
mehr ausführen kann. Post- oder Paketboten
sind in diesem Alter körperlich
häufig völlig lädiert: 400 Mal am
Tag ins Auto ein- und aussteigen, Pakete
heben und so weiter. Schon ab einem
Alter von 50 Jahren beobachten wir
vermehrt Schwierigkeiten bei den Mitarbeitern,
die zu immer mehr Krankschreibungen
und Fehlzeiten führen.
Aus diesem Grund trifft diese Rentenreform
Arme härter als Reiche und verstärkt
Ungleichheiten.
»Erst kürzlich wurden am Rande
einer Demonstration in der Bretagne
wieder vier Gewerkschafter mit
Reizgas angegriffen, geschlagen und
mit einer Schusswaffe bedroht.«
Sehen Sie einen Zusammenhang
zwischen dem Kampf gegen die
Rentenreform und anderen sozialen
Konflikten?
Bei Sud-PTT sind wir davon überzeugt,
dass sich in Wirklichkeit gerade allgemeiner
Unmut äußert. Das hat man
bei den Gelbwesten, aber auch bei
anderen Protesten gesehen, wie etwa in
den Raffinerien Ende letzten Jahres.
Es geht häufig um Arbeitsbedingungen,
insbesondere um Löhne. Es heißt, die
Menschen müssten länger arbeiten, weil
das Geld fehle, und dass wir keine großen
Lohnerhöhungen verlangen dürften,
weil die Unternehmen nicht für
den Fortbestand des Wirtschaftssystems
sorgen könnten. Aber die Unternehmen,
in denen wir arbeiten, erwirtschaften
Gewinne wie noch nie.
Die Leute können diese Erklärungen
nicht mehr hören. Die Streiks und Proteste
haben unter den Arbeiterinnen
und Arbeitern wieder Verbindungen
und Austausch geschaffen. Es wird wieder
darüber debattiert, was Ausbeutung
bedeutet, wie Wohlstand entsteht
und wie er verteilt ist. Und am Ende
dieser Diskussionen steht immer die
Frage, wie alle weniger arbeiten müssen
und besser leben können.
Welche Rolle spielt Ihre Gewerkschaft
Sud-PTT in den Protesten und
wie unterscheiden sich die Gewerkschaften
in ihren Forderungen voneinander?
Es gibt zwangsläufig Unterschiede zwischen
den Gewerkschaften. In Frankreich
gibt es da eine recht große Spannbreite:
von den großen traditionellen
Gewerkschaften wie der CGT, CFDT oder
Force ouvrière zu den kleineren wie
Unsa oder Solidaires. Die Sud-PTT würde
man wohl weit links einordnen.
Das U in SUD steht aber für »unité«
(Einheit), denn wir sind uns sehr wohl
bewusst, dass wir nur dann etwas erreichen
können, wenn Gewerkschaften
eng zusammenarbeiten. Nur so lassen
sich jede Woche viele Menschen auf die
Straße bringen oder spontane Versammlungen
organisieren. Neben den
großen wöchentlichen
Marie Vairon ist Generalsekretärin der Gewerkschaft
Sud-PTT (Solidaires, Unitaires, Démocratiques – Postes,
Télégraphes et Télécommunications). Die gelernte
Bankkauffrau lebt im Süden des Département Drôme,
zwischen Marseille und Lyon, und arbeitet seit 15 Jahren
bei der Post. Seit 13 Jahren ist sie bei der Sud-PTT aktiv.
Die Gewerkschaft, die vor allem in den Branchen Post
und Telekommunikation vertreten ist, wurde 1988 von
ehemaligen Mitgliedern der CFDT gegründet, die aus
dieser Gewerkschaft ausgeschlossen worden waren,
nachdem sie wilde Streiks unterstützt hatten.
Kundgebungen brauchen
wir unbedingt auch dezentrale
und selbstorganisierte
Arbeitskämpfe. Der
Widerstand gegen die Rentenreform
ist für uns ein
erster Schritt und es sind
noch viele weitere Dinge zu
bekämpfen. Unser gewerkschaftliches
Anliegen ist die Selbstorganisation
der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Umfragen des Meinungsforschungsinstituts
Ifop zufolge hätte Marine
Le Pen vom rechtsextremen Rassemblement
national derzeit die größten
Erfolgsaussichten bei einer Präsidentschaftswahl.
Wieso hat die
Rechte in dieser Situation so einen
Zulauf?
Zurzeit erleben wir zwar einen neuen
Höhepunkt im Aufstieg rechtsextremer
Parteien und ihrer Ideen, aber diese
Entwicklung hat schon früher begonnen.
Man sieht, dass die arbeiterfeindliche
Politik, die Macron wie auch
schon seine Vorgänger vorantreibt,
letztlich Wut schürt und Menschen für
die Rhetorik der extremen Rechten
empfänglich macht. Dieses Klima ist
auch für uns gefährlich: Erst kürzlich
wurden am Rande einer Demonstration
in der Bretagne (am 18. März 2023 in
Lorient, Anm. d. Red.) wieder vier Gewerkschafter
mit Reizgas angegriffen,
geschlagen und mit einer Schusswaffe
bedroht. Dieses neue Ausmaß an Gewaltbereitschaft
macht uns große Sorgen.
Und wir wissen, dass auch die
Gewerkschaften eine wichtige Rolle
spielen, um klarzustellen, dass die
Ideen der extremen Rechten keine Lösungen
für unsere Probleme sind.
Welche Rolle spielen Parteien für
die Proteste? Sehen die Demonstranten
und Streikenden ihre Interessen
durch Jean-Luc Mélenchon und
seine Partei La France insoumise
vertreten?
Die linken Arbeiterinnen und Arbeiter
fühlen sich von Mélenchon offenbar
stärker vertreten als von anderen linken
Politikern, was sich an den Wahlergebnissen
erkennen lässt. Wir sind
eine Gewerkschaft, die sich für politische
Veränderungen der Gesellschaft
einsetzt, aber dafür keine engere Bindung
an politische Parteien anstrebt.
Wir denken, dass unsere Aufgabe darin
besteht, den Arbeiterinnen und Arbeitern
zu helfen, sich zu organisieren
und das System zu verstehen, in dem
wir leben.
In der zweiten Runde der jüngsten
Präsidentschaftswahlen riefen
ei nige linke Politiker und Gewerkschafter
dazu auf, für Macron zu
stimmen, um die extreme Rechte zu
verhindern. Bereuen viele Macron-
Wähler mittlerweile ihre Entscheidung?
Ich glaube nicht, dass diejenigen, die
sehr von Macron überzeugt waren und
das von ihm vorangetriebene Projekt
wirklich unterstützt haben, heute besonders
enttäuscht sind. Seine Reformen
sind für seine Unterstützer keine
Überraschung. Ich glaube, dass Enttäuschung
und Wut vor allem bei den
Menschen zu finden sind, denen man
gesagt hat, sie sollen Macron wählen,
um Marine Le Pen zu verhindern. Das
ist nicht das erste Mal, dass man ihnen
unpopuläre Politik aufdrängt, um die
extreme Rechte zu verhindern.
Von dieser Stimmung profitiert Le
Pen. Denn was bringt es eigentlich, die
Rechte zu verhindern? Letztlich werden
wir zwei Jahre länger arbeiten. Und
auch die Polizeigewalt, mit der wir
derzeit konfrontiert sind, ist schockierend.
Man hat uns gebeten, die freiheitliche
Demokratie vor den Rechten
zu schützen, und am Ende ist es Macrons
Politik selbst, die diese Werte angreift.
Menschen, die Macron als kleineres
Übel gewählt haben, sind nun
dementsprechend wütend. Die Sud-
PTT bezieht Stellung gegen die Ideen
Le Pens und wir haben das zum Zeitpunkt
der Wahlen klar gesagt, aber ohne
zur Wahl aufzurufen, ohne für Macron
zu werben. Unsere Aufgabe ist es nicht,
den Arbeitern zu sagen, wen sie wählen
sollen, sondern sie davon zu überzeugen,
dass die extreme Rechte keine
vernünftige Lösung für ihre Probleme
bereithält.
Interview: Moritz Pitscheider
Foto: Privat
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 5 ∎∎∎ THEMA
picture alliance / SvenSimon / Malte Ossowski / SVEN SIMON
Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt. Verdi-Warnstreiks am Donnerstag voriger Woche am Flughafen Düsseldorf
Luft nach oben
Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben den höchsten
Tarifabschluss seit 50 Jahren erkämpft – doch die inflationsbedingten
Reallohnverluste der vorigen Jahre würde er trotzdem nicht
ausgleichen. Nun entscheidet eine Mitgliederbefragung, ob der
Abschluss angenommen wird.
Von Stefan Dietl
Als Frank Werneke Samstagnacht vor
die Kameras trat, konnte der Verdi-Vorsitzende
den höchsten Tarifabschluss
im öffentlichen Dienst seit fünf Jahrzehnten
verkünden. Der Abschluss
betrifft 2,5 Millionen Beschäftigten von
Bund und Kommunen. Doch trotz des
guten Tarifabschlusses war von Jubel
wenig zu spüren. Werneke sprach
zwar von einem »beachtlichen Ergebnis«,
Siegesstimmung verbreitete er
jedoch keineswegs. Mit der Entscheidung,
»diesen Kompromiss einzugehen,
sind wir an die Schmerzgrenze gegangen«,
sagte er.
Der Einigung vorausgegangen waren
die umfassendsten Warnstreiks im öffentlichen
Sektor seit Jahrzehnten. Mehr
als eine halbe Million Beschäftigte hatten
sich in den Wochen zuvor an den Arbeitsniederlegungen
beteiligt. Die
Streikbewegung erfasste neben Kliniken,
Kitas und Verwaltungen auch
Dienststellen, in denen es zum ersten
Mal überhaupt zum Ausstand kam,
wie manchen Kindergärten oder Einrichtungen
der Behindertenhilfe.
Seit Jahresbeginn sind Zehntausende
neue Mitglieder Verdi beigetreten. Wegen
der hohen Inflation war die Kampfbereitschaft
groß (Jungle World
14/2023). Bei den Tarifverhandlungen
forderten die Gewerkschaften 10,5 Prozent
mehr Gehalt mit einer garantierten
Mindesterhöhung von 500 Euro im
Monat. Insbesondere der kurz vor der
dritten Verhandlungsrunde ausgerufene
»Megastreik« (Spiegel), bei dem
Ende März an Flughäfen, auf Wasserstraßen
und im öffentlichen Nahverkehr
gestreikt wurde, während gleichzeitig
die Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft
EVG die Deutsche Bahn bestreikte,
erhöhte den Druck auf die Arbeitgeber
(Jungle World 13/2023).
Als Ende März auch die dritte Verhandlungsrunde
scheiterte, stimmten
die Gewerkschaften einem Schlichtungsverfahren
zu. Das nun vorliegende
Verhandlungsergebnis orientiert
sich weitestgehend an den Vorschlägen
der Schlichtungskommission. Neben
Verdi waren die Gewerkschaft der Polizei
(GdP), die Gewerkschaft Erziehung
und Wissenschaft (GEW), die Industriegewerkschaft
Bauen-Agrar-Umwelt (IG
BAU) sowie der DBB Beamtenbund und
Tarifunion an den Verhandlungen beteiligt.
Das Ergebnis ist zumindest den Zahlen
nach beachtlich. Für alle Beschäftigten
gibt es eine einmalige Inflationsausgleichszahlung
in Höhe von
3 000 Euro, die steuer- und abgabenfrei
ist. 1 240 Euro sollen im Juni ausgezahlt
werden, der Rest danach in monatlichen
Raten von 220 Euro. Die eigentliche
Lohnerhöhung – die Sonderprämie
fließt nicht in den Tariflohn ein – ist
erst für März 2024 geplant. Sie würde
aus einem Sockelbetrag von 200 Euro
plus 5,5 Prozent bestehen. Mindestens
sollen die Beschäftigten dadurch monatlich
340 Euro brutto mehr bekommen.
Für Auszubildende wurden ein Inflationsausgleich
von 1 500 Euro und
eine Gehaltserhöhung von 150 Euro ab
März 2024 vereinbart.
Die unteren Einkommensgruppen,
die auch am stärksten von der Inflation
betroffen sind, würden von dem vereinbarten
Sockelbetrag am meisten
profitieren. Verdi zufolge würde er für
manche eine dauerhafte Lohnsteigerung
bis zu 16,9 Prozent bedeuten, zusätzlich
zur Inflationsausgleichszahlung
von 3 000 Euro. Im Durchschnitt
würden die Entgelte über alle Einkommensgruppen
hinweg um 11,5 Prozent
steigen.
Verdi ist damit ein Tarifabschluss
gelungen, der vor allem der Kernklientel
der Gewerkschaft in den unteren
und mittleren Lohngruppen zugute
kommen würde. Was das genau
bedeuten würde, hat Verdi vorgerechnet.
Das Gehalt eines Müllwerkers in
der Entgeltgruppe 3 zum Beispiel würde
sich zusätzlich zur Inflationsprämie
von 3 000 Euro im Laufe der 24 Monate
dauerhaft um 357,34 Euro im Monat
und damit um 13,4 Prozent
erhöhen. Ein Busfahrer in
der Entgeltgruppe 5 würde
am Ende der Laufzeit
378,88 Euro mehr im Monat
und damit 12,41 Prozent
bekommen.
Trotz der hohen Abschlüsse
war die Verdi-Führung
bei der Vorstellung der Ergebnisse
zurückhaltend
und hütete sich, sie als Erfolg zu verkaufen.
Grund dafür dürfte die Kritik
sein, die von der gewerkschaftlichen
Basis kommt. Die war schon laut geworden,
nachdem die Schlichtungsempfehlung
Mitte April bekanntgegeben
worden war. Viele Gewerkschaftsmitglieder
hatten sich nach den wochenlangen
Mobilisierungen und Streiks
deutlich mehr versprochen.
Denn der Rekordlohnerhöhung steht
auch eine Rekordinflation gegenüber –
und das erzielte Ergebnis kann den inflationsbedingten
Reallohnverlust der
vergangenen drei Jahre nicht wettmachen.
Die einmalig für 2023 vereinbarte
Inflationsprämie könnte sich als unzureichend
herausstellen, denn es ist
unklar, wie stark die Preise im Lauf des
Jahres steigen werden. Auch die lange
Laufzeit des nun erzielten Tarifabschlusses
von 24 Monaten könnte für die
Gewerkschaft zum Problem werden. Bis
Ende 2024 wäre es nicht mehr möglich,
auf weitere Preisschübe zu reagieren.
Ein weiterer Nachteil der Einigung
ist, dass sich die Beschäftigten in diesem
Jahr ausschließlich mit Inflationsausgleichszahlungen
begnügen müssten
und eine Erhöhung der Gehälter erst
2024 erfolgen würde. Zwar wären die
Zahlungen dadurch steuerfrei und
landeten Netto auf den Konten der Beschäftigten,
sie würden jedoch nicht
Der Rekordlohnerhöhung steht eine
Rekordinflation gegenüber. Das
erzielte Ergebnis kann den
inflationsbedingten Reallohnverlust
der vergangenen drei Jahre nicht
wettmachen.
für die Rente und für Erhöhungen in
künftigen Tarifrunden zählen. Und
während die Vereinbarung zur Übernahme
von Auszubildenden fortgeschrieben
wurde, weigerten sich die Arbeitgeber,
die Regelung zur Altersteilzeit
zu verlängern.
Daher regt sich Widerstand gegen
den Tarifabschluss. Das Netzwerk für
eine kämpferische und demokratische
Verdi – ein Zusammenschluss linker
Gewerkschafter:innen – forderte
schon nach Bekanntgabe der Schlichtungsempfehlung,
die Verhandlungen
für gescheitert zu erklären und die
Urabstimmung zum unbefristeten
Streik einzuleiten. Nun wirbt das Netzwerk
für eine Ablehnung des Ergebnisses
durch die Mitgliedschaft. Auch
die Streikdelegierten der Berliner Betriebe
des öffentlichen Dienstes haben
in einer Resolution die Ablehnung
der Schlichtungsempfehlung gefordert.
»Wenn es notwendig wird,
trauen wir uns zu, die Urabstimmung
einzuleiten und in einem unbefristeten
Streik mehr zu erreichen und einen
echten Inflationsausgleich durchzusetzen«,
hieß es dort.
Bundesweite Unterstützung, insbesondere
unter Beschäftigten im Gesundheitswesen,
erfährt zudem ein
von Vertrauensleuten des Hamburger
Hafens, des Hamburger Flughafens
und des Hamburger Bündnisses für
mehr Personal im Krankenhaus initiierter
Brief an die Verdi-Verhandlungsleitung,
der für eine Fortsetzung der
Streiks bis zu einem echten Inflationsausgleich
wirbt.
Wie groß der Unmut an der gewerkschaftlichen
Basis tatsächlich ist, wird
sich in den kommenden Wochen zeigen.
Denn ob der Tarifabschluss angenommen
wird, liegt nun in der Hand der
Mitglieder. Diese stimmen bis zum
12. Mai in einer Mitgliederbefragung
über die Annahme der Vereinbarung
ab.
INLAND ∎∎∎ SEITE 6
27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Bloß kein linkes
Deutschland
Der Streit um den Bundeshaushalt für 2024 zieht sich in die Länge.
Finanzminister Christian Lindner (FDP) predigt Sparsamkeit und
fordert, das wichtigste sozialpolitische Vorhaben aus dem
Koalitionsvertrag zu opfern: die Kindergrundsicherung.
Von Johannes Reinhardt
Ausgerechnet der FDP-Vorsitzende
Christian Lindner predigt in seiner Rolle
als Bundesfinanzminister unentwegt
Verzicht. Lindner zufolge wird es
nach den derzeitigen Einnahmenschätzungen
für 2024 ein Defizit von 14
bis 18 Milliarden Euro geben. »Diese
Haushaltslücke muss erwirtschaftet
werden durch Verzicht«, so Lindner
Anfang April. »Wenn man dann noch
zusätzliche Ausgabenschwerpunkte
setzen will, zum Beispiel bei Verteidigung
oder Bildung, dann muss man
umso mehr woanders kürzen.« Hinzu
kämen noch die Mehrausgaben durch
die Tariferhöhungen im öffentlichen
Dienst (siehe S. 6). Diese betreffen
freilich vor allem die Kommunen. Der
Die FDP hat seit ihrem Eintritt in die
Regierungskoalition deutlich
schlechtere Umfragewerte als zuvor.
Die Partei will deshalb zeigen, dass
sie sich gegen die Grünen und die
SPD durchsetzen kann.
Bund rechnet hier lediglich mit Mehrausgaben
von 3,75 Milliarden Euro ab
dem Jahr 2025.
»Die Politik muss wieder lernen, mit
dem Geld auszukommen, das die Bürgerinnen
und Bürger erwirtschaften«,
so Lindner weiter – ein Verweis auf die
sogenannte Schuldenbremse, die der
Neuverschuldung enge Grenzen setzt.
Die Möglichkeit, durch höhere Steuern
oder den Abbau von Subventionen wie
dem Dienstwagenprivileg – also die unterdurchschnittliche
Besteuerung der
privaten Nutzung von Dienstwagen – die
Einnahmen zu erhöhen, weist Lindner
ebenfalls zurück.
Anfang April hätte Lindner eigentlich
bereits Eckwerte für den Haushalt 2024
vorlegen sollen. Wohl um den Streit in
der Koalition nicht zu sehr eskalieren
zu lassen, hatte er darauf verzichtet. Die
anderen Ministerien hatten Anfang
des Jahres für den Bundeshaushalt 2024
einen Mehrbedarf von 70 Milliarden
Euro angemeldet. Damit sollen unter
anderem die Kindergrundsicherung,
eine Reform des Gesundheitssystems
sowie Investitionen in Digitalisierung
und der Ausbau der Infrastruktur finanziert
werden. Zudem verlangt Bundesverteidigungsminister
Boris Pistorius
(SPD) mehr Geld für die Bundeswehr –
wohlgemerkt zusätzlich zum 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen
aus dem
vergangenen Jahr.
Die Situation scheint festgefahren
und wird das wohl auch mindestens
bis zur Bürgerschaftswahl in Bremen,
die am 14. Mai stattfinden soll, bleiben.
Die FDP hat seit ihrem Eintritt in die Regierungskoalition
deutlich schlechtere
Umfragewerte als zuvor,
als sie bei über zehn Prozent
lagen. Womöglich will
sie ihren Wählern zeigen,
dass sie sich gegen die Grünen
und die SPD durchsetzen
kann. »Wir kämpfen für
den Wert der Freiheit, für
wirtschaftliche Vernunft,
faire Lebenschancen und
ein modernes, nicht linkes
Deutschland«, sagte Lindner in bester
Wahlkampfmanier auf dem Parteitag
der FDP am Wochenende in Berlin.
Im Mittelpunkt des Haushaltsstreits
steht immer wieder das Projekt Kindergrundsicherung,
ein Versprechen
aus dem Koalitionsvertrag von SPD,
Grünen und FDP, bei dem aber immer
noch unklar ist, wie es genau ausgestaltet
werden soll (Jungle World 10/2023).
Klar ist, dass staatliche Leistungen insbesondere
für Kinder aus armen Familien
zusammengefasst werden sollen;
diese vereinheitlichte Leistung soll dann
einfacher als bisher digital beantragt
werden können. Bundesfamilienministerin
Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen)
plant mit jährlichen Mehrausgaben
von zwölf Milliarden Euro. Diese
Mehrkosten sollen zum Teil dadurch zustande
kommen, dass Leistungen zukünftig
leichter ausgezahlt werden sollen.
Derzeit werden viele Leistungen
für Kinder nicht beantragt, weil Berechtigte
ihre Ansprüche nicht kennen
oder die Beantragung zu kompliziert
ist.
Hingegen fordern Lindner und die
FDP, dass die Kindergrundsicherung,
wenn sie denn überhaupt in dieser Legislaturperiode
eingeführt werden
solle, ohne Mehrausgaben auskommen
müsse. Lindner verweist darauf, dass
die Ampelkoalition bereits das Kindergeld
zum Jahr 2023 erhöht hat. Unter
anderem dadurch seien die Leistungen
für Kinder schon um sieben Milliarden
Euro gestiegen, mehr sei nicht nötig.
Von dieser Erhöhung des Kindergelds
hatten freilich die Kinder arbeitsloser
Eltern oftmals nichts, denn das
Kindergeld wird mit dem sogenannten
Bürgergeld, das das Arbeitslosengeld II
(»Hartz IV«) abgelöst hat, verrechnet.
Paus hatte unterdessen vorgeschlagen,
zur Finanzierung der Kindergrundsicherung
die Kinderfreibeträge abzusenken
– das sind Steuervergünstigungen
für Eltern. Die Familienministerin
wies darauf hin, dass wohlhabende Eltern
durch diese Steuervergünstigungen
sogar mehr Geld vom Staat erhalten
als arme Eltern, die nur Kindergeld beziehen.
»Es wäre ein Durchbruch, diese
Ungerechtigkeit im System endlich zu
beseitigen«, sagte sie der Neuen Osnabrücker
Zeitung. Lindner lehnte diesen
Vorschlag ab, weil er ihn als Steuererhöhung
betrachtet.
Mitte April berichtete der Spiegel, dass
Lindner ein Gesetz plane, mit dem bis
zu 20 Milliarden Euro eingespart werden
sollten – und zwar vor allem in
den Ressorts mit den höchsten Sozialausgaben,
nämlich dem Arbeits- und
dem Familienministerium. Im Militärhaushalt
sollte demnach nicht gespart
werden. Das Bundesfinanzministerium
wies die Darstellung des Spiegel zurück.
Ein Ende der Haushaltsstreitigkeiten
in der Bundesregierung ist nicht in
Sicht. Vor der Bürgerschaftswahl in
Bremen dürfte sich niemand bewegen.
Doch es heißt, Lindner werde dem
Bundestag noch vor der Sommerpause,
also bis Juni, einen Haushaltsentwurf
für 2024 vorlegen. Dass Bundeskanzler
Olaf Scholz (SPD), Lindners Vorgänger
als Bundesfinanzminister, als der FDP
sehr gewogen gilt, verheißt nichts Gutes
für den Kampf gegen Kinderarmut.
Eher Kirchentag
als Chaostage
Die Letzte Generation lud zum Auftakt
ihrer Proteste in Berlin vergangene
Woche zum Brunch in eine Kreuzberger
Kirche. Es ging besinnlich zu.
Raucherecke von Jens Winter
Der Auftakt für die Berliner Protestwochen der Gruppe Letzte Generation
war ein gefundenes Fressen für all jene, die der Klimabewegung
vorwerfen, quasireligiöse Züge zu haben. Als Startpunkt für
ihre groß angekündigten Proteste, mit denen man die Hauptstadt
»zum Stillstand« bringen möchte, hatte die Gruppe eine Kirche ausgewählt.
Und so ging es am Mittwochmorgen vergangener Woche los mit
einem »Auftaktbrunch« in der St.-Thomas-Kirche in Berlin-Kreuzberg,
die in den achtziger Jahren schon Hausbesetzern Unterschlupf
geboten hatte. Es war die bis dahin größte öffentliche Veranstaltung
der Letzten Generation, die »inklusiver« werden und mehr
Menschen für ihren Protest gewinnen möchte, wie es in ihrem Telegram-Kanal
hieß. Der gemeinsame Brunch sollte dem Kennenlernen
dienen und die Möglichkeit bieten, sich am Protest zu beteiligen.
Das Setting orientierte sich an linken aktivistischen Traditionen:
Es gab ein großes veganes Buffet, Tofu-Crumbles und Antipasti,
dazu mehrere Reden, außerdem Orgelmusik, zu der man eingeladen
war, zu meditieren.
Die Gruppe war sehr bemüht darum, dass man sich bei ihr wohlfühlt.
Neue Personen wurden sofort angesprochen und wer noch
keine »Bezugsgruppe« hatte, konnte in kleinen Kennenlernrunden
schnell eine finden. Unter den etwa 300 weitestgehend jüngeren
Teilnehmern waren – neben 40 Pressevertretern – auch mehrere Mitglieder
der Gruppe Extinction Rebellion, mit der die Letzte Generation
eine Woche zuvor die Fassaden von Konzern- und Parteizentralen
mit Kunstöl übergossen hatte.
Nicht nur das hallende Echo des Kirchenraums verlieh den Reden
Pathos. Der Tonfall changierte teils zwischen Selbsthilfegruppe
und evangelischem Kirchentag. »Schau andächtig in das Gesicht der
Person neben dir, auch diese Person lebt mir dir auf dem Planeten
Erde«, eröffnete eine Aktivistin. Lars Ritter, der wegen Blockaden bereits
im Gefängnis gesessen hatte, sprach von der Angst, sich »offen
zu zeigen«, und davon, dass man in die Konfrontation gehen
müsse. »Konfrontation ist Demokratie«, sagte er, »und das, was
unsere Demokratie momentan nicht schafft, das schaffen wir durch
die Konfrontation auf der Straße.« Im Hintergrund läuteten die
Glocken.
Die aus dem Fernsehen bekannte Pressesprecherin der Letzten
Generation, Carla Hindrichs, sagte in ihrer Rede: »Viele Leute haben
wegen der hohen Energiepreise am Ende des Monats kein Geld
mehr. Währenddessen fliegen die Reichen mit Privatjets über unsere
Köpfe hinweg. Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten.«
Neben einem Tempolimit von 100 Stundenkilometern fordert die
Gruppe ein bundesweites Neun-Euro-Ticket und die Einführung eines
»Gesellschaftsrats«. Dieser soll per Los besetzt werden und ausarbeiten,
»wie Deutschland bis 2030 die Nutzung fossiler Rohstoffe
beendet«. Die Bundesregierung solle öffentlich zusagen, diese
Maßnahmen »in das Parlament einzubringen«, dort die »nötige
Überzeugungsarbeit« zu leisten und sie dann »in einer beispiellosen
Geschwindigkeit und Entschlossenheit umzusetzen«.
Nach dem Programm ging es los mit den Protesten. Statt der üblichen
Sitzblockaden gab es sogenannte Slow Walks – eine Neuheit
im aktivistischen Repertoire der 2021 gegründeten Gruppe. Mit diesen
langsamen und unangemeldeten Demonstrationen, die den
Verkehr blockieren, wollte man die Hürden senken, sich am Protest
zu beteiligen, wie es vorher auf einem Online-Strategietreffen erklärt
worden war.
In mindestens drei Richtungen ging es los. Sehr schnell hielt die
Polizei die jeweils bis zu 40 Personen umfassenden Protestzüge
auf, die von einer Traube Journalist:innen begleitet wurden. Zwei
Gruppen konnten sich dennoch durch Kreuzberg bis zum Alexanderplatz
und über die Karl-Marx-Allee bis zum Frankfurter Tor bewegen.
Sowohl Polizei als auch Demonstrierenden blieben weitestgehend
ruhig. Für den meisten Lärm sorgten Autofahrer und Passanten.
Der Beifahrer eines vorbeifahrenden Transporters kurbelte
sein Fenster herunter und schrie: »Geht arbeiten, ihr Arschlöcher!«
Ein Mitglied des Demozugs, der auf der Schillingbrücke über
die Spree Richtung Alexanderplatz von der Polizei festgesetzt worden
war, schaffte es, aufs Dach eines Polizeiwagens zu gelangen.
Unter Jubel setze er sich auf den Wagen, reckte die Hand in den Himmel,
zückte den Kleber und verteilte ihn auf seiner Handfläche.
Dafür, dass er sich dennoch nicht festkleben konnte, sorgte jedoch
ein schnell kletternder Beamter.
Aber nicht alles gleich für Schulen ausgeben! Lindner mit Bildungsministerin Stark-Watzinger beim FDP-Parteitag, 21. April
picture alliance / Geisler-Fotopress / Jean MW / Geisler-Fotopress
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Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 7 ∎∎∎ INLAND
Für die gute Sache ackern
Arbeitskämpfe bei Nichtregierungsorganisationen waren bislang
unüblich. Nach einem ersten Vernetzungstreffen im Herbst laden
NGO-Beschäftigte im Mai zu einer Konferenz ein, um auf ihre
schlechten Arbeitsbedingungen hinzuweisen.
Von Dominik Lenze
Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
beschäftigen sich oft mit ernsten und
wichtigen Angelegenheiten: dem Klima,
Menschenrechten oder Antisemitismus.
Der Wunsch, pünktlich Feierabend
zu machen, kann dagegen trivial
wirken.
Der moralische Druck in diesem Bereich
ist hoch. »Ich habe Ärger mit
meiner Chefin bekommen, weil ich am
Samstagabend um 22 Uhr nicht mehr
ans Diensthandy gegangen bin«, beschrieb
eine Betroffene den Leistungsdruck
in der Pressemitteilung zur Konferenz
»Arbeiten bei den Guten?«. Zu
der Versammlung haben Beschäftigte
von NGOs am 5. und 6. Mai nach
Frankfurt am Main eingeladen. Damit
wolle man den »Blick vom Leid in der
Welt auf die eigene Situation« richten.
Die gemeinnützigen Organisationen
haben sich über die vergangenen
Jahrzehnte immer mehr professionalisiert,
doch Arbeitsrechte oder gar Arbeitskämpfe
sind bei ihnen nach wie
vor unüblich. Es gehe um Selbstausbeutung
und Leistungsdruck, niedrige
Löhne und befristete Arbeitsverträge,
Überstunden und »tyrannische Chefs«,
heißt es in der Pressemitteilung. »Die
Liste der Probleme ist lang«, schreiben
die Initiatoren der Konferenz.
Obwohl es genug Gründe gebe, sich
zu organisieren, täten sich Beschäftige
in NGOs damit noch immer schwer,
sagte Lukas Schneider*, der die Konferenz
mitorganisiert, der Jungle World.
»Auch in NGOs, wo viele Linke arbeiten,
gehört Gewerkschaftsarbeit einfach
nicht zur Kultur.« Nur wenige NGO-
Beschäftigte seien Gewerkschaftsmitglieder.
Auch Betriebsräte hätten »Seltenheitswert
und deren Gründung wird
häufig als Affront wahrgenommen.
Das ist ein Bruch mit dem Familienverständnis,
dass in vielen NGOs
kultiviert wird«, so Schneider weiter.
»Eine NGO ist aber ein Betrieb und
wir sind letztlich Mitarbeitende. Es geht
hier um Lohnarbeit.« Dafür müsse
erst mal ein Bewusstsein geschaffen werden.
Ein erstes Vernetzungstreffen
gab es bereits im Herbst 2022. Etwa 50
Beschäftigte aus unterschiedlichen
NGOs hätten teilgenommen, so
Schneider. Die Konferenz im Mai ist
aus diesem Vernetzungstreffen
entstanden.
Viele NGOs, auch solche, die inzwischen
global operierende Organisationen
darstellen wie zum Beispiel Greenpeace,
sind ursprünglich aus dem Engagement
von Ehrenamtlichen heraus
entstanden. Doch selbst kleinere vereinsgetragene
Organisationen beschäftigen
Angestellte und freiberufliche
Honorarkräfte. Im Lauf der Zeit
sind aus vielen NGOs »hochgradig organisierte
und hinsichtlich ihrer Arbeitsprozesse
unternehmensähnliche Organisationen
geworden«, schreiben die
Politikwissenschaftlerinnen Christiane
Frantz und Kerstin Martens in ihrem
2006 erschienenen Buch »Nichtregierungsorganisationen
(NGOs)«. Hierbei
hätten NGOs Konzepte aus der betriebswirtschaftlichen
Managementlehre
übernommen.
Private Unternehmen bieten, statistisch
betrachtet, sogar mehr Sicherheit
für Beschäftigte als der sogenannte Dritte
Sektor. Dieser umfasst in Deutschland
nichtgewinnorientierte Organisationen
wie Vereine, Umweltschutzgruppen
oder Gewerkschaften. Nach
Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt
und Berufsforschung, einer Einrichtung
der Bundesagentur für Arbeit,
lag der Anteil befristet Beschäftigter
im Dritten Sektor 2021 bei 13,3 Prozent.
Im öffentlichen Dienst waren im
selben Jahr 8,9 Prozent der Mitarbeitenden
befristet beschäftigt, in der Privatwirtschaft
nur 5,2 Prozent.
Zudem gebe es keinen betriebsübergreifenden
Tarifvertrag für NGO-
Beschäftigte, so Schneider. Wie viel
Beschäftigte im Durchschnitt verdienen,
lasse sich nur schwer sagen. Da
Gehälter oft Verhandlungssache
sind, variierten sie
stark. 1 800 Euro netto seien
zum Beispiel in der politischen
Bildung keine Seltenheit.
»Und wenn man nur
befristet beschäftigt ist, verhandelt
man oft nicht«, so
Schneider weiter. Zudem
hätten NGOs es leicht, einen verlorenen
Mitarbeiter zu ersetzen.
André Pollmann ist Fachbereichsleiter
für besondere Dienstleistungen
bei Verdi in Berlin-Brandenburg. Er beschäftigt
sich seit knapp 20 Jahren
mit den Arbeitsbedingungen in NGOs
und weiß um die Herausforderungen.
»Man hat ja oft eine persönliche Beziehung
zum Vorgesetzten. In Stresssituationen
erlebt man den Chef als genauso
leidend wie sich selbst«, sagte
er der Jungle World. Die Gründung von
Betriebsräten würden viele Vorgesetzte
als »persönliches Versagen« erleben. Es
gebe aber auch »nennenswerte Erfolgsgeschichten«,
so Pollmann, zum
Beispiel die Gründung eines Betriebsrats
in der Bildungsstätte Anne Frank
Die Gründung von Betriebsräten in
NGOs würden viele Vorgesetzte als
»persönliches Versagen« erleben,
sagte André Pollmann (Verdi).
in Frankfurt am Main im Sommer
2020.
Kurz vor Weihnachten 2020 erhielten
alle drei Betriebsratsmitglieder der Bildungsstätte
Anne Frank eine Abmahnung,
berichtete die Frankfurter Rundschau.
Weil sich der Betriebsrat in seiner
Arbeit behindert sah, kam es 2021 zu
einem gerichtlichen Beschlussverfahren
vor dem Amtsgericht Frankfurt.
»Kolleginnen äußern keine Kritik zu
den auf ein Jahr befristeten Arbeitsverträgen,
weil sie Konsequenzen fürchten«,
begründete die Betriebsratsvorsitzende
Deborah Krieg die Gründung
der Arbeitnehmervertretung. Es seien
Sprüche gefallen wie: »Die Leute stehen
Schlange.« Der Betriebsrat warf der
Bildungsstätte zudem einen »autoritären
Führungsstil« vor. Ende April sei
das Verfahren schließlich einvernehmlich
beendet worden, teilte eine Sprecherin
der Bildungsstätte der Frankfurter
Rundschau mit. Die Konfliktparteien
hätten sich »außergerichtlich im
Rahmen eines Vergleichs geeinigt«.
Lukas Schneider arbeitete zu dieser
Zeit für die Bildungsstätte Anne Frank.
Aus seiner Sicht war die Leitung der Organisation
mit dem Engagement ihrer
Beschäftigten überfordert. »In vielen
NGOs gibt es Nachholbedarf, was gute
Personalführung angeht«, sagte er der
Jungle World. Oft kämen Menschen
wegen ihres Engagements in Führungspositionen,
würden aber für die neuen
Aufgaben nicht ausreichend geschult.
Es gebe »keine Kultur der Fortbildung«.
Hier wäre eine Veränderung möglich,
so Schneider.
Der Gewerkschafter Pollmann zählt
bessere Personalplanung neben Arbeitszeitkontrolle
und Entfristung zu
den wichtigsten Punkten, die geklärt
werden müssen. Dass das Haushalten
in Institutionen schwierig ist, die sich
über Spenden oder befristete und projektbezogene
Förderungen finanzieren,
weiß er. »Aber man muss mit der
prekären Situation umgehen und
darf sie nicht an die Mitarbeiter weitergeben.«
Pollmann hofft auf das Demokratiefördergesetz,
über das der Bundestag
gerade berät; die Bundesregierung hatte
einen Entwurf im Dezember 2022
beschlossen. Es soll eine gesetzliche
Grundlage schaffen, um Projekte zu
Demokratieförderung und Extremismusprävention
auch längerfristig zu
fördern, was bislang nicht möglich ist.
Damit will die Bundesregierung »Planungssicherheit«
schaffen.
Pollmann hofft, dass sich diese Planungssicherheit
dann auch in den
Anstellungsverhältnissen äußern werde.
Da staatliche Förderung im Spiel
sei, könne man sich in der Diskussion
über Arbeitsbedingungen an denen
im öffentlichen Dienst orientieren. So
etwas wie ein Tarifvertrag für NGO-
Beschäftigte liege zwar noch in weiter
Ferne. Doch künftig könnten mehr
NGO-Beschäftigte für bessere Arbeitsbedingungen
streiten. »Man hat ja
nichts zu verlieren, außer Kettenverträge«,
sagte er der Jungle World. Als Kettenverträge
bezeichnet man mehrere
befristete Arbeitsverträge, die aufeinander
folgen.
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INLAND ∎∎∎ SEITE 8 27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Mehr Bock auf
weniger Arbeit
Die IG Metall geht mit der Forderung nach der
Viertagewoche in der Stahlindustrie in die Offensive.
Kommentar von Lothar Galow-Bergemann
Nazis mit grünem Daumen. Die Marihuana-Plantage, die am 28. März in Colditz gefunden wurde
Sächsische
Clankriminalität
Eine Drogenrazzia in der sächsischen Kleinstadt Colditz offenbarte
eine rechte Angstzone.
Von Thorsten Mense
Colditz ist eine Kleinstadt etwa 40 Kilometer
von Leipzig entfernt, wo sich
die Zwickauer und die Freiberger Mulde
treffen. Viel zu sehen und zu tun gibt
es hier nicht. Die einzigen Attraktionen
des Orts sind die Mulde, auf der man
paddeln kann, und das Schloss Colditz,
das zur NS-Zeit als Offiziersgefängnis
diente und in Großbritannien durch Filme
und Serien einige Berühmtheit erlangt
hat.
Seit ein paar Wochen ist der Ort auch
in Deutschland wieder bekannter geworden,
aber nicht deswegen, was Nazis
dort früher getrieben haben, sondern
deswegen, was Nazis heutzutage dort
treiben. Ende März durchsuchten 225
Einsatzkräfte des Zolls sowie der Bundespolizei
zwei Tage lang die Wohnund
Geschäftsräume der dort ansässigen
Familie N. Dabei wurde eine Cannabisplantage
mit 2 600 Pflanzen, fünfeinhalb
Kilogramm Crystal Meth und
32 000 Euro Bargeld sichergestellt, dazu
sieben Schusswaffen, ein Lamborghini
und ein Luxus-SUV.
Ralf N. und dessen zwei Söhne, Andreas
und Uwe, sitzen in Untersuchungshaft.
Die Mitglieder der Familie sind in
Colditz und darüber hinaus berüchtigt,
aber nicht als Drogenhändler, sondern
vor allem als gewalttätige Neonazis,
die den Ort fest in ihrer Hand haben. Bereits
2012 kam es gegen den Vater und
seine beiden Söhne zu einer Gerichtsverhandlung,
unter anderem wegen mehrerer
gemeinschaftlich begangener Körperverletzungen.
Einige der Opfer, darunter
Linke, Punks, aber auch Bundeswehrangehörige,
waren schwer verletzt
worden und hatten unter anderem
Schädel-Hirn-Traumen davongetragen.
Trotz der Schwere der Straftaten kamen
alle drei Familienmitglieder mit einer
Bewährungsstrafe davon.
Wegen Verstoßes gegen die Auflagen
landete der Vater dann aber 2014 doch
noch für eineinhalb Jahre im Gefängnis.
Sein Sohn Uwe folgte ihm kurz darauf,
nachdem er mit 1,8 Kilogramm Crystal
Meth aufgegriffen worden war.
Der Journalist Thomas Datt, der die
Die sächsische Polizei war an der
Razzia nicht beteiligt.
Der Verdacht drängt sich auf, dass
die Bundesbehörden ihr nicht ganz
vertrauen.
rechte Szene in der Region seit Jahren
verfolgt, veröffentlichte schon im März
2017 im Leipziger Stadtmagazin Kreuzer
einen »Report aus einer rechtsfreien
Zone im mittelsächsischen Hügelland«.
Darin kann man lesen, dass Drohungen,
Übergriffe und Anschläge der Familie
N., die schon damals in Sportwagen
durch den kleinen Ort heizte, zum Alltag
gehörten. An woh ner:innen beschrieben
ein Klima der Angst und Einschüchterung,
den Holzfachhandel
der Familie nannten sie »braune Halle«,
viele verließen aus Angst den Ort.
Zollfahndungsamt Dresden
Kurz vor Ostern überraschte die Gewerkschaft IG Metall mit der
Forderung nach Arbeitszeitverkürzung. Eine Viertagewoche mit
32 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich – mit dieser Forderung
will die Gewerkschaft in die Ende 2023 anstehende Tarifrunde
in der nordwestdeutschen Stahlindustrie gehen. Ihr Vorsitzender
Jörg Hofmann erwartet gar eine gesamtgesellschaftliche Wirkung:
Die Stahlindustrie sei schon oft Vorreiter für fortschrittliche Regelungen
gewesen. Insofern habe diese Forderung eine »grundsätzliche
Ausstrahlung über die Stahlbranche hinaus«.
Mit Recht verweist die IG Metall auf die intensiver werdende Debatte
über Arbeitszeitverkürzungen. Laut einer Forsa-Umfrage aus
dem vergangenen Jahr wünschen sich 70 Prozent der Beschäftigten
in Deutschland eine Viertagewoche.
Die Ankündigung der Gewerkschaft kommt zur richtigen Zeit, sie
setzt einen Kontrapunkt zu den belehrenden und anmaßenden
Tönen von Politikern und Arbeitgebern. Erst im Februar ermahnte
Andrea Nahles, ehemalige SPD-Vorsitzende und heutige Vorstandsvorsitzende
der Bundesagentur für Arbeit, junge Menschen mit erhobenem
Zeigefinger: »Arbeiten ist kein Ponyhof.« Und Steffen
Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände,
forderte längere Arbeitszeiten und »mehr Bock
auf Arbeit«. Arrogante Ansprüche, die meilenweit entfernt sind von
dem, was immer mehr Menschen bewegt, die aus guten Gründen
eben keinen Bock haben.
Die Arbeitgeber reagierten alarmiert. Mit Blick auf die Tarifrunde
im Herbst kommenden Jahres wiesen die Metall- und Elektrounternehmen
im Südwesten schon mal vorsorglich solche Forderungen
zurück. Die Viertagewoche gehe in die falsche Richtung, teilte der
Hauptgeschäftsführer von Südwestmetall, Oliver Barta, der Stuttgarter
Zeitung mit. Infolge des Fachkräftemangels wüssten viele Unternehmen
kaum noch, wie sie ihr Geschäft erledigen sollen. »Generell
weniger zu arbeiten«, wäre demnach »kein Beitrag zu einer
Lösung«, so Barta.
Prinzipiell ist es zu begrüßen, dass Gewerkschaften die Arbeitszeitverkürzung
zum Thema machen. Doch so offensiv, wie es nötig
wäre, ist die IG Metall dann doch nicht. Zwar verweist sie auch auf
»Lebensqualität und Gesundheit«, begründet ihre Forderung aber
vor allem mit der Sicherung von Arbeitsplätzen und einer erhöhten
Produktivität, mit der sie glaubt, Arbeitgeber ködern zu können.
Das unterscheidet sie nicht von vielen anderen Befürwortern der
Viertagewoche. Selbst der Co-Vorsitzende der Linkspartei, Martin
Schirdewan, stößt ins selbe Horn. Erfahrungen aus Schweden, Island
oder Belgien würden bereits zeigen, dass die Viertagewoche die
Arbeitsbelastung senke und die Produktivität erhöhe, so seine Argumentation.
Doch das unreflektierte Beschwören erhöhter Produktivität
versäumt es nicht nur, die zerstörerische Megamaschine aus
maximalem Profit und ewigem Wachstum zu kritisieren, die die
Beschäftigten jeden Tag mit ihrer Arbeit am Laufen halten. Es tut
sogar so, als könne deren rasendes Tempo ohne negative Folgen
noch weiter gesteigert werden. Mit permanent steigender Produktivität
immer noch mehr schädliche und überflüssige Betonbauten,
Containerschiffe, Flugzeuge und Autos zu bauen, führt in die Klimakatastrophe.
Produktivität wäre vernünftigerweise kein unhinterfragbares
Prinzip, dem sich fraglos zu unterwerfen ist, sondern von Fall zu
Fall gesellschaftlich auszuhandeln: Was soll produziert werden und
was nicht? Das aber setzte die Abkehr von der kapitalistischen
Wirtschaftsweise voraus. Dass diese in den Gewerkschaften bis dato
kaum kritisiert wird, hat allerdings einen handfesten Grund. Das
Problem ist, dass die ganze Gesellschaft und eben auch die Arbeitsplätze
der Gewerkschaftsmitglieder von der kapitalistischen Wirtschaft
abhängen: die Profite, die Arbeitsplätze, die Steuereinnahmen.
Doch die Gleichsetzung von sicherem Leben mit sicheren Arbeitsplätzen
ist das entscheidende Hindernis auf dem Weg in eine
bessere Zukunft. Es wäre daran gelegen, Kämpfe um radikale Arbeitszeitverkürzung
mit solchen um Klimaschutz und um Vergesellschaftung
zentraler Ressourcen zu verbinden.
Auf den Seiten der antifaschistischen
Rechercheplattform Chronik.LE lassen
sich Dutzende Einträge über rechte
Gewalt und neonazistische Aktivitäten
in Colditz finden, viele mit Bezug zur Familie
N.
»Bauen Rechtsextreme kriminelle
Netzwerke in Sachsen auf?« titelte die
Leipziger Volkszeitung (LVZ) nach den
Durchsuchungen, und man fragt sich,
ob das wirklich etwas Neues sei, gerade
in Sachsen. Aber wenigstens wird
durch die Razzia die Situation in Colditz
nun wieder öffentlich diskutiert.
Valentin Lippmann, der innenpolitische
Sprecher der Grünen-Fraktion im
Sächsischen Landtag, sprach von einer
»verfestigten Struktur von rechtsextremer
Clan-Kriminalität«, der SPD-Landtagsabgeordnete
und Innenexperte
Albrecht Pallas
zeigte sich besorgt, dass
»organisierte Nazis jahrelang
relativ frei ihr Unwesen
in der Stadt trieben«.
Anfang April war die Razzia
Thema im sächsischen
Innenausschuss, wo es auch
darum ging, warum die
sächsische Polizei nicht an der Razzia
beteiligt war und die lokale Polizeidirektion
erst zum Beginn des Einsatzes
von den Bundesbehörden informiert
wurde. Im Innenausschuss soll dies
dem MDR zufolge als gängiges Vorgehen
bezeichnet worden sein, und auch
der sächsische Landespolizeipräsident
Jörg Kubiessa wiegelte in der LVZ ab:
Bei Drogendelikten mit Grenzbezug sei
eben der Zoll zuständig.
Der Verdacht drängt sich aber auf,
dass die ermittelnden Behörden der
sächsischen Polizei nicht ganz vertrauen.
Zumindest legt diese nicht gerade
viel Engagement im Kampf gegen neonazistische
Strukturen an den Tag, was
sich auch am Fall Colditz zeigt, denn
die dortigen Verhältnisse sind seit Jahren
bekannt, ohne dass die Polizei der
Familie N. Einhalt gebieten konnte oder
wollte. Gegen die Familie sei dem
MDR zufolge nach Informationen aus
dem Innenausschuss eine dreistellige
Zahl von Ermittlungsverfahren geführt
worden, ohne dass sich die Situation
an Ort und Stelle verbessert hätte.
Die Berichte aus Colditz zeichnen das
Bild einer »national befreiten Zone«
in der sächsischen Provinz, in der die
Baseballschlägerjahre bis heute anhalten.
Drei wichtige Beteiligte sitzen
nun erst mal im Gefängnis. Bezeichnend
ist aber, dass die Männer einzig
wegen ihrer Drogengeschäfte aus dem
Verkehr gezogen wurden und nicht wegen
ihrer jahrelangen Ausübung rechten
Terrors. Wenig Beachtung findet bisher
auch, dass es ein geeignetes Umfeld
braucht, in dem solche faschistischen
Clanstrukturen agieren und sich
ausbreiten können. Colditz und der
Muldentalkreis sind bereits seit den
neunziger Jahren, schon bevor die Familie
N. in den Ort zog, ein Hotspot militanter
Neonazistrukturen und rechter
Gewalt. 1998 wurde ein elfjähriges türkisches
Mädchen bei einem Brandanschlag
schwer verletzt (Jungle World
40/1998). 30 Jahre später wurde die
AfD bei der Bundestagswahl mit fast
30 Prozent der Stimmen stärkste
Kraft im Ort. Es ist diese ungebrochene
rechte Hegemonie oder »Tradition«,
wie es in Sachsen gerne heißt, die in
den Blick genommen werden muss.
Die Familie N., so die Linkspartei-Landtagsabgeordnete
Kerstin Köditz, sei
»nur die Spitze des Eisbergs«.
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
INLAND ∎∎∎ SEITE 9
Schlechte Luft. Kathmandus Bürgermeister will die Zahl der Elektrofahrzeuge erhöhen
Dreckiges Wasser. Im Bishnumati in Kathmandu treibt jede Menge Müll
Grün ist die Hoffnung
In Nepals Hauptstadt Kathmandu ringen viele Menschen mit stark gestiegenen Kosten. Ein Besuch in einer
besonderen Schule zeigt, wie sich einige auch für die Umwelt einsetzen.
Von Thomas Berger (Text und Fotos)
Die zwei Bier, die Bhuwan Singh Thakuri
an diesem Abend unbekümmert in
einem Restaurant in Kathmandus Touristenviertel
Thamel bei Livemusik
trinkt, kosten jeweils umgerechnet fünf
Euro. Das können sich in Nepal nur die
wenigsten leisten – für einen nicht unerheblichen
Teil der Bevölkerung machen
zehn Euro den Verdienst einer halben
bis ganzen Woche aus. Schon dies
weist den jungen Mann als einen Angehörigen
der schmalen Mittelschicht
des Himalaya-Staats aus, seine Visitenkarte
zusätzlich als »Operational Manager«
einer Rating-Agentur. Thakuri
hat im Mai vorigen Jahres geheiratet,
mit 33 Jahren in einem für nepalesische
Verhältnisse hohen Alter.
»Ja, die Familie hat immer Druck gemacht«,
räumt er ein. Dass es keine arrangierte
Ehe war, sondern eine Liebesheirat,
ist auch nicht alltäglich. Nepal
hatte 2017 Unicef zufolge eine der höchsten
Raten von Kinderehen in Asien –
sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen.
Obwohl das gesetzliche Heiratsalter bei
20 Jahren liegt, gibt demnach mehr als
ein Drittel der 20- bis 24jährigen Frauen
Ein großes Problem Nepals ist, dass
Fachpersonal lieber für
unqualifizierte Tätigkeiten ins
Ausland geht, weil es dort besser
bezahlt wird als in einer Anstellung
im erlernten Beruf daheim.
an, bis zum Alter von 18 Jahren verheiratet
worden zu sein, und etwas mehr
als eine von zehn sogar bis zum Alter
von 15 Jahren. Nepalesische Jungen gehören
weltweit zu den häufigsten Kinderbräutigamen,
mehr als jeder Zehnte
ist verheiratet, bevor er 18 Jahre alt ist.
Die nepalesische Regierung diskutiert
dem Onlinenachrichtenmagazin The
Diplomat zufolge eine Senkung des gesetzlichen
Heiratsalters auf 18 Jahre.
Den Jungunternehmer Thakuri beschäftigt
der Braindrain aus Nepal:
»Gutausgebildete Akademiker, Ärzte
und Ingenieure, die im Ausland Hilfsarbeiten
verrichten – das geht doch
nicht.« Ein guter Freund Thakuris, der
sich jetzt in Australien als Putzkraft
durchschlägt, sei vorher als leitender
Chemiker einer großen Softdrinkfirma
bei der Qualitätskontrolle in deren
einziger nepalesischer Fabrik tätig gewesen.
Dass Fachpersonal lieber für
unqualifizierte Tätigkeiten ins Ausland
geht, weil es dort besser bezahlt wird
als in einer Anstellung im erlernten
Beruf daheim, ist ein großes Problem
Nepals. Thakuri selbst will bleiben. Seine
Frau arbeitet als Palliativkrankenpflegerin
in einem von einer ausländischen
Organisation finanzierten Krankenhaus.
Dafür bekommt sie an die
300 Euro im Monat – immerhin mehr
als die 180 Euro, die Berufskolleginnen
üblicherweise nach Hause brächten,
setzt Thakuri hinzu.
Mit den Verdienstmöglichkeiten ist es
in Nepal in der Tat nicht weit her. Der
Taxifahrer Niranjan erzählt, er nehme
am Tag um die 3 500 Rupien ein, umgerechnet
etwa 25 Euro. Den Sprung in
der Frontscheibe lässt er gar nicht erst
reparieren, aber Tanken lässt sich nicht
vermeiden. Der Benzinpreis schlägt
derzeit mit 175 Rupien (1,21 Euro) pro
Liter. Zuletzt wurde er Anfang Februar
um fast sechs Prozent erhöht. Die Regierung
hat der staatlichen Nepal Oil
Corporation (NOC) unlängst mehr Freiheiten
gegeben, Preissteigerungen
bei Treibstoffimporten
schnell an die Konsumenten
weiterzureichen.
Der wichtigste Handelspartner
der NOC ist eines der
größten Unternehmen der
Welt, die India Oil Corporation,
die Weltmarktpreise in
Rechnung stellt. Bei ihr
und der eigenen Regierung
steht die NOC mit rund 16 Milliarden
Rupien (etwa 110 Millionen Euro) in der
Kreide.
Niranjan ist vor zwei Jahrzehnten aus
dem bei Trekkern beliebten Langtang-
Tal an der Grenze zu China im Norden
nach Kathmandu gekommen und
einer der unzähligen Arbeitsmigranten
aus anderen Landesteilen, die in der
Anderthalb-Millionenstadt ihr Glück
suchen.
Auch der 25jährige Pradeep Thapa ist
als Taxifahrer auf der mehrspurigen
Ring Road und in den schmalen Seitenstraßen
unterwegs, in denen manchmal
zwei Autos kaum unbeschadet aneinander
vorbeikommen. Allerdings
ist das sein Zweitjob, er fahre nur abends
»für zwei oder drei Stunden«. Tagsüber
verkauft Thapa Reis und andere Waren.
Das allein bringe aber nicht genug ein,
da das Leben in der Metropole und landesweit
in letzter Zeit deutlich teurer
geworden sei. 2022 lag die Inflationsrate
bei über sieben Prozent im Vergleich
zum Vorjahr.
Auf vielen ihrer Touren kreuzen
Niranjan und Pradeep den Bagmati. Der
östliche und größere der beiden sich
träge dahinwindenden Flüsse Kathmandus
ist in vielen Abschnitten deutlich
sauberer als in früheren Jahren – das
Ergebnis zahlreicher Arbeitseinsätze
freiwilliger Gruppen. Alle paar Monate
beseitigen Einwohner Kathmandus
gemeinsam den Müll, inzwischen mit
spürbarem Ergebnis. Dem Schwesterfluss
Bishnumati westlich des Stadtzentrums
ist hingegen noch in jenem
dreckigen Zustand, in dem sich der Bagmati
unlängst befand. Jede Menge
Plastiktüten, leere Wasserflaschen, kaputtes
Kinderspielzeug und mancher -
lei mehr treibt in der grauen Brühe oder
hängt an den Ufern fest. Neben der
holprigen Uferstraße Parijat Sadak sortieren
zwei Müllsammler ihre Tagesausbeute.
Die stammt aus umliegenden
Siedlungsgebieten, nicht etwa vom
Fluss, der durch Abfall, eingeleitete Abwässer
und einen niedrigen Wasserstand
belastet ist.
Wasser ist Mangelware im einzigen
urbanen Ballungsraum des Landes.
Große Tanklaster sind mit dem kostbaren
Gut unterwegs, denn nur wenige
in Kathmandu haben das Geld, um sich
abgefülltes Flaschenwasser zu kaufen.
Auch nicht Musikstudentin Sharmila
Nepali, die in Budhanilkantha zu Hause
ist, einem der viele Vororte. Wenn die
Wasserreserven daheim aufgebraucht
sind, reiche es tagelang weder zum
Duschen noch für Haarewaschen oder
die Wäsche, erzählt sie. Dann werde
der wertvolle kleine Rest nur zum Kochen
und Trinken verwendet.
Im Mittelalter hatten Herrscher im
Kathmandu-Tal ein Trinkwasserversorgungssystem
bauen lassen, welches
das in Monsunzeiten überreichlich fallende
Wasser in Zisternen für regenärmere
Zeiten auffängt. Mit mystischen
Figuren kunstvoll verziert sind die
dhunge dhara, steinerne Trinkbrunnen,
von denen sich stadtweit noch etwa
300 erhalten haben. Rund die Hälfte ist
bereits ausgetrocknet, da immer mehr
Brunnen gebohrt werden, die den oberen
wasserführenden Bodenschichten
das Wasser entziehen und nicht mehr
genügend Regenwasser nachfließt.
Schon 2017 gab die für die städtische
Wasserversorgung zuständige öffentliche
Firma Kathmandu Upatyaka Khanepani
Limited bekannt, dass selbst in
der Monsunzeit lediglich 120 Millionen
Liter pro Tag zur Verfügung stünden,
in der Trockenzeit gar nur 73 Millionen.
Dabei liegt der Tagesbedarf eigentlich
bei 377 Millionen Liter.
Der Umgang mit wertvollen Ressourcen
wie Wasser, die Vermeidung von
Müll, der Umweltschutz ganz allgemein
– darum geht es an der Vajra-Akademie,
Nepals erster »grüner Schule«.
Die 2007 gegründete Bildungseinrichtung
mit angeschlossenem Internat
liegt an einem Berghang am Rande von
Lalitpur, neben der Hauptstadt und
Bhaktapur eine der drei historischen
Königsstädte im Kathmandu-Tal.
Eine Seitenstraße windet sich bis an
den Eingang zum Campus. Dort würden
inzwischen 357 Schülerinnen und
Schüler unterrichtet, und die Zahl
wachse stetig, wie der Schulleiter Bhupendra
Bikram Thapa erzählt. Platz
gibt es reichlich auf dem Schulgelände.
In der Mitte des Hofs fällt sofort ein
großes Modell auf: Nachgebildet sind
mehrere hohe Berggipfel, aber auch eine
Ziegelei, wie sie mit ihrem hohen
Schornstein gleich nebenan im Tal steht,
eine Siedlung und ein Bach. Zum jährlichen
Schulfest habe eine Schülergruppe
das gebastelt, ist von Pariwesh Pokhrel,
dem Lehrer für Naturwissenschaften, zu
erfahren. »Wir wollten den Eltern und
anderen Gästen zeigen, wie das ist mit
so einer Ziegelei und der Verschmutzung
durch sie, was es für die Umgebung
und die Menschen dort bedeutet.« Ziegeleien
stoßen gesundheitsschädlichen
Feinstaub aus, nach dem Wiederaufbau
der 2015 beim schweren Erdbeben oft
eingestürzten Schornsteine wurde nicht
überall moderne Filtertechnik installiert.
Nebenan im Modell erheben sich
die riesigen Himalaya-Berge Nuptse
und Lhotse, die nahe dem Mount Everest
in der Region Khumbu an der
Grenze zu Tibet weit über 7 000 Meter
in den Himmel ragen, Schilder verweisen
auf das Everest Base Camp, die Gokyo-Seen
und den Khumbu-Eisfall an
Nepals größtem Gletscher. »Wir alle
haben eine Verantwortung, unsere
Bergwelt zu erhalten«, sagt Pokhrel.
Er muss wieder in den Unterricht.
Wenige Schritte vom Modell entfernt
Mathe ist nicht alles. Suprabha und Pratisteha lernen in der Vajra-Akademie auch Umweltbewus
REPORTAGE ∎∎∎ SEITE 10
27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
sitzen zwei Mädchen, in Matheaufgaben
vertieft. Sie gehen in die 9. Klasse. Das
Umweltbewusstsein, das ihnen hier vermittelt
wird, schätzt eine von ihnen,
Suprabha, ganz besonders an ihrer Schule.
»Aber auch das Gemeinschaftsgefühl
zwischen Schülern und Lehrern«, sagt
die Schülerin. Mathe und Naturwissenschaften
sind ihre Lieblingsfächer. Das
gilt ebenso für das zweite Mädchen, Pratisteha,
die den grünen Schulhof mit
den vielen Bäumen und Sträuchern
liebt. »Wir lernen hier, mit der Natur im
Einklang zu leben«, betont sie.
Suprabha, im etwas entfernten Nachbardistrikt
Sindhupalchowk zu Hause,
ist eine der 48 Schülerinnen und Schüler,
die im Internat wohnen. Anfangs
sei das schwierig gewesen, räumt sie ein.
Doch an der Vajra-Akademie habe sie
viel über sich selbst erfahren: »Ich bin
unabhängiger geworden. Und es geht
auch darum, sich um Kleinigkeiten zu
kümmern.« In der Schule wird weitgehend
auf Wegwerfprodukte aus Plastik
verzichtet. Doch schon das Thema in die
eigenen Familien und den außerschulischen
Freundeskreis zu tragen, sei nicht
einfach, berichten die beiden Mädchen.
»Ich habe aber das Gefühl, die Leute werden
sensibler dafür«, fügt Pratisteha
hinzu. Lernende und Lehrende hier verstehen
sich als Botschafter, doch in der
Welt vor den Schultoren, konstatiert
auch der Schulleiter Thapa, wächst das
Umweltbewusstsein nur langsam.
Gerade im Kampf gegen die Plastikflut
vermisst er mehr Engagement der
politisch Verantwortlichen. Bisher wurden
nur die besonders schädlichen
schwarzen Kunststoffbeutel verboten.
Gemessen am Gesamtproblem sei das
nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
»Wer mit nur einer Tasche zum Markt
geht und etwas mehr einkauft, bekommt
an jeder Ecke trotzdem Plastiktüten«,
so der Pädagoge. Immerhin:
Wer mit offenen Augen durch Kathmandu
geht, wird feststellen, dass es in den
Apotheken und diversen Geschäften der
Metropole nunmehr Jutebeutel gibt.
Der Wandel kommt in kleinen Schritten,
aber der Schulleiter fragt sich, ob die
Stadt und das ganze Land beim Plastikmüllproblem
noch viel Zeit hätten.
Unbeirrt zeigt sich das Team der Vajra-Akademie
als gutes Vorbild. Es gibt
einen eigenen Schulgarten, in dem Gemüse
angebaut wird, die Energie zum
Kochen des Mittagessens kommt aus
Solarstrom und anfallender organischer
Abfall wird in Biogas umgewandelt.
Zudem fahren die Schulbusse, die jetzt
zur Unterrichtszeit im Vorderhof parken,
mit Elektroantrieb. »Wir waren da
Vorreiter«, so Thapa. Inzwischen mehrten
sich auch Elektrofahrzeuge auf den
Straßen, berichtet er. Von den dreirädrigen
sogenannten Tempo-Taxis, die in
Kathmandu und Patan als Sammeltaxen
verkehren, tragen inzwischen sehr
viele einen grünen Seitenstreifen, der
sie als E-Mobile ausweist. Auch einzelne
Elektrobusse sind schon im Einsatz.
An der Vajra-Akademie werden vor
allem alternative Lernmethoden angewendet.
»Exkursionen und spezielle Projekte
dort draußen gehören für uns
dazu«, sagt der Schulleiter. An diesem
Konzept will hier niemand rütteln, obwohl
es derzeit etwas schwerer fällt, daran
festzuhalten. Die steigenden Kosten
treffen auch die Schule hart; manche
Ausgaben müssten im neuen Schuljahr
wohl auf den Prüfstand, sagt Thapa mit
ernstem Blick. Nicht aber die Ausflüge.
Stolz ist der Direktor, dass es die alternative
Bildungseinrichtung über die
Covid-19-Pandemie geschafft hat. Zwei
Jahre lang waren die Schulen für längere
Zeit geschlossen. »Wir haben Online-
Unterricht angeboten – und waren damit
in der Umgebung die Einzigen.« Die
Lehrkräfte hätten immer pünktlich ihr
Gehalt bekommen. Möglich sei das nur
mit einem Bankkredit und der fortgesetzten
Unterstützung einer Partnerorganisation
in den Niederlanden gewesen.
Sie und einige private Förderer, von
Jede Menge Plastiktüten, leere
Wasserflaschen, kaputtes Kinderspielzeug
und mancherlei mehr
treibt in der grauen Brühe oder hängt
an den Ufern des Bishnumati fest.
denen jedoch in der Pandemie manche
abgesprungen seien, hätten überdies
den weitgehend kostenfreien Schulbesuch
jener etwa 30 Prozent der Schüler
ermöglicht, die aus armen Familien
stammen.
Fotos der Jüngsten und weitere Deko-
Elemente hängen in den Fenstern der
drei untersten Klassen, also Nursery,
Lower und Upper Kindergarten. Dass
das Schulgeld eine Investition in die
Zukunft der eigenen Kinder ist und
nicht Profiten der Schule dient, versuche
man den Familien immer wieder
zu erklären, so Thapa. Er weiß, woher
bei manchen Familien das Misstrauen
rührt: In Nepal, gerade im Großraum
Kathmandu, sind in den zurückliegenden
Jahren jede Menge Privatschulen
entstanden. »Bei vielen handelt es sich
nur um Geschäftemacherei, und es gibt
zu wenig Qualitätskontrolle«, so sein
Vorwurf an die Behörden. Die Regierung
habe es zudem immer noch nicht geschafft,
ein kostenfreies Bildungswesen
für alle einzuführen.
Sogar die Luft am Rande von Lalitpur
ist spürbar sauberer als in der Innenstadt
der nahen Hauptstadt. Über dem
gesamten Kathmandu-Tal hält sich
dauerhaft eine Dunstglocke. Selbst die
Aussicht auf einige weiße Berggipfel
in der Umgebung, die es früher von den
Dächern höherer Gebäude gab, macht
der Smog unmöglich. Die Luftqualität
zeigen Messgeräte an manchen Straßenkreuzungen
den Passanten und an
Ampeln wartenden Fahrzeugführern
gut sichtbar an. Heutzutage ist im Stadtzentrum
an den meisten Tagen nur
noch vage zu erahnen, dass wenige Kilometer
entfernt eine äußere Bergkette
den hauptstädtischen Talkessel einfasst.
Wen man auch fragt auf den Straßen
Kathmandus – von der Politik, insbesondere
den drei wichtigsten Parteien
Nepali Congress (NC), Kommunistische
Partei Nepals – Vereinigte Marxisten-
Leninisten (CPN-UML) und Kommunistische
Partei Nepals – Maoistisches
Zentrum (CPN-MC), sind die meisten
Menschen mittlerweile bitter enttäuscht.
Sich auf die zurückliegende Parlamentswahl
beziehend, erzählt der
junge Taxifahrer Pradeep: »Ich habe im
November nicht gewählt. Und ebenso
zu meinen Verwandten gesagt, sie sollen
es nicht tun.« Den drei Parteien,
die sich immer wieder
zerstreiten und erneut
gegeneinander verbünden,
haben bei der Parlamentswahl
in der Hauptstadt viele
das Vertrauen entzogen
(Jungle World 50/2022).
»Deuba, Oli und Prachanda
– solange die drei da
oben sitzen, bleibt das Chaos«, sagt Puskal
Karki, der mit seinen Sprachkenntnissen
vor allem deutsche Gruppen auf
Trekkingtouren führt. Er meint damit
die Parteiführer Sher Bahadur Deuba
(NC), K. P. Sharma Oli (CPN-UML) und
den gegenwärtigen Premierminister
Pushpa Kamal Dahal (CPN-MC). Doch
es gebe Hoffnungszeichen wie den neuen
unabhängigen Bürgermeister Kathmandus,
Balendra Shah, sagt Karki. Shah
habe schon im Wahlkampf konkrete
Konzepte vorgestellt, um auch das Müllproblem
anzugehen. Seine Kampagne
konzentrierte sich neben der Abfallwirtschaft
auf die Kontrolle des Straßenverkehrs,
die Erbringung öffentlicher
Dienstleistungen, die Korruptionsbekämpfung
und die Erhaltung des kulturellen
Erbes der Stadt.
Shah wurde im Mai 2022 mit mehr
als 23 000 Stimmen Vorsprung vor seinen
Mitbewerbern von CPN-UML und
NC gewählt. Der 32jährige ist einer der
jüngsten Bürgermeister des Landes.
Der in die Politik gewechselte Rapper
und Ingenieur, der einen Youtube-
Kanal hat und sich nach dem Erdbeben
mit Tausenden Toten durch Hilfeleistungen
nebenbei einen Ruf als Sozialaktivist
erworben hatte, will nach
eigener Aussage dafür sorgen, dass die
lokale Bevölkerung in jeder Hinsicht
gesund leben kann. Der Ausbau der Infrastruktur
soll demnach einhergehen
mit einem beschleunigten Wechsel zu
Elektrofahrzeugen. Der Kampf gegen
die Luftverschmutzung, den Shah angekündigt
hat, ist überfällig: Kathmandu
hatte einer Studie im Fachmagazin
Respiratory Research zufolge
2019 bereits die weltweit höchste
altersbereinigte Sterblichkeitsrate für
chronische Lungenkrankheiten, 182,5 Fälle
pro 100 000 Einwohner. Immer
mehr Nepalesen benötigen zusätzlichen
Sauerstoff zur Atmung.
stsein
Bastelei von Schülern. Schulleiter Thapa und Lehrer Pokhrel neben einem Modell der Khumbu-Region im Himalaya
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 11 ∎∎∎ REPORTAGE
Bloß weg. Zivilisten fliehen vor den Gefechten in Khartoum, 24. April
Reuters / El-Tayeb Siddig
Krieg statt Demokratisierung
In Khartoum und an anderen Orten im Sudan sind schwere Gefechte
zwischen einer Miliz und der Armee ausgebrochen. Der Konflikt droht,
zu einem umfassenden Bürgerkrieg zu eskalieren.
Von Hannah Wettig
So plötzlich brechen Kriege selten aus:
Am Morgen des 15. April, einem Samstag,
brachte Katharina von Schroeder,
eine Mitarbeiterin der Hilfsorganisation
Save the Children, ihren Sohn zum
Tenniskurs in seine Schule in der sudanesischen
Hauptstadt Khartoum. Kurz
darauf brachen Gefechte in der ganzen
Stadt aus, berichtete sie in der »Tagesschau«
der ARD. Tagelang habe sie mit
anderen Familien in der Schule ausharren
müssen, wie alle Einwohner der
Stadt gefangen dort, wo sie sich gerade
aufhielten, mit zur Neige gehenden Vorräten
bei 45 Grad Celsius. Warnungen
vor einer angespannten Sicherheitslage,
Erstaunlich ist die Intensität der
Kämpfe: Schwere Artillerie,
Kampfjets und Flugabwehrraketen
kommen zum Einsatz, scheinbar
wahllos werden Wohnhäuser,
Krankenhäuser, Schulen beschossen.
wie sie ausländische Staatsbürger gewöhnlich
vor solchen Ereignissen von
ihrer Botschaft erhalten, gab es keine.
Offenbar erwischte es auch die Diplomaten
unvorbereitet, ein Mitarbeiter
der EU-Kommission wurde angeschossen.
Die reguläre sudanesische Armee
und die auf eine Stärke von an die
100 000 Kämpfern geschätzte paramilitärische
Miliz der Rapid Support
Forces (RSF) geben sich gegenseitig die
Schuld daran, mit dem Schießen begonnen
zu haben. Die Armee beschuldigte
die RSF der illegalen Mobilisierung
in den vorangegangenen Tagen.
Die RSF behaupteten, die Armee habe
in einem Komplott mit Anhängern des
langjährigen autokratischen Präsidenten
Omar al-Bashir (1989–2019) versucht,
die volle Macht an sich zu reißen,
als sie auf strategisch wichtige Orte in
Khartoum vorrückte. Der oberste Befehlshaber
der Armee ist General Abdel
Fattah al-Burhan, der seit 2019 dem
regierenden sudanesischen Militärrats
vorsitzt. Sein Stellvertreter im Rat, General
Mohammed Hamdan Dagalo, allgemein
bekannt als Hemedti, kommandiert
die RSF. Diese sind hervorgegangen
aus den Janjaweed-Milizen, die al-
Bashir Anfang der nuller Jahre ausgerüstet
hatte, um den Aufstand in Darfur
brutal niederzuschlagen. Al-Burhan
und Dagalo befinden sich seit langem
in einem Machtkampf.
Warum der Konflikt gerade jetzt eskalierte,
ist unklar. Erstaunlich ist die
Intensität der Kämpfe: Schwere Artillerie,
Kampfjets und Flugabwehrraketen
kommen zum Einsatz,
scheinbar wahllos werden
Wohnhäuser, Krankenhäuser,
Schulen beschossen,
auch im Norden und Süden
des Sudan gibt es Kämpfe.
Manche Beobachter warnen
vor einem langen Bürgerkrieg,
die Bevölkerung versteckt
sich in ihren Wohnungen
und Kellern. Inzwischen
haben sich einige Menschen organisiert,
verteilen Wasser und Lebensmittel
und sprühen Parolen gegen
den Krieg.
Andere Experten sehen in den Kämpfen
eher einen Stellvertreterkonflikt.
Dagalo und al-Burhan waren einst Verbündete.
Gemeinsam brachen sie mit
dem islamistischen Regime al-Bashirs
und unterstützten im April 2019 die
Revolution, als nach vier Monaten friedlicher
Massenproteste der Diktator
nicht mehr zu halten war. Gemeinsam
putschten sie im Oktober 2021 gegen
die zivile Übergangsregierung des Ministerpräsidenten
Abdalla Hamdok,
errichteten eine Militärdiktatur und
setzten sich selbst als Präsident und
Vizepräsident ein (Jungle World 44/2021).
Beide versprachen den Übergang zu
einer demokratischen Regierung, verschoben
aber den Zeitpunkt der Machtübergabe
mehrmals. In den vergangenen
Monaten gab es deshalb Demonstrationen.
Im Dezember unterschrieben
beide eine Vereinbarung, die Macht
am 11. April an eine zivile Regierung zu
übergeben. Doch sie konnten sich
nicht einigen, wie schnell die paramilitärischen
RSF in die Armee integriert
werden sollten. Nach al-Burhans Ansicht
sollte dies innerhalb der kommenden
zwei Jahre passieren. Dagalo wollte die
Unabhängigkeit seiner Truppen erst
in zehn Jahren aufgeben.
Der Sudan-Experte Jean-Baptiste Gallopin
beschreibt, dass es Ägypten,
Saudi-Arabien und die Vereinigten Emirate
gewesen seien, die al-Burhan und
Dagalo als Militärvertreter ausgesucht
hätten, erst um die Revolution zu unterstützen
und dann um sich selbst an
die Macht zu putschen. Die Saudis
hätten demnach gute Erfahrungen mit
al-Burhan gemacht, der die sudanesischen
Truppen im Jemen im Rahmen
der von Saudi-Arabien angeführten Militärallianz
kommandiert habe, ebenso
mit Dagalo, dessen RSF dort kämpften.
Ägypten, Saudi-Arabien und den Emiraten
war al-Bashir schon länger ein
Dorn im Auge, da er gute Beziehungen
zu Katar und dem Iran unterhielt. Die
Revolutionsbewegung kam ihnen also
gelegen, doch dann begannen die Emirate,
Dagalo mit Waffen zu versorgen.
Gallopin zitiert einen ungenannten
Minister des letzten Bashir-Kabinetts,
es sei offensichtlich gewesen, dass
die Emirate einen Militärdiktator nach
ägyptischem Vorbild aufbauen wollten.
Die Ägypter unterstützten hingegen al-
Burhan.
Den Emiraten scheint es um das Goldgeschäft
zu gehen. Das organisiert Dagalo
gemeinsam mit russischen Söldnern
der Gruppe Wagner, die Goldminen
in der Zentralafrikanischen Republik
ausbeuten und das Gold über
den Sudan in die Emirate bringen. Flugzeuge,
die der russischen Söldnertruppe
gehören, haben nun nach gleichlautenden
Berichten internationaler Medien
Flugabwehrraketen an Dagalo geliefert.
Auch Russland hofiert Dagalo. Im März
2022 war er nach Moskau gereist, um
mit Außenminister Sergej Lawrow über
die Einrichtung eines russischen Militärhafens
am Roten Meer zu verhandeln.
Auch die EU rüstete Dagalo offenbar
indirekt aus. Unter Leitung der deutschen
Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit (GIZ) wurden dem
Spiegel zufolge unter anderem Sicherheitskräfte
im Sudan ausgebildet und
Ausrüstung für den Grenzschutz bereitgestellt.
Seit 2015 flossen demnach
46 Millionen Euro in den Sudan zur
besseren Kontrolle der Grenzen, wovon
mutmaßlich auch Dagalo profitiert
habe, da die sudanesische Regierung
die RSF als Grenzschützer einsetzte.
Der Sudan liegt auf der Hauptfluchtroute
für Eritreer und Somalier. Zu
den Unterstützern Dagalos zählt auch
der Milizenführer Khalifa Haftar, der
in Libyen die Region um Bengasi kontrolliert.
Einem Informanten des Guardian
zufolge hat Haftar kurz vor Ausbruch
der Kämpfe Dagalo Informationen
darüber zukommen lassen, dass
al-Burhan gegen ihn vorgehen wolle.
Zuletzt hat auch Israel ein Interesse
an Dagalo, denn hinter al-Burhan stehen
der Zeitschrift Africa Confidential
zufolge die Islamisten. Dagalo trat
deutlich überzeugender als al-Burhan
für einen Friedensvertrag mit Israel
ein; der Sudan hatte Israel 1948 den
Krieg erklärt, dieser wurde nie offiziell
beendet. Der Sudan wurde Unterzeichner
des Abraham-Abkommens, eines
Friedensabkommens zwischen Israel
und einer Reihe arabischer Staaten, das
von der US-Regierung unter Präsident
Donald Trump vermittelt wurde. Dem
Nachrichtenportal Middle East Eye
zufolge konsultiert die israelische Regierung
derzeit al-Burhan, während
der israelische Auslandsgeheimdienst
Mossad mit Dagalo redet.
Dagalo hat auch Feinde. Einer seiner
größten Widersacher ist der Gründer
der Janjaweed-Milizen, Musa
Hilal, der jetzt auf Seiten al-Burhans
kämpft. Hilal und Dagalo bekämpfen
sich schon lange im Tschad und in der
Zentralafrikanischen Republik. Hilals
Tochter ist die Witwe des verstorbenen
Diktators des Tschad, Idriss Déby,
dessen Sohn Mahamat Idriss Déby Itno
seit 2021 das Land regiert. Dagalo unterstützt
die Rebellen im Tschad. In der
Zentralafrikanischen Republik wiederum
unterstützt Hilal die Rebellen,
während Dagalo gemeinsam mit Wagner-Söldnern
auf Seiten der Regierung
kämpft.
Doch diese Mächte bestreiten, am
Kriegsausbruch im Sudan beteiligt zu
sein. Aufschlussreich sind die Medien
in den Golfstaaten und Ägypten. Auf
den Websites von Gulf News und Arab
News fehlen Hintergrundberichte über
den Krieg. Die englischsprachige Ausgabe
der ägyptischen Staatszeitung al-
Ahram hat eine Woche nach Beginn
der Kämpfe zum Sudan kaum Substantielleres
zu berichten, als dass Papst
Franziskus zum Dialog aufruft. Es wirkt
so, als hätten die Hauptunterstützer
des sudanesischen Militärregimes im
Sudan ihrer Presse vorerst Zurückhaltung
verordnet.
Ägypten unterstützt einerseits im
Sudan al-Burhan, andererseits Haftar
in Libyen, der wiederum Dagalo unterstützt.
Zugleich hängt Ägypten am
Tropf der Petrodollars aus Saudi-Arabien
und den Emiraten. China scheint
bislang nicht involviert zu sein, obwohl
der Sudan Ende der neunziger
Jahre dessen Einfallstor in Afrika war.
Mit Milliardenzahlungen bauten die
Chinesen Sudans Infrastruktur aus.
Inzwischen hat China aber seine Importe
von sudanesischem Öl deutlich
reduziert. Früher bezog das Land etwa
sechs Prozent seiner Ölimporte aus
dem Sudan, mittlerweile ist es weniger
als ein Prozent.
Die USA und die EU spielen im Sudan
fast keine Rolle mehr und müssen den
Saudis danken, dass sie bei der Evakuierung
ihrer Bürger helfen. Mitverantwortlich
für die jetzige Situation sie dennoch,
da sie die sudanesische Demokratiebewegung
kaum unterstützt haben.
Statt den Militärputsch 2021 zu
verurteilen und die Generäle mit Sanktionen
zu belegen, führten sie wohlwollende
Gespräche mit den Kriegsverbrechern,
die zugleich die Demonstranten
im eigenen Land niederschießen
ließen. Im Sudan zeigte sich noch
deutlicher als beim sogenannten Arabischen
Frühling, dass Demokratisierung
kein primäres Ziel der westlichen
Staaten in dieser Region ist. Westliche
Diplomaten hätten 2019 gar versucht,
Aktivisten zu überzeugen, die Revolution
zu unterlassen, schreiben die Autoren
des Buchs »Sudan’s Unfinished
Democracy«.
AUSLAND ∎∎∎ SEITE 12
27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Umstrittene Normen
Vor dem Obersten Gericht in Indien wird über die Legalisierung gleichgeschlechtlicher
Ehen verhandelt. Die Akzeptanz von Homosexualität
wächst, doch es gibt heftigen Widerstand.
Von Catharina Hänsel, Delhi
Shikhandi wurde als Mädchen geboren,
wollte aber immer ein Junge sein, lebte
wie einer und heiratete. Weil seine Gattin
unzufrieden war, unterzog er sich
einer Umwandlung, um das Geschlecht
eines Mannes anzunehmen. Die Geschichte
dieses mythischen Kämpfers
im antiken Epos Mahabharata zeigt
Geschlechterambivalenz im historischen
Hinduismus. Im heutigen Indien
hingegen ist sie heftig umstritten.
Nach geltendem Recht dürfen nur
heterosexuelle Paare heiraten. Dies
könnte sich nun ändern. Derzeit findet
am Obersten Gerichtshof in Neu-Delhi
die Hauptverhandlung über die Legalisierung
der Ehe für alle statt. Mukul
Rohatgi, einer der Anwälte der Antragstellenden,
argumentiert, dass heteronormative
Gesetze ein viktorianisches
Erbe widerspiegelten, das überwunden
werden müsse.
Seit dem 20. April ist Indien nach offiziellen
Statistiken das bevölkerungsreichste
Land der Erde – und auch die
Hochzeitsindustrie wächst. Allein für
das erste Halbjahr 2023 wird ein Umsatz
von 159 Milliarden US-Dollar prognostiziert.
Ein Blick in Magazine wie Vogue
zeigt, dass ein lukrativer Markt bei
Ehen für alle erwartet wird.
Als Kund:innen sind LGBT interessant,
als Wähler:innen allerdings weniger
– für die nationale Parlamentswahl
im kommenden Jahr gelten die
Stimmen der LGBT-Community nicht
als entscheidend. Die regierende hindunationalistische
Bharatiya Janata
Party (BJP) ist längst im Wahlkampfmodus,
ihre konservative Basis lässt
sich mit Ausgrenzung besser mobilisieren
als mit Liberalität. Tushar Mehta,
als Solicitor General Anwalt der Regierung
in diesem Verfahren, versuchte
bis zuletzt, den Beginn der Verhandlungen
vor dem Obersten Gericht zu verhindern.
Gleichgeschlechtliche Partnerschaften
entsprächen nicht den sozialen
Normen Indiens, so das Argument.
Für die BJP sind die religiösen hinduistischen
Schriften eine wichtige politische
Legitimationsquelle. Dass es in
ihnen neben Shikhandi viele weitere
nicht binärgeschlechtliche Charaktere
und nicht heterosexuelle Partnerschaften
gibt, prägt die Normen der Partei
jedoch nicht. Vor Gericht sprachen
sich außer religiösen Oberhäuptern des
Hinduismus auch solche des Islam,
des Jainismus, des Sikhismus und des
Christentums in seltener Einmütigkeit
gegen die Ehe für alle aus – da Eheschließungen
zur Fortpflanzung dienten,
seien sie nur zwischen Männern
und Frauen statthaft. Die sozialen Normen
Indiens sind jedoch im Wandel.
In einer repräsentativen Umfrage des
Pew Research Center von 2020 sprachen
sich 37 Prozent der Befragten dafür
aus, Homosexualität zu akzeptieren,
22 Prozentpunkte mehr als sechs
Jahre zuvor.
Fortschritte in der Gesetzgebung hat
es bereits gegeben. Transgender-Personen
werden als solche seit 2014 rechtlich
anerkannt. 2018 legalisierte des
Oberste Gerichtshof gleichgeschlechtlichen
Sex, der zuvor nach Paragraph 377
des Strafgesetzbuchs als Vergehen bestraft
worden war. In vielen südasiatischen
Ländern, darunter Pakistan, Sri
Lanka und Bangladesh, gilt das aus der
Kolonialzeit stammende gesetzliche
Verbot der Homosexualität bis heute.
Eine der Anwältinnen, die den Paragraphen
377 in Indien zu Fall gebracht
haben, ist Menaka Guruswamy. In einem
Vortrag an der Universität Oxford
erklärte sie 2020, warum die Forderung
nach der Ehe für alle der
nächste logische Schritt sei: »Eheschließungen
sind sowohl aus sozialer als
auch als legaler Perspektive wichtig.«
Demnach biete die Ehe für alle Chancen,
die soziale Akzeptanz für die Partnerschaft
zu erhöhen. In Indien hätten
Hochzeiten einen enormen gesellschaftlichen
Stellenwert. Die Ehe für
alle würde außerdem Zugang zu Rechten
verschaffen, die Verheirateten vorbehalten
sind – zum Beispiel bei Krankenversicherung
und Landbesitz, im
Steuerrecht und möglicherweise sogar
bei Adoptionen.
Guruswamy und ihre Partnerin
Arundhati Katju treten daher auch im
vorliegenden Fall als Anwältinnen
auf. Sie fordern, dass der Special Marriages
Act von 1954 angepasst wird. Da r-
in soll nicht mehr von Männern und
Frauen, sondern von »Personen« die
Rede sein. Der Special Marriages Act
regelt die Ehe von Paaren, die nicht
unter religiösem Recht heiraten wollen
oder können. Die geforderte Änderung
würde den verfassungsrechtlichen
Schutz für Minderheiten stärken.
Das wird allerdings nicht zwangsläufig
für Gerechtigkeit sorgen. Die Soziologin
Paro Mishra vom Indraprashta
Institute of Information Technology
in Delhi weist im Gespräch mit Jungle
World auf die bestehenden patriarchalen
Strukturen hin. »Die Ehe ist eine
Vor Gericht sprachen sich religiöse
Oberhäupter des Hinduismus, des
Islam, des Jainismus, des Sikhismus
und des Christentums in seltener
Einmütigkeit gegen die Ehe für alle
aus.
ungleiche Institution, die auf einer
Autoritätsbeziehung basiert.« Bei Hochzeiten
gehe es schon immer um die
sexuelle Kontrolle von Frauen, etwa
durch arrangierte Ehen. Durch Praktiken
wie Mitgiftzahlungen solle sichergestellt
werden, dass bestimmte finanzielle
Ressourcen innerhalb der eigenen
sozialen Gruppen (etwa Kasten
oder Klassen) blieben. Zugespitzt ließe
sich die Frau also als Eigentum des
Mannes betrachten – so stehen auch
Vergewaltigungen in der Ehe in Indien
nicht unter Strafe. Weil diese patriarchalen
Strukturen weiterhin in breiten
Bevölkerungsschichten sozial anerkannt
seien, sei nicht automatisch gewährleistet,
dass alle Personen in
der Ehe die gleichen Rechte erhielten.
»Selbst wenn solche Ehen geschlossen
werden – ob sie etwa beim Mieten
einer Wohnung oder beim Hauskauf
mit heterosexuellen Partnerschaften
gleich gewertet werden, sei dahingestellt.«
Die Regierung bezeichnet die Reformforderungen
als Ausdruck einer »urbanen,
elitären Sichtweise«. Dabei zeigen
Studien des Forschungsprogramms
Lokniti am Centre for Developing Societies
gemeinsam mit der
Azim-Premji-Universität,
dass die Akzeptanz für nicht
heteronormative Formen der
Partnerschaft in ländlichen
Gebieten sogar leicht höher
liegt als in den Städten.
Die Stimmen von lesbischen
Fabrikarbeiterinnen,
Tagelöhnerinnen und Landarbeiterinnen
hatte die
Aktivistin Maya Sharma bereits in ihrem
Buch »Loving Women« (2006) eingefangen.
So auch die Geschichte der Polizistinnen
Urmila Srivastava und Leela
Namdeo, die bereits 1988 mit dem Einverständnis
beider Familien nach hinduistischem
Ritual heirateten. Das Glück
währte allerdings nur kurz – als ihr
Vorgesetzter davon erfuhr, verloren sie
beide ihre Arbeit und wanderten ins
Gefängnis.
Das Bedürfnis nach rechtlicher Absicherung
solcher Eheschließungen
durch das Oberste Gericht ist also groß.
Die Entscheidung wird für Anfang
Mai erwartet.
Der Gouverneur
macht sich mausig
Ron DeSantis, der republikanische Gouverneur von Florida, führt
einen Feldzug gegen den Disney, der bislang eher ihm geschadet hat als
dem Konzern.
Von Elke Wittich
Der hingebungsvolle Kleinkrieg, den
der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis,
seit rund einem Jahr gegen den
Disney-Konzern führt, brachte ihm bislang
bemerkenswert wenige Erfolge.
Angefangen hatte alles damit, dass Anfang
2022 ein Gesetz verabschiedet
wurde, das die Behandlung von Themen
wie Geschlechter oder sexuelle Orientierung
in Grundschulen generell untersagt.
Dazu müsste dann eigentlich
auch ein Verbot jeglicher Erwähnung
von Heterosexualität gehören, aber
das ist de facto nicht der Fall, denn das
Gesetz richtet sich gegen LGBT.
DeSantis, der zeitweise als aussichtsreicher
republikanischer Präsidentschaftskandidat
gehandelt wurde, war
einer der maßgeblichen Befürworter
des meist als »Don’t Say Gay«-Gesetz
bezeichneten Parental Rights in Education
Act. Zu dessen Kritikern gesellte
sich im März vorigen Jahres auch der
damalige Generaldirektor von Disney,
Bob Chapek. Das empörte DeSantis
offenkundig sehr, seither verbringt er
eine Menge Zeit damit, immer neue
Ideen zu entwickeln, um »woke Disney«
auf die Nerven zu gehen – ein Kulturkampf
gegen einen Konzern, der ihm
als besonders schlimmes Beispiel für
die angeblich wertezersetzende Politik
vieler US-Unternehmen gilt.
Eine der schönsten Niederlagen des
Gouverneurs begann damit, dass er
im Februar dieses Jahres die Mitglieder
des von Disney – immerhin größter
privater Arbeitgeber des Bundesstaats
Florida – kontrollierten Gremiums entließ,
das die Selbstverwaltungsrechte
des Konzerns im Gebiet der Themenparks
ausübt, und durch von ihm handverlesenen
ultrakonservative Republikaner
ersetzte. Damit hätte eigentlich
alles in DeSantis’ Sinn verlaufen müssen
– hätten sich die von ihm Abgesetzten
nicht einen Trick einfallen lassen,
mit dessen Hilfe die geplante reibungslose
republikanische Machtübernahme
verhindert wurde. In letzter Minute
setzten sie eine Klausel in das Dokument
über die Verwaltungsbefugnisse des
Konzerns, in der König Charles III. von
England vorkommt: Die jetzigen Bestimmungen
sollen demnach bis 21 Jahre
nach dem Tod von dessen letztem
Nachkommen gelten.
Solche sogenannten Königsklauseln
werden in den USA benutzt, um Vorschriften
gegen Verträge mit unbegrenzter
Laufzeit zu umgehen. Der Tageszeitung
The Guardian zufolge greift
man bei solchen Datierungen auf die
britischen Royals zurück, weil deren
Stammbaum sehr gut dokumentiert
ist und Mitglieder der königlichen
Familie oft sehr lange leben.
DeSantis war allerdings noch lange
nicht fertig mit Disney: Florida könne
sich gut vorstellen, ein Hochsicherheitsgefängnis
gleich neben dem Disney-Themenpark
zu bauen, sagte er.
Danach kam er auf eine andere Idee:
Alle Beschlüsse des von ihm abgesetzten
Vorstands wurden rückwirkend für
ungültig erklärt. Die komfortable Parlamentsmehrheit
der Republikaner
wurde am 19. April dazu genutzt, neue
Bestimmungen für Sondersteuerbezirke
wie jenen des Disney-Konzerns
durchzusetzen. Demnach kann die
Regierung ab sofort nach Gutdünken
alles, was Unternehmensvorstände in
einem Zeitraum von bis zu drei Monaten
vor der Verabschiedung neuer Gesetze
beschlossen, rückgängig machen.
Juristen gehen der Tageszeitung Miami
Herald zufolge allerdings davon aus,
dass diese Regelung verfassungswidrig
sei und mittelfristig keinen Bestand
haben werde.
Warum DeSantis die Idee des Gefängnisbaus
wieder fallen ließ, ist unklar,
allerdings wurde sie prompt durch eine
neue ersetzt. Nunmehr möchten der
Gouverneur und seine Partei gern sogenannte
cheap housing-Projekte neben
den Vergnügungsparks errichten, mutmaßlich
in der Hoffnung darauf, dass
Disney-Besucher es nicht schätzen würden,
bei der Anfahrt zu Micky Maus
mit dem Anblick von Armut konfrontiert
zu werden.
Allerdings sind nicht alle Republikaner
von DeSantis’ Kleinkrieg begeistert.
Chris Christie, ehemaliger Gouverneur
von New Jersey, der ebenfalls Präsidentschaftsambitionen
hat, nannte
den Angriff auf ein Privatunternehmen
»unkonservativ« und sagte, der Gouverneur
Floridas sei »nicht die Person,
die ich dabei sehen möchte, wie sie dem
chinesischen Präsidenten gegenübersitzt,
um unsere nächsten Verträge mit
ihm zu verhandeln«. Beziehungsweise
in Gesprächen mit Wladimir Putin versucht,
den Krieg in der Ukraine zu beenden:
»Wenn jemand die Fallen, die Disney
ihm in den Weg gestellt hat, nicht
erkennt, finde ich das nicht sehr imponierend.«
Der Demokrat Jon Cooper, ehemals
führender Spendensammler für Joe Bidens
Wahlkampagne, twitterte am Wochenende:
»Wenn Ron DeSantis im Wahlkampf
um die Präsidentschaftskandidatur
gegen Micky Maus antreten würde,
könnte seine idiotische Fehde mit
Disney World sinnvoll sein. Bedauerlicherweise
für ihn tut er das nicht.«
DeSantis’ Chancen, nächster Präsident
der Vereinigten Staaten von Amerika
zu werden, sinken weiter. Bei einer
Pressekonferenz anlässlich seines Japan-Besuchs
am Montag, der eigentlich
seine außenpolitische Kompetenz
zeigen sollte, wurde er gefragt, was er
zu den aktuellen Meinungsumfragen
sage, die ihn weit abgeschlagen hinter
Donald Trump zeigen. Er antwortete
mit zornverzerrtem Gesicht, dass er ja
noch kein offizieller Kandidat sei und
man abwarten solle, wann und ob sich
das ändere.
Das Video des bizarren Auftritts verschwand
jedoch wegen einer bedeutenderen
Personalie rasch aus den Nachrichten:
Am Montag wurde bekannt,
dass der Sender Fox News den Moderator
Tucker Carlson fristlos gefeuert
hat. Nicht wenige Experten meinen nun,
dass er zum Vizepräsidentschaftskandidaten
von Donald J. Trump werden
könnte. Carlson hatte DeSantis’ Feldzug
gegen Disney unterstützt, viele seiner
Fans machen den Konzern nun für die
Entlassung verantwortlich.
Anders als Ron DeSantis bleibt Micky Maus populär. Begrüßung im Magic Kingdom Park in Lake Buena Vista, Florida
picture alliance / Ted Shaffrey
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 13 ∎∎∎ AUSLAND
Für Paraden reicht der Platz noch. General Min Aung Hlaing beim »Tag der Streitkräfte« in Naypyidaw, 27. März
Die Generäle verlieren
die Kontrolle
Trotz des verstärkten Einsatzes der Luftwaffe gerät das Militärregime
Myanmars in die Defensive. Nun will es Scheinwahlen abhalten
lassen, von denen die Opposition ausgeschlossen ist.
Von Robin Eberhardt
Es war das tödlichste Bombardement
in Myanmar seit dem Militärputsch
am 1. Februar 2021: Nach Angaben Aung
Myo Mins, des Menschenrechtsministers
der oppositionellen Nationalen Einheitsregierung
(NUG), starben bei
dem Luftangriff auf das Dorf Pazigyi
am 11. April 186 Menschen, darunter
40 Minderjährige.
Die Junta behauptet, nur gegen »Terroristen«
zu kämpfen. Ende März hatte
der Anführer der Militärjunta, General
Min Aung Hlaing, in einer seiner seltenen
Reden am »Tag der Streitkräfte« gesagt:
»Die Terrorakte der NUG und
ihrer Lakaien, der sogenannten PDF,
müssen ein für alle Mal bekämpft werden.«
Die NUG setzt sich mehrheitlich
aus ehemaligen Abgeordneten der Nationalen
Liga für Demokratie (NLD),
der Partei von Aung San Suu Kyi, zusammen;
die PDF (People’s Defence Forces)
sind bewaffnete Gruppen, die zum Teil
unter dem Kommando der NUG, zum
Teil unabhängig von ihr die Junta bekämpfen.
Im September 2021 hatte die NUG
zum »Krieg gegen die Junta« aufgerufen,
die mit immer größerer Brutalität
gegen zivile Proteste vorgegangen
war. Die Armee – in Myanmar als Tatmadaw
bezeichnet – greift seitdem
auch mit der Luftwaffe die Zivilbevölkerung
an. Dem Armed Conflict Location
and Event Data Project, einer USamerikanischen
NGO, zufolge gab es
von Oktober 2022 bis Februar 2023 über
200 Luftangriffe in Myanmar. Im
März stellte ein Bericht der Vereinten
Nationen fest, dass die Gewalttaten
im Nordwesten und im Südosten Myanmars
aufgrund von »wahllosen Luftangriffen
und Artilleriebeschuss, massenhaftem
Niederbrennen von Dörfern
zur Vertreibung der Zivilbevölkerung
und Verweigerung des humanitären
Zugangs« zugenommen haben.
Die Jungle World sprach mit mehreren
picture alliance
Experten und Expertinnen über die
derzeitige Lage im Land.
Trotz des brutalen Vorgehens verliert
das Regime immer mehr die militärische
Kontrolle und scheint unfähig,
die politische Lage zu stabilisieren.
Nicht nur an den Rändern, auch
im Zentrum Myanmars kommt es zu
Kämpfen und Angriffen der Luftwaffe
wie dem auf das Dorf Pazigyi in der
Region Sagaing. Nyein Chan May, Vorsitzende
des Vereins German Solidarity
with Myanmar Democracy, sagte,
dies sei mittlerweile die meistumkämpfte
Region im Land. Jonathan Liljeblad
von der Australian National
University bestätigt, dass in der Region
Sagaing die Kämpfe mit am heftigsten
seien. Er ergänzt, dass es auch im Chin-
Staat an der Grenze zu Bangladesh
(einer der 15 Verwaltungsregionen Myanmars)
westlich der zweitgrößten
Stadt Mandalay sowie im Kayah- und
Karen-Staat an der thailändischen
Grenze zu gewalttätigen Auseinandersetzungen
komme.
»Die langjährige Losung crush all
destructive elements (alle destruktiven
Elemente zerschmettern, Anm. d. Red.)
ist wieder aktuell. Das sind alle, die die
Kontrolle des Militärs über das Land in
Frage stellen«, sagt Uta Gärtner, Autorin
mehrerer Bücher über Myanmar. Je
stärker der Widerstand sei, desto heftiger
reagiere die Militärführung. »Bei
den Dörfern geht es eigentlich nicht
gegen deren Bewohner, sondern gegen
Stützpunkte der bewaffneten Gegner,
der People’s Defence Forces. Ziel sind
die Gegner, die Zivilisten sind aus
»Humanitäre Hilfe und die
medizinische Versorgung werden
von der Junta gezielt torpediert.«
Theresa Bergmann, Asien-Expertin
bei Amnesty International
Sicht des Militärs Kollateralschäden«,
fährt Gärtner fort. Der Tatmadaw
wirft seinen Gegnern vor, Zivilisten als
menschliche Schutzschilde zu benutzen.
Die Luftangriffe seien ein Teil der
Gesamtstrategie der Militärführung,
meint Felix Heiduk von der Stiftung
Wissenschaft und Politik in Berlin. Es
gehe immer gegen die Teile der Bevölkerung,
die die »Terroristen« unterstützen,
was die Junta auch nicht leugne.
Das bestätigt Theresa Bergmann,
Asien-Expertin bei Amnesty International:
»Es werden Dörfer geplündert
und angezündet.« Zudem würden auch
Menschen bestraft, die verdächtigt
werden, die Opposition oder auch nur
Binnenvertriebene zu unterstützen.
»Humanitäre Hilfe und die medizinische
Versorgung werden von der Junta
gezielt torpediert.« Sie sieht in den
Luftangriffen schwere Kriegsverbrechen.
Amnesty International rufe
dazu auf, weltweit die Flugbenzinlieferungen
nach Myanmar einzustellen.
»Das Flugbenzin trägt dazu bei, dass
die Junta Kriegsverbrechen verübt.«
Nyein Chan May betont, dass der Tatmadaw
schon immer brutal gewesen
sei. »Das Militär versteht nur die Sprache
der Gewalt.« Außerdem sehe es in
der jetzigen Lage keinen anderen Ausweg
mehr. Die Luftangriffe zeigten
auch, dass die Junta am Boden keine
Kontrolle mehr habe. »Die Militärführung
gibt ja selbst zu, dass sie über
30 bis 50 Prozent der Gemeinden
keine Kontrolle habe«, sagt Heiduk. Der
Special Advisory Council for Myanmar,
eine unabhängige Expertengruppe,
ging schon im September davon
aus, dass die Junta nur noch 17 Prozent
des Landes sicher unter Kontrolle
habe, ihre Kräfte also dort nicht angegriffen
würden. Seither habe das die
Armee noch weitere Gebiete verloren,
so Heiduk. »Die Widerstandskräfte
werden immer stärker und ihre Angriffe
immer wirksamer.«
Obwohl das Regime offenbar immer
mehr in die Defensive gerät, wurden
für dieses Jahr Wahlen angekündigt. Mia
Kruska vom Myanmar-Institut in Berlin
betont, dies seien Scheinwahlen, die
nichts mit einem demokratischen
Prozess zu tun hätten. Der Putsch war
erfolgt, weil die Generäle das Ergebnis
der Wahlen des Jahres 2020, die der
NLD eine große Mehrheit verschafft
hatten, nicht akzeptierten – obwohl
die damalige Verfassung den Einfluss
der Armee sicherte, da sie ein Viertel
der Abgeordneten ernennen konnte.
Nach offiziellen Angaben haben
sich bis zum Ende der gesetzten Frist
Ende März 63 Parteien registrieren
lassen. Da ein Ende Januar erlassenes
Gesetz die Registrierung zur Voraussetzung
für das weitere Bestehen
der Parteien macht,
wurden über 40 Parteien
aufgelöst, die sich nicht registrieren
lassen wollten
oder die Auflagen nicht erfüllen
konnten – darunter
auch die NLD. Kruska bezweifelt
jedoch, dass es der
Junta gelingen werde, die
NLD aufzulösen, die loyalen Parteimitglieder
würden ihre Arbeit nicht einstellen.
Diese fänden seit dem Putsch
ohnehin unter erschwerten Bedingungen
statt.
Die NLD-Vorsitzende Aung San Suu
Kyi wurde in mehreren Prozessen zu
insgesamt 33 Jahren Gefängnis verurteilt,
zahlreiche andere Parteimitglieder
sind in Haft, der ehemalige NLD-
Abgeordnete U Phyo Zayar Thaw wurde
sogar hingerichtet. Die Zahl der politischen
Gefangenen wird auf über
13 000 geschätzt. Freie Wahlen seien
unmöglich, denn »die meisten Oppositionspolitiker
sind im Gefängnis und
werden dort gefoltert«, so Nyein Chan
May. »Die Bevölkerung von Myanmar
hat große Sorgen, dass die internationale
Gemeinschaft die Wahlen als beste
von den schlimmen Optionen ansehen
würde.«
»Mit der Auflösung der gegnerischen
Parteien sollen die Wahlen manipuliert
werden, damit nur die Anhänger
des Militärs gewinnen«, meint Liljeblad.
Die Junta beabsichtige, den Wahlablauf
so zurechtzubiegen, dass ein
Ergebnis nach ihrem Willen herauskomme.
»Die Abwesenheit politischer
Parteien bedeutet jedoch nicht, dass
es keine Opposition gibt, und die Demokratiebefürworter
werden auch ohne
politische Parteien weiter Widerstand
leisten.« Er sieht die Wahlen als einen
Versuch der Armee, der »internationalen
Gemeinschaft« zu demonstrieren,
dass sie das Land unter Kontrolle habe
und ihre Macht in Myanmar legitimiert
sei. Es sei aber fraglich, ob das
funktionieren werde. »Wenn sie nur in
den vom Militär kontrollierten Gebieten
abstimmen können, bedeutet dies,
dass nur ein Bruchteil der Bevölkerung
zur Wahl geht.«
Die Junta behauptet, Wahlen abhalten
zu können. »In Wirklichkeit ist die lokale
Verwaltung in vielen Teilen Myanmars
seit dem Putsch von 2021 zusammengebrochen«,
so Moe Thuzar vom
Myanmar Studies Programme der
Universität Singapur. Uta Gärtner sieht
das ähnlich: »Ein Ende der Kämpfe ist
nicht absehbar«, der Tatmadaw habe
über weite Gebiete die Kontrolle verloren.
Bei dieser militärischen Lage ist
fraglich, ob die Scheinwahlen überhaupt
stattfinden können.
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27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Nach oben offen
Russische Gerichte verhängen immer längere Haftstrafen gegen
Oppositionelle. Nun wurde der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa
zu 25 Jahren Haft verurteilt.
Von Katja Woronina
25 Jahre Strafkolonie für einen russischen
Oppositionspolitiker stellen im
postsowjetischen Russland einen Rekord
dar. Die Justizverfahren orientieren
sich immer mehr an historischen
Vorbildern. Am 18. April, nur einen Tag
nachdem dieses drakonische Urteil
gegen Wladimir Kara-Mursa wegen
Hochverrats fiel, verabschiedete die
Staatsduma in zweiter und dritter Lesung
ein Gesetz, das als Höchststrafe
für Landesverrat statt der bislang festgeschriebenen
20 Jahre Haft in Zukunft
lebenslänglichen Freiheitsentzug
vorsieht. Noch im April will der Föderationsrat,
das russische Oberhaus, sich
damit befassen.
Kara-Mursa ist einer der engsten Wegbegleiter
des 2015 vor den Kreml-Mauern
im Zentrum Moskaus ermordeten
Oppositionspolitikers Boris Nemzow.
Auf dessen Anstoß hin betrieb Kara-
Mursa, der auch die britische Staatsangehörigkeit
besitzt und zeitweise in
den USA als Journalist tätig war, Lobbyarbeit
in Washington, die 2012 in die
Verabschiedung des sogenannten Magnitsky
Act durch den US-Kongress
mündete, mit dem russische Beamte
bestraft werden sollten, die für den
Tod des russischen Steueranwalts Sergej
Magnitskij in einem Moskauer Gefängnis
im Jahr 2009 verantwortlich sind.
Mit diesem politischen Erfolg der russischen
Opposition wurde eine Wende
im Umgang mit Russland eingeleitet.
Von nun an konnten die USA personenbezogene
Sanktionen gegen russische
Staatsvertreter verhängen, später
folgten auch Großbritannien und die
Europäische Union.
Nach Beginn des Angriffs auf die
Ukraine wurde Kara-Mursa zunächst
wegen angeblicher Falschaussagen über
die russischen Streitkräfte festgenommen.
Als weitere Anklagepunkte kamen
später die Zusammenarbeit mit dem
ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowskij
und öffentliche Kritik am Ukraine-Krieg
hinzu. Für schuldig wurde
er des Hochverrats befunden. Kara-
Mursa verglich seinen Prozess mit den
Schauprozessen unter Stalin in den
dreißiger Jahren.
In die Fänge der russischen Justiz
geraten auch Menschen, die sich mit
Mitteln der direkten Aktion zu Wehr
setzen. Es gab seit Kriegsbeginn Dutzende
Fälle von Brandstiftung an Militärkommissariaten
für die Rekrutierung.
Ende Januar fiel erstmals ein Urteil,
das eine solche Tat als »Terrorismus«
einstuft. Wladislaw Borisenko aus
Nischnewartowsk erhielt zwölf Jahre
Haft, der Mitte März verurteilte Kirill
Butylin aus dem Moskauer Umland 13.
Obwohl wegen Antikriegsaktionen,
bei denen Molotow-Cocktails zum Einsatz
kommen, gelegentlich mildere
Haftstrafen verhängt werden, weist die
Tendenz auf eine deutliche Anhebung
des Strafmaßes hin.
Am bislang härtesten traf es Roman
Nasrijew und Aleksej Nurijew, 28 und
37 Jahre alt, aus der Kleinstadt Bakal im
Gebiet Tscheljabinsk: 19 Jahre Haft
wegen versuchter Brandstiftung an einem
Verwaltungsgebäude, in dem
sich eine Wehrerfassungsstelle befindet.
Nur der Bodenbelag aus Linoleum
entzündete sich, der Wachschutz löschte
das Feuer umgehend. Auch diese Tat
stufte die Justiz als Terrorismus ein; Nasrijew
argumentierte vor Gericht, er
habe nicht den Eindruck, dass solche
Aktionen in der Bevölkerung Angst
Wie in einem schlechten Film. Wladimir Kara-Mursa am Tag seiner Verurteilung im Moskauer Gericht, 17. April
und Schrecken verbreiteten. Er habe
nur seine Ablehnung der Teilmobilisierung
und dem Krieg als solchen zum
Ausdruck zu bringen wollen. Das sehr
hohe Strafmaß könnte mit den Berufen
der beiden Kriegsgegner zu tun haben:
Nurijew ist beim Katastrophenschutzministerium
angestellt, Nasrijew
hat als Fahrer für den Wachschutz der
Nationalgarde gearbeitet. Dass sich in
staatlichen Strukturen Widerstand
gegen den offiziellen Kriegskurs breitmacht,
dürfte dem Machtapparat
missfallen.
Warnungen davor, die Rekrutierungsstellen
der Armee aufzusuchen, können
strafrechtlich verfolgt werden. So
wurden jüngst Strafermittlungen
gegen Marija Menschikowa vom unabhängigen
Studierendenmagazin Doxa
(Jungle World 23/2021) wegen »Rechtfertigung
von Terrorismus« eingeleitet,
worauf bis zu sieben Jahre Haft stehen.
Anlass bot den Behörden ein
Doxa-Beitrag im russischen sozialen
Medium Vkontakte. Menschikowa
hält sich als Doktorandin in Bochum
auf. »In einem faschistischen Regime
wird alles auf den Kopf gestellt: Krieg ist
Frieden und Freiheit ist Sklaverei. Und
die größte Bedrohung für die Faschisten
Warnungen davor, die Rekrutierungsstellen
der Armee aufzusuchen,
können in Russland strafrechtlich
verfolgt werden.
ist die Solidarität der Menschen, die sich
kümmern, was jetzt mit ›Terrorismus‹
gleichgesetzt wird«, sagte Menschikowa
der Nachrichten-Website Meduza über
das Verfahren gegen sie.
Im benachbarten Belarus läuft die
Abrechnung mit politischen Oppositionellen
ebenfalls auf vollen Touren.
Am Freitag vergangener Woche forderte
die Staatsanwaltschaft unter anderem
wegen Organisation von Massenunruhen
zehn Jahre Gefängnis für Roman
Protasewitsch. Der in umfassend geständige
ehemalige Chefredakteur des
Reuters / Maxim Shemetov
oppositionellen Telegram-Kanals Nexta
wurde 2021 festgenommen, nachdem
ein Ryanair-Flugzeug mit ihm als
Passagier in Minsk zur Landung gezwungen
worden war (Jungle
World 22/2021). Protasewitschs
damalige Lebensgefährtin,
die in Belarus zu
sechs Jahren Haft verurteilte
russische Staatsangehörige
Sofia Sapega, habe Meduza
zufolge nach Angaben der
russischen Botschaft Mitte
April in ihre Auslieferung an Russland
eingewilligt.
Vor dem Hintergrund einer immer
länger werdenden Liste staatlich Verfolgter
werden erfreulichere Nachrichten
bisweilen übersehen. Seit vergangener
Woche ist Julij Bojarschinow nach
fünfeinhalb Jahren Strafkolonie wieder
in Freiheit. Ein Militärgericht hatte
den Antifaschisten aus der anarchistischen
Szene 2020 für schuldig befunden,
einer terroristischen Gruppe namens
»Netzwerk« anzugehören (Jungle
World 27/2020).
Luxus nur für einige
Die meisten Verdächtigen des als »Katargate« bekannt gewordenen
Korruptionsskandals in der sozialdemokratischen Fraktion im
EU-Parlament sind aus der belgischen Untersuchungshaft entlassen
worden. Das EU-Parlament plant strengere Maßnahmen gegen
Korruption.
Von Felix Sassmannshausen
Mit Eva Kaili ist Mitte April die letzte
und wohl prominenteste Figur aus
dem mutmaßlichen Korruptionsnetzwerk
innerhalb der sozialdemokratischen
Fraktion im EU-Parlament aus
dem Gefängnis entlassen worden. Der
belgischen Staatsanwaltschaft zufolge
steht die griechische Politikerin nach
viermonatiger Untersuchungshaft nun
unter Hausarrest und wird mit einer
elektronischen Fußfessel überwacht.
Ihr und vier weiteren Haupttatverdächtigen
wird vorgeworfen, Bestechungsgelder
im Wert von über 1,5 Millionen
Euro aus Katar, Marokko und
wohl auch Mauretanien angenommen
zu haben und sich im Gegenzug öffentlich
im Sinne der Länder geäußert
und Abstimmungen zu ihren Gunsten
beeinflusst zu haben.
Im Zentrum der Ermittlungen steht
die NGO Fight Impunity, über die die
Gelder aus Katar und Marokko nach
Brüssel gelangt sein sollen, wie der
Spiegel vermutet. Diese NGO setzt sich
eigenem Bekunden nach für die Bekämpfung
von Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen
ein. Gegründet
wurde die Organisation von
Pier Antonio Panzeri im September
2019. Panzeri saß früher für den italienischen
Partito Democratico (PD) und
bis zur Gründung der NGO für die
linkssozialdemokratische Partei Articolo
Uno im EU-Parlament. Vor seiner
Wahl ins EU-Parlament im Jahr 2004
war er hoher Funktionär beim Gewerkschaftsbund
Confederazione Generale
Italiana del Lavoro, die lange Zeit der
kommunistischen Partei Italiens nahestand.
Schon seit Juli 2022 hatten belgische
Ermittler:innen unter der Leitung des
Oberstaatsanwalts Antoon Schotsaert
mit den Überwachungsmaßnahmen
bei den Verdächtigen begonnen. Auch
dadurch geriet der ehemalige Parlamentsmitarbeiter
von Panzeri und Lebensgefährte
von Kaili, Francesco
Giorgi, in den Blick der Fahnder. Er gilt
ebenfalls als Hauptverdächtiger in
dem Korruptionsfall. Berichten der Süddeutschen
Zeitung zufolge soll er sich
noch im Oktober gemeinsam mit Panzeri
in einem Hotel in Brüssel mit dem
katarischen Arbeitsminister Ali bin Samikh
al-Marri zu einer Geldübergabe
getroffen haben. Beide, Panzeri und
Giorgi, haben belgischen Ermittlungsbehörden
zufolge inzwischen gestanden.
Panzeri soll sich den Ermittler:innen
als Kronzeuge in der Korruptionsaffäre
zur Verfügung gestellt haben.
Nach dem gegenwärtigen Stand der
Ermittlungen stammen die meisten
Figuren des mutmaßlich korrupten
Netzwerks aus der europäischen Sozialdemokratie.
So auch die belgischen
Abgeordneten des Parti Socialiste, Maria
Arena und Marc Tarabella. Tarabella
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war als Vizevorsitzender im Katar-Unterausschuss
des EU-Parlaments tätig.
Er wird durch eine Aussage Panzeris
belastet, der zufolge er 120 000 bis
140 000 Euro über das Netzwerk erhalten
habe. Der Gewerkschafter Luca
Visentini wiederum hat nach Angaben
Panzeris mindestens 50 000 Euro erhalten.
Er war von 2015 bis 2022 Generalsekretär
des Europäischen Gewerkschaftsbundes
und kurz vor den Enthüllungen
im November 2022 zum Generalsekretär
des weltgrößten Gewerkschaftsverbands,
dem Internationalen
Gewerkschaftsbund, gewählt worden.
Visentini, Tarabella, Arena und auch
Kaili beteuern ihre Unschuld.
Ein Motiv für die Bestechungen war
wohl, dass Katar sich mit den Geldern
einen humaneren Anstrich im Zuge der
Fußball-Weltmeisterschaft 2022 erkaufen
wollte. Dies scheint zumindest
teilweise gelungen zu sein. So hatte das
EU-Parlament am 24. November vergangenen
Jahres eine Resolution beschlossen,
in der die Menschenrechtslage
in dem Land mit Verweis auf Aussagen
des Internationalen Gewerkschaftsbundes
teils beschönigend dargestellt
wurde. Beschlüsse der Ausschüsse
und der Plenarversammlung
in Hinblick auf Katar wurden »wahrscheinlich
durch Korruption und unzulässige
Beeinflussung geändert«, heißt
es in einer Resolution des EU-Parlaments
vom 15. Dezember 2022 zur Korruptionsaffäre.
Mit Blick auf Marokko ging es Recherchen
des Tagesspiegels zufolge unter
anderem um ein Fischereiabkommen
mit der EU aus dem Jahr 2019. Demnach
sind Teile des umstrittenen Territoriums
Westsahara der marokkanischen
Verwaltung zugeschlagen worden,
trotz scharfer Kritik, dass die EU damit
den Herrschaftsanspruch über das von
Marokko annektierte Territorium anerkannt
hat. Bei den Verhandlungen über
das Fischereiabkommen spielte der
Neuen Zürcher Zeitung zufolge Panzeri
eine Rolle dadurch, dass er die Parlamentsdelegation
für die Beziehungen
zu den Maghreb-Ländern und der Union
des Arabischen Maghreb leitete. In
dieser Funktion hat er demzufolge
Bestechungsgelder von hochrangigen
Beamten des Königreichs empfangen,
unter anderem von Abderrahim Atmoun,
einem marokkanischen Diplomaten,
der in Polen arbeitet.
Das Präsidium des EU-Parlaments
unter der Leitung von Roberta Metsola
kündigte als Reaktion auf den Korruptionsskandal
vergangene Woche in einem
14-Punkte-Plan Maßnahmen zur
Korruptionsbekämpfung an. Darunter
fallen strengere Transparenzrichtlinien,
eine längere sogenannte Abkühlungsperiode
zwischen der Abgeordnetentätigkeit
und möglichen Lobbyaktivitäten
im Parlament. Auch soll das bisher
bestehende Transparenzregister ausgeweitet
werden. »Die Reformen sind
erste Schritte, um das Vertrauen in
die europäische Entscheidungsfindung
wiederherzustellen«, sagte Metsola
nach der Verabschiedung des Plans.
Weitere Maßnahmen sollen am 4. Mai
im Unterausschuss über äußere Einflussnahme
auf die EU diskutiert werden.
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Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 15 ∎∎∎ AUSLAND
Algen aus dem Erzgebirge
Ohne sie stünde Robert Koch ohne Nobelpreis da: Mit einem
veganen Trick bereitete Fanny Angelina Hesse im erzgebirgischen
Schwarzenberg den Nährboden für die Bakterienforschung. Auf
dem Algen substrat Agar gelang Koch vor 140 Jahren der Nachweis
von Tuberkuloseerregern.
Von Tobias Prüwer
»Lina, warum schmilzt dein Wackelpudding
in dieser Hitze eigentlich nicht?«
Walther Hesse, der das fragte, muss an
jenem Sommertag 1881 immens frustriert
gewesen sein. Im Labor floss dem
Mediziner der Gelatine-Nährboden
weg, auf dem er Bakterienkolonien
züchtete. Dabei herrschten in Schwarzenberg,
einem Ort im sächsischen
Erzgebirge, immerhin nicht ganz so
hohe Temperaturen wie andernorts
im Deutschen Reich. Doch ohne Boden
keine Bakterienzucht, die Hitze ruinierte
jedes Experiment. Was würde
der berühmte Robert Koch über den
In Frankreich kochten Forscher wie
Louis Pasteur Fleischbrühe für die
Bakterienzucht.
Misserfolg sagen, dessen Mitarbeiter
Hesse war? Guten Rat gab seine Frau
und Assistentin Fanny Angelina »Lina«
Hesse. Sie nannte ihrem Walther einen
Küchentrick, den heute jeder Veganer
kennt. Der Tipp revolutionierte die
Bakterienerforschung und Schwarzenberg
ging in die Geschichte der Mikrobiologie
ein. Dort, wo heutzutage ein
nicht geringer Teil der Einwohnerschaft
reaktionär ist, brachte ein veganes
Mittel die Lösung, wo tierische
Produkte wie Fleischbrühe und Gelatine
versagten. Und die Hilfe kam aus
Übersee.
Diese Episode aus dem Leben seiner
Großeltern hat Wolfgang Hesse 1992
in einem Fachartikel für die Amerikanische
Gesellschaft für Mikrobiologie
festgehalten. Ob Walther Hesses verzweifelte
Frage genau diesen Wortlaut hatte,
ist freilich nicht überliefert. Verbrieft
aber ist, dass er sich über die feste Konsistenz
seines Nachtischs wunderte.
Fanny Hesse enthüllte ihm, dass sie Agar
als Geliermittel benutzte, ein in Asien
gebräuchliches Algenpräparat. Die
Schwarzenberger Episode war lange
nicht bekannt, wird sie erzählt, dann
als augenzwinkernde Anekdote über
die helfende Hausfrau. Das wird Fanny
Hesse keinesfalls gerecht. Denn sie
war vielmehr als das tätig, was man
heutzutage Laborassistentin nennt.
Und sie war weltläufig.
Fanny Angelina Eilshemius wurde am
22. Juni 1850 in New York City geboren.
Ihr Vater, ein Händler, stammte aus den
Niederlanden, die Mutter aus einer
französisch-schweizerischen Familie.
Erstes Wissen über das Kochen erhielt
Fanny von ihrer Mutter und den Bediensteten.
Im Alter von 15 Jahren absolvierte
sie eine Ausbildung
in Hauswirtschaftslehre in
der Schweiz. Walther Hesse
lernte sie kennen, als dieser
als Passagierschiffsarzt in
New York Station machte.
Zuvor hatte der gebürtige
Bischofswerdaer die Dresdner Kreuzschule
besucht und an der Universität
Leipzig Medizin studiert. Er traf Fanny
einige Monate später im Sommer 1872
in Dresden wieder, wo sie Urlaub machte.
Er hatte damals eine Stelle als Assistenzarzt
in Pirna. Es funkte und zwei
Jahre darauf heirateten die beiden.
Zunächst ließ sich das Paar in Zittau nieder,
wo Walther als Arzt praktizierte.
Dann zog es die Eheleute 1877 in die
Bergarbeitersiedlung Schwarzenberg.
Hier war Walther als Bezirksarzt angestellt,
in seiner Verantwortung lag vor
allem die Gesundheit der untertage Tätigen.
Neben der Heilpraxis waren die Hesses
an der medizinischen Forschung
interessiert. Darum nutzte Walther eine
Beurlaubung, um beim späteren Nobelpreisträger
Robert Koch in Berlin zu
arbeiten. Dieser machte ihn mit dem
mikrobiologischen Experimentieren
vertraut. Mit einigem Erfolg setzte
Hesse danach eigene Untersuchungen
in seinem Schwarzenberger Labor fort
und publizierte regelmäßig in Fachzeitschriften.
Er trug unter anderem zur
verbesserten Tuberkulosediagnose und
der Keimbefreiung von Wasser bei. Mit
Kräften half ihm dabei Fanny – neben
der Haushaltsführung und der Erziehung
der drei Söhne. So bereitete sie die
Petrischalen für die Bakterienzucht vor.
Als begabte Zeichnerin protokollierte sie
die Beobachtungen unterm Mikroskop
visuell und lieferte Illustrationen für die
Veröffentlichungen ihres Mannes.
Und Fanny löste das anhaltende Problem
des Nährbodens für die Bakterienzucht.
Dafür bedurfte es einer festen,
sterilisierbaren Substanz mit relativ
konstanten Eigenschaften. In Frankreich
kochten Forscher wie Louis Pasteur
Fleischbrühe für die Bakterienzucht. Da
darin aber zu viele verschiedene Bakterienarten
gedeihen, erwies sich diese
Grundlage für gezielte Forschung als
ungeeignet. Da war Gelatine schon ein
Fortschritt: Das hatte Walther Hesse
von Robert Koch gelernt. Aber das
Schwarzenberger Sommerklima erwies
sich als unerbittlich. Immer wieder
zerfloss die Gelatine in der Hitze, die
Bakterienkulturen verschwanden im
Schleim. Fannys Rat, es mit Agar zu versuchen,
überzeugte den Forscher
sofort. Man könnte von einem Durchbruch
sprechen.
Dabei ist Agar, manchmal auch als
Agar-Agar bezeichnet, kein Geheimrezept.
Nur war es damals in Deutschland
recht unbekannt. Das vor allem
aus Rotalgen gewonnene Präparat wird
seit Jahrhunderten überwiegend in der
ostasiatischen Küche eingesetzt, unter
anderem als Verdickungsmittel in
Suppen und Süßspeisen. Es eignet sich
hervorragend als Geliermittel, weshalb
es heutzutage als veganer Ersatz für
die aus Tierknochen gewonnene Gelatine
sehr beliebt ist. Mit Agar gelingen
Sülzen und Panna cotta auch ohne tierischen
Zusatz. Fanny kannte es von einem
Nachbarn in New York, der aus Java
eingewandert war. Seitdem nutzte sie
selbst Agar für ihre Puddings und Gelees
– und brachte es nach Sachsen mit.
Für die Mikrobiologie eignet sich
Agar besonders wegen seiner Temperaturstabilität.
Kocht man es in Wasser
auf, entsteht ein stabiles Gel, das bei
95 Grad flüssig wird – Gelatine hingegen
zerfließt bei 37 Grad. Für die meisten
Bakterien ist Agar unverdaulich,
was einen zusätzlichen Vorteil gegenüber
der Gelatine darstellt. Darum wird
das Algengel bis heute in der Mikrobiologie
verwendet und machte viele
Entdeckungen in diesem Bereich erst
möglich.
Walther Hesse berichtete alsbald Robert
Koch von seinem neuen Nährmedium,
der es dann auch in seinem
Labor einsetzte. Damit gelang Koch
sein Durchbruch bei der Tuberkuloseerforschung,
für die er den Medizinnobelpreis
erhielt. Er erwähnte bei der
öffentlichen Bekanntmachung im
März 1882, dass er das TBC-Bakterium
entdeckt hatte, auch das neue Kulturmedium
Agar. Den Namen Fanny Angelina
Hesse nannte er bei dem Auftritt
nicht. Ihr Verdienst ist weitgehend vergessen.
Wer ihn auf die Lösung brachte,
von Gelatine auf den Nährboden Agar
zu wechseln, verriet Robert Koch nie.
Das kam erst später heraus. An ihrer
Idee verdienten die Hesses keinen
Pfennig. Sie zogen 1890 nach Dresden,
wo Walther 1911 starb. Seine Frau überlebte
ihn um 23 Jahre.
So bereitete Fanny mit einem Rezept
aus Java, das sie in New York erhielt,
im sächsischen Erzgebirge den Nährboden
für die globale Bekämpfung der
Tuberkulose. Mehr Internationalismus
geht kaum. Es ist ein Treppenwitz der
Geschichte, dass es dort heutzutage
Morddrohungen hagelt, wenn wie
jüngst in Dresden eine »vegane Fleischerei«
eröffnet, die ihre Produkte
auch noch umbenennen muss. Man
frage mal Bakterien.
Ein Haushaltstrick aus Java. Fanny Hesse schlug Agar als Grundlage für die Bakterienzucht
vor, 1883
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WISSENSCHAFT ∎∎∎ SEITE 16
27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Shane Burley, Journalist und Autor, über
Antisemitismus und Verschwörungstheorien in
den USA:
»Das ist der
Triumph des
Populismus«
Wird Antisemitismus in der USA
ernst genug genommen?
Es ist ein Unterschied, ob man ihm Aufmerksamkeit
schenkt oder ihn ernst
nimmt. Wir schenken ihm sicherlich
viel Aufmerksamkeit, aber ich denke
nicht, dass wir ihn ernst nehmen. Es gibt
eine ganze Reihe von NGOs und Institutionen,
die sich damit befassen sollen,
aber ich finde nicht, dass sie richtig damit
umgehen. Offenkundig gibt es eine
Verschiebung hin zu explizitem Antisemitismus
bei der eher zum Mainstream
gehörenden Rechten. Der Rapper
Ye, früher Kanye West, ist ein gutes
Beispiel (Jungle World 49/2022). Es gibt
auch sehr expliziten Antisemitismus
in der Propaganda des Trumpismus und
der Maga-Bewegung (Make America
Great Again, 2016 von Donald Trump in
»Offenkundig gibt es eine
Verschiebung hin zu explizitem
Antisemitismus bei der eher zum
Mainstream gehörenden Rechten.«
seiner Wahlkampagne benutzter Slogan,
Anm. d. Red.) und bis zu einem gewissen
Grad bei den Nationalkonservativen,
die eine etwas intellektuellere
Version davon sind.
Gewinnt die »white supremacy« an
Einfluss?
Die weiße nationalistische Bewegung
wächst derzeit nicht mehr. Sie hat sich
stabilisiert, einige Organisationen sind
von ihr abgefallen. Eine akzelerationistische
Version (der Akzelerationismus
propagiert die Beschleunigung kapitalistischer
Krisenprozesse, Anm. d. Red.)
des Neonazismus ist ein wenig trendy
geworden, es gibt noch immer die Atomwaffen
Division und The Base, die Gewalt
gegen Juden propagieren, aber diese
Gruppen sind recht klein. Doch eine
spezifische Form des Antisemitismus
wird normalisiert, vor allem jene Variante,
die sich auf jüdische Eigenschaften
bezieht. Da geht es nicht nur um
jüdische Kontrolle, sondern darum, woher
diese Kontrolle kommt – entweder
wird das aus dem Talmud abgeleitet
oder aus fremdartigen Eigenschaften
der Juden. Das kann man vor allem bei
der Groyper-Bewegung (vor allem im
Internet aktive Gruppe rechtsextremer
Aktivisten, Anm. d. Red.) und ihrem Anführer
Nick Fuentes sehen.
Die Republikanische Partei hat derzeit
zwei einflussreiche Flügel: die Nationalkonservativen,
die sich um den Think
Tank Claremont Institute gruppieren,
und die Maga-Bewegung, die sich um
Trump sammelt. Beide bedienen sich
bei den Groypers und ihrem Umfeld,
denn dort ist man sehr umtriebig. Sie
sehen diese Aktivitäten und spiegeln
sie ihn einem moderateren Ton wider.
Deshalb glaube ich, dass die christlichnationalistische
Version des Antisemitismus
dessen dominierende Variante
werden wird.
Wie passt der Antisemitismus in den
größeren Rahmen der derzeitigen
»white supremacy«?
Er ist in gewisser Weise essentiell. Wir
bewegen uns in eine Richtung, die man
als postantisemitisch bezeichnen
könnte, wo der Antisemitismus so implizit
im Weltbild enthalten ist, dass er
keiner Juden mehr bedarf. Es gibt hier
drei Publikumsgruppen: die Mainstream-Rechte,
die christlichen Nationalisten
und die weißen Nationalisten.
Weiße Nationalisten brauchen Juden
in der klassischen Art, in der die Nazis
sie brauchten, als kontrollierende Macht,
die Nichtweiße manipuliert. Dann gibt
es die christlichen Nationalisten, die
eine Sichtweise der Juden wiederbeleben,
die jener vor dem Zweiten Vatikanischen
Konzil (1962–1965, legte fest,
dass die Juden nicht mehr
als von Gott verworfen oder
verflucht dargestellt werden
dürfen, Anm. d. Red.)
ähnelt. Weil sie sich online
über solche Ideen austauschen,
kommen sie mit eher
neonazistischen Ansichten
in Berührung. Manches ergibt
logisch keinen Sinn, etwa wenn
fundamentalistische Baptisten die Holocaustleugnung
übernehmen. Sie haben
keinen Grund, das zu tun, aber wenn
sie sich online mit anderen Antisemiten
austauschen, werden sie von deren
Gedankengut beeinflusst.
Wie sieht es im rechten Mainstream
aus?
Diese Strömung ist sehr stark von Verschwörungstheorien
geprägt, aber
auch Israel; deshalb ist es wirklich
schwer für sie,, dass die Juden im Zentrum
des Antisemitismus stehen. Das
macht das Leben der Juden nicht sicherer.
Je mehr man Verschwörungstheorien
propagiert, desto weniger sicher
sind Juden. Aber jetzt laden sie Juden
zum Mitmachen ein. Chaya Raichik, die
hinter dem rechtsextremen und LGBTfeindlichen
Twitter-Account »Libs of
Tiktok« steht, ist eine orthodoxe Jüdin.
Sie greift George Soros an und ihre Verschwörungstheorien
– von denen einige
explizit Juden benennen – hatten Einfluss
auf ein Dutzend oder mehr transfeindliche
Gesetze.
Es gibt also tatsächlich Juden, die mitmachen,
deshalb geschehen bizarre
Dinge. So haben Chassiden andere Juden
beschuldigt, von Soros bezahlt zu werden.
Es gibt Bilder von einem Satmar
(Mitglied einer chassidischen Gruppierung,
Anm. d. Red.), der beim Sturm auf
das Kapitol am 6. Januar 2021 neben jemandem
mit einem »Camp Auschwitz«-
T-Shirt stand. Es ist irre, ein verwirrendes
Durcheinander. Ob Juden im Zentrum
der Verschwörungstheorien bleiben
werden, ist eine andere Frage. Aber
die antisemitische Struktur wird weiter
bestehen.
Die Behauptung, Donald Trump sei
um seinen Wahlsieg betrogen
worden, und die Feindseligkeit gegen
Trans-Personen sind weiterhin
präsent. Wird das dauerhaft so
bleiben?
Das Angriffsziel werden nicht immer
Trans-Personen sein, aber die Dynamik
ist immer die gleiche. Manches, wie
spezifische Qanon-Verschwörungstheorien,
wird nicht mehr benötigt. Es gibt
jetzt viele Qs, viele Leute enthüllen Geheimnisse
auf dem Imageboard 4chan:
»Ich bin Insider im Außenministerium,
ich weiß, was sie tun!« Ein Grund,
warum sie Trans-Personen angreifen,
ist ihr Sieg bei der Abtreibung. Es ist also
leicht, zu einem anderen Thema zu
springen. Bei der Konzentration auf
Trans-Personen werden eine Menge
komplizierter Angelegenheiten vermischt
und nehmen scheinbar materielle
Form an. Es ist nicht nur wokeness,
es ist medizinische wokeness: »Eure Kinder
injizieren wokeness in ihre Körper!«
An diesem Punkt ist die Verbindung
zu Argumenten vollständig gelöst, und
man braucht keine kohärenten Theorien.
Man braucht überhaupt keine Theorien
mehr, man sagt einfach: »Einige
Leute sagen … « Das ist gewissermaßen
posttheoretisch, die Verschwörung findet
immer und überall statt.
Das ist auch der Triumph des Populismus,
denn das ist es, was der Populismus
verlangt: gegen das System sein,
ohne zu definieren, was das System ist
und was es bedeutet, dagegen zu sein.
Das bestimmende politische Ziel ist
derzeit, die Zentrale zu zerstören und
die dominierenden Institutionen anzugreifen
– so dass viele die Rechte und
die Linke als weitgehend austauschbar
wahrnehmen, sofern sie destruktiv sind.
Das ist auch bei der Linken ein Problem,
allerdings nicht im gleichen Ausmaß
wie bei der Rechten. Ich denke,
dass ein großer Teil der Anhängerschaft
Trumps seinen Begierden freien Lauf
lassen wird, um an einer Bewegung gegen
das System teilzunehmen.
Eine kleine, obskure Gruppe von
Neonazis hat kürzlich zu einem antisemitischen
»Tag des Hasses« aufgerufen.
Viele Medien schenkten
dem große Beachtung und schlugen
Alarm, doch so verschafften sie
dem Aufruf, der ansonsten wenig
Wirkung gezeigt hätte, große öffentliche
Aufmerksamkeit. Nicht
alarmistisch agieren, aber vor realen
Bedrohungen warnen – wie kann
man in effektiver Weise wachsam
sein?
Übertriebene Reaktionen sind nicht hilfreich.
Das gilt insbesondere für Antisemitismus,
weil es sich um ein so politisches
Thema handelt. Um es richtig zu
machen, muss man sich Zeit nehmen
und sich mit anderen in der Öffentlichkeit
koordinieren, so dass alles untersucht
wird und Informationen geteilt
werden. Dann muss man Wege finden,
es so zu präsentieren, dass die Menschen
zu einem wirklich informierten Verständnis
gelangen – jenseits der Sichtweisen
von Strafverfolgungsbehörden
und vielen NGOs, die nicht in der Lage
sind zu differenzieren. Ich denke nicht,
Anzeige
Shane Burley ist Experte für die extreme Rechte in
den USA. Er arbeitet als Journalist unter anderem für
»The Daily Beast«, »The Independent« und »Haaretz«,
zu seinen Buchveröffentlichungen gehört »Why We
Fight: Essays on Fascism, Resistance, and Surviving
the Apocalypse« (2021).
dass es eine Geheimformel dafür gibt.
Die Schwierigkeit besteht darin, dass
es zwei Arten von Bedrohung gibt: die
Bedrohung durch eine wachsende
Bewegung und alles, was eine große Bewegung
tun kann, und die Bedrohung
durch die Gewalt kleiner Gruppen. Beide
sind wichtig und sie treten getrennt
auf.
Es gibt Dinge, auf die man achten
muss. Wandel und Anziehungskraft
sind immer von Bedeutung. Wenn eine
Person aus dem Mainstream sich in
wirklich grundlegender Weise verändert,
ist es wichtig, dem nachzuspüren. Und
wenn es ein großes Wachstum gibt, ist
das ebenfalls wichtig.
Die Entwicklung, die Ye genommen
hat, ist wichtig, weil sie einen grundlegenden
Wandel zeigt. Das Wachstum
und die Beständigkeit der Groypers –
der einzigen aus der Alt-Right übrig gebliebenen
Gruppierung, die ihre zahlenmäßige
Stärke gewahrt hat – ist
wichtig. Und die Einzigen, die diesen
Dingen nachgehen, sind die Antifaschisten,
die dafür viel Zeit aufwenden.
Es sollte mehr Diskussion und Zusammenarbeit
geben, damit die Menschen
die Veränderungen und Kontinuitäten
besser verstehen – und auch die Geschichte,
die zukünftige Entwicklung
und die Funktionsweise. Da es häufig
wiederkehrende Muster gibt, kann man
aus der Vergangenheit lernen.
Interview: Joseph Keady
privat
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 17 ∎∎∎ INTERVIEW
Alles unter dem Himmel
China beansprucht eine globale Führungsrolle und schafft ökonomische
Abhängigkeitsverhältnisse. Das ist vor allem für Nachbarstaaten und
arme Länder eine Gefahr.
Von Jörn Schulz
Es gibt kaum einen Nationalismus, der
ohne die Idealisierung der Vergangenheit
auskommt. Im günstigsten Fall
bleibt das Folklore, oftmals aber werden
vorbürgerliche Herrschaftsverhältnisse
romantisiert und als Heilmittel
gegen tatsächliche oder vermeintliche
Fehlentwicklungen der Moderne
gepriesen. Besonders heikel wird es,
wenn die Vergangenheit imperial
war.
Das ist in China der Fall. Die propagierte
»Wiedererstehung«, deren
Grundsätze Hauke Neddermann an
dieser Stelle seltsamerweise ohne
einen Anflug von Kritik referiert hat,
beruft sich auf das Leitprinzip tianxia
(alles unter dem Himmel): Der »Himmelssohn«,
der Kaiser, muss die
Nachbarländer unter seine fürsorgliche
Obhut nehmen, wofür sie ihm Tribut
und Ehrerbietung zu zollen haben.
Präsident Xi Jinping formuliert zwar
nur den Anspruch, China müsse »ein
globaler Anführer« werden, offizielle
Doktrin ist jedoch, dass eine Vorherrschaft
angestrebt wird, derzeit vor allem
mit ökonomischen Mitteln. Mit
der »Neuen Seidenstraße« (Belt and
Road Initiative) werden Abhängigkeiten
geschaffen, und China ist als Gläubiger
keineswegs freundlicher als der Internationale
Währungsfonds. Als die
Es bleibt, sofern man die
Schwächung der USA und der EU
nicht als Selbstzweck gutheißt,
unklar, was China als Weltmacht
Positives bewirken könnte.
Regierung Sri Lankas ihre Schulden
nicht bezahlen konnte, musste sie 2017
dem chinesischen Staatskonzern China
Merchants Port den Hafen von Hambantota
für 99 Jahre überschreiben –
eine »Demütigung« eben jener Art, wie
sie China als Halbkolonie hinnehmen
musste. Bedrohlich ist der Aufstieg des
Landes vor allem für arme Länder, die
in ökonomische Abhängigkeit geraten,
und für Nachbarstaaten, die dem neuen
Himmelssohn nicht den gewünschten
Tribut zollen.
Unter ihnen ist Taiwan am stärksten
bedroht. Die Insel wurde 1683 annektiert,
im Zuge der Expansionspolitik
der Qing-Dynastie, die im 17. und
18. Jahrhundert auch Tibet, Xinjiang,
die Mongolei und weitere Gebiete eroberte.
Einige gingen wieder verloren,
doch die heutigen Grenzen Chinas
sind im Wesentlichen ein Ergebnis dieser
Feldzüge, die das Territorium weit
über das Gebiet der Bewässerungsgesellschaft
hinaus ausweiteten, die
die Grundlage der chinesischen Zivilisation
bildete.
China verpasste den Aufstieg zur imperialistischen
Macht knapp. Die
Gründe dafür sind nicht eindeutig geklärt.
Das Land hatte ein im Vergleich
zum vorindustriellen Europa effizienteres
Bildungs- und Verwaltungssystem
– doch eben deshalb blieben dissidente
Intellektuelle und das aufstrebende
Bürgertum zu lange marginal.
Nicht zuletzt das politische Chaos in
Europa ermöglichte die Aufklärung
und den Griff der Bourgeoisie nach
der Macht.
Der halbkoloniale Status zwang
China, die westlichen Kolonialmächte
begünstigende Handelsverträge abzuschließen
und einige Inseln,
Hafenstädte und
Küstenterritorien abzutreten.
Manche dieser Verträge
und Abtretungen wurden
bereits in den dreißiger
Jahren zurückgenommen,
die Entkolonialisierung
– unterbrochen durch
den japanischen Angriffskrieg
– endete nach dem Zweiten Weltkrieg
mit der Aufnahme in den UN-
Sicherheitsrat als ständiges Mitglied.
Der schnelle Aufstieg erfolgte aufgrund
eines Machtkalküls, war aber
wohl nur möglich, weil Chines:innen
im Westen mehr Achtung fanden als
etwa Afrikaner:innen.
Neben dem antichinesischen Rassismus
gab es immer eine Tendenz, die
Zivilisation Chinas zu bewundern. Sie
hat in der Tat viel zu bieten, die Überhöhung
und Mythologisierung einzelner
Merkmale ist aber immer interessengeleitet.
Hinter der seit dem 18. Jahrhundert
nachweisbaren konservativen
Bewunderung des »chinesischen
Weisen«, der Maß und Mitte zu halten
vermag, verbarg sich die Abwehr der
zersetzenden Aufklärung und der
Auflösung der Ständegesellschaft. Heutzutage
dominiert eher die Bewunderung
chinesischer Effizienz, die verärgerte
Kund:innen der Deutschen
Bahn, klischeeaffine Regisseure wie
Roland Emmerich (»2012«), gewerkschaftsfeindliche
Unternehmer:innen
und viele andere eint.
Auch die Haltung vieler Linker zu
China ist von Mythen und historischer
Ignoranz geprägt. Gern wird übersehen,
dass der Erfolg der »Ein-China-
Politik« ein Werk des US-Präsidenten
Richard Nixon war. Er erkannte 1972
den Anspruch der KPCh auf Taiwan
an, um Mao als Verbündeten gegen die
Sowjetunion zu gewinnen. Chinesische
Nationalist:innen betrachten die
mandschurische Qing-Dynastie zwar
als Fremdherrschaft, aber was »die tatarischen
Barbaren«, so der bürgerliche
Revolutionsführer Sun Yat-sen
1904, erobert hatten, wollten auch er
sowie Mao und seine Nachfolger nicht
hergeben.
Einst standen sich eine stalinistische
und eine rechtsextreme Diktatur
gegenüber. Doch während die Lohnabhängigen
auf dem Festland seit
dem Übergang zum Staatskapitalismus
mit dem Schlechtesten beider Welten –
Unterdrückung und Ungleichheit –
leben müssen, genießen sie auf Taiwan
seit der Demokratisierung nach 1987
bürgerliche Freiheiten. Zudem ist dort
seit 2019 die gleichgeschlechtliche
Ehe anerkannt und es gibt, anders als
in Tibet und Xinjiang, Minderheitenrechte.
Meist übergangen wird in der linken
China-Apologetik auch die Außenpolitik
während des Kalten Kriegs, die
selbst traditionellen antiimperialistischen
Ansprüchen schwerlich genügt.
Als Hauptfeind galt die Sowjetunion.
Deren Verbündete bekämpfte China
und unterstützte beispielsweise gemeinsam
mit den USA und dem Apartheidregime
Südafrikas die Guerilla
Scharf auf die Insel. »Wir werden die heilige Mission vollenden, Taiwan zu befreien und das Land zu einen«, Propagandaplakat, 1977
Der Aufstieg der Volksrepublik China verändert die
Welt. Felix Wemheuer zeigte auf, welche unterschiedlichen
linken Positionen es zu China gibt (10/2023).
Ralf Ruckus argumentierte, Chinas Prägung durch
kapitalistische Gewaltverhältnisse müsse Ausgangspunkt linker
Kritik sein (11/2023). Michael Heidemann kritisierte die Geringschätzung
bürgerlicher Freiheitsrechte bei vielen linken Diskussionen über
China (12/2023). Ernst Lohoff warnte, China strebe an, sein illiberales
Herrschaftsmodell international durchzusetzen (14/2023). Hauke
Neddermann meinte, deutsche Linke sollten bei der gegenwärtigen
Kritik an China die Rolle des europäischen Kolonialismus nicht vergessen
(15/2023). Tomasz Konicz argumentierte, dass die Diktatur
nach dem chinesischen Vorbild die Zukunft des Kapitalismus darstellen
könnte (16/2023).
picture alliance
Unita in Angola, war der wichtigste
Unterstützer Pol Pots, dessen Regime
nach heutigen Schätzungen mindestens
20 Prozent der kambodschanischen
Bevölkerung zum Opfer fielen, und
griff 1979 Vietnam an.
Es bleibt, sofern man die Schwächung
der USA und der EU nicht als Selbstzweck
gutheißt, unklar, was China als
Weltmacht Positives bewirken könnte.
Auch viele Linke scheinen die chinesische
Effizienz zu bewundern, die allerdings
auf dem Verbot freier Gewerkschaften
und einem strikten Überwachungsregime
beruht. Das chinesische
Modell hat Anziehungskraft auf
Linke mit autoritären Sehnsüchten. Früher
pries man die als kämpferischen
Kollektivgeist missverstandene stalinistische
Rücksichtslosigkeit, geblieben
ist eine Bewunderung für die Absage
an den »westlichen« Individualismus.
Eine bemerkenswerte Überschneidung
mit der konservativen China-
Bewunderung zeigte sich beispielsweise
bei Hans Modrow (Linkspartei), der
immer wieder das chinesische Streben
nach »Harmonie« lobte. Vermeintliche
Harmonie kann in einer hierarchischen
Gesellschaft nur durch Unterordnung
hergestellt werden, Xi Jinping
zufolge sind traditionelle Familienwerte
eine »wichtige Grundlage« der
»sozialen Harmonie«. Tianxia ist auch
ein innenpolitisches Ordnungsprinzip
der patriarchalen Herrschaft.
Die kaiserlichen »Himmelssöhne«
erwarteten von tributpflichtigen Staaten
auch die Anwendung chinesischer
Regierungsprinzipien. In dieser Hinsicht
hält China sich bislang zurück,
doch auch ohne Missionseifer stärkt
der Aufstieg des Landes andere Diktaturen.
So dürftig die Fortschritte in der
westlichen Außenpolitik sind – in Handelsverträgen
finden nunmehr auch Gewerkschaftsfreiheit
und Umweltschutz
Erwähnung. China stellt keine derartigen
Bedingungen und gewinnt damit
einen Wettbewerbsvorteil.
Ob die chinesische Regierung sich in
Zukunft offensiv gegen demokratische
Regierungsformen wenden und ihre
Interessen militärisch durchsetzen
wird, ist noch unklar. Die Probe aufs
Exempel dürfte der Umgang mit Taiwan
sein. Entscheidet sich China trotz
der immensen politischen und ökonomischen
Folgeschäden für eine Invasion,
ist militärische Aggression auch
bei anderen Konflikten zu erwarten,
etwa beim Streit mit Nachbarstaaten
um Inseln im Südchinesischen Meer.
Welche Rolle China als Weltmacht
spielen kann, hängt aber auch von der
innenpolitischen Entwicklung ab. Die
dauerhafte Stabilität des Herrschaftssystems
muss sich erst noch erweisen.
Dessen Grundprobleme sind die Mischung
aus Kommandowirtschaft und
privater Akkumulation sowie die Notwendigkeit,
eine weitgehend rechtlose
Bevölkerung nicht nur zu kontrollieren,
sondern auch zu ständig steigender
Produktivität zu zwingen.
Die chinesische Regierung behauptet,
die absolute Armut 2021 beseitigt zu
haben. Überprüfbar ist diese pünktlich
zum 100jährigen Jubiläum der KPCh
verkündete Erfolgsmeldung nicht, zweifellos
aber gibt es weitverbreitete relative
Armut. Die mit dem Gini-Koeffizienten
gemessene soziale Ungleichheit
hat den meisten Schätzungen zufolge
0,4 deutlich überschritten und ist
damit größer als in Deutschland oder
den USA – und es gibt 969 Milliardär:innen,
mehr als in jedem anderen
Land der Welt.
Die immense private Akkumulation
ist keine unmittelbare Gefahr für das
Regime. Die derzeit praktizierte Methode,
unbotmäßige Milliardäre für einige
Zeit verschwinden und dann geläutert
wieder auftauchen zu lassen, dürfte
aber auf Dauer nicht ausreichen. Jede
derartige Internierung birgt das Potential
eines Crashs auf dem Aktienmarkt.
Diese Gefahr lässt sich ebenso wenig
wegkommandieren wie der grundlegende
Widerspruch zwischen der Durchsetzung
staatlicher Ziele und privater
Investitionstätigkeit, die stets nach
dem höchstmöglichen Profit strebt.
Der Mehrheit der Bevölkerung scheint
derzeit das Versprechen des sozialen
Aufstiegs noch zu genügen. Zudem ist
der Ausbau des Überwachungssystems
mit seiner Bewertung des Alltagsverhaltens
ein neues Kontrollinstrument,
dessen Auswirkungen verheerend
sein könnten. Andererseits ist seine
Existenz der beste Beweis dafür, dass
sich die KPCh ihrer Legitimation und
der »Harmonie« nicht so sicher ist,
wie sie behauptet.
Deng Xiaoping, Ende der siebziger
Jahre de facto der Machthaber Chinas,
sagte zum Auftakt der Privatisierungspolitik:
»Es ist egal, ob eine Katze
schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie
fängt Mäuse.« Autoritäre Herrscher
betrachten die Welt aus der Raubtierperspektive.
Lohnabhängige nicht nur in
China sollten sich daher keine Illusionen
machen. Sie sind die Mäuse – und
die Katze geht nun auch in der Nachbarschaft
auf die Jagd.
DISKO ∎∎∎ SEITE 18
27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Risse im Regenbogen
Deutsches Haus
In Wien hat ein rechtsextremer Mob versucht, die Kinderbuchlesung
einer Drag Queen zu stören. Österreichische Rechtsextreme hetzen seit
einiger Zeit verstärkt gegen LGBT-Personen.
Von Bernhard Torsch
Ein Großaufgebot der Polizei war nötig,
um die beiden Seiten voneinander zu
trennen. Ein rechtsextremer Mob hatte
in Wien am Sonntag, dem 16. April,
versucht, die Kinderbuchlesung einer
Drag Queen im LGBT-Community-
Zentrum »Türkis Rosa Lila Villa« zu verhindern.
Den etwa 100 Rechtsextremen
– bestehend aus Identitären, FPÖ-
Vertretern und fundamentalistischen
Christen – standen deutlich mehr Gegendemonstranten
gegenüber. An jenem
Sonntag wurde einmal mehr deutlich,
dass auch Österreichs rechte Szene
inzwischen mit der Wahnidee Hetze
betreibt, LGBT-Personen verdürben Kinder
durch »Frühsexualisierung«.
Dabei hatte es zuvor auch in Österreich
Fortschritte im Kampf gegen
Homophobie gegeben. Seit dem 1. Januar
2019 dürfen Paare dort heiraten, egal
welches Geschlecht die Partner haben.
Diskriminierung aufgrund der sexuellen
Orientierung ist seit 2004 verboten.
Bereits 2002 war, nach mehreren entsprechenden
Urteilen des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte, das
sogenannte Schutzalter für Homosexuelle
jenem für Heterosexuelle angepasst
worden. Etliche Prominente hatten
sich seit der Jahrtausendwende
geoutet, Homo- und Transsexualität
wurde immer mehr als zur gesellschaftlichen
Normalität gehörend wahrgenommen,
Heterosexuelle und ihre queeren
Freund:innen guckten zusammen
den Eurovision Song Contest und hatten
dabei eine Gaudi, und sogar die FPÖ
hielt sich mit homophoben Attacken,
zumindest auf Ebene der Bundespolitik,
zurück.
Aber während dieser Phase der Liberalisierung
braute sich unbemerkt
von der breiten Öffentlichkeit etwas zusammen.
Rechte und rechtsextreme
Kreise, darunter federführend Alt- und
Neonazis sowie christliche Fundamenta
list:innen, hatten sich mit der gesellschaftlichen
Liberalisierung seit 1968
nie abgefunden.
In Kärnten organisierte die FPÖ-Politikerin
Kriemhild Trattnig politische
Veranstaltungen, auf denen sie gegen
die Frankfurter Schule und namentlich
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer
wetterte. Trattnig machte sie für die
»Zerstörung von Natur und Familie«
verantwortlich und warf ihnen vor, »Homosexualität
und Kinderschändung«
zu propagieren. Darin folgte Trattnig
den Thesen ihres Idols Christa Meves,
einer deutschen Kinderpsychologin, die
seit den frühen siebziger Jahren einen
publizistischen Kreuzzug gegen die
Sexualaufklärung von Kindern führte
und den heutzutage von Rechten so
gern verwendeten negativ konnotierten
Begriff der »Frühsexualisierung«
populär machte. Meves wiederum war
vom Nazi-Arzt und Euthanasietäter
Werner Villinger inspiriert, in dessen
unwissenschaftlichen Pamphleten
aus den zwanziger Jahren der Begriff
»Frühsexualisierung« erstmals auftauchte.
Trattnig gilt als eine der ideologischen
Bezugsfiguren der Identitären Bewegung
Österreich (IBÖ). Diese hetzt nicht
allein gegen Zuwanderung, sondern
auch gegen nichtheterosexuelle Menschen
und Lebensentwürfe. Vergangenes
Jahr fuhr die IB im Juni, als weltweit
im Zuge des Pride Month Demonstrationen
für LGBT-Rechte stattfanden,
die Kampagne »Patriot Month statt Pride
Month« (Jungle World 26/2022 )
Die Identitären sind seit der Offenlegung
ihrer Verbindungen zu einem
rechtsterroristischen Massenmörder
insgesamt stiller geworden – der Attentäter,
der in zwei Moscheen im neuseeländischen
Christchurch 51 Menschen
tötete, hatte mehrere Tausend Euro
an die österreichischen Identitären gespendet
(Jungle World 14/2019). Doch
im Zuge der Covid-19-Pandemie fanden
viele Rechtsextremisten ein neues
Reizthema und neue Verbündete. Zum
klassischen neonazistischen Milieu
war ein bunter Haufen an christlichen
Fanatikern und Verschwörungstheoretikerinnen
hinzugekommen, der auf
wöchentlichen Demonstrationen seinen
Wahn in die Welt brüllte. Zentral
auch bei den Seuchentodbefürwortern:
Homophobie. So zerriss die Szenegröße
Jennifer Klauninger bei einer Coronademonstration
am 5. September
2020 auf offener Bühne und unter großem
Jubel eine Regenbogenfahne,
wobei sie rief: »Ihr seid kein Teil der Gesellschaft!
Wir müssen unsere Kinder
vor Kinderschändern schützen!«
Von der Öffentlichkeit weitgehend
unbeachtet hatten in Österreich seit
Ende der neunziger Jahre evangelikale
Freikirchen und rechtskatholische
Sekten wie Opus Dei und Engelwerk
ihre Aktivitäten intensiviert. Diese
religiös-fundamentalistischen Kräfte
werben gezielt um einsame und verwirrte
Menschen, die sich von der Moderne
überfordert fühlen.
In solchen Milieus verbreiteten sich
Wahnvorstellung einer »satanischen
Verschwörung« einer »globalistischen
Elite«. Es gebe eine Weltverschwörung
mit dem Ziel, Kinder zu pervertieren
oder gar gleich dem Teufel zu opfern.
Hinter Euphemismen wie »Globalisten«
steckt nichts anderes als blanker Antisemitismus.
Als das Internet und vor
allem die sozialen Medien um das Jahr
2010 ihren Siegeszug begannen, vermischten
sich christlicher und neonazistischer
Antisemitismus. Mit dem Vehikel
des »Kinderschutzes« konnten sie
seither erheblich an Verbreitung gewinnen.
Ironischerweise sind die Hassreden
gegen die »Globalisten« weltweit
fast identisch. Ob in den Appalachen
oder in Ungarn, überall wettern
sie gegen »pädophile Eliten«, »Frühsexualisierung«
oder, was alle Ressentiments
zusammenfasst, die »Gender-
Ideologie«.
Die FPÖ hatte sich lange mit offener
homophober Hetze zurückgehalten.
Das lag womöglich auch am Wirken von
Jörg Haider, der in den Achtzigern die
Renaissance der österreichischen Rechten
einleitete. Unter Freiheitlichen galt
lange die Marschrichtung: Gegen alles
hetzen, außer gegen Schwule. Seit
Haiders Unfalltod 2008, und seit in der
FPÖ wieder Rechtsextreme der alten
Schule das Sagen haben, hat sich das
wieder geändert. Der oberösterreichische
FPÖ-Vorsitzende Manfred Haimbuchner
zum Beispiel ließ auf Facebook
ein Sharepic posten, auf dem neben
seinem Foto zu lesen stand: »Ich
will nicht, dass der Franz den Lois heiratet,
um den Sepp zu adoptieren.« Das
mag man unfreiwillig komisch finden,
aber die gefährlichen Zutaten sind alle
da, vor allem auch die Andeutung,
homosexuelle Paare würden Kinder zum
Zwecke des »Grooming« adoptieren,
also um sich die Gelegenheit zu verschaffen,
sie sexuell zu missbrauchen.
Noch sieht es laut Meinungsumfragen
danach aus, dass die große Mehrheit
in Österreich nicht zurück will in
Zeiten, in denen LGBT-Menschen strafrechtlich
verfolgt und gesellschaftlich
diskriminiert wurden. Der »Europäischen
Wertestudie« der Universität
Wien zufolge ist die Akzeptanz für Homosexualität
deutlich gewachsen.
1990 hatten noch 40 Prozent der Befragten
angegeben, sie hätten Homosexuelle
nicht gerne als Nachbarn, 2008 waren
es noch 25 Prozent und 2018 nur
noch 13 Prozent. Aber wie Beispiele aus
den USA, Ungarn und anderen Ländern
zeigen, braucht es für einen gesellschaftspolitischen
Rollback keine
Mehrheit, sondern bloß eine kritische
Masse.
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Die wohl neue rot-schwarze Regierung in
Berlin will Religionsunterricht einführen.
Wir (vor allem Bildungsbetroffene und
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Ein Bild vom Spiel des 1. FC Köln gegen den
FSV Mainz vom 15. April sorgte im Nachhinein
in den sozialen Netzwerken für Unruhe.
T-Online berichtete von einem Stadionbesucher,
auf dessen Trikot statt eines Spielernamens
»Handgranate« und als Spielernummer
die Zahl »88« zu lesen war – unter
Rechtsextremen ein bekannter Code für
»Heil Hitler«. Die Stellen des Vereins seien
bereits informiert worden. Am 15. April hat
einer Pressemitteilung der Polizei zufolge
ein 38jähriger in Bremen-Neustadt eine
Polizistin rassistisch beleidigt; dort heißt
es, die Einsatzkräfte seien gegen 21.30 Uhr in die Roßbachstraße
gerufen worden, weil ein Mann dort randaliert habe. Bei der Sachverhaltsaufnahme
habe der Mann eine Polizistin mehrfach rassistisch
beleidigt. Zudem habe er Adolf Hitler und den Holocaust verherrlicht.
Der Mann war nach Angaben der Polizei alkoholisiert.
In der Nacht des 15. Aprils wurde nach Angaben der Polizei ein 22jähriger
Afghane beim Verlassen einer Toilette in der Regensburger
Maximilianstraße von vier Personen angegriffen. Der Betroffene
habe es geschafft, leicht verletzt zu fliehen und einen Notruf abzusetzen.
Die Polizei schließt eine politische Motivation der Tatverdächtigen
nicht aus. Am 18. April habe eine Frau einen 23jährigen
in einer Berliner U-Bahn rassistisch beleidigt, berichtete der Tagesspiegel.
Der Betroffene sei am Mehringdamm in die Bahn zugestiegen,
in der die Frau bereits geschrien und andere Gäste beleidigt
haben soll. Als er sie um Ruhe gebeten habe, habe sie ihn rassistisch
beleidigt und bespuckt. Am Mittag des 22. April hat ein 34jähriger
Mann auf dem Universitätsplatz in Rostock einen 44jährigen
Eritreer der Polizei zufolge »ausländerfeindlich« beleidigt und außerdem
versucht, ihn anzugreifen. Der 34jährige, der der Polizei
zufolge betrunken war, erhielt einen Platzverweis und eine Anzeige
wegen Bedrohung, Beleidigung, versuchter Körperverletzung und
wegen des Verwendens verfassungsfeindlicher Symbole. Kurz darauf
kehrte der Mann auf den Platz zurück und schlug dem 44jährigen
zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht. Der 34jährige wurde
daraufhin festgenommen. pb
Action
Donnerstag, 27. April
Leipzig. »Klaus Bittermann liest Wolfgang
Pohrt«. Klaus Bittermann liest
Briefe und Mails von Wolfgang Pohrt.
Naumanns Gaststube, Karl-Heine-
Straße 32, um 19 Uhr.
Samstag, 29. April
Bremen. »Alfred Sohn-Rethel. Ökonomie und Klassenstruktur des
deutschen Faschismus«. Wochenendseminar mit Moritz Zeiler.
Infoladen, St.-Pauli-Straße 10–12, um 11 Uhr. Anmeldung unter:
mail@talpe.org.
Mannheim. »Kritik der Bedürfnisse«. Workshop mit einleitendem
Referat von Thomas Ebermann. Jugendkulturzentrum Forum,
Neckarpromenade 46, um 11 Uhr. Anmeldung bis zum 15. April erforderlich
unter: info@ak-gegen-antisemitismus-und-antizionismus.net
Dienstag, 2. Mai
Hamburg. »Die feministische Revolution gegen das Mullah-Regime.
Wie die deutsche Iran-Politik sich ändern muss«. Vortrag und Diskussion
mit Ulrike Becker und Stephan Grigat. Gästehaus der Universität,
Rothenbaumchaussee 34, um 19 Uhr.
Mittwoch, 3. Mai
Dresden. »Das Unvermögen der Realität«. Vortrag und Diskussion
mit Roger Behrens. Objekt Klein A, Meschwitzstraße 9, um 19 Uhr.
Darmstadt. »Von Teheran nach Tel Aviv. Wie die Islamische Republik
Israel bedroht und wie die Beziehungen in Zukunft aussehen
könnten«. Vortrag und Diskussion mit Ulrike Becker. Schlosskeller,
Marktplatz 15, um 19.30 Uhr.
Impressum
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Fax (030) 747 86 26 79
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Herausgegeben von Doris Akrap, Bernd Beier,
Christiane Bischoff, Ivo Bozic, Jesse Björn Buckler,
Tilman Clauß, Andreas Dietl, Irene Eidinger,
Holm Friebe, Richard Götz, Martin Hauptmann,
Holger Hinterseher, Julia Hoffmann, Sarah Käsmayr,
Stefanie Kron, Anton Landgraf, Felix Lösch,
Federica Matteoni, Carl Melchers, Martina
Mescher, Ferdinand Muggenthaler, Christine
Pfeifer, Georg Ramsperger, Tobias Rapp, Joachim
Rohloff, Stefan Rudnick, Dierk Saathoff, Eva
Schmid, Heiko von Schrenk, Stephanie Schoell,
Oliver Schott, Jörn Schulz, Tim Seidel, Regina Stötzel,
Markus Ströhlein, Isabel Teusch, Nicole Tomasek,
Udo Tremmel, Sam Tyson, Wolf-Dieter Vogel,
Elke Wittich, Deniz Yücel und anderen. Jungle
World erscheint in der Jungle World Verlags GmbH.
Redaktion CvD Bernd Beier (V.i.S.d.P.) (030)
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und nur sie – dem Absender mit dem Grund der
Nicht aus hän digung zurückzusenden.
Donnerstag, 4. Mai
Bremen. »Wir lassen uns nicht unterkriegen. Junge jüdische Politik
in Deutschland«. Buchvorstellung und Diskussion mit Ruben Gerczikow
und Monty Ott. Kukoon, Buntentorsteinweg 29, um 19 Uhr.
Hannover. »Die Sehnsucht nach Identität. Zur Sozialpsychologie
eines affektiv hochbesetzten Konstrukts«. Vortrag und Diskussion
mit Rolf Pohl. Kulturzentrum Pavillon, Lister Meile 4, um 19 Uhr.
Stuttgart. »Russland zwischen Bandenherrschaft und Geopolitik.
Putins Racket-Staat im Krieg gegen die Ukraine«. Vortrag und
Diskussion mit Thorsten Fuchshuber. Stiftung Geißstraße 7, Geißstraße
7, um 19.30 Uhr.
Tipp der Woche
Sonntag, 30. April, Berlin. »Auf Spurensuche von Berliner Frauen
in der NS-Zeit zwischen Verfolgung und Widerstand«. Kiezspaziergang
in Marzahn mit der Gruppe Antifaschistinnen aus Anstand.
Gemessen an der Berliner Gesamtbevölkerung waren es nicht
viele, die gegen den Nationalsozialismus Widerstand geleistet und
Verfolgte unterstützt haben. Dennoch gab es sie. Wie aber wird
Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus im öffentlichen
Raum gedacht? Treffpunkt nach Anmeldung bis zum 29. April
über berlin.lokal@frauenwiderstand.de. Um 14 Uhr.
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
ANTIFA ∎∎∎ SEITE 19
Explosiver Erfolg
»Die Kategorie ›Muslim‹ ist
nur bedingt aussagekräftig«
Small Talk. Von Kai Schubert
Rakete zerstört, Startrampe beschädigt, gesundheitsschädlicher Feinstaub freigesetzt
– die durch Selbstzerstörung erfolgte Detonation des »Starship« von Space X
am 20. April schien ein Desaster zu sein. Der von Elon Musk geführte Konzern
gab jedoch auf seiner Website bekannt: »Erfolg kommt von dem, was wir lernen,
und wir haben sehr viel gelernt.«
REUTERS / Joe Skipper
Immer wieder wird über »muslimischen«, »arabischen«
und »migrantischen« Antisemitismus debattiert. Was
diese Begriffe genau bedeuten, ist dabei häufig unklar.
Der Mediendienst Integration veröffentlichte vergangene
Woche die Broschüre »Antisemitismus unter Menschen
mit Migrationshintergrund und Muslim*innen«,
in der die wichtigsten Studien zum Thema ausgewertet
werden. Die Jungle World sprach mit der verantwortlichen
Autorin, Sina Arnold von der TU Berlin.
Was sind die Probleme in der Berichterstattung
über Antisemitismus?
In der medialen Berichterstattung findet sich einerseits
eine – antirassistisch motivierte – Verharmlosung,
als gäbe es Antisemitismus nur unter weißen
Deutschen. Andererseits findet sich stärker noch
eine – rassistisch motivierte – Externalisierung, als
wäre Antisemitismus vor allem ein Problem von
Migrant:innen oder Muslim:innen. Diese Importthese
ist angesichts der Kontinuität des Antisemitismus
im Land der Täter natürlich absurd. Eine Studie unter
mehr als 500 Juden und Jüdinnen in Deutschland
hat gezeigt, dass 84 Prozent finden, dass der Antisemitismus
auch ohne die – oft muslimischen – Geflüchteten
ein Problem in Deutschland ist.
Was sind die Haupterkenntnisse der von Ihnen
ausgewerteten Forschungsarbeiten?
Antisemitische Einstellungen sind in der ganzen
Gesellschaft weit verbreitet. Bei Menschen mit Migrationshintergrund
sowie bei Muslim:innen gibt es
einige Besonderheiten: Manche Studien zeigen niedrigere
Zustimmungswerte zu sekundärem Antisemitismus,
der die Shoah relativiert und die Auseinandersetzung
mit ihr abwehrt, aber höhere Zustimmung
zu israelbezogenem Antisemitismus. Gleichzeitig gilt
es zu betonen, dass die Kategorien »Migrationshintergrund«
oder »Muslim« nur bedingt aussagekräftig
sind. Während etwa 25 Prozent der Sunnit:innen in
Deutschland das Judentum als Bedrohung wahrnehmen,
sind es unter Schi it:in nen 13 Prozent.
Bei Christen in
Deutschland
ist dieser Wert geringer, laut Religionsmonitor
acht Prozent. Muslime weisen Ihrer Broschüre zufolge
zudem höhere Zustimmungswerte bei sogenanntem
klassischem Antisemitismus auf, also
bei Vorurteilen über Juden als Gruppe. Warum
sind Kategorien wie »Muslim« und »Migrationshintergrund«
aber Ihrer Ansicht nach wenig
aussagekräftig?
Beim Migrationshintergrund gibt es große Unterschiede
zwischen Herkunftsländern sowie nach
Staatsbürgerschaft und Generation. Eingebürgerte
stimmen antisemitischen Aussagen seltener zu als
Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Und
mit der Länge des Aufenthalts in Deutschland
nimmt die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen
ab. Anstatt über »die Muslime« zu sprechen,
muss man in politischen und medialen Debatten
also stark differenzieren.
Bei antisemitischen Vorfällen gibt es eine auffällige
Diskrepanz: Es werden vergleichsweise wenige
Taten im Bereich des islamischen Antisemitismus
registriert, sowohl von der Polizei als auch
von zivilgesellschaftlichen Beobachtungsstellen.
Gleichzeit geben von antisemitischer Gewalt
Betroffene in Umfragen häufig Muslime als Täter
an. Sie deuten an, diese Identifizierung könne in
einigen Fällen womöglich unzutreffend sein – gibt
es noch andere mögliche Erklärungen für die
Diskrepanz?
Wenn sich jemand nicht eindeutig als Muslim identifiziert
– etwa durch entsprechende Kleidungsstücke
oder Aussagen –, dann kann man von außen ja nicht
sehen, woran die Person glaubt. Die Polizei erfasst
bei Tatverdächtigen nicht die Religionszugehörigkeit,
sondern die mutmaßliche Ideologie hinter der Tat.
Im Zweifelsfall klassifiziert sie antisemitische Straftaten
oft als »rechtsextrem«. Deshalb müssen auch
diese Zahlen stets mit Vorsicht genossen werden.
»Da gehört aber auch … Da gehört halt
auch … ich weiß nicht. Die Sachen, die uns
jetzt gerade abgehen.« Thomas Tuchel,
Trainer des FC Bayern München
Abstrakte Schönheit
Laborbericht. Von Svenna Triebler
»Mathe habe ich schon immer gehasst.« Selbst in bildungsbürgerlichen
Kreisen erntet man mit diesem
Satz zumeist emphatische Zustimmung – man stelle
sich die Reaktionen vor, wenn man das Gleiche über
das Lesen sagen würde. Die »Königin der Wissenschaften«
hat offensichtlich ein Imageproblem, und hartnäckig
halten sich Vorurteile, die Disziplin sei kompliziert
oder man müsse eben ein Talent dafür haben.
Das dürfte weniger an der Mathematik selbst liegen,
deren strikte Logik zumindest den Einstieg eigentlich
leicht machen sollte (zugegeben: Später kann es
etwas unübersichtlich werden, wenn man es beispielsweise
mit partiellen Differentialgleichungen zu
tun bekommt) als vielmehr an der Art des Unterrichts.
Wer wenigstens in der Oberstufe mal in den
intellektuellen Genuss eines selbst geführten Beweises
kommt, statt stur Aufgaben nach Schema F zu
lösen, darf sich da schon glücklich schätzen.
Die Hälfte der schulpflichtigen Bevölkerung ist zudem
noch immer mit Klischees konfrontiert, die
nicht selten zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden.
Die vergiftete Gratulation des Schulleiters zum
mündlichen Mathe-Abitur – »13 Punkte, und das bei
einem Mädchen!« – klingt der Autorin bis heute im
Ohr.
Die allgemeine Mathemuffligkeit zieht sich bis
ins Wissenschaftsfeuilleton der großen Medien. Dabei
hat die Welt der Formeln nicht nur jede Menge
ab strakte Schönheit, sondern manchmal auch kleine
Sensationen zu bieten: So gelang es offenbar jüngst
zwei Schülerinnen einer High School in New Orleans,
den Satz des Pythagoras mittels Trigonometrie zu
beweisen. Die einzige Meldung im deutschsprachigen
Raum dazu brachte
das österreichische Portal
Oe24 (und schrieb
konsequent von »Schülern«,
q. e. d.).
Wer sich auch nur
bruchstückhaft an den
Matheunterricht erinnert,
weiß, dass es sowohl
beim altbekannten
a² + b² = c² als auch bei Sinus und Cosinus um Dreiecke
geht. Letztlich basiert die Trigonometrie auf
dem ollen Pythagoras, weshalb es bislang gängige
Lehrmeinung war, dass der Versuch, das eine durch
das andere zu beweisen, zu unzulässigen Zirkelschlüssen
führen müsse.
Das wollten die Zwölftklässlerinnen Calcea Johnson
und Ne’Kiya Jackson, ermuntert von engagierten
Lehrerinnen, nicht als unumstößliche Wahrheit hinnehmen.
Ob ihr Gegenbeweis wasserdicht ist, muss
noch eine wissenschaftliche Begutachtung zeigen;
immerhin fanden die Teilnehmenden einer Konferenz
der American Mathematical Society, auf der
die Teenager als einzige Nichtakademikerinnen ihre
Arbeit vorstellten, schon mal keine Fehler.
Junge Frauen, schwarze zumal, die sich mit höherer
Mathematik beschäftigen – das könnte für so
manche in den USA zu woke sein. Ob der Satz des Pythagoras
deshalb wohl demnächst in den republikanisch
regierten Bundesstaaten von den Lehrplänen
verbannt wird?
Korruptes Quartett
Porträt. Von Margit Hildebrandt
Alejandro Toledo, von 2001 bis 2006 Präsident Perus,
muss sich als Letzter in einer Reihe von ehemaligen
Staatsoberhäuptern des Lands vor Gericht verantworten.
Er wird beschuldigt, Teil der »Operation Lava
Jato« (Autowäsche), einem der größten Korruptionsskandale
Lateinamerikas, zu sein und von den brasilianischen
Unternehmen Camargo Corrêa und Odebrecht
einen US-Dollarbetrag in zweistelliger Millionenhöhe
für den Bau der Interozeanischen Autobahn
Alejandro Toledo
zwischen Peru und Brasilien angenommen zu haben (Jungle World 8/2017). Das
Geld soll er dem Online-Portal Perú Reports zufolge zur Abzahlung privater Hypotheken
und zum Kauf von Luxusimmobilien im Namen seiner Schwiegermutter
verwendet haben. 2017 erließ ein peruanischer Richter einen internationalen
Haftbefehl gegen Toledo. Peru beantragte bereits 2018 seine Auslieferung aus den
USA, wo er 2019 festgenommen wurde; am Sonntag wurde er ausgeliefert. Die
Staatsanwaltschaft fordert eine Haftstrafe von 20 Jahren.
Toledo bestreitet die Vorwürfe und besteht darauf, dass er in Peru keinen fairen
Prozess erhalten werde. Er war der erste demokratisch gewählte Präsident nach
der autoritären Herrschaft Alberto Fujimoris, der den Kongress aufgelöst und einen
brutalen Feldzug gegen die Guerillaorganisationen Sendero Luminoso und MRTA
geführt hatte. Im damaligen Wahlkampf hatte der indigene Toledo einen »Bruch
mit der Vergangenheit« angekündigt, besonders was die Vetternwirtschaft unter
dem Fujimori-Regime anbetraf. Er entschuldigte sich öffentlich für die von der
Armee begangenen Menschenrechtsverletzungen.
Toledo sitzt nun in Untersuchungshaft im Barbadillo-Gefängnis in Lima – in
illustrer Gesellschaft. Zwei ehemalige peruanische Präsidenten sind hier bereits
inhaftiert: Fujimori seit 2009 für 25 Jahre wegen Menschenrechtsverletzungen,
Pedro Castillo wegen des Versuchs, im Dezember den Kongress Perus aufzulösen,
was zu Kämpfen führte und das Land in eine Krise stürzte. Gegen den ehemaligen
Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski wird ebenfalls wegen Geldwäsche ermittelt.
Alan García, der Toledo von 2006 bis 2011 als Präsident folgte, nahm sich das
Leben, als die Polizei ihn 2019 verhaften wollte. Toledos Anwalt in den USA, David
Bowker, hatte die Ermittlungen als »politische Verfolgung« bezeichnet.
Wikimedia Commons
HOTSPOT ∎∎∎ SEITE 20
27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
dschungel
#
# 17 x
2023
Studio Julian Rosefeldt, Berlin
Jens Winter sieht sich die Ausstellung »When We Are Gone« mit Arbeiten von
Julian Rosefeldt in der Völklinger Hütte an ∎ Tobias Prüwer verteidigt Darren Aronofskys
»The Whale« gegen den Vorwurf, Fat Shaming zu betreiben ∎ Charlie Bendisch spricht
mit der Literaturwissenschaftlerin Julia Ingold darüber, wie literaturpreiswürdig Deutschrap
ist ∎∎∎ Essay: Ely Ora lässt die Geschichte des 1. Mai in Kreuzberg Revue passieren
Zum Weltuntergang
läuft Ambient-Pop
Die Ausstellung »When We Are Gone« in der Völklinger Hütte zeigt die opulenten Videoinstallationen
des Medienkünstlers Julian Rosefeldt. Diese erzählen die Geschichte des Kapitalismus von ihrem Ende her.
Von Jens Winter
Titelbild:
Banker außer Rand und
Band. »Euphoria«, 2022
Seiten 2 und 3:
Der Tiger, der mit der
Stimme von Cate
Blanchett im Supermarkt
Adorno zitiert.
»Euphoria«, 2022
Studio Julian Rosefeldt, Berlin
DSCHUNGEL ∎∎∎ SEITE 2
27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 3 ∎∎∎ DSCHUNGEL
Studio Julian Rosefeldt, Berlin
Studio Julian Rosefeldt, Berlin
Gangsterballett im Berliner Westhafen. »The Swap«, 2015
Ein Hauch von »Cabaret«. »Deep Gold«, 2013/2014
Man sollte auf jeden
Fall, wenn
man vom Bahnhof
kommt, zuerst
nach rechts durch
das Tor mit der Aufschrift »Biergarten«
gehen. Nach einem 500 Meter
langen Fußweg, vorbei an grauen,
kasernenartigen Betonwänden, findet
man zwar keinen Biergarten, es eröffnet
sich jedoch ein Panorama, das
man so schnell nicht vergisst. Die
Völklinger Hütte, Unesco-Weltkulturerbe,
reckt ihre sechs Hochofengruppen,
ummantelt von einem gigantischen
Geflecht aus stählernen
Rohren und Gittern, in den Himmel
des Saarlands. Hier wurden 103 Jahre
lang Erz und Koks in Roheisen verwandelt.
1986 ist aus der Anlage
nahe Saarbrücken ein Industriedenkmal
und Kulturort geworden; die
Gebläsehalle dient als Ausstellungsraum.
Noch bis 3. September ist darin
die Ausstellung »When We Are Gone«
mit Arbeiten des Medienkünstlers
Julian Rosefeldt zu sehen.
Die Gigantomanie des Ortes findet
ihre Entsprechung im Werk des
Künstlers. Rosefeldt hat sich in der
Medienkunst durch opulente Videoarbeiten
zu den großen Themen Kapitalismus
und Globalisierung einen
Namen gemacht. Seine Multi-Screen-
Installationen, die mehrere Videos
parallel zeigen und zu einem großen
Ganzen verbinden, bauen auf der
Technik der Collage und auf Verfremdungseffekten
auf.
Aufsehen erregte sein Werk »Manifesto«
aus dem Jahr 2015. Auf 13 Bildschirmen
sah und hörte man der
Schauspielerin Cate Blanchett in 13 verschiedenen
Rollen vor eindrücklichen
Kulissen dabei zu, wie sie nach
Themen zusammengestellte Manifeste
vortrug. Die kostspielige Produktion
mit origineller Idee und Starbesetzung
war ein beeindruckendes Erlebnis.
An der in Rosefeldts Filminstallation dargestellten
Kapitalismuskritik ist nichts mehr echt. Sie
läuft in Dauerschleife, ist austauschbar und in ihrer
Warenförmigkeit längst Teil dessen, was sie kritisiert.
Die Ausstellung »When We Are
Gone« versucht, Kapitalismuskritik
mit dem Begriff des Anthropozäns
zu verbinden. So geht das Hauptwerk
»Euphoria« der Frage nach, warum
der Kapitalismus »so verführerisch
und erfolgreich ist«. Der Filminstallation,
die 2022 auf der Ruhrtriennale
zur Uraufführung kam, werden sechs
weitere zur Seite gestellt. In der Zusammenschau
sollen sie vor dem
Hintergrund des untergegangen Industriestandorts
der Völklinger Hütte
ein »eindrucksvolles Panorama des
Anthropozäns« erfahrbar machen.
Vor den wuchtigen Schwungrädern
der Gebläsehalle, die einst Luft in
die Hochöfen pusteten, beginnt der
durchdacht kuratierte Rundgang.
Die Filminstallation »Deep Gold«
(2013/2014), die ihren Protagonisten
durch die Roaring Twenties begleitet,
kündigt die großen Themen und
Techniken der Ausstellung an: Weltuntergang,
Verfremdung, Zitat und
Collage.
In dem im Berliner Westhafen gedrehten
»The Swap« (2015) kommt
der Kapitalismus ins Spiel. Der Kurzfilm
möchte auf die »faktische Absurdität
der undurchschaubaren Finanztransaktionen
des globalen
Handels« hinweisen. Darin sind stereotype
Gangsterfiguren zu sehen,
denen es in einer komplizierten und
sinnlosen Choreographie nicht gelingt,
einen Handel abzuwickeln.
Über die Finanzbranche erfährt man
wenig, dafür aber über ein bestimmtes
Verständnis derselben: Der Finanzmarktkapitalismus
erscheint als
Auswuchs krimineller Praktiken.
Diese verkürzte Form der Kapitalismuskritik
durchzieht die gesamte
Ausstellung. Insbesondere die Filminstallation
»Euphoria«bedient sich
dieses Musters. In einem imposanten
hohen Raum läuft der Hauptfilm auf
der großen Leinwand. Über im Raum
platzierte Bildschirme flimmern ein
Kinderchor und ein Schlagzeug.
Die große Leinwand zeigt derweil
»marginalisierte Figuren unserer Gegenwart«
(Pressemitteilung), die vor
apokalyptischen Kulissen über die Welt
und den Kapitalismus philosophieren.
Rosefeldt legt den Personen Zitate aus
Wissenschaft und Popkultur in den
Mund. In einer verfallenen Halle räsonieren
vor ausrangierten Bussen jugendliche
Skateboarder im Stile Donna
Haraways über die Kraft des Geschichtenerzählens.
Ein animierter Tiger
mit der Stimme von Cate Blanchett
schleicht durch einen menschenleeren
Supermarkt. Der Schauspieler Giancarlo
Esposito fährt im Taxi durch die
Straßen eines endzeitlich anmutenden
New York, seinem Fahrgast hält er
einen Vortrag über die Verkommenheit
des Kapitalismus und zitiert Dialoge
aus dem Film »Fight Club«
(1999). Doch nicht nur das Gesprochene,
auch die Szene selbst ist ein Zitat:
Esposito kennt man aus Jim Jarmuschs
Episodenfilm »Night on Earth« von
1991, in dem er sowohl Fahrgast als
auch Fahrer eines Taxis ist.
Kritik als Zitat des Zitats. An dieser
Kapitalismuskritik ist nichts mehr
echt. Sie läuft in Dauerschleife, ist
austauschbar und in ihrer Warenförmigkeit
längst Teil dessen, was sie
kritisiert. Mit seiner Zitattechnik steht
Rosefeldt in der Tradition einer audiovisuellen
Kunst, die die Übersättigung
durch Medienkonsum medial
zu adressieren versucht. Ihres
ursprünglichen Kontexts ebenso beraubt
wie die »Marginalisierten«,
die bloß Hüllen ohne eine eigene erzählenswerte
Geschichte darstellen,
verweisen die Zitate auf nichts als ihre
eigene Austauschbarkeit. Der anschwellende
Gesang des Kinderchors,
der die Szenen auf dem Hauptbildschirm
begleitet, verleiht der systemkritischen
Mimikry rituellen Ernst.
Ein Abgesang oder ein Neuanfang –
die Installation lässt diese Frage
offen.
Die meditativen Videoinstallationen
»In the Land of Drought«
(2015/2017) und »Penumbra« sind
ein Abgesang auf das Anthropozän,
auf das, was nach dem Zeitalter von
»Euphoria« kommen wird. Der Ausblick
ist düster: »In the Land of
Der in Berlin lebende Künstler Julian Rosefeldt studierte Architektur
in München und Barcelona. Ausgehend von der Geschichte des Films,
der Kunst und der Populärkultur verwendet Rosefeldt filmische Inhalte,
die er surreal verfremdet. Oft setzt er Humor und Satire ein, um
zu irritieren. In den vergangenen Jahren hat er sich vermehrt den großen
Themen der Gegenwart zugewandt und dazu Künstlermanifeste
ebenso wie Zeit- und Raumvorstellungen befragt. Sein besonderes
Interesse gilt neben Kunst und Film dem Theater und der Musik. Rosefeldt
hat seit 2011 eine Professur für Medienkunst an der Akademie
der Bildenden Künste in München inne.
Drought« zeigt Drohnenaufnahmen
von postapokalyptisch anmutenden
Landschaften, die von einem
fremden, unbewohnten Planeten zu
kommen scheinen, überfliegt Filmkulissen
antiker Städte in Nordafrika
sowie die Kohlenhalden des Ruhrgebiets.
Dazu erklingt Ambient-Musik.
Der kurze Film »Penumbra«,
der in der Schau seine Premiere hat,
schließt mit einem tranceartigen
Weltuntergangs-Rave.
Vermutlich gibt es für diese bildhaft
verknappte Kapitalismuskritik
kaum einen besseren Ort als die Ruine
der Stahlindustrie in der Völklinger
Hütte. Ein letztes Mal erheben
sich auf den Resten der alten Industriegesellschaft
die marginalisierten
Träume von einer besseren Welt, die
das große Ganze verändern wollen.
Was hier aufgeworfen wird, ist die Frage,
ob eine Kapitalismus- und Systemkritik
denkbar ist, die nicht einfach
ein »gutes Ich« gegen die
»böse Welt« stellt.
Julian Rosefeldt: When We Are Gone. Weltkulturerbe
Völklinger Hütte. Bis 3. September
DSCHUNGEL ∎∎∎ SEITE 4
27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 5 ∎∎∎ DSCHUNGEL
Jenseits des Regenbogens. Charlie (Brendan Fraser) lebt isoliert in seiner Wohnung in Idaho
Existentiell
bedroht
Darren Aronofskys Spielfilm »The Whale« hat eine Kontroverse über
Fat Shaming ausgelöst. Aber selbst die Kritiker des Films loben den
Hauptdarsteller für seine unter die Haut gehende Darstellung eines
stark depressiven Menschen. Von Tobias Prüwer
© Courtesy of A24
»Am traurigsten fühlte ich mich,
als ich die langweiligen Kapitel las,
die nur Beschreibungen von Walen
enthielten. Weil ich wusste, dass uns
der Autor nur für eine Weile von seiner
eigenen langweiligen Geschichte
retten wollte.« Immer wieder liest
der übergewichtige Mann diese Sätze
in einem abgeranzten Hefter. Sie
scheinen sein Rettungsanker zu sein.
Warum sich der adipöse Charlie so
vehement an die Zeilen klammert, erkundet
der Film »The Whale« auf
berührend-beklemmende Weise. Der
US-amerikanische Regisseur Darren
Aronofsky entfaltet sein Drama um
einen 600 Pfund schweren Mann im
Stil eines intimen Kammerspiels,
das fast ausschließlich im Wohnzimmer
stattfindet. In der Rolle des depressiven
Englischlehrers brilliert der
wegen zahlreicher Krisen und einer
schweren Depression von vielen
bereits abgeschriebene Schauspieler
Brendan Fraser. Für die Rolle erhielt
er den Oscar, und zu Recht
wurde auch das Maskenbildnerteam
mit dem Preis ausgezeichnet.
»Warum schaltet er nie seine Kamera
ein?« Zu Beginn wundern sich
die Schüler in der Zoom-Konferenz,
warum sich ihr Nachhilfelehrer
Charlie nie via Webcam zeigt. Das hat
seinen Grund: Charlie leidet an
Adipositas und schämt sich dafür. Er
kann einfach nicht aufhören zu
essen, ja, er frisst sich irgendwo in
Idaho buchstäblich dem Tod entgegen.
Seine Wohnung kann er nicht
mehr verlassen, er bewegt sich darin
auch nur schwerfällig. Meistens
sitzt er auf der Couch. Fast Food liefert
der Bringdienst, Einkäufe übernimmt
die befreundete Krankenschwester
Liz, die weiß, dass Charlie
sterben wird, wenn er weitermacht
wie bisher. Auch um sein Selbstmitleid
zu überwinden, versucht Charlie,
mit seiner 17jährigen Tochter Ellie
Kontakt aufzunehmen, die bei ihrer
Mutter lebt. Er ködert das Mädchen
mit dem Angebot, ihr als Ghostwriter
bei einem Englisch-Aufsatz zu helfen.
Und erhält nun regelmäßig
Besuch von einer störrischen und
scharfzüngigen Teenagerin.
Dieser Film tut weh, gerade in den
heiteren Momenten. Wenn Charlie
lacht zum Beispiel und daran fast erstickt.
Jede Bewegung bereitet ihm
Schmerzen. Das stellt Regisseur Aronofsky
von Anfang an klar, wenn der
Lehrer nach Beendigung seines
Unterrichts zu einem Porno masturbiert
und dabei fast erstickt. Ironischerweise
tritt genau in dem Moment
ein junger Missionar durch die
stets offene Tür seines Zuhauses.
Die Haustür ist quasi Charlies Tor zur
Welt, die er nicht mehr betreten
kann – sie muss zu ihm kommen in
Form von Pizza oder in Gestalt von
Liz oder dem Laienprediger, der wie
aus dem Nichts auftaucht und ihn
aus dem Nahtod rettet. Der Film ist
voll solcher symbolischer Momente,
und natürlich legt der titelgebende
Wal literarische Deutungen nahe: Der
Wal steht für eine selbstzerstörerische
Jagd – wie bei Melville –, aber
auch für die Furcht vor dem Leben und
die mögliche Errettung – wie in der
biblischen Überlieferung.
Deutlich sind die Bezüge auf Jona,
der im Bauch eines Wals landet und
dadurch vor dem Ertrinken gerettet
wird. Charlie trauert um seinen verstorbenen
Lebensgefährten. Alan
starb an einer heimtückischen Krankheit
und konnte zuletzt keine Nahrung
mehr aufnehmen. Unfähig, sich
seine eigene Rolle beim Tod seines
Partners zu verzeihen, stopft Charlie
das Essen in sich hinein. Die Frage
nach Schuld und Verantwortung für
den anderen prägt die Dialoge mit
dem Missionar. Obgleich Charlie
nicht gläubig ist, sucht er nach einer
Art Erlösung, einer Transformation,
einem Neuanfang.
Auch Herman Melvilles Roman »Moby-Dick«,
auf den sich die eingangs
zitierten Zeilen beziehen, gibt eine
Dimension des Dramas vor. So wie
Kapitän Ahab voller Hass dem
weißen Wal nachjagen muss, der ihm
ein Bein abgerissen hatte, kann
Charlie seine Vergangenheit nicht loslassen.
Die schwierige Beziehung
zwischen Charlie und seiner Tochter
Ellie bildet den existentiellen
Konflikt des Films, den man erst
spät erfasst.
Fatsuits haben eine unrühmliche Tradition im
Hollywood-Kino, sie dienten zumeist dazu,
übergewichtige Charaktere in Komödienformaten
lächerlich zu machen.
Charlie ist ein Getriebener. Während
des ganzen Films ziehen sich dunkle
Wolken über dem grundsympathischen
Charakter zusammen. Der Film
ist perfekt konstruiert, die Dialoge
geschliffen, was einen Grund hat: Er
basiert auf dem gleichnamigen
Theaterstück von Samuel D. Hunter,
der auch das Drehbuch zum Film
geschrieben hat. In »The Whale« verarbeitet
er eine Phase seines Lebens,
als er selbst stark adipös war und unter
seinem Gewicht gelitten hat.
»The Whale« hat schnell eine Debatte
über Fat Shaming und die Legitimität
von Fatsuits zur Darstellung adipöser
Charaktere ausgelöst. »Ich kenne
viele Menschen, die übergewichtig,
glücklich und gesund sind, aber ich
war es nicht«, sagt Hunter im Interview
der Pressemitteilung. »Ich
hatte eine Menge unterdrückter Emotionen,
die aus meiner christlichfundamentalistisch
geprägten Jugend
stammten, in der meine Sexualität
auf hässliche Weise unterbunden wurde,
und das schlug sich in einer ungesunden
Beziehung zum Essen nieder.
Als ich ›The Whale‹ schrieb,
sprudelte das vermutlich alles aus
mir heraus.«
Wie das Bühnenstück setzt der Film
ganz auf die körperliche Präsenz und
den sprachlichen Vortrag des schwerst
depressiven Protagonisten. Vor allem
in den vielen Close-ups, bei denen
man jedes Äderchen an seinem Hals
pulsieren sieht, kommt man Charlie
ganz nah. Fraser gelingt es, nicht nur
mit der Mimik zu überzeugen. Auch
mit seiner Körpersprache vermag er
es, den – umstrittenen – Fatsuit mit Leben
zu füllen. Wer den Darsteller aus
Blödeleien wie »Airheads« und »Steinzeit
Junior« oder den Abenteuerspielchen
der »Mumie«-Reihe kennt, ist erstaunt
über seine Ernsthaftigkeit. Um
die Rolle auszufüllen, trug der Schauspieler
während der Drehtage über
Stunden eine schwere Körperfettprothese.
Zudem gelang es Maskenbildner
Adrien Morot, Frasers Gesicht so
realistisch zu modellieren, dass selbst
Härchen und Poren in Nahaufnahme
absolut echt wirken. Hinzu kommen
die brüchige Stimme und Kurzatmigkeit,
die unter die Haut gehen.
Der Aufwand, der betrieben wurde,
um den normalgewichtigen Darsteller
in den adipösen Charlie zu verwandeln,
ließ die Frage aufkommen,
warum man nicht gleich einen korpulenten
(besser noch einen korpulenten
schwulen) Schauspieler gecastet
hat. Allerdings beschäftigt sich der
Film nicht einfach mit einem übergewichtigen,
sondern mit einem extrem
übergewichtigen Menschen. Es
sei nicht möglich, mit einer Person,
die tatsächlich so enorm fettleibig ist,
einen solch anstrengenden Dreh zu
meistern, verteidigte Aronofsky seine
Casting-Entscheidung. Richtig ist,
dass Fatsuits eine unrühmliche Tradition
im Hollywood-Kino gespielt haben,
dienten sie doch zumeist dazu,
übergewichtige Charaktere in Komödienformaten
lächerlich zu machen.
Das ist bei »The Whale« anders. Nie
wird Charlie ausgestellt, nie blickt
der Film voyeuristisch auf den Übergewichtigen.
Es geht um Menschlichkeit.
Dieser Film ist mitreißend.
Besonders intensiv fallen die Streitgespräche
zwischen Charlie und seiner
Tochter Ellie aus, ihre Beziehung ist
komplex. Nur widerwillig besucht sie
ihren Vater, ist noch immer verletzt,
weil er die Familie verließ, als sie ein
Kind war. »Stranger Things«-Star Sadie
Sink spielt diese junge Frau, deren
dunkle Seite bisweilen aufblitzt. Hier
treten Verletzung und Entfremdung
zutage, es werden große Gefühle in
kleinen Gesten sichtbar – und das
Hoffen auf gegenseitiges Verzeihen.
»The Whale« ist Schauspiel pur.
Der Film packt den Zuschauer sofort
und lässt ihn dann melancholisch
gestimmt zurück, wenn Charlie am
Ende wieder den schmuddligen
Hefter hervorzieht und liest: »Er ist
einfach ein armes großes Tier. Ahab
tut mir auch leid, weil er denkt, sein
Leben würde besser, wenn er den
Wal tötet. Aber das wird ihm in Wirklichkeit
nicht helfen.«
The Whale (USA 2022). Regie: Darren Aronofsky.
Buch: Samuel D. Hunter. Darsteller:
Brendan Fraser, Sadie Sink, Hong Chau,
Samantha Morton, Ty Simpkins. Filmstart:
27. April
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In den USA keine Zukunftsmusik mehr. Der Rapper Kendrick Lamar (2. v. r.) 2018 nach der Verleihung des Pulitzer-Preises an ihn
»Rap hat hierzulande mit vielen
Vorurteilen zu kämpfen«
Ein Literaturpreis für einen Rapper? Das legte zumindest der Titel der Tagung »Gebt OG Keemo den Büchner-Preis!« nahe, die Ende März in
Berlin stattfand und auf der literaturwissenschaftliche Perspektiven auf Deutschrap diskutiert wurden. Die Organisatorin Julia Ingold sprach
mit der »Jungle World« über den Ausnahmerapper Lord Folter, die »Exotisierung der subalternen Erfahrung« und deutsch-jüdischen Rap.
Während der Tagung wurde erwähnt,
dass der Titel »Gebt OG
Keemo den Büchner-Preis!«
bewusst in Anführungsstriche gesetzt
wurde. War das also mehr
eine Spielerei als eine tatsächliche
Forderung?
Es ist eher als Parole gedacht. Es ging
nicht darum, dass der Büchner-Preis
an OG Keemo gehen soll, vielmehr
wollten wir darauf aufmerksam machen,
dass da eine ästhetisch anspruchsvolle
und auch politische Gegenwartslyrik
unterhalb des Radars
der klassischen Literaturkritik gemacht
wird.
Bei solch einer Parole denkt man
an die Vergabe des Pulitzer-Preises
2018 in der Kategorie »Musik«
an den Rapper Kendrick Lamar,
woraufhin manche forderten,
er hätte ihn besser in einer
der literarischen Kategorien
bekommen sollen. So außergewöhnlich
ist diese Forderung
gar nicht, oder?
Vor allem seit dem Literaturnobelpreis
für Bob Dylan hat sich zwar etwas
verändert, aber der englischsprachige
und der deutschsprachige
Raum unterscheiden sich da deutlich,
was die Anerkennung und Rezeption
von Popmusik generell und
Rap im Speziellen betrifft. Zwar gibt
es hier kanonisierte Popmusik wie
die von Ton Steine Scherben oder die
der Hamburger Schule, deren Vorreiter
schreiben dann auch Romane.
Rap hat hierzulande aber weiterhin
mit vielen Vorurteilen zu
kämpfen.
In den USA gab es vor 20 Jahren
sogar das Fernsehformat »Def Poetry
Jam«, in dem Rapper:innen
wie DMX oder Lauryn Hill neben
etablierten Lyriker:innen wie
Amiri Baraka aufgetreten sind.
Hierzulande hat so etwas wie Poetry
Slam einen eher bürgerlichen
Beigeschmack und wenig Berührungspunkte
mit Rap. Will sich
Rap als eigenständige Kunstform
picture alliance/AP Photo | Bebeto Matthews
nicht auch bewusst von derlei
abgrenzen?
Ich kann schwer für Rapper:innen
sprechen. Auf unserer Tagung hat
Grim104 betont: »Ich bin kein Schriftsteller,
kein Dichter, ich bin Rapper.«
Bei der Vorbereitung der Tagung
habe ich aber auch mit Lord Folter telefoniert,
der hätte ja eigentlich einen
Poetikvortrag halten sollen und
ist dann im Februar verstorben.
Der hat gesagt: »Ich habe so lange
auf diesen Anruf gewartet. Ich bin
Schriftsteller. Ich lese gerade Heraklit
und schreibe wie er.« Da war es sehr
willkommen. Samy Deluxe macht
auch seit zwei Jahrzehnten deutlich,
dass er Dichter ist.
Rapper wie Testo oder Panik Panzer
veröffentlichen auch Bücher.
Das Feuilleton bespricht immer
selbstverständlicher Rapalben.
Ist die Grenze zwischen Hoch-
und Populärkultur nicht so durchlässig
wie nie?
Auf jeden Fall. Im Vortrag von Sebastian
Berlich wurde ja auch deutlich,
dass die Auseinandersetzung mit Rap
im Feuilleton immer differenzierter
wird. Sozialromantische Gangsterstereotype
und »Haftbefehl ist der
neue Goethe«-Takes scheinen überwunden.
Mittlerweile schaut man
sich ernsthaft Ästhetik und Erzählverfahren
an. Feldwechsel sind in der
Popwelt nichts Neues, aber auch umgekehrt
werden Bestseller wie Sibylle
Bergs »GRM« nach einem Hip-
Hop-Genre benannt.
Das wurde in dem Fall ja auch
nicht nur positiv aufgenommen.
Man fragte sich, ob Berg damit
nicht eine Gegenkultur der britischen
Vorstadtviertel vereinnahmt
habe.
Ja, auf solche Fälle verwies auch der
Vortrag »Schwarze Stimmen, weiße
Publika: Race-Adressen im Deutschrap
um 2020« von Roman Widder.
Darin zeigte er, wie in der bürgerlichen
Kultur die Darstellung von Arbeit
fetischisiert wird und es häufig
heißt: »Da sprechen die Subalternen.«
Von der »Exotisierung der subalternen
Erfahrung« war im Vortrag
die Rede.
Genau. Natürlich gibt es in der Literatur
und auch in der Literaturwissenschaft
die Gefahr, das Prekariat zu
exotisieren. Aber es ist auch eine Bewegung
aufeinander zu, die sich
nicht aufhalten lässt. Rap entwickelt
sich derzeit zu einer so vielschichtigen
Kunstform, da kann die Literaturwissenschaft
nicht sagen: Wir bearbeiten
das nicht, weil wir da vielleicht
etwas fetischisieren. Gute Wissenschaft
schaut sich alles an. Die Frage
ist das Wie.
Die Tagung hat sich unter anderem
auch dem deutsch-jüdischen
Gangsta-Rap gewidmet. Was ist
an ihm so interessant?
Ich finde, Joscha Jelitzki hat ganz gut
herausgearbeitet, dass die deutschjüdischen
Rapper, die ihr Jüdischsein
thematisieren, häufig auf antisemitische
Stereotype zurückgreifen, auch
wenn sie die ironisch oder subversiv
bearbeiten. Der deutsch-jüdische
Gangsta-Rap scheint da auf die Dinge
zu reagieren, die auch vorher im
Gangsta-Rap verhandelt wurden.
Natürlich gibt es auch deutsch-jüdische
Rapper, die das anders machen.
Auch Max Herre, der ähnlich wie Ben
Salomo eher mit Conscious Rap assoziiert
wird, hat autobiographische
oder autofiktionale Tracks über seine
Vorfahren gemacht, die die Shoah
überlebt haben. Das ist im Grunde
Geschichtsschreibung der dritten
Generation, die zurzeit auch viel im
Literaturkontext diskutiert wird.
In einem Vortrag wurde Max
Czolleks Begriff der »wehrhaften
Poesie« auf die Rapperin Ebow
angewendet. Was zeichnet deren
Texte aus?
Ebow arbeitet ganz aktiv daran, sich
das Wort »Kanake« anzueignen. Aber
auch einen Rapper wie Apsilon kann
man mit Czolleks Begriff in Verbindung
bringen, der in seinem Song
»Köfte« rappt: »Man kann doch ein
braver Deutscher sein, wenn man
nur möchte. Doch ich möchte nicht,
nein danke, trinke Çay und esse
Köfte.« Das trifft sehr gut, was Max
Czollek mit wehrhafter Poesie meint:
diese Verweigerungshaltung. Apsilon
ist da noch einen Schritt radikaler
als Ebow. Und Ebow ist gewissermaßen
eine Vorreiterin. Mit Zeilen wie:
»In mir drinnen stecken 1 000 Leben
/ Hab Flure geputzt, Häuser gebaut,
wurde ausgenutzt, wurde ausgesaugt
… « – da geht es viel um die
Ausbeutungsverhältnisse in der
BRD. Und in »Prada Bag« rappt sie in
Bezug auf die Zurschaustellung von
Reichtum im Rap und deren bürgerliche
Rezeption: »Das Traurige daran
ist, dass du mehr Respekt vor dem Kapitalismus
an mir hast als vor mir
selbst.« Sie ist da fast eine politische
Theoretikerin des Rap.
Die Autorin Şeyda Kurt zitiert in
ihrem jüngsten Buch zu Beginn
Apsilon mit den Zeilen: »Mama
sagt, ich hab zu viel Hass, zu viel
Hass in meinem Herz, aber werf’
lieber den ersten Stein. Ich duck’
mich nicht. Nerven lange tot,
aber ich leb’.«
Vielleicht zeigt sich im Rap gerade
ein neues kritisches Bewusstsein. Der
Rapper Torch meinte einst: »Die
Punks wollten aus dem System raus
und die Rapper wollten ins System
rein.« Und Ebow rappt nun in »Asyl«:
»Wir sind wert, was der Pass uns an
Wert gibt.« Ein spannender Aspekt ist
auch die Adressierung. Häufig gilt:
Rassistisch diskriminierte Rapper:innen
erklären den weißen Deutschen
»Sozialromantische Gangsterstereotype und
›Haftbefehl ist der neue Goethe‹-Takes scheinen
überwunden. Mittlerweile schaut man sich ernsthaft
Ästhetik und Erzählverfahren an.«
ihre Welt. Und da ist auch ganz interessant,
dass sowohl Ebow als auch
Apsilon noch viel damit beschäftigt
sind zu schildern, was überhaupt
schiefläuft. Ein Prinzip dabei ist, ganz
viel Fremdsprache einfließen zu
lassen, und das ist schon ein Verdienst
von jemandem wie Haftbefehl: die
multilingualen Raptexte. Ebow macht
das beispielsweise mit kurdischen
Begriffen.
Und Apsilon lässt in seinen Musikvideos
türkische Untertitel
mitlaufen. Weil vorhin schon die
Sprache auf den kürzlich verstorbenen
Lord Folter kam: Warum
war er wichtig für Ihre
Forschung?
Für mich hat seine Musik gezeigt,
was lyrisch heute möglich ist im
Deutschrap. Er hat ja im Grunde hermetische
Lyrik verfasst, mit einer
unglaublichen Metapherndichte. Ich
nenne ihn auch den »König der Katachrese«,
das ist die absichtsvolle Verwendung
an sich unpassender Metaphern.
Er nimmt einen metaphorischen
Sprachgebrauch und führt ihn
zurück zu der wörtlichen Bedeutung.
Eine Zeile, die ich beeindruckend finde,
lautet: »Kein König ist der Baumkrone
würdig.« Seine Songs sind für
mich in sich geschlossene Gedichte.
Das ist vielleicht auch so ein Literaturwissenschaftsfetisch,
wenn man
sagt: Hach, das Werk ist ein in sich
geschlossenes Gebilde. Lord Folters
Texte verdienen aber auf jeden Fall
mehr philologische Untersuchungen.
Interview: Charlie Bendisch
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Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
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»Wenn es keine
Ambivalenzen gibt, dann
macht es mich depressiv«
Schlager, aber mittlerweile ganz unironisch: Tristan Brusch hat kürzlich sein neues Album
»Am Wahn« veröffentlicht. Es erinnert ein wenig an Hildegard Knef, ein wenig
an Tom Waits – und klingt so gut wie keine vorherige Platte des Musikers. Von Luca Glenzer
Die »reine Depression« interessiert ihn nicht: der Musiker Tristan Brusch
Rebecca-Kraemer
Es gibt Aspekte im gegenwärtigen
Musikgeschäft, an die man als Musiker
nicht allzu viele Gedanken
verschwenden sollte, will man in Zukunft
den kreativen Antrieb nicht
gänzlich stilllegen. Die Verhältnis zwischen
der Arbeit, die man in ein Album
steckt, und dem Geld, das man
damit am Ende verdient, ist so ein
Aspekt, den auch Tristan Brusch lieber
ausklammert. »Eigentlich ist es
komplett hirnrissig, heute noch mit
so viel Aufwand ein Album aufzunehmen«,
resümiert er im Gespräch
mit der Jungle World mit Blick auf
die Produktion von »Am Wahn«, seinem
neuen Album. Zu niedrig sind
die Klickzahlen auf den gängigen Streamingportalen
– von Plattenverkäufen
ganz zu schweigen. Brusch
sagt das insbesondere mit Blick auf
den Beginn seiner Musiklaufbahn,
als er seine Alben noch innerhalb
weniger Tage und Nächte im Schlafzimmer
seiner damaligen WG aufnahm.
Diese Lo-Fi-Arbeitsweise ist wohl
auch der Grund, warum ihm nicht
mehr ganz klar ist, wie viele Alben
genau er damals produziert hat.
Fest steht, dass »Am Wahn« sein drittes
seit 2018 ist. Damals erschien
»Das Paradies«, das künstlerisch in
mehrerer Hinsicht ein Wendepunkt
war. Nach über zehn Jahren, in denen
er englischsprachige Musik produziert
hatte, veröffentlichte er zum ersten
Mal eine LP, deren Texte ausschließlich
in deutscher Sprache verfasst
waren. In einem Interview mit
dem Musikmagazin Diffus ließ er sogar
verlautbaren, dass er langfristig
plane, Helene Fischer als »neue Schlagergöttin«
vom Thron zu stoßen.
Darauf wird er heutzutage eher nicht
mehr so gerne angesprochen – zu
oft musste das Zitat schon herhalten.
Dass er mit ihr ungefähr so viel zu
tun hat wie Rammstein mit feinfühliger
Musik, muss kaum weiter erläutert
werden.
Dann doch lieber Hildegard Knef
als Referenz, deren Album »Knef« aus
dem Jahr 1970 bis heute einen großen
Einfluss auf Brusch hat. Sie stellt
für ihn eine große Ausnahmeerscheinung
in der deutschsprachigen
Musik dar, die alles in allem doch
von einer enormen Grobschlächtigkeit
geprägt sei. »Wenn es keine Ambivalenzen
mehr gibt, wenn dir ein
Gefühl innerhalb von fünf Sekunden
auf dem Silberlöffel serviert wird,
dann macht es mich depressiv«, erzählt
er im Gespräch. »Vielmehr mag
ich es, wenn man ein tieftrauriges
Thema trotzdem noch mit einem gewissen
Witz verbinden kann. Diese
Liedtradition gab es in besonderer
Weise in der Weimarer Republik,
aber sie ist durch die Nazis komplett
zerstört worden. Was nicht zuletzt
daran lag, dass viele der damaligen
Kabarett- und Chansonmusiker
Juden waren.«
Knef habe als eine der wenigen in
der Nachkriegszeit an diese Tradition
von Musikern wie Kurt Weill oder
Hanns Eisler angeknüpft, deren
Ideen im angloamerikanischen Raum
auf wiederum ganz andere Weise
etwa von Musikern wie Tom Waits
weiterentwickelt wurden. Auch ihn
und seine unnachahmliche Verknüpfung
von Brachialität und Zerbrechlichkeit
hört man in der Musik Tristan
Bruschs immer wieder als Einfluss
heraus.
Dass Brusch bis heute von dieser
langen musikalischen Tradition
zehrt, hört man insbesondere seinen
beiden jüngsten Alben an. Kokettierte
er 2018 auf »Das Paradies« noch
ganz auf Höhe der Zeit mit den mitunter
unappetitlichen Trash-Elementen
der Biedermeier-Bürgerlichkeit,
die wieder und wieder ironisch durch
den Wolf gedreht werden – nachzuhören
und etwa in seinem damaligen
Hit »Zuckerwatte« –, zeugte »Am
Rest« drei Jahre später im Vergleich
dazu von einer enormen musikalischen
Weiterentwicklung und Reifung.
Die haben nicht zuletzt mit
veränderten Lebensverhältnissen zu
tun. In der Zwischenzeit war Brusch
Vater geworden und hatte eine Trennung
hinter sich, die sich auch auf
dem neuen Album noch bemerkbar
macht. »Das Paradies« betrachtet er
rückblickend dennoch mit einer gewissen
Milde: »Ich musste das, was
ich mache, einmal ironisch brechen.
Das brauchte ich damals irgendwie.«
Brusch verbindet romantische Lieder mit
Außenseiterballaden, pessimistische
Weltbetrachtungen mit einem Funken Hoffnung.
Doch diese Phase scheint längst
abschlossen, denn auch auf »Am
Wahn« setzt Brusch den 2021 eingeschlagenen
Weg musikalisch konsequent
fort. Dabei verbindet er romantische
Lieder mit Außenseiterballaden,
pessimistische Weltbetrachtungen
mit einem Funken Hoffnung,
der zwischen den Zeilen immer
wieder aufblitzt. Nicht ohne Grund
ließ Brusch 2021 Laut.de wissen, dass
ihn die reine Depression musikalisch
nicht interessiere. Und trotz aller
Schwermütigkeit, die sich in Liedern
wie »Glücklich« oder »Kein Problem«
Bahn bricht, rutscht seine Musik tatsächlich
nie in eine reine Beweihräucherung
der eigenen Wehleidigkeit
ab. Was nicht zuletzt seiner Fähigkeit
geschuldet ist, stets auch nicht nur
seine Gefühle zu registrieren, sondern
auch die anderer. »Wenn vorm Späti
36 der Opa seinen Billigkaffee trinkt /
Im Duft der neuen Rösterei nebenan
/ Vergisst er kurz die Wirklichkeit«,
singt Brusch mit seiner ausgeprägten
Beobachtungsgabe für subtile Alltäglichkeiten,
die man in der deutschsprachigen
Musik sonst nur von Songschreibern
wie Sven Regener oder
Christiane Rösinger kennt.
Auf den ersten Blick irritierend,
auf den zweiten naheliegend erscheint
dabei auch die Zusammenarbeit
mit der Chansonette Annett
Louisan im Song »Kein Problem«.
»Wir sind uns vor einiger Zeit über
den Weg gelaufen, weil wir mit Tim
Tautorat den gleichen Produzenten
haben«, führt Brusch aus. »Bevor wir
uns kennengelernt haben, hatte sie
für mich schon so eine Art Legendenstatus,
fast schon vergleichbar mit
Stars wie Harald Juhnke oder eben
auch Knef. Als wir uns dann trafen,
haben wir schnell festgestellt, dass
wir einen sehr ähnlichen Humor
haben und uns vor allem unsere Liebe
zu alter französischer Musik
sehr verbindet.« Dabei sieht er das
Lied insbesondere angelehnt an die
musikalische Zusammenarbeit zwischen
Serge Gainsbourg und Jane
Birkin, die Ende der sechziger Jahre
mit »Je t’aime« einen Welthit landeten.
Der wird Brusch und Louisan
aller Voraussicht nach zwar verwehrt
bleiben, doch die erotische Intimität,
die die Vorlage einst auszeichnete,
wird auch von ihnen mühelos
erzeugt.
Im Herbst wird Brusch eine kleine
Tournee spielen. Vorher aber will er
sich noch einem anderen Projekt widmen:
Vor kurzem wurde er angefragt,
die musikalische Leitung der
»Woyzeck«-Inszenierung am Berliner
Ensemble zu übernehmen – worum
er sich nicht zweimal bitten ließ.
Und es erscheint auch naheliegend
für einen wie Brusch, eine derartig
von inneren wie äußeren Widersprüchen
und Verstrickungen geplagte
Figur wie Woyzeck musikalisch zu
zeichnen. Fast schon zu naheliegend.
Tristan Brusch: Am Wahn (Four Music/
Tautorat Tonträger)
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Das neue
Geschlechterregime
2003 löste Tove Soiland den sogenannten Gender-Streit aus, nun sind einige ihrer Texte in einem Sammelband erschienen. Ausgehend
von Jaques Lacan und Luce Irigaray kritisiert sie darin das Geschlechterverhältnis, ohne bei Fragen nach Repräsentation stehenzubleiben.
Von Marco Kammholz
In den vergangenen Jahren hat sich
bei vielen linken und feministischen
Zusammenschlüssen eine eher ungewöhnliche
Praxis durchgesetzt: die
Pronomenrunde. Ob bei der persönlichen
Vorstellung, im Chat oder
beim Profilnamen in sozialen Medien,
eine wachsende Zahl an Personen
sieht sich dazu veranlasst, ihren
Mitmenschen explizit über das eigene
Geschlecht Auskunft zu geben.
Für die einen ist die Pronomenrunde
eine hilfreiche Unterstützung im
Zuge ihrer Geschlechtsangleichung,
für die anderen spielt sie dahingehend
eigentlich keinerlei Rolle. Sie
bietet aber auch eine Gelegenheit,
die eigene, vermeintlich geschlechterreflektierende
Tugendhaftigkeit zu
demonstrieren.
Nach der Lektüre von Texten der
schweizerischen feministischen Theoretikerin
Tove Soiland ist man geneigt,
die Frage nach dem Sinn von
solcherlei Sprachpraktiken auf eine
bei jüngeren Feministinnen vermutlich
eher unpopuläre Weise zu beantworten.
Die Pronomenrunde
könnte womöglich schlicht Ausdruck
der gegenwärtigen Sexualkultur
sein, »in der wir beständig dazu aufgerufen
sind, alle Facetten unseres
intimsten Seins offen und schamlos
zu entfalten«. Neun ihrer Texte sowie
drei Interviews sind nun im von
der Sozialwissenschaftlerin Anna
Hartmann herausgegebenen Sammelband
»Sexuelle Differenz. Feministisch-psychoanalytische
Perspektiven
auf die Gegenwart« erschienen.
Zwar liegt einer von Soilands Arbeitsschwerpunkten
auf der sprachlichen
Verfasstheit von Geschlechtlichkeit,
dabei aber gerade nicht auf
Fragen von Repräsentation, sondern
auf der Bedeutung des unbewussten
sprachlichen Ursprungs des Subjekts.
Aus Sicht der strukturalen Psychoanalyse
von Jacques Lacan, mit
der sich die Historikerin und Philosophin
intensiv beschäftigt hat, ist
die Sprache als ein Einbruch zu verstehen,
der die Trennung von Selbst
und nicht dem Selbst Zugehörigen
vollzieht. Fortan ist das Subjekt in
die Ordnung des Symbolischen eingetreten
und gekennzeichnet von
dem Verlust einer vermeintlichen Einheit.
Somit ist es das durch den französischen
Poststrukturalisten berühmt
gewordene gespaltene Subjekt
Dollar, welches ein prinzipiell begehrendes
bleiben wird. Denn, so der
Lacanianer August Ruhs: »Der Rest
des außersprachlichen Genießens
wird das Objekt a.«
Um die Stellung dieses Objekts
und Theorems kreisen die Fragen,
die Soiland an das Geschlechterverhältnis
richtet. In großer, aber kritischer
Nähe zur Lacan’schen Psychoanalyse
hat sie sich in den vergangenen
zwei Jahrzehnten wortstark in
die Debatten der Geschlechterforschung
und der feministischen Theorie
eingemischt.
In dem neuen Band, der subjekttheoretische,
geschlechterpolitische
und zeitdiagnostische Beiträge versammelt,
dechiffriert die Autorin in
ihren Texten nicht nur die Wandlungen
und Auslassungen in den
englisch- und deutschsprachigen Rezeptionen
der Schriften der französischen
Feministin und Psychoanalytikerin
Luce Irigaray, sondern auch
die unterschiedlichen Wege, die Vertreter
und Vertreterinnen des westliche
Postmarxismus oder der in der
Ljubljana School entwickelten Lacan-
und Marx-Rezeption einschlugen.
Soiland arbeitet mit Marx’ Wertkritik
und Warenanalyse, Irigarays
Theorie der sexuellen Differenz sowie
dem Lacan-Marxismus, den Slavoj
Žižek, Alenka Zupančič oder Massimo
Recalcati entworfen haben.
Sie macht dabei unter anderem auf
die Leerstellen der poststrukturalistischen
und queertheoretischen Interpretationen
von Lacan aufmerksam.
Es ist daher nicht überraschend,
dass sich das im Sammelband vertretene
Subjekt- und Geschlechterverständnis
mehr oder weniger grundsätzlich
vom Gender-Paradigma unterscheidet,
das die Autorin bereits
im Jahr 2003 während dem von ihr
ausgelösten sogenannten Gender-
Streit in Frage stellte. Soiland bestreitet
nicht, dass gesellschaftliche
Normen auf Vorstellungen von Geschlecht
einwirken, sie konzentriert
sich in ihrer theoretischen Arbeit
aber auf Geschlecht weniger als Zugehörigkeitskategorie,
sondern vielmehr
als Strukturmerkmal in Gesellschaft
und Psyche. Dabei weist sie
insbesondere auch die Übertragung
dekonstruktivistischer Annahmen
auf das Verständnis der Subjektgenese
zurück. Entgegen der von Judith
Butler vertretenen Position, wonach
Geschlecht sich anhand machtvoller
gesellschaftlicher Vorgaben bilde
und zugleich subversiv davon absetzen
könne, beharrt Soiland auf der
psychoanalytischen Perspektive,
wonach sich Geschlecht und Sexualität
entziehen und »sich das Begehren
grundsätzlich in einem Feld der
Unverfügbarkeit des Anderen situiert«.
Denkerin der sexuellen Differenz. Deutsche Ausgabe des 1974 erstmals veröffentlichten »Speculum« von Luce Irigaray
Die gendertheoretisch inspirierte
Vorstellung vom konstruierten
Charakter des Geschlechts sieht sie
»längst selbst zum Bestandteil des
gegenwärtigen Geschlechterregimes«
und zu einer spezifisch spätmodernen,
flexibilisierenden Technologie
Dierk Saathoff
des Selbst geworden. Der Gendertheorie
attestiert Soiland Unfähigkeit, die
von ihr als neopatriarchal und
postödipal verstandenen Geschlechterverhältnisse,
die ohne manifest
autoritäre Vaterfigur und ohne die
traditionelle bürgerliche Familienform
auskämen, einer tiefgreifenden
Kritik zu unterziehen.
Dass das Geschlechterverhältnis
eine paradoxe Gestalt angenommen
hat, in der die Gleichzeitigkeit von
fortschreitender Genderpluralisierung
einerseits und der beständig
gebliebenen, auf die Sorgearbeit bezogenen
Ungleichheit zwischen den
Geschlechtern andererseits herrscht,
führt Soiland auch auf eine mächtige
Verschiebung im Triebhaushalt der
Subjekte zurück. Lacan prognostizierte
1969 in seinem Seminar XVII, dass
die ödipale Barriere zukünftig nicht
mehr vorrangig im »Diskurs des Herren«,
also durch das Verbot des Zugangs
zum Körper der Mutter, verhandelt
werde, sondern durch den »Diskurs
der Universität«, in Form des Versprechens
der Existenz eines Wissens,
das den Zugang zum Begehrten
gewähre. Hier sieht Soiland eine die
Herrschaftstechnologien modernisierende
»Biopolitik des Genießens« und
ein neues »Phantasma der Demokratisierung
des Unmöglichen« am Werk.
Von den beiden ödipal konturierten Illusionen
– repressives Verbot und
permissive Zugänglichkeit – habe sich
mittlerweile Letztere durchgesetzt.
Dies hat weitreichende Konsequenzen,
allen voran für die weiterhin
mit Frauen assoziierte, gesellschaftlich
unbedingt notwendige Fürsorgearbeit:
Sie erscheint nun uneingeschränkt
verfügbar und als eine
»Ressource, die nichts kostet«.
Dem stellt Soiland wiederum Irigarays
»Denken der sexuellen Differenz
als Bedenken der menschlichen
Bedingtheit und Begrenzung von
Allmacht« gegenüber. Während Lacan
feststellte, dass die Frau im Unbewussten
nicht existiere und Symptom
des Mannes sei, kann mit der
Lacan-Leserin Irigaray auf der Frage
nach der Positionierung der Frauen
beharrt werden. Die im Band versammelten
Texte knüpfen daran an
und Soiland plädiert für eine »kollektive
Artikulation der Position von
Frauen« in einer spätmodernen
und neoliberalen Gesellschaft.
Soiland orientiert sich dabei mit
Irigaray an Lacans Theorie und korrigiert
diese überzeugend. Damit gelingt
es ihr auf außergewöhnliche
Weise, das Geschlechterverhältnis
und die Sexualkultur der Gegenwart
zu fassen und zu kritisieren. Einigen
der utopisch anmutenden Ausführungen,
wie beispielsweise denen
zur Möglichkeit einer »intersubjektiven
Subjektkonstitution, in der
jeder der beiden Pole in sich selbst
Soiland macht unter anderem auf die Leerstellen
der poststrukturalistischen und queertheoretischen
Interpretationen von Lacan aufmerksam.
als die ihm eigene Grenze die ›Kerbe
der Alterität des anderen‹« trage,
werden dem nicht Lacan-erprobten
Leser schwer verständlich sein, da
die Argumentation stets auf die im
Sinne Lacans sprachliche Verfasstheit
der menschlichen Existenz rekurriert.
Gleichwohl bildet der Sammelband
eine wertvolle Quelle für feministisch-psychoanalytische
Untersuchungen,
die beanspruchen, zeitgemäß
und dennoch unangepasst zu
sein. Denn subversiver als so manche
Pronomenrunde sind theoretische
Argumente allemal. Und von
denen kann man in Tove Soilands
Texten nicht wenige finden.
Tove Soiland: Sexuelle Differenz. Feministisch-psychoanalytische
Perspektiven auf
die Gegenwart. Herausgegeben von Anna
Hartmann. Unrast-Verlag, Münster 2022,
252 Seiten, 18 Euro
DSCHUNGEL ∎∎∎ SEITE 12
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Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
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Verstrahlt, bekifft, verkackt
Die Summens. Isabelle Huppert, Judith Hermann und Carsten Meyer lassen sich nicht
einschüchtern. Von Gabriele Summen und Maurice Summen
Wir haben alles verkackt! Das singt
Carsten »Erobique« Meyer auf der
neuen Single-Auskopplung seines
im Juni erscheinenden Albums
»No. 2«. Die lebende Discokugel erfreut
uns seit nunmehr 25 Jahren
mit herausragendem Live-Entertainment
zwischen Hamilton Bohannon
und Helge Schneider. Der Song
erinnert in der Melodieführung
ein wenig an »Family Affair« von
Sly &14 The Family Stone und bringt
die gesamtgesellschaftliche Lage
hervorragend auf den Punkt.
Aber es gibt Hoffnung! Deutsche
home growers dürfen demnächst
ganz legal dafür sorgen, dass wir angenehm
betäubt zu Erobiques Dystopie-Disco
die Hüften schwingen
können. Dazu müssen ein paar
Das Schrippenrätsel
Das Medium. Von Elke Wittich
Kiffer:innen allerdings erst einen
Cannabis-Social-Club gründen! Warum
hat die FDP eigentlich nicht verlangt,
dass unser künftiges Cannabis-Business
an die Börse geht? Ganz
nach amerikanischem Vorbild! Kiffen
für noch mehr Profit des oberen
einen Prozents!
Nicht von den Mächtigen beeindrucken
lässt sich Isabelle Huppert
in dem Politthriller »Die Gewerkschafterin«,
der auf wahren Begebenheiten
beruht: Als Sprachrohr der
Belegschaft des Atomkonzerns Areva
deckt sie in der Rolle der kämpferischen
Irin Maureen Kearney Machenschaften
in der französischen Atomindustrie
auf. Die Einschüchterungsversuche
gipfeln in einer Vergewaltigung.
Da sie sich aber nicht wie ein
typisches Opfer
verhält, zweifelt die
Polizei an ihrer
Glaubwürdigkeit.
Auch dem Publikum
kommen Zweifel;
frauenfeindliche Einstellungen
sind eben in uns alle
eingeschrieben. Trotz dramaturgischer
Schwächen sehenswert.
Und es gibt auch endlich wieder
ein neues Buch von Judith Hermann!
»Wir hätten uns alles gesagt«
beinhaltet zum einen ihre Frankfurter
Poetikvorlesungen. Aber die Berliner
Autorin nimmt sich auch mal
wieder mit traumwandlerischer
Schwere alle Freiheiten und erzählt
Geschichten. Da begegnet ein literarisches
Judith-Hermann-Double
nachts seinem
Psychoanalytiker
oder trifft Gestalten,
mit
denen die Erzählerin
Ende
der Neunziger in
»Sommerhaus, später«
abgehangen hat. Wie
nebenbei reflektiert Hermann das
Schreiben von Geschichten, in deren
Zentrum »ein schwarzes Loch ist,
aber es ist nicht schwarz, und es ist
nicht finster. Es kann im besten
Falle glühen.« Ja, glühen wie die neue
Single von Dexys, die den Zusatz
Midnight Runners abgelegt haben,
auf Repeat: »I’m Going to Get Free.«
Kevin Rowland bleibt ein leuchtender
Stern.
Unermüdlicher Avantgardist
Platte Buch. Von Jana Sotzko
Der analoge Mann
Aus Kreuzberg und der Welt: Selbständiger Finanz-Coach. Von Andreas Michalke
Was bisher geschah: Julia
und Andi haben plötzlich einen
Sohn. Der Sohn verhält
sich irgendwie verdächtig,
deshalb verfolgt Julia ihn bis
zum Stadtrand. An der Tür
eines Einfamilienhauses hört
sie, wie der Sohn die Bewohnerin
mit »Hallo Mama«
begrüßt … Als der Sohn am
nächsten Morgen das Haus
verlässt, klingelt sie an der
Tür. Die beiden Frauen stellen
fest, dass sie nicht die
einzigen Mütter des Sohnes
sind.
Zurück zum Computerspiel »Second Life«. Wo man
nicht unbedingt mit offenen Armen auf Userinnen
wartet, die sich zuletzt vor fünfzehnnochwas Jahren
eingeloggt haben und entsprechend nun weder
ihre damals angegebene E-Mail-Adresse, ihr Passwort
noch ihren Nick wissen.
Den immerhin wohl noch existierenden Account wieder in Besitz
zu nehmen, dauert. Lange. Sehr lange. Was vielleicht daran
liegt, dass damals, als man »Second Life« nach nicht allzu ausgiebigem
Ausprobieren den Rücken kehrte, eine Welt hinter sich ließ,
in der mit virtuellen Grundstücken Millionen verdient wurden
und alles unfassbar hip und großartig war. Entsprechend groß
sind die Sicherheitsvorkehrungen, wäre ja nicht auszudenken,
wenn sich jemand Neues einfach so in das Zweitleben-Universum
einschleichen würde.
Nach sehr ununterhaltsamen Prozeduren ist es endlich so weit:
Der Account von »Elquee Littleboots« kann wieder in Besitz genommen
werden. Littleboots? Meine Güte, was hatte man sich
denn dabei gedacht? Man weiß es nicht mehr, vielleicht war es
aber auch so, dass die Nachnamen irgendwie vorgegeben waren,
was wahrscheinlicher klingt, als dass man sich tatsächlich so einen
bekloppten Zunamen ausgesucht hatte. Der Rest ist schnell erzählt:
Elquee Littleboots hat nix, sieht nicht aus und kann nix, sondern
ist einfach bloß da. Mutmaßlich muss man jetzt irgendwas
tun, aber die richtige Welt hält da sehr viel Interessanteres bereit.
Wie zum Beispiel das Schrippenrätsel zu lösen. Während der
Pressekonferenz der Berliner SPD zum Thema Mitgliederbefragung
am Sonntag schwenkte die Kamera nämlich ganz kurz zu
einem Teller mit belegten Brötchen für die Medienleute. Es wirkte
so, als seien es hauptsächlich mit Käse belegte Schrippen, was
auch der Kollege vom ND so gesehen hat, aber wichtig sind in
solchen Fällen ja vor allem die Deko-Details: Tomaten, ja oder
nein? Paprikastreifen? Petersilie? Oder kleine Salzbrezeln? Wir werden
es wohl nie erfahren.
»I’m looking for mercy / More and
more« lautet die Schlüsselzeile in
»Mercy«, Eröffnungstitel von John Cales
gleichnamigen, bereits im Januar
erschienenen neuen Album. Immer
kälter werden die Lyrics, die Wölfe
heulen und Leben enden. Alles hier –
und so wird es sich durch die insgesamt
zwölf Tracks ziehen – bewegt sich
gen Abgrund in die Dunkelheit.
Dass der 81jährige Cale auf seinem
17. Studioalbum keine gemütliche Retronummer
veranstalten würde, war
abzusehen, wie halluzinatorisch dräuend
die lang angekündigte Platte jedoch
ausgefallen ist, überrascht dann
doch. Für die Apokalypse in einer
Stunde und elf Minuten hat der Avantgarde-Pionier
mit einer ganzen Reihe
junger Produzentinnen und Produzenten
zusammengearbeitet, darunter
Weyes Blood, Laurel Halo und
Actress. Ihr Dazutun und die hörbar
von vielen unerfreulichen Ereignissen
der vergangenen Jahre – von der
Regierungszeit Donald
Trumps über den Klimawandel
bis zu Covid-19
und »Brexit« – beeinflussten
Texte verankern
»Mercy« im Hier und
Jetzt. Was dem unermüdlichen
Avantgardisten
Cale dabei bisweilen verlorengeht,
sind sein großartiges
Songwriting und die Schärfe, die aus
der Reibung von Elektronik und
akustischen Instrumenten entsteht
und etwa auf dem Vorgänger »Shifty
Adventures in Nookie Wood« noch intensiv
zu hören war. Cales ohnehin
recht sonore Stimme versinkt zuweilen
in einem Meer aus Hall und endlos
gestapelten Klangflächen, Beats
verschleppen sich in ereignislosen
Loops. Das kann auf Dauer ermüden,
diese musikalische Atmosphäre der
Überforderung passt aber wiederum
gut zu einer ermüdenden Gegenwart.
Niemals wird John Cale – der es sich
angesichts seiner Diskographie ja
erlauben könnte – auf »Mercy« zum
altersweisen Nostalgiker, vielmehr
bleibt er sperrig und eigenbrötlerisch.
Die besten Momenten des Albums
sind dennoch jene, in denen aus dem
zähen Klangstrom einzelne Elemente
herausragen, etwa Natalie Merings
Stimme in »Story of Blood«, die
Streicher-Arrangements
in »Nico’s Song« oder
die gewohnt verfrickelten
Soundcollagen von Animal
Collective in »Everlasting
Days«.
John Cale: Mercy (Domino)
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Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
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Das Werk des Superfans. Monica Seles (verdeckt) kurz nach dem Angriff im April 1993 in Hamburg
Ein Fan aus Thüringen
Vor 30 Jahren stach in Hamburg ein Fan von Steffi Graf bei einem Tennisturnier auf deren größte
Konkurrentin Monica Seles ein. Ein Blick zurück in die frühen neunziger Jahre. Von Fabian Kunow
30. April 1993, Viertelfinale des Hamburger
Turniers der Women’s Tennis
Association. Es ist Spielpause im
zweiten Satz. In der Arena Am Rothenbaum
bewegt sich ein kleiner,
leicht untersetzter deutscher Mann in
Richtung der Weltranglistenersten
Monica Seles. Ihr Sieg im Match gegen
Magdalena Maleewa aus Bulgarien
scheint nur eine Frage der Zeit.
Monica Seles sitzt während einer
Pause im Spiel auf einer Bank.
Der Mann heißt Günter Parche. Er
trägt einen kleinen Beutel, in dem
ein 22 Zentimeter langes Fleischmesser
steckt, mit dem er der ungeschützten
Monica Seles in den Rücken
sticht. Die 19jährige springt schreiend
auf, geht ein paar Schritte und
bricht auf dem Tennisplatz zusammen.
Polizisten und Zuschauer
überwältigen den Angreifer.
Der Einstich ist mit rund zwei Zentimetern
glücklicherweise nicht
sehr tief. Ein halbes Jahr später vor
Gericht wird diese verhältnismäßig
leichte Verletzung dazu führen, dass
Parche mit einer Bewährungsstrafe
davonkommt. Er konnte glaubhaft
vermitteln, dass er Seles nur so verletzen
wollte, dass ihre Tenniskarriere
unterbrochen und »seine geliebte
Steffi« wieder die Nummer eins im
Frauentennis wird.
So kam es letztlich auch. Nach der
Attacke konnte Seles nicht mehr an
ihre alten Leistungen anknüpfen.
Parches Angaben decken sich mit den
Ermittlungen der Polizei. Er hätte
Monica Seles problemlos viel schwerer,
sogar tödlich verletzen können,
habe es aber nicht getan, sagte ein Polizeisprecher
in einer Fernsehdokumentation
des Norddeutschen Rundfunks
(NDR) über die Tat. In derselben
Doku sagte der frühere Tennisreporter
der ARD, Hans-Jürgen Pohmann,
so etwas sei nie zuvor
picture-alliance / Norbert Schmidt
passiert – zumindest nicht im Tennissport.
Die Tat wirft auch ein Licht auf die
frühen Jahre des gerade wiedervereinigten
Deutschland. Die Hamburger
Tennisanlage Am Rothenbaum
liegt dort, wo Tennisfreunde auch soziographisch
vermutet werden dürfen:
im Stadtteil Rotherbaum, wo
Steuerpflichtige nach Angaben des
Hamburger Statistikamts das Doppelte
des durchschnittliche Hamburger
Einkommens verdienen. Über
die Straße, im direkt angrenzenden
Harvestehude, ist es etwa dreimal
so viel wie der Hamburger Gesamtdurchschnitt.
Ab den späten achtziger Jahren
wird Tennis durch die Erfolge von Boris
Becker, Michael Stich und Steffi
Graf in Deutschland immens populär
– und durch das Fernsehen zum
Zuschauersport.
Das Viertelfinale zwischen Seles
und Maleewa schauten 10 000 Menschen
an Ort und Stelle an. Das ist
mehr als der damalige Zuschauerschnitt
fast aller Zweitligisten beim
Fußball der Männer in der Saison
1992/1993.
Obwohl Steffi Graf 1999 ihre Karriere
beendete und seitdem recht wenig
in der Öffentlichkeit zu sehen
ist – anders als beispielsweise Boris
Becker – dürfte sie nach wie vor die
bekannteste Sportlerin in Deutschland
sein.
Grafs Status als unbesiegbare
Volksheldin erreichte die DDR und
damit auch Görsbach im Landkreis
Nordhausen in Thüringen. Hier wohnte
Attentäter Parche seit 30 Jahren
bei seiner Tante, seine Mutter hatte
ihn weggegeben. Er war ein Eigenbrötler
und arbeitete als Dreher in einem
Motorenwerk. In einer Fernsehaufnahme
aus den Neunzigern
erzählte ein ehemaliger Vorgesetzter
einem Journalisten, dass Parche
nie durch Widerrede aufgefallen sei:
»der hat sich führen und leiten lassen,
war niemals böswillig, hat keine
Widerrede gehabt, im Gegenteil,
was man ihm gesagt hat, das hat er
gemacht.« Vor Gericht schwärmte
Parche über Steffi Graf: »Sie hat Augen
wie Diamanten und Haare wie
Seide. Der Himmel hat sie uns geschickt.«
Ein Gerichtspsychiater beschrieb
in einer NDR-Dokumentation
das Lebensumfeld Parches als
»Ein-Mann-Sekte«; er projiziere alles,
»was er an Wünschen hat«, auf »diesen
Fernsehstar«. Parche schrieb Graf
auch Briefe und schickte der Millionärin
Geld. Unterschrieben waren die
Briefe mit »Ein Fan aus Thüringen«.
»Ein Fan aus Thüringen« ist auch
der Name eines 2022 aufgeführten
Theaterstücks, das der junge Theaterregisseur
Demjan Duran in Berlin
inszeniert hat. Als »abseitiges Heldentum«
beschrieb Gerichtspsychiater
Hans-Ludwig Kröber im Prozess 1995
die Tat, weil Parche wusste, dass er
dafür strafrechtlich verfolgt werden
würde. Er habe sich für seine Steffi
geopfert, so der Psychiater. Tatsächlich
verhalf Parche Graf damit wieder
auf den Tennisthron. Und er
stoppte die sportliche Rivalität zwischen
Seles mit Graf, die drei Jahre
vorher begonnen hatte und seine
Steffi schlecht aussehen ließ.
Bis zum 20. Juli 1990 beim Frauentennisturnier
in Berlin schien Graf
mit 66 Siegen in Folge quasi unbesiegbar.
In diesem Traumfinale trat
die Weltranglistenerste Steffi Graf
gegen die Weltranglistendritte Monica
Seles an. Diese, damals erst 16 Jahre
alt, gewann.
Zwei Wochen später gelang Seles
die Wiederholung dieses Triumphs
bei den Paris Open, einem der vier
Grand-Slam-Turniere, ebenfalls im
Finale. Sie ist bis heute die jüngste Gewinnerin
des bedeutenden Turniers.
In den nächsten drei Jahren baute
Monica Seles ihre Dominanz aus. Das
lag vor allem an ihrer Spielweise.
Sie schlug beidhändig Vor- und Rückhand,
was ihr Spiel kraftvoll und
unberechenbar machte. Dazu kam
ein lautes Stöhnen beim Schlagen
des Balls, das ihr Markenzeichen
wurde, die konservative Tennis welt
verunsicherte und die Boulevardblätter
erfreute.
Grunting (Grunzen) ist seitdem
immer wieder Thema im Tennis, genauer
gesagt im Frauentennis. Die
geschlechtliche Dimension ist unübersehbar,
da es bei männlichen
Spielern als aggressiv gilt, bei Frauen
hingegen mit Sex assoziiert wird.
Was Boris Becker dazu brachte, im
Jahr 2015 ein »Stöhnverbot« zu fordern:
»Das hat ja auch etwas Sexuelles,
und man fragt sich: Das muss
doch die Stimmbänder reizen und
kann nicht gesund sein.« Michael
Stich hatte bereits 2009 kommentiert,
grunting sei »widerlich, hässlich
und unsexy«. Einige Sportsoziologen
sehen im Stöhnen und Ächzen
ein Anzeichen, wie sich Tennis
vom Sport der Oberschicht, der mit
einer gewissen Vornehmheit, Zurückhaltung
und ohne Erfolgsdruck ausgeübt
wurde, zum leistungsorientierten
Sport der aufstrebenden Mittelklasse
entwickelt hat.
Bemerkenswert ist an Monica Seles
außerdem, dass sie in ihrer aktiven
Zeit in den Medien als Jugoslawin
wahrgenommen wurde, obwohl Jugoslawien
in dieser Zeit immer weiter
zerfiel. Duran sagte der Jungle
World hierzu: »Seles hatte in ihren
Aussagen und Interviews nie politisch
Stellung bezogen. Sie gehörte
einer ungarischen Minderheit an
und war in Jugoslawien geboren und
als Jugoslawin wurde sie gesehen.
Andere Sportlerinnen haben sich
damals eindeutig als Kroatin oder
Serbin betitelt, um ein klares Statement
zu setzen.«
Duran verwies auf einen weiteren
Aspekt des Attentats. Die Tat sei nicht
nur individuelle Verrücktheit, vielmehr
müsse auch ein nationalistisches
Motiv mitgedacht werden. Er belegte
dies mit einem Auszug aus
dem Geständnis des Täters. »Dann
verlor Steffi Graf 1990 die German
Open in Berlin gegen Monica Seles.
Damals brach eine ganze Welt für
mich zusammen«, hatte Parche ausgesagt.
Er habe den Gedanken nicht
ertragen können, dass irgendjemand
Steffi Graf schlagen könnte. »Obwohl
sie immer noch die Nummer
eins auf der Weltrangliste war, erschütterte
mich dieses Ereignis so
sehr, dass ich daran dachte, mir das
Leben zu nehmen.« Das Schlimmste
für ihn sei die Tatsache gewesen, dass
sie ihr Spiel in Berlin verloren habe.
»Sie hatte anderswo schon mehrmals
Turniere verloren. Aber diesmal war
Vor Gericht schwärmt Parche über Steffi Graf:
»Sie hat Augen wie Diamanten und Haare
wie Seide. Der Himmel hat sie uns geschickt.«
es in Deutschland, und, was noch
schlimmer war, in Gegenwart unseres
Bundespräsidenten. Das alles
war zu viel für mich.« Duran führte
weiter aus, dass auch in Parches
Brief immer mal wieder Sätze fielen
wie: »Steffi ist so wunderbar deutsch.«
Das sei jedoch nie eingehend thematisiert
worden, »weder medial
noch vor Gericht«, so der Theaterregisseur.
Tatsächlich sollten immer gesellschaftliche
Stimmungen bei der Frage
nach den Motiven mitreflektiert
werden, wenn Täter mit »schwerer
Persönlichkeitsstörung«, wie ein
Gutachter Parche diagnostizierte, gewalttätige
Handlungen planvoll
umsetzen gegen Menschen, die ihnen
persönlich nichts getan haben. Nationalistisches
Anspruchs- und Herrschaftsdenken,
das sich ein knappes
halbes Jahr vorher beim Pogrom
in Rostock-Lichtenhagen und in dieser
Zeit an vielen anderen Orten entlud,
kann durchaus dazu beigetragen
haben, die Tennisweltrangliste
mit dem Messer zu verändern.
»Hätten Sie Frau Seles auch verletzt,
wenn sie eine Deutsche gewesen
wäre?« fragte die Richterin Parche damals,
der dazu lieber schwieg.
Im August ist Parche im Alter von
68 Jahren verstorben. Die letzten
14 Jahre lebte er in einem Pflegeheim
im thüringischen Nordhausen.
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27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 17 ∎∎∎ SPORT
Essay
Für und gegen
nächtliche
Ruhestörung
und sinnlose
Gewalt
Der Revolutionäre 1. Mai ist ein Ereignis mit bundesweiter, wenn nicht internationaler
Strahlkraft. Das Bild, das man sich andernorts von Kreuzberg und ganz
allgemein von radikalen Linken macht, ist davon maßgeblich geprägt. Ein
Rückblick auf 36 Jahre Revolutionärer 1. Mai in Kreuzberg. Von Ely Ora
Eine längst bekannte Feststellung, die zu akzeptieren noch immer Schwierigkeiten bereitet, aufgenommen am 1. Mai 1992 an einer Hausmauer in Kreuzberg
picture alliance / ZB | Bernd Settnik
Voriges Jahr liefen etwa 20 000 Leute
bei der abendlichen Revolutionären
1.-Mai-Demonstration von Neukölln
nach Kreuzberg. Nennenswerte Zusammenstöße
mit der Polizei gab es
dabei nicht. Das war mal ganz anders.
Alles begann am 1. Mai 1987 mit
heftigen Auseinandersetzungen zwischen
Teilen der Kreuzberger Bevölkerung
und der Polizei, bei denen die
Autonomen eine wichtige, aber nicht
die zentrale Rolle spielten. Die am
1. Mai geplünderte Filiale der längst
verblichenen Lebensmittelkette
»Bolle« am Görlitzer Bahnhof ging
in der Nacht auf den 2. Mai in Flammen
auf. Das war das Fanal der autonomen
1.-Mai-Aktivitäten.
Der Vorabend
Anfang der neunziger Jahre gab es feministische
Walpurgisnachtdemos,
die durch Schöneberg und Kreuzberg
zogen. Gänzlich ohne politisches Rahmenprogramm
kamen ab Mitte der
Neunziger Tausende Jugendliche am
Kollwitzplatz und später im Mauerpark
in Prenzlauer Berg auf teils
kommerziellen Festen zusammen,
wo es regelmäßig zu Auseinandersetzungen
mit der Polizei kam. Linksradikale
spielten dabei keine besonders
große Rolle.
Stärker von der linken Szene geprägt
waren die Aktivitäten, die sich
ab den nuller Jahren in Friedrichshain
rund um den Boxhagener Platz abspielten.
Vorher gab es teilweise auch
Konzerte mit antikapitalistischem
Schwerpunkt – vor allem gegen »Yuppisierung«
–, die von der Berliner
Anti-Nato-Gruppe (B.A.N.G.) organisiert
wurden und mit denen vor allem
Punks mobilisiert werden konnten.
Trotz einzelner Ausschreitungen
wurde es wie auch auf den 1.-Mai-
Demonstrationen auch hier in den
nuller Jahren immer friedlicher.
Eine Demonstration organisierte
die aus der Antifa-Bewegung hervorgegangene,
gemeinhin als antideutsch
verstandene Gruppe KP
B3rlin (Kritik & Praxis B3rlin) im Jahr
Bis 1987 war die Sache bei vielen
Westberliner Linken klar: Am Nachmittag
ist man auf dem Straßenfest am Lausitzer
Platz und morgens auf der DGB-Demo.
2004 gegen die EU-Osterweiterung.
Drei Jahre später folgte unter dem
Motto »Reduce it to the max: just
communism!« die faktische Nachfolgegruppe
TOP B3rlin (Theorie Organisation
Praxis) mit einer wütenden,
kahlrasierten Britney Spears auf den
Ankündigungsplakaten und durchaus
pointierten Sätzen im Aufruf
(»Der Prolet hat im Kapitalismus ein
Interesse an seiner Ausbeutung –
sonst hat er ja nichts!«).
Ab Anfang der zehner Jahre gab
dann in der bis dahin von der radikalen
Linken relativ stiefmütterlich behandelten
einstigen KPD-Hochburg
die Demonstration »Hände weg vom
Wedding!«, die seitdem alljährlich
durch den Bezirk zieht mit dem Ziel,
dass das seit Anfang der Neunziger
drohende »Kommen« des Wedding
einfach nicht stattfinden darf. Zumindest
jenseits des Sprengelkiezes,
der ist wohl verloren. Auch Bewährtes
kehrt zurück: Seit einigen Jahren
gibt es auch wieder eine feministische
Demo zur Walpurgisnacht.
Die Gewerkschaften
Bis 1987 war die Sache bei vielen Westberliner
Linken klar: Am Nachmittag
ist man auf dem Straßenfest am Lausitzer
Platz und morgens auf der
DGB-Demo. Gerne in widerspenstigen
Blöcken und gerne auch wütend am
Pfeifen, wenn die sozialdemokratische
(Gewerkschafts-)Prominenz spricht.
Mit den Kreuzberger Ereignissen 1987
und der ersten revolutionären Demonstration
1988 hat sich das aber
im Grunde erledigt. Einige kommunistische
und anarchosyndikalistische
Gruppen mit nostalgischer Liebe
zum Proletariat sahen darin aber keinen
Grund, ihre Praxis zu verändern,
und liefen isoliert am Ende der
sozialpartnerschaftlichen Bier-und-
Bratwurst-Manifestation mit.
Im Zuge der Weltwirtschaftskrise
2008 mobilisierte im Folgejahr erstmals
auch ein Bündnis aus Deutscher
Kommunistischer Partei (DKP), ehemaligen
Antiimps und linken Gewerkschaftern
zum »Klassenkämpferischen
Block«, der seitdem, wenn auch
immer schwach besucht, ebenfalls
auf der 18-Uhr-Demo mitläuft. Viel
verändert an der Strahlkraft des
morgendlichen Events hat das nicht
und man kann davon ausgehen, dass
das trotz des Eierwurfs auf die Regie-
ESSAY ∎∎∎ SEITE 18
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Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
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rende Bürgermeisterin Franziska
Giffey (SPD) im vorigen Jahr auch so
bleibt.
Die Nazis
Als Anfang der Neunziger infolge des
Anschlusses der DDR an die BRD im
tiefsten Osten der Stadt erstmals Nazis
am »Tag der nationalen Arbeit«
durch ihre »national befreiten Zonen«
marschierten, war das für den allergrößten
Teil der radikalen Linken
kein Grund, etwas an ihren Gewohnheiten
zu ändern. In den nächsten
Jahren stieg die Antifaschistische Aktion
Berlin (AAB) zur führenden
Kraft der radikalen Linken in der Stadt
auf und auch bundesweit gewann
der revolutionäre Antifaschismus an
Bedeutung. So wurden ab Mitte der
Neunziger teilweise auch außerhalb
der Berliner Stadtgrenzen Hunderte
Menschen zu Protesten gegen Nazi-
Aufmärsche in der ehemaligen DDR
mobilisiert.
In manchen Jahren konnten Tausende
Menschen die Nazi-Aufmärsche
in Berlin empfindlich stören
und deutlich verkürzen, das gelang
aber nicht immer. Oft waren wenige
Hundert Antifas der polizeilichen
Übermacht hoffnungslos unterlegen.
Entscheidend war häufig, wie
engagiert sich die AAB und später
die Antifaschistische Linke Berlin
(ALB) der Sache widmete oder ob
sie sich doch eher auf die eigene Demonstration
konzentrierte, wie
es sämtliche andere linksradikalen
Gruppen getan haben. Die Naziaufmärsche
waren für sie ein lästiges
Ärgernis, die eigene Praxis
wollte man sich zumindest an diesem
Tag davon aber nicht diktieren lassen,
wenngleich kaum ein Bündnis
nicht pflichtschuldig »Naziaufmarsch
verhindern!« auf ihr Material
druckte.
In den zehner Jahren entwickelte
sich die AfD zur westdeutschen Parlaments-
und ostdeutschen Volkspartei
und ebenfalls im Osten entstand
eine ideologisch zwar diffuse, aber
mindestens latent völkische Massenbewegung.
Die ganz offen nationalsozialistischen
Kräfte verloren aber
ebenso wie die expliziten Antifa-
Gruppen an Ausstrahlungskraft und
so verlor dieser Kampf am 1. Mai
immer mehr an Relevanz.
Die 13-Uhr-Demo
13 Uhr. Oranienplatz. »Gegen Patriarchat
und Kapital kämpfen wir international!«
So fing alles an. Bis zu
20 000 Leute folgten alljährlich der
Demonstration durch Kreuzberg und
Neukölln, später Friedrichshain.
Themen waren die sogenannte Wiedervereinigung
(»Raus auf die Straße
statt heim ins Reich!«), Kurdistan, die
Unruhen in Los Angeles 1992, aber
auch die Anti-Olympia-Kampagne.
Das schon seit 1990 gespannte Verhältnis
zwischen sich explizit als
revolutionär verstehenden Maoisten
und sich explizit als undogmatisch
verstehenden Autonomen eskalierte.
Die Autonomen wollten weder Stalinnoch
Mao-Konterfeis und auch keinen
Lautsprecherwagen des Revolutionary
Internationalist Movement
(RIM) auf ihrer Demo, was insbesondere
Ostberliner Teilnehmer oftmals
genauso sahen. Nicht nur die RIM,
sondern auch andere kommunistische
Gruppen verteidigten die »Freiheit
der Propaganda und Agitation«.
Es kam 1992 zu Schlägereien, im Folgejahr
wurden dabei auch Holzstangen
eingesetzt. Einzelne Teilnehmer
applaudierten der Polizei, als sie den
RIM-Wagen aus der Demo zog. Daraufhin
galt die RIM vielen in der Szene
als eine Gruppe von »bewaffneten,
gewalttätigen Mao-Stalinisten«,
während sie selbst von »rassistischen
und antikommunistischen«
Ausgebrannte »Ente«. Nach der Randale am am 1./2. Mai 1987
picture alliance / Henning Langenheim
Angriffen der »Kapitulatoren« sprach.
Die 13-Uhr-Demo in ihrer bisherigen
Form war damit Geschichte.
Die Maoisten machten einfach weiter
und mobilisierten von 1994 an
jedes Jahr am 1.Mai um 13 Uhr zum
Oranienplatz und ließen dabei auch
in den restlos defensiven neunziger
Jahren ein Banner mit der Losung
»Keine Befreiung ohne Revolution!«
über der Oranienstraße flattern.
Einige antiimperialistische und kommunistische
Gruppen schlossen sich
der Demo in manchen Jahren an,
mehr als 3 000 Menschen konnten
aber nie wieder mobilisiert werden.
Durchaus beeindruckend aber war
die Vielfalt. Die Teilnehmer waren
deutlich internationaler und weniger
gymnasial und studentisch als bei
den sonstigen linksradikalen Veranstaltungen,
und wie bei den abendlichen
Auseinandersetzungen konnte
man auch schon hier migrantische
Jugendliche und deutsche (Straßen-)
Punks in Aktionseinheit sehen.
Die größten Teile der linken Szene
blieben aber fern. Nicht nur die Ereignisse
der frühen Neunziger, sondern
auch teils körperliche Übergriffe
auf Antideutsche prägten dort das
Bild der federführenden Revolutionären
Kommunisten (RK). In den nuller
Jahren wurde diese Demo, die zwar
explizit revolutionäre Inhalte, aber
kein militantes Auftreten hatte, immer
kleiner. 2010 liefen kaum mehr
100 versprengte Revolutionäre durch
die Oranienstraße, woraufhin das
Event mangels Teilnehmer eingestellt
wurde.
Explizit in ihre Tradition stellte sich
der Jugendwiderstand (JW) ab dem
Jahr 2016, anfangs mit identischer
Losung und ebenfalls immer um
13 Uhr, allerdings am Neuköllner Karl-
Marx-Platz. Während die RK auf allen
Ebenen versuchten, den Kreuzberger
Aufstand von 1987 als Bezugspunkt
zu wahren, gab sich der JW dort deutlich
weniger Mühe dabei und verwies
auf die veränderte »Klassenstruktur«
des Stadtteils. Ähnlichkeit
bestand jedoch in der prominenten
Würdigung von bewaffneten Kämpfen
der jeweiligen maoistischen Geschwisterparteien
in Lateinamerika
und Südostasien sowie einer, zumindest
damals, in der radikalen Linken
umstrittenen eindeutigen Solidarisierung
mit »Palästina«. Wobei man
mindestens im Fall des JW auch von
einem großen Hass auf Israel sprechen
kann. »9 mm für Zionisten!«
lautete eines ihrer Graffiti.
Viel mehr als 500 Leute konnten der
JW am 1. Mai jedoch nie begeistern.
Anfangs kamen auch noch andere
kommunistische und antiimperialistische
Gruppen zu der Demonstration,
doch sie wurde mit jedem Jahr
kleiner und war zusehends isoliert.
Auch hier waren es beim letzten Mal
weniger als 100 Teilnehmer.
Inhaltlich wurde noch ein weiterer
Unterschied zu den Vorgängern immer
deutlicher. Die stark migrantisch
geprägten RK gingen für das Abspielen
von Slimes »Deutschland«-Song
am 1. Mai ins Gefängnis und klagten
dagegen bis zum Verfassungsgericht.
Auf ihren Demos riefen sie »Tod dem
deutschen Vaterland – Schwarz-Rot-
Gold wird abgebrannt!« und »Nie wieder
Deutschland!« Der deutlich weniger
migrantisch geprägte JW bezeichnete
am 1. Mai von NPD bis Linke
alle Parteien als »Volksfeinde« und
schwärmte in seiner Auflösungserklärung
2019 von einer »roten Jugend«,
»die klar sagt, dass sie das Volk, die
Heimat und ihre Leute, die Jungs
und Mädels aus den Vierteln, liebt«.
Inzwischen sind einige dieser Patrioten
bei der Identitären Bewegung
(IB) und der rechtsextremen Kleinpartei
»Der III. Weg« angekommen.
Seit 2019 auf ist auch diese 13-Uhr-
Demonstartion Geschichte.
Der Osten
1992 gab es im Prenzlauer Berg eine
Demo unter dem Motto »Der Osten
schlägt zurück!« mit 1 000 Teilnehmern.
Auch eigene Straßenfeste
wurden organisiert. Schon in den Vorjahren
hatte es Vorbehalte gegeben,
dass die Kreuzberger 13-Uhr-Demonstration
ins vormalige Ostberlin
führt, und auch 1996 wurde eine
Demonstrationsroute durch den
Prenzlauer Berg kritisiert. In den darauffolgenden
Jahren verlor dieser
Ost-West-Konflikt aber immer mehr
an Bedeutung.
Die KPD/RZ
1994 brachten die zeitweise in der
Bezirksverordnetenversammlung vertretenen
Kreuzberger Patriotischen
Demokraten/Realistisches Zentrum
(KPD/RZ) unter dem Motto »Gegen
nächtliche Ruhestörung und sinnlose
Gewalt!« etwa 2 500 Leute auf die
Straße. »Deutsche Polizisten – Gärtner
und Floristen!«, schallte es durch
den Abend. Die deutlich humorloseren
Adressaten griffen auch diese
Demonstration an.
Die 16-Uhr-Demo
Von 1995 bis 1997 beteiligten sich antiimperialistische
Kräfte wie die Autonomen
Kommunisten (Autokomms)
an der Kreuzberger 13-Uhr-Demo.
Bei aller Skepsis vor der gleichzeitig
im Prenzlauer Berg protestierenden
»Pop-Antifa«, also der AAB, waren es
vor allem die explizit undogmatischen
Autonomen, mit denen man
nicht zusammenkam. Zum Bruch
mit der AAB kam es 2002, als sich diese
am (letztlich nicht verwirklichten)
Konzept »Denk Mai neu!« des
Politikprofessors Peter Grottian und
der SPD/PDS-Stadtregierung beteiligte.
Ronald Fritzsch, ein ehemaliges
Mitglied der Bewegung 2. Juni, sagte
dazu in der öffentlich-rechtlichen
»Abendschau«: »Dieses Land ist im
Krieg. Es wird Gewalt massiv nach
außen getragen. Und SPD und Grüne,
die für diese Gewalt verantwortlich
sind, sitzen auch im Bündnis.« Das
Gegeninformationsbüro (GIB) ergänzte:
»Vorauseilender Gehorsam
gegenüber den Herrschenden gehört
trotz eines strittigen Politikverständnisses
bisher nicht zur Politik
der AAB.«
Nun aber warf man ihr vor, mit
der Verlegung ihrer Demonstration
nach Mitte einen Beitrag zur Befriedung
Kreuzbergs zu leisten, und mobilisierte
unter dem Motto »Kriegstreiber
stoppen! Kapitalismus zerschlagen!«
um 16 Uhr zum Görlitzer
Bahnhof, wo sie von der 13-Uhr-
Demo abgeholt wurden und mit vielen
roten, aber auch palästinensischen,
baskischen und jugoslawischen
Fahnen durch Kreuzberg zogen.
2003 kam es vor dem Hintergrund
des Irak-Kriegs unter dem Motto
»Krieg dem Krieg nach außen und
nach innen!« zur ganz großen Einheitsfront
von Maoisten über Antiimperialisten
bis hin zur AAB und
der eher sozialreformistischen Gruppe
Für eine linke Strömung (Fels).
2004 folgte eine Neuauflage mit dem
Slogan »Sag Ja zum Nein!« ohne die
Maoisten am Potsdamer Platz mit
Schwerpunkt auf der Kritik der Sozialreformen
der sogenannten Agenda
2010. Seitdem hat dieses Milieu immer
zur 18-Uhr-Demo aufgerufen
und nur noch vereinzelt (teils unangemeldete)
Zubringerdemos mit
internationalistischem oder stadtpolitischem
Schwerpunkt organisiert.
Gerade Ersteres sorgt bei Antideutschen
für Kritik, denn die traditionell
antiimperialistischen Kräfte haben
ihre Position zum Nahost-Konflikt
seit den achtziger Jahren nur in
Nuancen verändert und arbeiten
oft mit palästinensischen und neuerdings
auch mit kleinen dezidiert
antizionistischen jüdischen Gruppen
zusammen.
Der Mayday
Mit dem Konzept des Mayday der
Gruppe Fels wurden erstmals 2005
explizit prekär Beschäftigte angesprochen
und bis zu 5 000 Menschen
mobilisiert. Weder revolutionäre
Parolen noch klassische autonome
Protestformen wollten die Veranstalter
dabei übernehmen. Mit betont
unmilitantem Auftreten und vielen
Techno-Trucks sollte ein ganz neuer
politischer Ausdruck gefunden werden.
»Krawall war vorgestern. Ende
In den nuller Jahren wurde diese Demo, die
zwar explizit revolutionäre Inhalte,
aber kein militantes Auftreten hatte, immer
kleiner. So liefen 2010 kaum mehr
100 versprengte Revolutionäre durch die
Oranienstraße, woraufhin das Event
mangels Teilnehmern eingestellt wurde.
des Krawalls war gestern. Politische
Inhalte sind jetzt«, jubelte das Fels-
Mitglied Felix Lee in der Taz.
Das »Jetzt« endete 2009. Die Gruppe
Fels räumte selbstkritisch ein,
dass die eigenen Ansprüche nicht erfüllt
worden waren. In der radikalen
Linken war das Konzept schon vorher
umstritten: »So streiken sie woanders!«
plakatierten die Autokomms
2008 als Antwort auf das Motto »Be.
Strike. Berlin!« mit Bildern von mit
Steinschleudern bewaffneten vermummten
Hafen- und Bergarbeitern
aus Südeuropa.
Der Grunewald
Anders als der Mayday nicht als Konkurrenz,
sondern eher als Ergänzung
zur abendlichen Großdemonstrationen
können die Protestaktionen im
»Problemkiez« Grunewald betrachtet
werden. Eher von realdadaistischen
und ökosozialistischen Kräften getragen,
wurde hier ab dem Ende der
zehner Jahre in satirischer Form die
ungleiche Vermögensverteilung angegriffen.
Zuwachs bekamen die Aktionen
vor allem in den Pandemiejahren
durch Fahrraddemonstrationen
aus ärmeren Stadtteilen, die
dann über die A 100, deren Verlängerung
noch immer droht, zur 18-Uhr-
Demo führten.
Die 18-Uhr-Demo
Nach den Vorkommnissen 1993 zogen
sich große Teile der Autonomen in
den Jahren 1994 und 1995 erst einmal
von 1. Mai zurück. 1996 kamen sie
zurück – und es wurde nun auch dem
Letzten klar, dass die achtziger Jahre
vorbei waren. Maßgeblich geprägt
wurde diese 13-Uhr-Demo nun von
der AAB. Diese verstand es überaus
geschickt, im unpolitischen Geist
der neunziger Jahre nach dem vielzitierten
»Ende der Geschichte« massentaugliche
linksradikale Politik zu
machen. Die Parolen wurden weniger
traditionalistisch und stärker
popkulturell geprägt (»Enough is
enough!«, »Für ein Ende der Gewalt!«,
»Macht verrückt, was euch verrückt
macht!«), mit dem Design hätte man
sich bei MTV bewerben können, es
traten namhafte Popmusiker auf und
inhaltlich wurde eine gewisse Uneindeutigkeit
bewahrt. Das weckte durchaus
Interesse. Das Symbol für diesen
Umbruch war der Truck. Viele andere
linksradikale Gruppen sahen darin
ein Zeichen der Entpolitisierung in
Richtung einer »autonomen Love Parade«.
Die unorganisierten Teilnehmer
waren weniger kritisch. Erstmals
seit 1993 kamen wieder bis zu 15 000
Demonstranten am 1. Mai zusammen.
Der 1. Mai 1987 war dabei jedoch
nicht mehr der dominierende Bezugspunkt.
Die Demonstration begann
am Rosa-Luxemburg-Platz. Und seit
1998 um 18 Uhr. Begründet wurde
das mit den Anti-Nazi-Aktivitäten am
Vormittag, doch die größere zeitliche
Nähe zu den abendlichen Ausschreitungen
hat der Popularität dieses
Events definitiv nicht geschadet.
1999, im Jahr der Nato-Intervention
in Jugoslawien und der Verhaftung
des PKK-Führers Abdullah Öcalan,
vereinigte man sich mit antiimperialistischen
und kommunistischen
Gruppen, die bisher um 13 Uhr demonstrierten,
um 18 Uhr in Kreuzberg.
Der AAB-Truck fuhr auf, Tausende
folgten, Atari Teenage Riot
spielten, die Einsatzkräfte rannten
am Kottbusser Damm davon, aber
dann hatte Innensenator Eckart Werthebach
(CDU) genug. 2000 verordne-
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27. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 21 ∎∎∎ ESSAY
te er der Demonstration mit dem
Motto »Imperialistische Zentren angreifen!
Soziale Revolution weltweit!«
sehr strenge Auflagen. 2001
dann verbot er die 18-Uhr-Demonstration
– und ließ die Nazis am
Morgen gewähren.
Das gab einen mächtigen Mobilisierungsschub.
Schon im Vorjahr
hatte der Vertreter der Autokomms
auf einer Pressekonferenz gesagt:
»Sei es, dass U-Bahnen abgesperrt
werden, dass hier Leute nicht nach
Kreuzberg einreisen können, dass
hier überall Straßenkontrollen stattfinden,
dass Leute abgewiesen werden,
dass Leute an den Straßenkontrollen
festgenommen werden, wie
wir es in den vergangenen Jahren erlebt
haben – das führt sicherlich
immer dazu, dass die Stimmung aggressiv
wird!«
Worte, die 2001 dann ergänzt wurden
durch: »Die Kreuzberger Bevölkerung
wird den Stadtteil den ganzen
Tag über besetzt halten, wird sich
den Aufforderungen der Polizei, nicht
nach Kreuzberg zu fahren, nicht hier
zu sein, widersetzen. Wir stellen uns
gegen den Polizeistaat einen wandernden
Kessel von Menschenansammlungen
vor ganz nach dem
Beispiel, wie es in Jugoslawien gewesen
ist, wo Tausende Bürger die Brücken
besetzt haben, um sich vor den
Nato-Bombern als menschlicher
Schutzschild in der Öffentlichkeit zu
präsentieren!«
Und so war es dann auch. 2001 fiel
die 18-Uhr-Demo aus, aber der Verlauf
des gesamten Tages wurde in der
radikalen Linken als großer Sieg
gefeiert. In stundenlangen Straßenschlachten
wurde der Kreuzberger
Mariannenplatz gegen die Polizei verteidigt.
Es waren nicht die von Werthebach
angekündigten »weniger
schlimmen Krawalle als in den Vorjahren«,
sondern die schwersten
Ausschreitungen seit zehn Jahren in
der Stadt und wahrscheinlich der bedeutendste
Fall von Kooperation zwischen
organisierten Linksradikalen
und Kreuzberger Bevölkerung seit
1989. Oder wie Ivo Bozic in der Jungle
World (19/2001) schrieb: »Dieses Jahr
(stand) offenbar der ganze Kiez hinter
den Steinewerfern.« 2002 dann gab
es kein Demoverbot.
Das AAB-Erfolgskonzept ging bald
nicht mehr auf. Mit dem 11. September
waren nicht nur die hedonistischen
neunziger Jahre unwiderruflich vorbei,
auch die Antifa verlor ihre Einheitlichkeit.
Der neue Fokus auf den
Konflikten im Nahen Osten spaltete
die Bewegung. In Berlin löste sich die
AAB zwei Tage vor der riesigen
Demonstration gegen den Irak-Krieg
2003 auf und spaltete sich. Der definitiv
aktionsorientierte, tendenziell
eher internationalistische und teilweise
sozialpopulistische Flügel der
Antifaschistischen Linken Berlin
(ALB) mobilisierte um 15 Uhr zum
Oranienplatz, der diskursorientierte,
eher antideutsch und teilweise wertkritisch
geprägte Flügel von Kritik und
Praxis (KP) stellte sich in die Tradition
der 18-Uhr-Demo am Rosa-Luxemburg-Platz
(und ließ dort pikanterweise
die Band Mia spielen, die noch im
selben Jahr mit »Was es ist« einen patriotischen
Gassenhauer veröffentlichte).
Das Motto »Nie wieder Frieden!«
zog aber weniger Menschen als
in den Vorjahren an, die 15-Uhr-Demo
war deutlich größer. Und während
im Aufruf der Irak-Krieg ähnlich wie
die deutsche Opposition dazu abgelehnt
wurde (»Unsere Kritik gilt einem
aus Hegemonialinteressen geführten
Krieg und einem aus Hegemonialinteressen
beschworenen
Frieden«), ließ es sich die bis dato eher
weniger aktivistische Redaktion Bahamas
nicht nehmen, mit USA- und
Israel-Fahnen an einem Block teilzunehmen.
Folgenlos blieb die Ankündigung
des B.A.N.G.-Pressesprechers
Gunnar Krüger, der laut Bahamas-
Redakteur Justus Wertmüller schon
wegen »Äußerlichkeiten« eine Unerträglichkeit
darstellte, die Demo anzugreifen,
sollten USA-Fahnen mitgeführt
werden.
1994 brachten die zeitweise in der Bezirksverordnetenversammlung
vertretenen
Kreuzberger Patriotische Demokraten /
Realistisches Zentrum (KPD/RZ) unter dem
Motto »Gegen nächtliche Ruhestörung
und sinnlose Gewalt!« etwa 2 500 Leute auf
die Straßen.
Mitte der nuller Jahre ließ dann
aber nicht nur die KP, sondern auch
die ALB den 1. Mai links liegen und
konzentrierte sich auf ihre Antifa-
Aktivitäten, was die Beteiligung an
1.-Mai-Aktivitäten erheblich schwächte.
Um 18 Uhr wurde nun unter dem
Motto »Kein Krieg! Kein Hartz! Kein
Demoverbot! 1. Mai – Straße frei!«
unangemeldet aus dem Straßenfest
»Myfest« heraus demonstriert, was in
der Szene als Erfolg verbucht wurde.
Die Größe der legalen Demo wurde
jedoch nicht erreicht und auch Zahl
und Schwere der militanten Auseinandersetzungen
gingen stark zurück.
2007 kehrte die ALB kurz vor dem
Rostocker G8-Gipfel zurück und organisierte
gemeinsam mit der Antifaschistischen
Revolutionären Aktion
Berlin (ARAB) federführend die alljährliche
Demonstration, bis sich beide
Gruppen auflösten und die maßgeblich
von ehemaligen Mitgliedern
beider Gruppen geprägte Radikale
Linke Berlin (RLB) übernahm. Mediales
Aufsehen erhielt die Demo durch
ihre Anmelder. 2008 war es Ralf Reinders,
ehemals Mitglied der Bewegung
2. Juni, der die Boulevardpresse
ebenso hyperventilieren ließ wie die
Anwesenheit von Inge Viett (ehemals
Bewegung 2. Juni und RAF) im Frontblock
der Demo im Jahr zuvor.
2009 titelte die B.Z. mit einem Porträt
von Kirill Jermak, der für die
Linkspartei in der Bezirksverordnetenversammlung
Lichtenberg saß: »Dieser
Linke-Politiker führt Krawall-
Demo an!« Heiko Werning kommentierte
die Personalie in der Taz: »So
sind sie, die Berliner Revolutionäre:
Lassen ihre Demo von einem Mitglied
der Regierungspartei anmelden!«
Doch so viel humorvolle Gelassenheit
blieb die Ausnahme. »Wer
stoppt diese Irren?« titelte die B.Z.
mit den Konterfeis aller Teilnehmer
der Pressekonferenz kurz vor der
Demonstration.
Und auch dort hielt man nichts von
verbaler Deeskalation: »Die Bullen
haben in Kreuzberg am 1. Mai nichts
zu suchen«, so ein Vertreter der Autonomen
im Hugo-Chávez-Shirt mit
Che-Guevara-Mütze. »Wir sehen uns
in der Tradition des Blutmais«, also
der von der Polizei mit Schusswaffen
aufgelösten Mai-Demonstration der
KPD 1929 mit 33 Toten, ergänzte der
ARAB-Vertreter. Aus dem klassenkämpferischen
Block heraus wurde
dem DGB-Vorsitzenden Michael
Sommer widersprochen: »Wir wollen
soziale Unruhen und wollen alles
dafür tun.« Die 18-Uhr-Demo mit dem
Motto »Kapitalismus heißt Krieg und
Krise!« war 2009 dann vielleicht
nicht größer als in den Vorjahren,
aber deutlich militanter. Es kam
schon während der Demonstration
zu Angriffen auf die Polizei.
Seither ziehen in schlechten Jahren
5 000, in guten Jahren 20 000 Menschen
durch Kreuzberg, teilweise mit
dem Ziel, in den Bezirk Mitte zu
gelangen. Immer wieder hieß es, die
Demonstration müsse endlich ins
»Zentrum der Macht« geführt werden.
In einigen Jahren wurde das
auch gemacht. Die Folge war, dass es
entweder zu heftigen Polizeieinsätzen
gegen die im östlichen Stadtzentrum
völlig isolierten Teilnehmer
kam (1994), deutlich weniger Leute
kamen (2004) oder eine riesige Masse
relativ leise an einem Feiertag in einer
völlig leeren Einkaufsmeile herumstand
(2013). »Als wäre es ein
Ostermarsch gewesen«, lästerte die
Taz. Die Autokomms hatten noch
zuvor auf der Plattform Indymedia
den Gang nach Mitte kritisiert. Man
müsse in den Kiezen bleiben, wo man
Rückhalt habe und die Kämpfe stattfänden.
Widerlegt wurden sie nicht. 2019
ging es auch aus Solidarität mit dem
besetzten Haus in der Rigaer Straße
94 nach Friedrichshain. Seit 2021
startet man in Neukölln. In all den
Jahren haben sich die Zusammensetzung
des Bündnisses und dessen politische
Inhalte verändert. Waren diese
Anfänge der zehner Jahre noch stark
von der Wirtschafts- und Euro-Krise
geprägt, wurden durch den Syrien-
Krieg und die darauffolgenden Fluchtbewegungen
ab Mitte des Jahrzehnts
antirassistische und internationalistische
Kämpfe zum Thema. Aus Protest
gegen die Teilnahme der antiisraelischen
Bewegung BDS (Boycott,
Divestment & Sanctions) verließ die
innerhalb des Bündnisses eher randständige
Kleinpartei Ökolinx (Ökologische
Linke) das Bündnis. Sie ist in
Berlin zwar von überschaubarer Größe,
stellte aber mit Jutta Ditfurth
eine prominente Rednerin.
2021 dominierte die Migrantifa die
Demonstration und den Frontblock.
Ungewöhnlich viele migrantische
Teilnehmer und ebenfalls nicht wenige
kurdische und palästinensische
Fahnen prägten diesen. Die Bahamas
schrieb von einer Wiederkehr des
eigentlich schon abgewendeten »Unheils«
in Form eben jener »Palästina-
Fahnen, Apartheidsvorwürfe und garantiert
aus Israel stammenden Berliner
Antifaschisten, die dem Spuk
ihren jüdischen Segen gaben«. In der
Jungle World (17/2021) hieß es, die
von dem Bündnis propagierte Öffnung
stärke »auch antizionistische
und antisemitische Positionen«.
Man muss nicht immer in die Ferne
schweifen, auch das hiesige (Dienstleistungs-)Proletariat
ist als revolutionäres
Subjekt keineswegs abgeschrieben.
Das diesjährige Plakat zieren in
zeitgemäßer intersektionaler Diversität
unter anderem Kurierfahrer,
Krankenpflegerinnen, Kassiererinnen
und Briefzusteller. Selbst der im
vergangenen Jahr von dem aus dem
RLB-Umfeld hervorgegangenen
Bund der Kommunist:innen (BdK)
plakatierte Bauarbeiter mit gelbem
Helm tauchte wieder auf. Der anarchistische
Block wuchs voriges Jahr
auf über 1 000 Teilnehmende und
könnte damit eventuell den Platz
einnehmen, den Antiimps und Autonome
bis Mitte der Neunziger und
vor allem Antifas in den darauffolgenden
Jahrzehnten hatten.
Peng
Der Urknall war 1987. Autonome kippten
eine Wanne um, die Polizei griff
daraufhin das Straßenfest am Lausitzer
Platz an, war von der Gegenwehr
völlig überwältigt und zog sich stundenlang
aus Kreuzberg zurück. Über
30 Geschäfte wurden geplündert.
Die »Bolle«-Filiale am Görlitzer Bahnhof
brannte aus.
Bei den Autonomen herrschte große
Euphorie, aber auch Erschrecken. In
dieser anarchischen Nacht gab es Körperverletzungen
und sexuelle Übergriffe
unter den Beteiligten, nicht selten
durch Betrunkene. Vom »Aufstand
der Arschlöcher« (Radikal) sprach
aber nur eine kleine Minderheit. Auch
die damalige Alternative Liste (AL)
konnte sich nicht eindeutig distanzieren,
zu deutlich wurde die sozialpolitische
Dimension dieses Aufstands.
In der Regierung angekommen,
versuchte sich die AL 1989 auch an
einem deeskalierenden Konzept.
»Hier spricht die Polizei. Bitte unterlassen
Sie das Bewerfen der Einsatzkräfte
mit Steinen«, hieß es auf der
Demo. Bis zu 1 500 Personen war das
allerdings egal, zu präsent war die
Polizeigewalt der vergangenen Jahre,
da blieb kein Raum für parteipolitisches
Kalkül. Außerdem konnte man
auf diese Weise zeigen, dass auch ein
SPD/AL-Senat nichts an der Notwendigkeit
militanter Aktionen änderte.
Manche Beobachter vermuteten indes,
die Polizei hätte den SPD/AL-Senat
auflaufen lassen wollen, indem man
die Randale zuließ. So nahm der
Abend seinen Lauf. »Beirut? Das ist
Berlin!« hieß es am Tag danach in
der B.Z. »Eine Schande für die Linke«,
titelte die Taz.
In den Neunzigern flauten die Ausschreitungen
deutlich ab, auch wenn
diese nun teilweise auch Friedrichshain
und den Prenzlauer Berg erreichten.
Doch es kam an jedem 1. Mai
in irgendeiner Form zu Auseinandersetzungen,
die 2001 dann noch einmal
einen neuen Höhepunkt erreichten.
Mit dem Myfest änderte sich das
Bild. Während CDU-Innensenatoren
viele Teilnehmer noch zum Steinwurf
animierten, schaffte es der rot-rote
Senat in Zusammenarbeit mit den
Kreuzberger Grünen, die Lage dauerhaft
zu entspannen. Das Myfest
unterschied sich von anderen linken
Straßenfesten in Kreuzberg, Friedrichshain
oder dem Prenzlauer Berg.
Diese Feste, an denen Autonome
und Kommunisten, die PDS/Die Linke
Gerade die nicht übermäßig wohlhabenden,
aber geschäftstüchtigen Teile der
oft migrantisch geprägten Bevölkerung
verkauften lieber überteuertes Dosenbier
oder orientalische Spezialitäten, als
sich den Straßenschlachten anzuschließen.
und die Grünen teilnahmen, hatten
einen klar politischen Charakter
und endeten teilweise auch im Tränengas.
Das Myfest war anders. Es bot als
eine Art leicht alternativer Vergnügungspark
vielfältige Unterhaltungsund
Verdienstmöglichkeiten. Gerade
die nicht übermäßig wohlhabenden,
aber geschäftstüchtigen Teile
der oft migrantisch geprägten Bevölkerung
verkauften lieber überteuertes
Dosenbier oder orientalische Spezialitäten,
als sich Straßenschlachten
anzuschließen. Die wieder aufflammenden
Ausschreitungen in den
Jahren 2009 und 2021 gingen ausschließlich
von der Demonstration
aus. Die Kreuzberger ließen sich
nicht zum Mitmachen animieren.
In diesem Jahr fällt das Myfest aus,
da der Veranstalter aufgegeben hat.
Ein sogenanntes Multikulti-Musikprogramm
soll das Publikum vom
Steinewerfen abhalten. Doch von den
Kreuzbergern droht ohnehin kaum
mehr Ungemach. Auch wenn die
Autokomms mit ihrer Ankündigung
»Hohe Mieten in Kreuzberg? Nicht
mit uns, ihr Schweine!« noch an eingefleischte
Häuserkämpfer appellieren,
ist das im Bezirk lebende Klientel
doch längst ein anderes. Inzwischen
weist Kreuzberg mit die teuersten
Mieten Berlins bei Neuvermietungen
auf und verliert den Ruf, der »linkeste«
Stadtteil zu sein, nicht nur den
Wahlergebnissen nach immer deutlicher
an das nördliche Neukölln. Dorthin
orientiert sich mittlerweile auch
die Demonstration.
Zwar provozierte die CDU-Fraktion
im Abgeordnetenhaus viele, als sie
die Vornamen der Tatverdächtigen
der Silvesternacht-Ausschreitungen
erfragen wollte. Es ist aber sehr unwahrscheinlich,
dass der designierte
Regierende Bürgermeister Kai Wegner
(CDU) derart stark zur diesjährigen
Mobilisierung beiträgt, wie das
sein Parteikollege Eberhard Diepgen
noch im Jahr 2001 vermochte.
Der »dschungel« gehört zur Wochenzeitung Jungle World.
Herausgegeben von Doris Akrap, Bernd Beier, Christiane Bischoff, Ivo Bozic,
Tilman Clauß, An dreas Dietl, Irene Eidinger, Holm Friebe, Richard Götz, Martin
Hauptmann, Holger Hegmanns, Holger Hinterseher, Julia Hoffmann, Sarah
Käsmayr, Stefanie Kron, Anton Landgraf, Federica Matteoni, Carl Melchers,
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Ströhlein, Isabel Teusch, Nicole Tomasek, Udo Tremmel, Sam Tyson, Wolf-Dieter
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Redaktion CvD Bernd Beier (V.i.S.d.P.) (030) 747 86 26 60 Feuilleton Heike
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Tyson (030) 747 86 26 75 Lektorat Oliver Schott, Uli Krug (030) 747 86 26 70
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Geschäftsführung Christine Pfeifer, Irene Eidinger (030) 747 86 26 45
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