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Bloß kein linkes

Deutschland

Der Streit um den Bundeshaushalt für 2024 zieht sich in die Länge.

Finanzminister Christian Lindner (FDP) predigt Sparsamkeit und

fordert, das wichtigste sozialpolitische Vorhaben aus dem

Koalitionsvertrag zu opfern: die Kindergrundsicherung.

Von Johannes Reinhardt

Ausgerechnet der FDP-Vorsitzende

Christian Lindner predigt in seiner Rolle

als Bundesfinanzminister unentwegt

Verzicht. Lindner zufolge wird es

nach den derzeitigen Einnahmenschätzungen

für 2024 ein Defizit von 14

bis 18 Milliarden Euro geben. »Diese

Haushaltslücke muss erwirtschaftet

werden durch Verzicht«, so Lindner

Anfang April. »Wenn man dann noch

zusätzliche Ausgabenschwerpunkte

setzen will, zum Beispiel bei Verteidigung

oder Bildung, dann muss man

umso mehr woanders kürzen.« Hinzu

kämen noch die Mehrausgaben durch

die Tariferhöhungen im öffentlichen

Dienst (siehe S. 6). Diese betreffen

freilich vor allem die Kommunen. Der

Die FDP hat seit ihrem Eintritt in die

Regierungskoalition deutlich

schlechtere Umfragewerte als zuvor.

Die Partei will deshalb zeigen, dass

sie sich gegen die Grünen und die

SPD durchsetzen kann.

Bund rechnet hier lediglich mit Mehrausgaben

von 3,75 Milliarden Euro ab

dem Jahr 2025.

»Die Politik muss wieder lernen, mit

dem Geld auszukommen, das die Bürgerinnen

und Bürger erwirtschaften«,

so Lindner weiter – ein Verweis auf die

sogenannte Schuldenbremse, die der

Neuverschuldung enge Grenzen setzt.

Die Möglichkeit, durch höhere Steuern

oder den Abbau von Subventionen wie

dem Dienstwagenprivileg – also die unterdurchschnittliche

Besteuerung der

privaten Nutzung von Dienstwagen – die

Einnahmen zu erhöhen, weist Lindner

ebenfalls zurück.

Anfang April hätte Lindner eigentlich

bereits Eckwerte für den Haushalt 2024

vorlegen sollen. Wohl um den Streit in

der Koalition nicht zu sehr eskalieren

zu lassen, hatte er darauf verzichtet. Die

anderen Ministerien hatten Anfang

des Jahres für den Bundeshaushalt 2024

einen Mehrbedarf von 70 Milliarden

Euro angemeldet. Damit sollen unter

anderem die Kindergrundsicherung,

eine Reform des Gesundheitssystems

sowie Investitionen in Digitalisierung

und der Ausbau der Infrastruktur finanziert

werden. Zudem verlangt Bundesverteidigungsminister

Boris Pistorius

(SPD) mehr Geld für die Bundeswehr –

wohlgemerkt zusätzlich zum 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen

aus dem

vergangenen Jahr.

Die Situation scheint festgefahren

und wird das wohl auch mindestens

bis zur Bürgerschaftswahl in Bremen,

die am 14. Mai stattfinden soll, bleiben.

Die FDP hat seit ihrem Eintritt in die Regierungskoalition

deutlich schlechtere

Umfragewerte als zuvor,

als sie bei über zehn Prozent

lagen. Womöglich will

sie ihren Wählern zeigen,

dass sie sich gegen die Grünen

und die SPD durchsetzen

kann. »Wir kämpfen für

den Wert der Freiheit, für

wirtschaftliche Vernunft,

faire Lebenschancen und

ein modernes, nicht linkes

Deutschland«, sagte Lindner in bester

Wahlkampfmanier auf dem Parteitag

der FDP am Wochenende in Berlin.

Im Mittelpunkt des Haushaltsstreits

steht immer wieder das Projekt Kindergrundsicherung,

ein Versprechen

aus dem Koalitionsvertrag von SPD,

Grünen und FDP, bei dem aber immer

noch unklar ist, wie es genau ausgestaltet

werden soll (Jungle World 10/2023).

Klar ist, dass staatliche Leistungen insbesondere

für Kinder aus armen Familien

zusammengefasst werden sollen;

diese vereinheitlichte Leistung soll dann

einfacher als bisher digital beantragt

werden können. Bundesfamilienministerin

Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen)

plant mit jährlichen Mehrausgaben

von zwölf Milliarden Euro. Diese

Mehrkosten sollen zum Teil dadurch zustande

kommen, dass Leistungen zukünftig

leichter ausgezahlt werden sollen.

Derzeit werden viele Leistungen

für Kinder nicht beantragt, weil Berechtigte

ihre Ansprüche nicht kennen

oder die Beantragung zu kompliziert

ist.

Hingegen fordern Lindner und die

FDP, dass die Kindergrundsicherung,

wenn sie denn überhaupt in dieser Legislaturperiode

eingeführt werden

solle, ohne Mehrausgaben auskommen

müsse. Lindner verweist darauf, dass

die Ampelkoalition bereits das Kindergeld

zum Jahr 2023 erhöht hat. Unter

anderem dadurch seien die Leistungen

für Kinder schon um sieben Milliarden

Euro gestiegen, mehr sei nicht nötig.

Von dieser Erhöhung des Kindergelds

hatten freilich die Kinder arbeitsloser

Eltern oftmals nichts, denn das

Kindergeld wird mit dem sogenannten

Bürgergeld, das das Arbeitslosengeld II

(»Hartz IV«) abgelöst hat, verrechnet.

Paus hatte unterdessen vorgeschlagen,

zur Finanzierung der Kindergrundsicherung

die Kinderfreibeträge abzusenken

– das sind Steuervergünstigungen

für Eltern. Die Familienministerin

wies darauf hin, dass wohlhabende Eltern

durch diese Steuervergünstigungen

sogar mehr Geld vom Staat erhalten

als arme Eltern, die nur Kindergeld beziehen.

»Es wäre ein Durchbruch, diese

Ungerechtigkeit im System endlich zu

beseitigen«, sagte sie der Neuen Osnabrücker

Zeitung. Lindner lehnte diesen

Vorschlag ab, weil er ihn als Steuererhöhung

betrachtet.

Mitte April berichtete der Spiegel, dass

Lindner ein Gesetz plane, mit dem bis

zu 20 Milliarden Euro eingespart werden

sollten – und zwar vor allem in

den Ressorts mit den höchsten Sozialausgaben,

nämlich dem Arbeits- und

dem Familienministerium. Im Militärhaushalt

sollte demnach nicht gespart

werden. Das Bundesfinanzministerium

wies die Darstellung des Spiegel zurück.

Ein Ende der Haushaltsstreitigkeiten

in der Bundesregierung ist nicht in

Sicht. Vor der Bürgerschaftswahl in

Bremen dürfte sich niemand bewegen.

Doch es heißt, Lindner werde dem

Bundestag noch vor der Sommerpause,

also bis Juni, einen Haushaltsentwurf

für 2024 vorlegen. Dass Bundeskanzler

Olaf Scholz (SPD), Lindners Vorgänger

als Bundesfinanzminister, als der FDP

sehr gewogen gilt, verheißt nichts Gutes

für den Kampf gegen Kinderarmut.

Eher Kirchentag

als Chaostage

Die Letzte Generation lud zum Auftakt

ihrer Proteste in Berlin vergangene

Woche zum Brunch in eine Kreuzberger

Kirche. Es ging besinnlich zu.

Raucherecke von Jens Winter

Der Auftakt für die Berliner Protestwochen der Gruppe Letzte Generation

war ein gefundenes Fressen für all jene, die der Klimabewegung

vorwerfen, quasireligiöse Züge zu haben. Als Startpunkt für

ihre groß angekündigten Proteste, mit denen man die Hauptstadt

»zum Stillstand« bringen möchte, hatte die Gruppe eine Kirche ausgewählt.

Und so ging es am Mittwochmorgen vergangener Woche los mit

einem »Auftaktbrunch« in der St.-Thomas-Kirche in Berlin-Kreuzberg,

die in den achtziger Jahren schon Hausbesetzern Unterschlupf

geboten hatte. Es war die bis dahin größte öffentliche Veranstaltung

der Letzten Generation, die »inklusiver« werden und mehr

Menschen für ihren Protest gewinnen möchte, wie es in ihrem Telegram-Kanal

hieß. Der gemeinsame Brunch sollte dem Kennenlernen

dienen und die Möglichkeit bieten, sich am Protest zu beteiligen.

Das Setting orientierte sich an linken aktivistischen Traditionen:

Es gab ein großes veganes Buffet, Tofu-Crumbles und Antipasti,

dazu mehrere Reden, außerdem Orgelmusik, zu der man eingeladen

war, zu meditieren.

Die Gruppe war sehr bemüht darum, dass man sich bei ihr wohlfühlt.

Neue Personen wurden sofort angesprochen und wer noch

keine »Bezugsgruppe« hatte, konnte in kleinen Kennenlernrunden

schnell eine finden. Unter den etwa 300 weitestgehend jüngeren

Teilnehmern waren – neben 40 Pressevertretern – auch mehrere Mitglieder

der Gruppe Extinction Rebellion, mit der die Letzte Generation

eine Woche zuvor die Fassaden von Konzern- und Parteizentralen

mit Kunstöl übergossen hatte.

Nicht nur das hallende Echo des Kirchenraums verlieh den Reden

Pathos. Der Tonfall changierte teils zwischen Selbsthilfegruppe

und evangelischem Kirchentag. »Schau andächtig in das Gesicht der

Person neben dir, auch diese Person lebt mir dir auf dem Planeten

Erde«, eröffnete eine Aktivistin. Lars Ritter, der wegen Blockaden bereits

im Gefängnis gesessen hatte, sprach von der Angst, sich »offen

zu zeigen«, und davon, dass man in die Konfrontation gehen

müsse. »Konfrontation ist Demokratie«, sagte er, »und das, was

unsere Demokratie momentan nicht schafft, das schaffen wir durch

die Konfrontation auf der Straße.« Im Hintergrund läuteten die

Glocken.

Die aus dem Fernsehen bekannte Pressesprecherin der Letzten

Generation, Carla Hindrichs, sagte in ihrer Rede: »Viele Leute haben

wegen der hohen Energiepreise am Ende des Monats kein Geld

mehr. Währenddessen fliegen die Reichen mit Privatjets über unsere

Köpfe hinweg. Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten.«

Neben einem Tempolimit von 100 Stundenkilometern fordert die

Gruppe ein bundesweites Neun-Euro-Ticket und die Einführung eines

»Gesellschaftsrats«. Dieser soll per Los besetzt werden und ausarbeiten,

»wie Deutschland bis 2030 die Nutzung fossiler Rohstoffe

beendet«. Die Bundesregierung solle öffentlich zusagen, diese

Maßnahmen »in das Parlament einzubringen«, dort die »nötige

Überzeugungsarbeit« zu leisten und sie dann »in einer beispiellosen

Geschwindigkeit und Entschlossenheit umzusetzen«.

Nach dem Programm ging es los mit den Protesten. Statt der üblichen

Sitzblockaden gab es sogenannte Slow Walks – eine Neuheit

im aktivistischen Repertoire der 2021 gegründeten Gruppe. Mit diesen

langsamen und unangemeldeten Demonstrationen, die den

Verkehr blockieren, wollte man die Hürden senken, sich am Protest

zu beteiligen, wie es vorher auf einem Online-Strategietreffen erklärt

worden war.

In mindestens drei Richtungen ging es los. Sehr schnell hielt die

Polizei die jeweils bis zu 40 Personen umfassenden Protestzüge

auf, die von einer Traube Journalist:innen begleitet wurden. Zwei

Gruppen konnten sich dennoch durch Kreuzberg bis zum Alexanderplatz

und über die Karl-Marx-Allee bis zum Frankfurter Tor bewegen.

Sowohl Polizei als auch Demonstrierenden blieben weitestgehend

ruhig. Für den meisten Lärm sorgten Autofahrer und Passanten.

Der Beifahrer eines vorbeifahrenden Transporters kurbelte

sein Fenster herunter und schrie: »Geht arbeiten, ihr Arschlöcher!«

Ein Mitglied des Demozugs, der auf der Schillingbrücke über

die Spree Richtung Alexanderplatz von der Polizei festgesetzt worden

war, schaffte es, aufs Dach eines Polizeiwagens zu gelangen.

Unter Jubel setze er sich auf den Wagen, reckte die Hand in den Himmel,

zückte den Kleber und verteilte ihn auf seiner Handfläche.

Dafür, dass er sich dennoch nicht festkleben konnte, sorgte jedoch

ein schnell kletternder Beamter.

Aber nicht alles gleich für Schulen ausgeben! Lindner mit Bildungsministerin Stark-Watzinger beim FDP-Parteitag, 21. April

picture alliance / Geisler-Fotopress / Jean MW / Geisler-Fotopress

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Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023

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