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Das neue
Geschlechterregime
2003 löste Tove Soiland den sogenannten Gender-Streit aus, nun sind einige ihrer Texte in einem Sammelband erschienen. Ausgehend
von Jaques Lacan und Luce Irigaray kritisiert sie darin das Geschlechterverhältnis, ohne bei Fragen nach Repräsentation stehenzubleiben.
Von Marco Kammholz
In den vergangenen Jahren hat sich
bei vielen linken und feministischen
Zusammenschlüssen eine eher ungewöhnliche
Praxis durchgesetzt: die
Pronomenrunde. Ob bei der persönlichen
Vorstellung, im Chat oder
beim Profilnamen in sozialen Medien,
eine wachsende Zahl an Personen
sieht sich dazu veranlasst, ihren
Mitmenschen explizit über das eigene
Geschlecht Auskunft zu geben.
Für die einen ist die Pronomenrunde
eine hilfreiche Unterstützung im
Zuge ihrer Geschlechtsangleichung,
für die anderen spielt sie dahingehend
eigentlich keinerlei Rolle. Sie
bietet aber auch eine Gelegenheit,
die eigene, vermeintlich geschlechterreflektierende
Tugendhaftigkeit zu
demonstrieren.
Nach der Lektüre von Texten der
schweizerischen feministischen Theoretikerin
Tove Soiland ist man geneigt,
die Frage nach dem Sinn von
solcherlei Sprachpraktiken auf eine
bei jüngeren Feministinnen vermutlich
eher unpopuläre Weise zu beantworten.
Die Pronomenrunde
könnte womöglich schlicht Ausdruck
der gegenwärtigen Sexualkultur
sein, »in der wir beständig dazu aufgerufen
sind, alle Facetten unseres
intimsten Seins offen und schamlos
zu entfalten«. Neun ihrer Texte sowie
drei Interviews sind nun im von
der Sozialwissenschaftlerin Anna
Hartmann herausgegebenen Sammelband
»Sexuelle Differenz. Feministisch-psychoanalytische
Perspektiven
auf die Gegenwart« erschienen.
Zwar liegt einer von Soilands Arbeitsschwerpunkten
auf der sprachlichen
Verfasstheit von Geschlechtlichkeit,
dabei aber gerade nicht auf
Fragen von Repräsentation, sondern
auf der Bedeutung des unbewussten
sprachlichen Ursprungs des Subjekts.
Aus Sicht der strukturalen Psychoanalyse
von Jacques Lacan, mit
der sich die Historikerin und Philosophin
intensiv beschäftigt hat, ist
die Sprache als ein Einbruch zu verstehen,
der die Trennung von Selbst
und nicht dem Selbst Zugehörigen
vollzieht. Fortan ist das Subjekt in
die Ordnung des Symbolischen eingetreten
und gekennzeichnet von
dem Verlust einer vermeintlichen Einheit.
Somit ist es das durch den französischen
Poststrukturalisten berühmt
gewordene gespaltene Subjekt
Dollar, welches ein prinzipiell begehrendes
bleiben wird. Denn, so der
Lacanianer August Ruhs: »Der Rest
des außersprachlichen Genießens
wird das Objekt a.«
Um die Stellung dieses Objekts
und Theorems kreisen die Fragen,
die Soiland an das Geschlechterverhältnis
richtet. In großer, aber kritischer
Nähe zur Lacan’schen Psychoanalyse
hat sie sich in den vergangenen
zwei Jahrzehnten wortstark in
die Debatten der Geschlechterforschung
und der feministischen Theorie
eingemischt.
In dem neuen Band, der subjekttheoretische,
geschlechterpolitische
und zeitdiagnostische Beiträge versammelt,
dechiffriert die Autorin in
ihren Texten nicht nur die Wandlungen
und Auslassungen in den
englisch- und deutschsprachigen Rezeptionen
der Schriften der französischen
Feministin und Psychoanalytikerin
Luce Irigaray, sondern auch
die unterschiedlichen Wege, die Vertreter
und Vertreterinnen des westliche
Postmarxismus oder der in der
Ljubljana School entwickelten Lacan-
und Marx-Rezeption einschlugen.
Soiland arbeitet mit Marx’ Wertkritik
und Warenanalyse, Irigarays
Theorie der sexuellen Differenz sowie
dem Lacan-Marxismus, den Slavoj
Žižek, Alenka Zupančič oder Massimo
Recalcati entworfen haben.
Sie macht dabei unter anderem auf
die Leerstellen der poststrukturalistischen
und queertheoretischen Interpretationen
von Lacan aufmerksam.
Es ist daher nicht überraschend,
dass sich das im Sammelband vertretene
Subjekt- und Geschlechterverständnis
mehr oder weniger grundsätzlich
vom Gender-Paradigma unterscheidet,
das die Autorin bereits
im Jahr 2003 während dem von ihr
ausgelösten sogenannten Gender-
Streit in Frage stellte. Soiland bestreitet
nicht, dass gesellschaftliche
Normen auf Vorstellungen von Geschlecht
einwirken, sie konzentriert
sich in ihrer theoretischen Arbeit
aber auf Geschlecht weniger als Zugehörigkeitskategorie,
sondern vielmehr
als Strukturmerkmal in Gesellschaft
und Psyche. Dabei weist sie
insbesondere auch die Übertragung
dekonstruktivistischer Annahmen
auf das Verständnis der Subjektgenese
zurück. Entgegen der von Judith
Butler vertretenen Position, wonach
Geschlecht sich anhand machtvoller
gesellschaftlicher Vorgaben bilde
und zugleich subversiv davon absetzen
könne, beharrt Soiland auf der
psychoanalytischen Perspektive,
wonach sich Geschlecht und Sexualität
entziehen und »sich das Begehren
grundsätzlich in einem Feld der
Unverfügbarkeit des Anderen situiert«.
Denkerin der sexuellen Differenz. Deutsche Ausgabe des 1974 erstmals veröffentlichten »Speculum« von Luce Irigaray
Die gendertheoretisch inspirierte
Vorstellung vom konstruierten
Charakter des Geschlechts sieht sie
»längst selbst zum Bestandteil des
gegenwärtigen Geschlechterregimes«
und zu einer spezifisch spätmodernen,
flexibilisierenden Technologie
Dierk Saathoff
des Selbst geworden. Der Gendertheorie
attestiert Soiland Unfähigkeit, die
von ihr als neopatriarchal und
postödipal verstandenen Geschlechterverhältnisse,
die ohne manifest
autoritäre Vaterfigur und ohne die
traditionelle bürgerliche Familienform
auskämen, einer tiefgreifenden
Kritik zu unterziehen.
Dass das Geschlechterverhältnis
eine paradoxe Gestalt angenommen
hat, in der die Gleichzeitigkeit von
fortschreitender Genderpluralisierung
einerseits und der beständig
gebliebenen, auf die Sorgearbeit bezogenen
Ungleichheit zwischen den
Geschlechtern andererseits herrscht,
führt Soiland auch auf eine mächtige
Verschiebung im Triebhaushalt der
Subjekte zurück. Lacan prognostizierte
1969 in seinem Seminar XVII, dass
die ödipale Barriere zukünftig nicht
mehr vorrangig im »Diskurs des Herren«,
also durch das Verbot des Zugangs
zum Körper der Mutter, verhandelt
werde, sondern durch den »Diskurs
der Universität«, in Form des Versprechens
der Existenz eines Wissens,
das den Zugang zum Begehrten
gewähre. Hier sieht Soiland eine die
Herrschaftstechnologien modernisierende
»Biopolitik des Genießens« und
ein neues »Phantasma der Demokratisierung
des Unmöglichen« am Werk.
Von den beiden ödipal konturierten Illusionen
– repressives Verbot und
permissive Zugänglichkeit – habe sich
mittlerweile Letztere durchgesetzt.
Dies hat weitreichende Konsequenzen,
allen voran für die weiterhin
mit Frauen assoziierte, gesellschaftlich
unbedingt notwendige Fürsorgearbeit:
Sie erscheint nun uneingeschränkt
verfügbar und als eine
»Ressource, die nichts kostet«.
Dem stellt Soiland wiederum Irigarays
»Denken der sexuellen Differenz
als Bedenken der menschlichen
Bedingtheit und Begrenzung von
Allmacht« gegenüber. Während Lacan
feststellte, dass die Frau im Unbewussten
nicht existiere und Symptom
des Mannes sei, kann mit der
Lacan-Leserin Irigaray auf der Frage
nach der Positionierung der Frauen
beharrt werden. Die im Band versammelten
Texte knüpfen daran an
und Soiland plädiert für eine »kollektive
Artikulation der Position von
Frauen« in einer spätmodernen
und neoliberalen Gesellschaft.
Soiland orientiert sich dabei mit
Irigaray an Lacans Theorie und korrigiert
diese überzeugend. Damit gelingt
es ihr auf außergewöhnliche
Weise, das Geschlechterverhältnis
und die Sexualkultur der Gegenwart
zu fassen und zu kritisieren. Einigen
der utopisch anmutenden Ausführungen,
wie beispielsweise denen
zur Möglichkeit einer »intersubjektiven
Subjektkonstitution, in der
jeder der beiden Pole in sich selbst
Soiland macht unter anderem auf die Leerstellen
der poststrukturalistischen und queertheoretischen
Interpretationen von Lacan aufmerksam.
als die ihm eigene Grenze die ›Kerbe
der Alterität des anderen‹« trage,
werden dem nicht Lacan-erprobten
Leser schwer verständlich sein, da
die Argumentation stets auf die im
Sinne Lacans sprachliche Verfasstheit
der menschlichen Existenz rekurriert.
Gleichwohl bildet der Sammelband
eine wertvolle Quelle für feministisch-psychoanalytische
Untersuchungen,
die beanspruchen, zeitgemäß
und dennoch unangepasst zu
sein. Denn subversiver als so manche
Pronomenrunde sind theoretische
Argumente allemal. Und von
denen kann man in Tove Soilands
Texten nicht wenige finden.
Tove Soiland: Sexuelle Differenz. Feministisch-psychoanalytische
Perspektiven auf
die Gegenwart. Herausgegeben von Anna
Hartmann. Unrast-Verlag, Münster 2022,
252 Seiten, 18 Euro
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