Explosiver Erfolg»Die Kategorie ›Muslim‹ istnur bedingt aussagekräftig«Small Talk. Von Kai SchubertRakete zerstört, Startrampe beschädigt, gesundheitsschädlicher Feinstaub freigesetzt– die durch Selbstzerstörung erfolgte Detonation des »Starship« von Space Xam 20. April schien ein Desaster zu sein. Der von Elon Musk geführte Konzerngab jedoch auf seiner Website bekannt: »Erfolg kommt von dem, was wir lernen,und wir haben sehr viel gelernt.«REUTERS / Joe SkipperImmer wieder wird über »muslimischen«, »arabischen«und »migrantischen« Antisemitismus debattiert. Wasdiese Begriffe genau bedeuten, ist dabei häufig unklar.Der Mediendienst Integration veröffentlichte vergangeneWoche die Broschüre »Antisemitismus unter Menschenmit Migrationshintergrund und Muslim*innen«,in der die wichtigsten Studien zum Thema ausgewertetwerden. Die Jungle World sprach mit der verantwortlichenAutorin, Sina Arnold von der TU Berlin.Was sind die Probleme in der Berichterstattungüber Antisemitismus?In der medialen Berichterstattung findet sich einerseitseine – antirassistisch motivierte – Verharmlosung,als gäbe es Antisemitismus nur unter weißenDeutschen. Andererseits findet sich stärker nocheine – rassistisch motivierte – Externalisierung, alswäre Antisemitismus vor allem ein Problem vonMigrant:innen oder Muslim:innen. Diese Importtheseist angesichts der Kontinuität des Antisemitismusim Land der Täter natürlich absurd. Eine Studie untermehr als 500 Juden und Jüdinnen in Deutschlandhat gezeigt, dass 84 Prozent finden, dass der Antisemitismusauch ohne die – oft muslimischen – Geflüchtetenein Problem in Deutschland ist.Was sind die Haupterkenntnisse der von Ihnenausgewerteten Forschungsarbeiten?Antisemitische Einstellungen sind in der ganzenGesellschaft weit verbreitet. Bei Menschen mit Migrationshintergrundsowie bei Muslim:innen gibt eseinige Besonderheiten: Manche Studien zeigen niedrigereZustimmungswerte zu sekundärem Antisemitismus,der die Shoah relativiert und die Auseinandersetzungmit ihr abwehrt, aber höhere Zustimmungzu israelbezogenem Antisemitismus. Gleichzeitig giltes zu betonen, dass die Kategorien »Migrationshintergrund«oder »Muslim« nur bedingt aussagekräftigsind. Während etwa 25 Prozent der Sunnit:innen inDeutschland das Judentum als Bedrohung wahrnehmen,sind es unter Schi it:in nen 13 Prozent.Bei Christen inDeutschlandist dieser Wert geringer, laut Religionsmonitoracht Prozent. Muslime weisen Ihrer Broschüre zufolgezudem höhere Zustimmungswerte bei sogenanntemklassischem Antisemitismus auf, alsobei Vorurteilen über Juden als Gruppe. Warumsind Kategorien wie »Muslim« und »Migrationshintergrund«aber Ihrer Ansicht nach wenigaussagekräftig?Beim Migrationshintergrund gibt es große Unterschiedezwischen Herkunftsländern sowie nachStaatsbürgerschaft und Generation. Eingebürgertestimmen antisemitischen Aussagen seltener zu alsMenschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Undmit der Länge des Aufenthalts in Deutschlandnimmt die Zustimmung zu antisemitischen Aussagenab. Anstatt über »die Muslime« zu sprechen,muss man in politischen und medialen Debattenalso stark differenzieren.Bei antisemitischen Vorfällen gibt es eine auffälligeDiskrepanz: Es werden vergleichsweise wenigeTaten im Bereich des islamischen Antisemitismusregistriert, sowohl von der Polizei als auchvon zivilgesellschaftlichen Beobachtungsstellen.Gleichzeit geben von antisemitischer GewaltBetroffene in Umfragen häufig Muslime als Täteran. Sie deuten an, diese Identifizierung könne ineinigen Fällen womöglich unzutreffend sein – gibtes noch andere mögliche Erklärungen für dieDiskrepanz?Wenn sich jemand nicht eindeutig als Muslim identifiziert– etwa durch entsprechende Kleidungsstückeoder Aussagen –, dann kann man von außen ja nichtsehen, woran die Person glaubt. Die Polizei erfasstbei Tatverdächtigen nicht die Religionszugehörigkeit,sondern die mutmaßliche Ideologie hinter der Tat.Im Zweifelsfall klassifiziert sie antisemitische Straftatenoft als »rechtsextrem«. Deshalb müssen auchdiese Zahlen stets mit Vorsicht genossen werden.»Da gehört aber auch … Da gehört haltauch … ich weiß nicht. Die Sachen, die unsjetzt gerade abgehen.« Thomas Tuchel,Trainer des FC Bayern MünchenAbstrakte SchönheitLaborbericht. Von Svenna Triebler»Mathe habe ich schon immer gehasst.« Selbst in bildungsbürgerlichenKreisen erntet man mit diesemSatz zumeist emphatische Zustimmung – man stellesich die Reaktionen vor, wenn man das Gleiche überdas Lesen sagen würde. Die »Königin der Wissenschaften«hat offensichtlich ein Imageproblem, und hartnäckighalten sich Vorurteile, die Disziplin sei kompliziertoder man müsse eben ein Talent dafür haben.Das dürfte weniger an der Mathematik selbst liegen,deren strikte Logik zumindest den Einstieg eigentlichleicht machen sollte (zugegeben: Später kann esetwas unübersichtlich werden, wenn man es beispielsweisemit partiellen Differentialgleichungen zutun bekommt) als vielmehr an der Art des Unterrichts.Wer wenigstens in der Oberstufe mal in denintellektuellen Genuss eines selbst geführten Beweiseskommt, statt stur Aufgaben nach Schema F zulösen, darf sich da schon glücklich schätzen.Die Hälfte der schulpflichtigen Bevölkerung ist zudemnoch immer mit Klischees konfrontiert, dienicht selten zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden.Die vergiftete Gratulation des Schulleiters zummündlichen Mathe-Abitur – »13 Punkte, und das beieinem Mädchen!« – klingt der Autorin bis heute imOhr.Die allgemeine Mathemuffligkeit zieht sich bisins Wissenschaftsfeuilleton der großen Medien. Dabeihat die Welt der Formeln nicht nur jede Mengeab strakte Schönheit, sondern manchmal auch kleineSensationen zu bieten: So gelang es offenbar jüngstzwei Schülerinnen einer High School in New Orleans,den Satz des Pythagoras mittels Trigonometrie zubeweisen. Die einzige Meldung im deutschsprachigenRaum dazu brachtedas österreichische PortalOe24 (und schriebkonsequent von »Schülern«,q. e. d.).Wer sich auch nurbruchstückhaft an denMatheunterricht erinnert,weiß, dass es sowohlbeim altbekanntena² + b² = c² als auch bei Sinus und Cosinus um Dreieckegeht. Letztlich basiert die Trigonometrie aufdem ollen Pythagoras, weshalb es bislang gängigeLehrmeinung war, dass der Versuch, das eine durchdas andere zu beweisen, zu unzulässigen Zirkelschlüssenführen müsse.Das wollten die Zwölftklässlerinnen Calcea Johnsonund Ne’Kiya Jackson, ermuntert von engagiertenLehrerinnen, nicht als unumstößliche Wahrheit hinnehmen.Ob ihr Gegenbeweis wasserdicht ist, mussnoch eine wissenschaftliche Begutachtung zeigen;immerhin fanden die Teilnehmenden einer Konferenzder American Mathematical Society, auf derdie Teenager als einzige Nichtakademikerinnen ihreArbeit vorstellten, schon mal keine Fehler.Junge Frauen, schwarze zumal, die sich mit höhererMathematik beschäftigen – das könnte für somanche in den USA zu woke sein. Ob der Satz des Pythagorasdeshalb wohl demnächst in den republikanischregierten Bundesstaaten von den Lehrplänenverbannt wird?Korruptes QuartettPorträt. Von Margit HildebrandtAlejandro Toledo, von 2001 bis 2006 Präsident Perus,muss sich als Letzter in einer Reihe von ehemaligenStaatsoberhäuptern des Lands vor Gericht verantworten.Er wird beschuldigt, Teil der »Operation LavaJato« (Autowäsche), einem der größten KorruptionsskandaleLateinamerikas, zu sein und von den brasilianischenUnternehmen Camargo Corrêa und Odebrechteinen US-Dollarbetrag in zweistelliger Millionenhöhefür den Bau der Interozeanischen AutobahnAlejandro Toledozwischen Peru und Brasilien angenommen zu haben (Jungle World 8/2017). DasGeld soll er dem Online-Portal Perú Reports zufolge zur Abzahlung privater Hypothekenund zum Kauf von Luxusimmobilien im Namen seiner Schwiegermutterverwendet haben. 2017 erließ ein peruanischer Richter einen internationalenHaftbefehl gegen Toledo. Peru beantragte bereits 2018 seine Auslieferung aus denUSA, wo er 2019 festgenommen wurde; am Sonntag wurde er ausgeliefert. DieStaatsanwaltschaft fordert eine Haftstrafe von 20 Jahren.Toledo bestreitet die Vorwürfe und besteht darauf, dass er in Peru keinen fairenProzess erhalten werde. Er war der erste demokratisch gewählte Präsident nachder autoritären Herrschaft Alberto Fujimoris, der den Kongress aufgelöst und einenbrutalen Feldzug gegen die Guerillaorganisationen Sendero Luminoso und MRTAgeführt hatte. Im damaligen Wahlkampf hatte der indigene Toledo einen »Bruchmit der Vergangenheit« angekündigt, besonders was die Vetternwirtschaft unterdem Fujimori-Regime anbetraf. Er entschuldigte sich öffentlich für die von derArmee begangenen Menschenrechtsverletzungen.Toledo sitzt nun in Untersuchungshaft im Barbadillo-Gefängnis in Lima – inillustrer Gesellschaft. Zwei ehemalige peruanische Präsidenten sind hier bereitsinhaftiert: Fujimori seit 2009 für 25 Jahre wegen Menschenrechtsverletzungen,Pedro Castillo wegen des Versuchs, im Dezember den Kongress Perus aufzulösen,was zu Kämpfen führte und das Land in eine Krise stürzte. Gegen den ehemaligenPräsidenten Pedro Pablo Kuczynski wird ebenfalls wegen Geldwäsche ermittelt.Alan García, der Toledo von 2006 bis 2011 als Präsident folgte, nahm sich dasLeben, als die Polizei ihn 2019 verhaften wollte. Toledos Anwalt in den USA, DavidBowker, hatte die Ermittlungen als »politische Verfolgung« bezeichnet.Wikimedia CommonsHOTSPOT ∎∎∎ SEITE 2027. April 2023 ∎∎∎ Jungle World 17
dschungel## 17 x2023Studio Julian Rosefeldt, BerlinJens Winter sieht sich die Ausstellung »When We Are Gone« mit Arbeiten vonJulian Rosefeldt in der Völklinger Hütte an ∎ Tobias Prüwer verteidigt Darren Aronofskys»The Whale« gegen den Vorwurf, Fat Shaming zu betreiben ∎ Charlie Bendisch sprichtmit der Literaturwissenschaftlerin Julia Ingold darüber, wie literaturpreiswürdig Deutschrapist ∎∎∎ Essay: Ely Ora lässt die Geschichte des 1. Mai in Kreuzberg Revue passieren