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Marie Vairon, Gewerkschaftssekretärin, über die

Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich:

»Besonders

geschlossen und

selbstbewusst«

Seit drei Monaten kommt es in

Frankreich landesweit zu Streiks und

Demonstrationen gegen die geplante

Rentenreform. Warum dauern

die Unruhen so lange an?

Die Rentenfrage ist in Frankreich seit

jeher ein sehr sensibles Thema. Schon

1995 und 2019 stießen Pläne, die Zahl

der für eine abschlagsfreie Rente nötigen

Beitragsjahre zu erhöhen, auf

großen Widerstand. Während der derzeitigen

Proteste lässt sich allerdings

ein besonders geschlossenes und selbstbewusstes

Auftreten der Gewerkschaften

beobachten. Die Zustimmung

zu dieser Reform ist verschwindend

gering, und das gilt übrigens nicht nur

für Arbeiterinnen und Arbeiter, denn

es sind auch sehr viele Rentner auf der

Straße.

Es gehen also nicht nur diejenigen

auf die Straße, die direkt von der

Reform betroffen sind?

Nein. Neben vielen Rentnern haben

sich auch Studenten und Arbeitslose

den Protesten angeschlossen. Das ist

in Frankreich zwar keine Seltenheit, Präsident

Emmanuel Macron hat es dennoch

geschafft, verschiedene Interessengruppen,

unabhängig von ihrem

beruflichen Status, ihrem Alter und ihrer

Lebenslage, gegen seine Politik

aufzubringen. Ich habe völlig unterschiedliche

Demonstrationen gesehen,

bei denen Leute zusammenkamen, die

sonst nie zusammengefunden hätten.

Ich komme aus einer kleinen Stadt im

Département Drôme. Dort hat sich ein

Streikkomitee gegründet, an dem die

Gewerkschaften zwar beteiligt sind, aber

nicht federführend. Es sind Menschen,

die sich das erste Mal in ihrem

Leben an Streiks beteiligen. Die Rentenreform

war für sie einfach zu viel.

Die meisten Franzosen wollen nicht

bis 64 arbeiten, insbesondere nicht unter

schlechten Arbeitsbedingungen.

Macron sagt, dass »diese Reform

kein Luxus, kein Vergnügen, sondern

eine Notwendigkeit für das

Land ist« und dass sie einem egalitären

Prinzip folge, indem sie das

Renteneintrittsalter für alle anhebt.

Würde die Rentenreform alle Franzosen

gleichermaßen betreffen?

Alle gleichermaßen bis 64 arbeiten zu

lassen, mag auf den ersten Blick egalitär

erscheinen. Die Realität sieht aber

völlig anders aus, denn natürlich hängen

die Bedingungen des Renteneintritts

eng mit der Klassenzugehörigkeit

zusammen. Wenn man in einem wohlhabenden

Umfeld aufgewachsen ist,

das einem ein Studium ermöglicht, das

einem die Türen zu gutbezahlten Berufen

öffnet, hat man andere Möglichkeiten,

um sich im Alter zu fi nan zie ren.

Gutverdienende können auf private

Rentensysteme umsteigen oder sich

durch Immobilien und ähnliche Anlagen

absichern. Das ist deutlich schwieriger,

wenn man aus der Arbeiterklasse

kommt und schon als Jugendlicher

anfängt, körperlich hart zu

arbeiten.

Vor diesem Hintergrund sind Frauen

besonders häufig Verlierer dieser Reform,

da sie mehrheitlich in Pflegeberufen

arbeiten, die nicht nur schlecht

bezahlt, sondern auch körperlich belastend

sind. Auch andere Jobs kann man

ab einem bestimmten Alter nicht mehr

ausüben, weil der Körper das nicht

mitmacht. Wir von Sud-PTT vertreten

viele Menschen bei der Post, wo es Arbeiten

gibt, die man mit über 60 kaum

mehr ausführen kann. Post- oder Paketboten

sind in diesem Alter körperlich

häufig völlig lädiert: 400 Mal am

Tag ins Auto ein- und aussteigen, Pakete

heben und so weiter. Schon ab einem

Alter von 50 Jahren beobachten wir

vermehrt Schwierigkeiten bei den Mitarbeitern,

die zu immer mehr Krankschreibungen

und Fehlzeiten führen.

Aus diesem Grund trifft diese Rentenreform

Arme härter als Reiche und verstärkt

Ungleichheiten.

»Erst kürzlich wurden am Rande

einer Demonstration in der Bretagne

wieder vier Gewerkschafter mit

Reizgas angegriffen, geschlagen und

mit einer Schusswaffe bedroht.«

Sehen Sie einen Zusammenhang

zwischen dem Kampf gegen die

Rentenreform und anderen sozialen

Konflikten?

Bei Sud-PTT sind wir davon überzeugt,

dass sich in Wirklichkeit gerade allgemeiner

Unmut äußert. Das hat man

bei den Gelbwesten, aber auch bei

anderen Protesten gesehen, wie etwa in

den Raffinerien Ende letzten Jahres.

Es geht häufig um Arbeitsbedingungen,

insbesondere um Löhne. Es heißt, die

Menschen müssten länger arbeiten, weil

das Geld fehle, und dass wir keine großen

Lohnerhöhungen verlangen dürften,

weil die Unternehmen nicht für

den Fortbestand des Wirtschaftssystems

sorgen könnten. Aber die Unternehmen,

in denen wir arbeiten, erwirtschaften

Gewinne wie noch nie.

Die Leute können diese Erklärungen

nicht mehr hören. Die Streiks und Proteste

haben unter den Arbeiterinnen

und Arbeitern wieder Verbindungen

und Austausch geschaffen. Es wird wieder

darüber debattiert, was Ausbeutung

bedeutet, wie Wohlstand entsteht

und wie er verteilt ist. Und am Ende

dieser Diskussionen steht immer die

Frage, wie alle weniger arbeiten müssen

und besser leben können.

Welche Rolle spielt Ihre Gewerkschaft

Sud-PTT in den Protesten und

wie unterscheiden sich die Gewerkschaften

in ihren Forderungen voneinander?

Es gibt zwangsläufig Unterschiede zwischen

den Gewerkschaften. In Frankreich

gibt es da eine recht große Spannbreite:

von den großen traditionellen

Gewerkschaften wie der CGT, CFDT oder

Force ouvrière zu den kleineren wie

Unsa oder Solidaires. Die Sud-PTT würde

man wohl weit links einordnen.

Das U in SUD steht aber für »unité«

(Einheit), denn wir sind uns sehr wohl

bewusst, dass wir nur dann etwas erreichen

können, wenn Gewerkschaften

eng zusammenarbeiten. Nur so lassen

sich jede Woche viele Menschen auf die

Straße bringen oder spontane Versammlungen

organisieren. Neben den

großen wöchentlichen

Marie Vairon ist Generalsekretärin der Gewerkschaft

Sud-PTT (Solidaires, Unitaires, Démocratiques – Postes,

Télégraphes et Télécommunications). Die gelernte

Bankkauffrau lebt im Süden des Département Drôme,

zwischen Marseille und Lyon, und arbeitet seit 15 Jahren

bei der Post. Seit 13 Jahren ist sie bei der Sud-PTT aktiv.

Die Gewerkschaft, die vor allem in den Branchen Post

und Telekommunikation vertreten ist, wurde 1988 von

ehemaligen Mitgliedern der CFDT gegründet, die aus

dieser Gewerkschaft ausgeschlossen worden waren,

nachdem sie wilde Streiks unterstützt hatten.

Kundgebungen brauchen

wir unbedingt auch dezentrale

und selbstorganisierte

Arbeitskämpfe. Der

Widerstand gegen die Rentenreform

ist für uns ein

erster Schritt und es sind

noch viele weitere Dinge zu

bekämpfen. Unser gewerkschaftliches

Anliegen ist die Selbstorganisation

der Arbeiterinnen und Arbeiter.

Umfragen des Meinungsforschungsinstituts

Ifop zufolge hätte Marine

Le Pen vom rechtsextremen Rassemblement

national derzeit die größten

Erfolgsaussichten bei einer Präsidentschaftswahl.

Wieso hat die

Rechte in dieser Situation so einen

Zulauf?

Zurzeit erleben wir zwar einen neuen

Höhepunkt im Aufstieg rechtsextremer

Parteien und ihrer Ideen, aber diese

Entwicklung hat schon früher begonnen.

Man sieht, dass die arbeiterfeindliche

Politik, die Macron wie auch

schon seine Vorgänger vorantreibt,

letztlich Wut schürt und Menschen für

die Rhetorik der extremen Rechten

empfänglich macht. Dieses Klima ist

auch für uns gefährlich: Erst kürzlich

wurden am Rande einer Demonstration

in der Bretagne (am 18. März 2023 in

Lorient, Anm. d. Red.) wieder vier Gewerkschafter

mit Reizgas angegriffen,

geschlagen und mit einer Schusswaffe

bedroht. Dieses neue Ausmaß an Gewaltbereitschaft

macht uns große Sorgen.

Und wir wissen, dass auch die

Gewerkschaften eine wichtige Rolle

spielen, um klarzustellen, dass die

Ideen der extremen Rechten keine Lösungen

für unsere Probleme sind.

Welche Rolle spielen Parteien für

die Proteste? Sehen die Demonstranten

und Streikenden ihre Interessen

durch Jean-Luc Mélenchon und

seine Partei La France insoumise

vertreten?

Die linken Arbeiterinnen und Arbeiter

fühlen sich von Mélenchon offenbar

stärker vertreten als von anderen linken

Politikern, was sich an den Wahlergebnissen

erkennen lässt. Wir sind

eine Gewerkschaft, die sich für politische

Veränderungen der Gesellschaft

einsetzt, aber dafür keine engere Bindung

an politische Parteien anstrebt.

Wir denken, dass unsere Aufgabe darin

besteht, den Arbeiterinnen und Arbeitern

zu helfen, sich zu organisieren

und das System zu verstehen, in dem

wir leben.

In der zweiten Runde der jüngsten

Präsidentschaftswahlen riefen

ei nige linke Politiker und Gewerkschafter

dazu auf, für Macron zu

stimmen, um die extreme Rechte zu

verhindern. Bereuen viele Macron-

Wähler mittlerweile ihre Entscheidung?

Ich glaube nicht, dass diejenigen, die

sehr von Macron überzeugt waren und

das von ihm vorangetriebene Projekt

wirklich unterstützt haben, heute besonders

enttäuscht sind. Seine Reformen

sind für seine Unterstützer keine

Überraschung. Ich glaube, dass Enttäuschung

und Wut vor allem bei den

Menschen zu finden sind, denen man

gesagt hat, sie sollen Macron wählen,

um Marine Le Pen zu verhindern. Das

ist nicht das erste Mal, dass man ihnen

unpopuläre Politik aufdrängt, um die

extreme Rechte zu verhindern.

Von dieser Stimmung profitiert Le

Pen. Denn was bringt es eigentlich, die

Rechte zu verhindern? Letztlich werden

wir zwei Jahre länger arbeiten. Und

auch die Polizeigewalt, mit der wir

derzeit konfrontiert sind, ist schockierend.

Man hat uns gebeten, die freiheitliche

Demokratie vor den Rechten

zu schützen, und am Ende ist es Macrons

Politik selbst, die diese Werte angreift.

Menschen, die Macron als kleineres

Übel gewählt haben, sind nun

dementsprechend wütend. Die Sud-

PTT bezieht Stellung gegen die Ideen

Le Pens und wir haben das zum Zeitpunkt

der Wahlen klar gesagt, aber ohne

zur Wahl aufzurufen, ohne für Macron

zu werben. Unsere Aufgabe ist es nicht,

den Arbeitern zu sagen, wen sie wählen

sollen, sondern sie davon zu überzeugen,

dass die extreme Rechte keine

vernünftige Lösung für ihre Probleme

bereithält.

Interview: Moritz Pitscheider

Foto: Privat

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

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