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Verstrahlt, bekifft, verkackt
Die Summens. Isabelle Huppert, Judith Hermann und Carsten Meyer lassen sich nicht
einschüchtern. Von Gabriele Summen und Maurice Summen
Wir haben alles verkackt! Das singt
Carsten »Erobique« Meyer auf der
neuen Single-Auskopplung seines
im Juni erscheinenden Albums
»No. 2«. Die lebende Discokugel erfreut
uns seit nunmehr 25 Jahren
mit herausragendem Live-Entertainment
zwischen Hamilton Bohannon
und Helge Schneider. Der Song
erinnert in der Melodieführung
ein wenig an »Family Affair« von
Sly &14 The Family Stone und bringt
die gesamtgesellschaftliche Lage
hervorragend auf den Punkt.
Aber es gibt Hoffnung! Deutsche
home growers dürfen demnächst
ganz legal dafür sorgen, dass wir angenehm
betäubt zu Erobiques Dystopie-Disco
die Hüften schwingen
können. Dazu müssen ein paar
Das Schrippenrätsel
Das Medium. Von Elke Wittich
Kiffer:innen allerdings erst einen
Cannabis-Social-Club gründen! Warum
hat die FDP eigentlich nicht verlangt,
dass unser künftiges Cannabis-Business
an die Börse geht? Ganz
nach amerikanischem Vorbild! Kiffen
für noch mehr Profit des oberen
einen Prozents!
Nicht von den Mächtigen beeindrucken
lässt sich Isabelle Huppert
in dem Politthriller »Die Gewerkschafterin«,
der auf wahren Begebenheiten
beruht: Als Sprachrohr der
Belegschaft des Atomkonzerns Areva
deckt sie in der Rolle der kämpferischen
Irin Maureen Kearney Machenschaften
in der französischen Atomindustrie
auf. Die Einschüchterungsversuche
gipfeln in einer Vergewaltigung.
Da sie sich aber nicht wie ein
typisches Opfer
verhält, zweifelt die
Polizei an ihrer
Glaubwürdigkeit.
Auch dem Publikum
kommen Zweifel;
frauenfeindliche Einstellungen
sind eben in uns alle
eingeschrieben. Trotz dramaturgischer
Schwächen sehenswert.
Und es gibt auch endlich wieder
ein neues Buch von Judith Hermann!
»Wir hätten uns alles gesagt«
beinhaltet zum einen ihre Frankfurter
Poetikvorlesungen. Aber die Berliner
Autorin nimmt sich auch mal
wieder mit traumwandlerischer
Schwere alle Freiheiten und erzählt
Geschichten. Da begegnet ein literarisches
Judith-Hermann-Double
nachts seinem
Psychoanalytiker
oder trifft Gestalten,
mit
denen die Erzählerin
Ende
der Neunziger in
»Sommerhaus, später«
abgehangen hat. Wie
nebenbei reflektiert Hermann das
Schreiben von Geschichten, in deren
Zentrum »ein schwarzes Loch ist,
aber es ist nicht schwarz, und es ist
nicht finster. Es kann im besten
Falle glühen.« Ja, glühen wie die neue
Single von Dexys, die den Zusatz
Midnight Runners abgelegt haben,
auf Repeat: »I’m Going to Get Free.«
Kevin Rowland bleibt ein leuchtender
Stern.
Unermüdlicher Avantgardist
Platte Buch. Von Jana Sotzko
Der analoge Mann
Aus Kreuzberg und der Welt: Selbständiger Finanz-Coach. Von Andreas Michalke
Was bisher geschah: Julia
und Andi haben plötzlich einen
Sohn. Der Sohn verhält
sich irgendwie verdächtig,
deshalb verfolgt Julia ihn bis
zum Stadtrand. An der Tür
eines Einfamilienhauses hört
sie, wie der Sohn die Bewohnerin
mit »Hallo Mama«
begrüßt … Als der Sohn am
nächsten Morgen das Haus
verlässt, klingelt sie an der
Tür. Die beiden Frauen stellen
fest, dass sie nicht die
einzigen Mütter des Sohnes
sind.
Zurück zum Computerspiel »Second Life«. Wo man
nicht unbedingt mit offenen Armen auf Userinnen
wartet, die sich zuletzt vor fünfzehnnochwas Jahren
eingeloggt haben und entsprechend nun weder
ihre damals angegebene E-Mail-Adresse, ihr Passwort
noch ihren Nick wissen.
Den immerhin wohl noch existierenden Account wieder in Besitz
zu nehmen, dauert. Lange. Sehr lange. Was vielleicht daran
liegt, dass damals, als man »Second Life« nach nicht allzu ausgiebigem
Ausprobieren den Rücken kehrte, eine Welt hinter sich ließ,
in der mit virtuellen Grundstücken Millionen verdient wurden
und alles unfassbar hip und großartig war. Entsprechend groß
sind die Sicherheitsvorkehrungen, wäre ja nicht auszudenken,
wenn sich jemand Neues einfach so in das Zweitleben-Universum
einschleichen würde.
Nach sehr ununterhaltsamen Prozeduren ist es endlich so weit:
Der Account von »Elquee Littleboots« kann wieder in Besitz genommen
werden. Littleboots? Meine Güte, was hatte man sich
denn dabei gedacht? Man weiß es nicht mehr, vielleicht war es
aber auch so, dass die Nachnamen irgendwie vorgegeben waren,
was wahrscheinlicher klingt, als dass man sich tatsächlich so einen
bekloppten Zunamen ausgesucht hatte. Der Rest ist schnell erzählt:
Elquee Littleboots hat nix, sieht nicht aus und kann nix, sondern
ist einfach bloß da. Mutmaßlich muss man jetzt irgendwas
tun, aber die richtige Welt hält da sehr viel Interessanteres bereit.
Wie zum Beispiel das Schrippenrätsel zu lösen. Während der
Pressekonferenz der Berliner SPD zum Thema Mitgliederbefragung
am Sonntag schwenkte die Kamera nämlich ganz kurz zu
einem Teller mit belegten Brötchen für die Medienleute. Es wirkte
so, als seien es hauptsächlich mit Käse belegte Schrippen, was
auch der Kollege vom ND so gesehen hat, aber wichtig sind in
solchen Fällen ja vor allem die Deko-Details: Tomaten, ja oder
nein? Paprikastreifen? Petersilie? Oder kleine Salzbrezeln? Wir werden
es wohl nie erfahren.
»I’m looking for mercy / More and
more« lautet die Schlüsselzeile in
»Mercy«, Eröffnungstitel von John Cales
gleichnamigen, bereits im Januar
erschienenen neuen Album. Immer
kälter werden die Lyrics, die Wölfe
heulen und Leben enden. Alles hier –
und so wird es sich durch die insgesamt
zwölf Tracks ziehen – bewegt sich
gen Abgrund in die Dunkelheit.
Dass der 81jährige Cale auf seinem
17. Studioalbum keine gemütliche Retronummer
veranstalten würde, war
abzusehen, wie halluzinatorisch dräuend
die lang angekündigte Platte jedoch
ausgefallen ist, überrascht dann
doch. Für die Apokalypse in einer
Stunde und elf Minuten hat der Avantgarde-Pionier
mit einer ganzen Reihe
junger Produzentinnen und Produzenten
zusammengearbeitet, darunter
Weyes Blood, Laurel Halo und
Actress. Ihr Dazutun und die hörbar
von vielen unerfreulichen Ereignissen
der vergangenen Jahre – von der
Regierungszeit Donald
Trumps über den Klimawandel
bis zu Covid-19
und »Brexit« – beeinflussten
Texte verankern
»Mercy« im Hier und
Jetzt. Was dem unermüdlichen
Avantgardisten
Cale dabei bisweilen verlorengeht,
sind sein großartiges
Songwriting und die Schärfe, die aus
der Reibung von Elektronik und
akustischen Instrumenten entsteht
und etwa auf dem Vorgänger »Shifty
Adventures in Nookie Wood« noch intensiv
zu hören war. Cales ohnehin
recht sonore Stimme versinkt zuweilen
in einem Meer aus Hall und endlos
gestapelten Klangflächen, Beats
verschleppen sich in ereignislosen
Loops. Das kann auf Dauer ermüden,
diese musikalische Atmosphäre der
Überforderung passt aber wiederum
gut zu einer ermüdenden Gegenwart.
Niemals wird John Cale – der es sich
angesichts seiner Diskographie ja
erlauben könnte – auf »Mercy« zum
altersweisen Nostalgiker, vielmehr
bleibt er sperrig und eigenbrötlerisch.
Die besten Momenten des Albums
sind dennoch jene, in denen aus dem
zähen Klangstrom einzelne Elemente
herausragen, etwa Natalie Merings
Stimme in »Story of Blood«, die
Streicher-Arrangements
in »Nico’s Song« oder
die gewohnt verfrickelten
Soundcollagen von Animal
Collective in »Everlasting
Days«.
John Cale: Mercy (Domino)
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