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Umstrittene Normen

Vor dem Obersten Gericht in Indien wird über die Legalisierung gleichgeschlechtlicher

Ehen verhandelt. Die Akzeptanz von Homosexualität

wächst, doch es gibt heftigen Widerstand.

Von Catharina Hänsel, Delhi

Shikhandi wurde als Mädchen geboren,

wollte aber immer ein Junge sein, lebte

wie einer und heiratete. Weil seine Gattin

unzufrieden war, unterzog er sich

einer Umwandlung, um das Geschlecht

eines Mannes anzunehmen. Die Geschichte

dieses mythischen Kämpfers

im antiken Epos Mahabharata zeigt

Geschlechterambivalenz im historischen

Hinduismus. Im heutigen Indien

hingegen ist sie heftig umstritten.

Nach geltendem Recht dürfen nur

heterosexuelle Paare heiraten. Dies

könnte sich nun ändern. Derzeit findet

am Obersten Gerichtshof in Neu-Delhi

die Hauptverhandlung über die Legalisierung

der Ehe für alle statt. Mukul

Rohatgi, einer der Anwälte der Antragstellenden,

argumentiert, dass heteronormative

Gesetze ein viktorianisches

Erbe widerspiegelten, das überwunden

werden müsse.

Seit dem 20. April ist Indien nach offiziellen

Statistiken das bevölkerungsreichste

Land der Erde – und auch die

Hochzeitsindustrie wächst. Allein für

das erste Halbjahr 2023 wird ein Umsatz

von 159 Milliarden US-Dollar prognostiziert.

Ein Blick in Magazine wie Vogue

zeigt, dass ein lukrativer Markt bei

Ehen für alle erwartet wird.

Als Kund:innen sind LGBT interessant,

als Wähler:innen allerdings weniger

– für die nationale Parlamentswahl

im kommenden Jahr gelten die

Stimmen der LGBT-Community nicht

als entscheidend. Die regierende hindunationalistische

Bharatiya Janata

Party (BJP) ist längst im Wahlkampfmodus,

ihre konservative Basis lässt

sich mit Ausgrenzung besser mobilisieren

als mit Liberalität. Tushar Mehta,

als Solicitor General Anwalt der Regierung

in diesem Verfahren, versuchte

bis zuletzt, den Beginn der Verhandlungen

vor dem Obersten Gericht zu verhindern.

Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

entsprächen nicht den sozialen

Normen Indiens, so das Argument.

Für die BJP sind die religiösen hinduistischen

Schriften eine wichtige politische

Legitimationsquelle. Dass es in

ihnen neben Shikhandi viele weitere

nicht binärgeschlechtliche Charaktere

und nicht heterosexuelle Partnerschaften

gibt, prägt die Normen der Partei

jedoch nicht. Vor Gericht sprachen

sich außer religiösen Oberhäuptern des

Hinduismus auch solche des Islam,

des Jainismus, des Sikhismus und des

Christentums in seltener Einmütigkeit

gegen die Ehe für alle aus – da Eheschließungen

zur Fortpflanzung dienten,

seien sie nur zwischen Männern

und Frauen statthaft. Die sozialen Normen

Indiens sind jedoch im Wandel.

In einer repräsentativen Umfrage des

Pew Research Center von 2020 sprachen

sich 37 Prozent der Befragten dafür

aus, Homosexualität zu akzeptieren,

22 Prozentpunkte mehr als sechs

Jahre zuvor.

Fortschritte in der Gesetzgebung hat

es bereits gegeben. Transgender-Personen

werden als solche seit 2014 rechtlich

anerkannt. 2018 legalisierte des

Oberste Gerichtshof gleichgeschlechtlichen

Sex, der zuvor nach Paragraph 377

des Strafgesetzbuchs als Vergehen bestraft

worden war. In vielen südasiatischen

Ländern, darunter Pakistan, Sri

Lanka und Bangladesh, gilt das aus der

Kolonialzeit stammende gesetzliche

Verbot der Homosexualität bis heute.

Eine der Anwältinnen, die den Paragraphen

377 in Indien zu Fall gebracht

haben, ist Menaka Guruswamy. In einem

Vortrag an der Universität Oxford

erklärte sie 2020, warum die Forderung

nach der Ehe für alle der

nächste logische Schritt sei: »Eheschließungen

sind sowohl aus sozialer als

auch als legaler Perspektive wichtig.«

Demnach biete die Ehe für alle Chancen,

die soziale Akzeptanz für die Partnerschaft

zu erhöhen. In Indien hätten

Hochzeiten einen enormen gesellschaftlichen

Stellenwert. Die Ehe für

alle würde außerdem Zugang zu Rechten

verschaffen, die Verheirateten vorbehalten

sind – zum Beispiel bei Krankenversicherung

und Landbesitz, im

Steuerrecht und möglicherweise sogar

bei Adoptionen.

Guruswamy und ihre Partnerin

Arundhati Katju treten daher auch im

vorliegenden Fall als Anwältinnen

auf. Sie fordern, dass der Special Marriages

Act von 1954 angepasst wird. Da r-

in soll nicht mehr von Männern und

Frauen, sondern von »Personen« die

Rede sein. Der Special Marriages Act

regelt die Ehe von Paaren, die nicht

unter religiösem Recht heiraten wollen

oder können. Die geforderte Änderung

würde den verfassungsrechtlichen

Schutz für Minderheiten stärken.

Das wird allerdings nicht zwangsläufig

für Gerechtigkeit sorgen. Die Soziologin

Paro Mishra vom Indraprashta

Institute of Information Technology

in Delhi weist im Gespräch mit Jungle

World auf die bestehenden patriarchalen

Strukturen hin. »Die Ehe ist eine

Vor Gericht sprachen sich religiöse

Oberhäupter des Hinduismus, des

Islam, des Jainismus, des Sikhismus

und des Christentums in seltener

Einmütigkeit gegen die Ehe für alle

aus.

ungleiche Institution, die auf einer

Autoritätsbeziehung basiert.« Bei Hochzeiten

gehe es schon immer um die

sexuelle Kontrolle von Frauen, etwa

durch arrangierte Ehen. Durch Praktiken

wie Mitgiftzahlungen solle sichergestellt

werden, dass bestimmte finanzielle

Ressourcen innerhalb der eigenen

sozialen Gruppen (etwa Kasten

oder Klassen) blieben. Zugespitzt ließe

sich die Frau also als Eigentum des

Mannes betrachten – so stehen auch

Vergewaltigungen in der Ehe in Indien

nicht unter Strafe. Weil diese patriarchalen

Strukturen weiterhin in breiten

Bevölkerungsschichten sozial anerkannt

seien, sei nicht automatisch gewährleistet,

dass alle Personen in

der Ehe die gleichen Rechte erhielten.

»Selbst wenn solche Ehen geschlossen

werden – ob sie etwa beim Mieten

einer Wohnung oder beim Hauskauf

mit heterosexuellen Partnerschaften

gleich gewertet werden, sei dahingestellt.«

Die Regierung bezeichnet die Reformforderungen

als Ausdruck einer »urbanen,

elitären Sichtweise«. Dabei zeigen

Studien des Forschungsprogramms

Lokniti am Centre for Developing Societies

gemeinsam mit der

Azim-Premji-Universität,

dass die Akzeptanz für nicht

heteronormative Formen der

Partnerschaft in ländlichen

Gebieten sogar leicht höher

liegt als in den Städten.

Die Stimmen von lesbischen

Fabrikarbeiterinnen,

Tagelöhnerinnen und Landarbeiterinnen

hatte die

Aktivistin Maya Sharma bereits in ihrem

Buch »Loving Women« (2006) eingefangen.

So auch die Geschichte der Polizistinnen

Urmila Srivastava und Leela

Namdeo, die bereits 1988 mit dem Einverständnis

beider Familien nach hinduistischem

Ritual heirateten. Das Glück

währte allerdings nur kurz – als ihr

Vorgesetzter davon erfuhr, verloren sie

beide ihre Arbeit und wanderten ins

Gefängnis.

Das Bedürfnis nach rechtlicher Absicherung

solcher Eheschließungen

durch das Oberste Gericht ist also groß.

Die Entscheidung wird für Anfang

Mai erwartet.

Der Gouverneur

macht sich mausig

Ron DeSantis, der republikanische Gouverneur von Florida, führt

einen Feldzug gegen den Disney, der bislang eher ihm geschadet hat als

dem Konzern.

Von Elke Wittich

Der hingebungsvolle Kleinkrieg, den

der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis,

seit rund einem Jahr gegen den

Disney-Konzern führt, brachte ihm bislang

bemerkenswert wenige Erfolge.

Angefangen hatte alles damit, dass Anfang

2022 ein Gesetz verabschiedet

wurde, das die Behandlung von Themen

wie Geschlechter oder sexuelle Orientierung

in Grundschulen generell untersagt.

Dazu müsste dann eigentlich

auch ein Verbot jeglicher Erwähnung

von Heterosexualität gehören, aber

das ist de facto nicht der Fall, denn das

Gesetz richtet sich gegen LGBT.

DeSantis, der zeitweise als aussichtsreicher

republikanischer Präsidentschaftskandidat

gehandelt wurde, war

einer der maßgeblichen Befürworter

des meist als »Don’t Say Gay«-Gesetz

bezeichneten Parental Rights in Education

Act. Zu dessen Kritikern gesellte

sich im März vorigen Jahres auch der

damalige Generaldirektor von Disney,

Bob Chapek. Das empörte DeSantis

offenkundig sehr, seither verbringt er

eine Menge Zeit damit, immer neue

Ideen zu entwickeln, um »woke Disney«

auf die Nerven zu gehen – ein Kulturkampf

gegen einen Konzern, der ihm

als besonders schlimmes Beispiel für

die angeblich wertezersetzende Politik

vieler US-Unternehmen gilt.

Eine der schönsten Niederlagen des

Gouverneurs begann damit, dass er

im Februar dieses Jahres die Mitglieder

des von Disney – immerhin größter

privater Arbeitgeber des Bundesstaats

Florida – kontrollierten Gremiums entließ,

das die Selbstverwaltungsrechte

des Konzerns im Gebiet der Themenparks

ausübt, und durch von ihm handverlesenen

ultrakonservative Republikaner

ersetzte. Damit hätte eigentlich

alles in DeSantis’ Sinn verlaufen müssen

– hätten sich die von ihm Abgesetzten

nicht einen Trick einfallen lassen,

mit dessen Hilfe die geplante reibungslose

republikanische Machtübernahme

verhindert wurde. In letzter Minute

setzten sie eine Klausel in das Dokument

über die Verwaltungsbefugnisse des

Konzerns, in der König Charles III. von

England vorkommt: Die jetzigen Bestimmungen

sollen demnach bis 21 Jahre

nach dem Tod von dessen letztem

Nachkommen gelten.

Solche sogenannten Königsklauseln

werden in den USA benutzt, um Vorschriften

gegen Verträge mit unbegrenzter

Laufzeit zu umgehen. Der Tageszeitung

The Guardian zufolge greift

man bei solchen Datierungen auf die

britischen Royals zurück, weil deren

Stammbaum sehr gut dokumentiert

ist und Mitglieder der königlichen

Familie oft sehr lange leben.

DeSantis war allerdings noch lange

nicht fertig mit Disney: Florida könne

sich gut vorstellen, ein Hochsicherheitsgefängnis

gleich neben dem Disney-Themenpark

zu bauen, sagte er.

Danach kam er auf eine andere Idee:

Alle Beschlüsse des von ihm abgesetzten

Vorstands wurden rückwirkend für

ungültig erklärt. Die komfortable Parlamentsmehrheit

der Republikaner

wurde am 19. April dazu genutzt, neue

Bestimmungen für Sondersteuerbezirke

wie jenen des Disney-Konzerns

durchzusetzen. Demnach kann die

Regierung ab sofort nach Gutdünken

alles, was Unternehmensvorstände in

einem Zeitraum von bis zu drei Monaten

vor der Verabschiedung neuer Gesetze

beschlossen, rückgängig machen.

Juristen gehen der Tageszeitung Miami

Herald zufolge allerdings davon aus,

dass diese Regelung verfassungswidrig

sei und mittelfristig keinen Bestand

haben werde.

Warum DeSantis die Idee des Gefängnisbaus

wieder fallen ließ, ist unklar,

allerdings wurde sie prompt durch eine

neue ersetzt. Nunmehr möchten der

Gouverneur und seine Partei gern sogenannte

cheap housing-Projekte neben

den Vergnügungsparks errichten, mutmaßlich

in der Hoffnung darauf, dass

Disney-Besucher es nicht schätzen würden,

bei der Anfahrt zu Micky Maus

mit dem Anblick von Armut konfrontiert

zu werden.

Allerdings sind nicht alle Republikaner

von DeSantis’ Kleinkrieg begeistert.

Chris Christie, ehemaliger Gouverneur

von New Jersey, der ebenfalls Präsidentschaftsambitionen

hat, nannte

den Angriff auf ein Privatunternehmen

»unkonservativ« und sagte, der Gouverneur

Floridas sei »nicht die Person,

die ich dabei sehen möchte, wie sie dem

chinesischen Präsidenten gegenübersitzt,

um unsere nächsten Verträge mit

ihm zu verhandeln«. Beziehungsweise

in Gesprächen mit Wladimir Putin versucht,

den Krieg in der Ukraine zu beenden:

»Wenn jemand die Fallen, die Disney

ihm in den Weg gestellt hat, nicht

erkennt, finde ich das nicht sehr imponierend.«

Der Demokrat Jon Cooper, ehemals

führender Spendensammler für Joe Bidens

Wahlkampagne, twitterte am Wochenende:

»Wenn Ron DeSantis im Wahlkampf

um die Präsidentschaftskandidatur

gegen Micky Maus antreten würde,

könnte seine idiotische Fehde mit

Disney World sinnvoll sein. Bedauerlicherweise

für ihn tut er das nicht.«

DeSantis’ Chancen, nächster Präsident

der Vereinigten Staaten von Amerika

zu werden, sinken weiter. Bei einer

Pressekonferenz anlässlich seines Japan-Besuchs

am Montag, der eigentlich

seine außenpolitische Kompetenz

zeigen sollte, wurde er gefragt, was er

zu den aktuellen Meinungsumfragen

sage, die ihn weit abgeschlagen hinter

Donald Trump zeigen. Er antwortete

mit zornverzerrtem Gesicht, dass er ja

noch kein offizieller Kandidat sei und

man abwarten solle, wann und ob sich

das ändere.

Das Video des bizarren Auftritts verschwand

jedoch wegen einer bedeutenderen

Personalie rasch aus den Nachrichten:

Am Montag wurde bekannt,

dass der Sender Fox News den Moderator

Tucker Carlson fristlos gefeuert

hat. Nicht wenige Experten meinen nun,

dass er zum Vizepräsidentschaftskandidaten

von Donald J. Trump werden

könnte. Carlson hatte DeSantis’ Feldzug

gegen Disney unterstützt, viele seiner

Fans machen den Konzern nun für die

Entlassung verantwortlich.

Anders als Ron DeSantis bleibt Micky Maus populär. Begrüßung im Magic Kingdom Park in Lake Buena Vista, Florida

picture alliance / Ted Shaffrey

Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

SEITE 13 ∎∎∎ AUSLAND

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