junglePDF
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Mehr Bock auf
weniger Arbeit
Die IG Metall geht mit der Forderung nach der
Viertagewoche in der Stahlindustrie in die Offensive.
Kommentar von Lothar Galow-Bergemann
Nazis mit grünem Daumen. Die Marihuana-Plantage, die am 28. März in Colditz gefunden wurde
Sächsische
Clankriminalität
Eine Drogenrazzia in der sächsischen Kleinstadt Colditz offenbarte
eine rechte Angstzone.
Von Thorsten Mense
Colditz ist eine Kleinstadt etwa 40 Kilometer
von Leipzig entfernt, wo sich
die Zwickauer und die Freiberger Mulde
treffen. Viel zu sehen und zu tun gibt
es hier nicht. Die einzigen Attraktionen
des Orts sind die Mulde, auf der man
paddeln kann, und das Schloss Colditz,
das zur NS-Zeit als Offiziersgefängnis
diente und in Großbritannien durch Filme
und Serien einige Berühmtheit erlangt
hat.
Seit ein paar Wochen ist der Ort auch
in Deutschland wieder bekannter geworden,
aber nicht deswegen, was Nazis
dort früher getrieben haben, sondern
deswegen, was Nazis heutzutage dort
treiben. Ende März durchsuchten 225
Einsatzkräfte des Zolls sowie der Bundespolizei
zwei Tage lang die Wohnund
Geschäftsräume der dort ansässigen
Familie N. Dabei wurde eine Cannabisplantage
mit 2 600 Pflanzen, fünfeinhalb
Kilogramm Crystal Meth und
32 000 Euro Bargeld sichergestellt, dazu
sieben Schusswaffen, ein Lamborghini
und ein Luxus-SUV.
Ralf N. und dessen zwei Söhne, Andreas
und Uwe, sitzen in Untersuchungshaft.
Die Mitglieder der Familie sind in
Colditz und darüber hinaus berüchtigt,
aber nicht als Drogenhändler, sondern
vor allem als gewalttätige Neonazis,
die den Ort fest in ihrer Hand haben. Bereits
2012 kam es gegen den Vater und
seine beiden Söhne zu einer Gerichtsverhandlung,
unter anderem wegen mehrerer
gemeinschaftlich begangener Körperverletzungen.
Einige der Opfer, darunter
Linke, Punks, aber auch Bundeswehrangehörige,
waren schwer verletzt
worden und hatten unter anderem
Schädel-Hirn-Traumen davongetragen.
Trotz der Schwere der Straftaten kamen
alle drei Familienmitglieder mit einer
Bewährungsstrafe davon.
Wegen Verstoßes gegen die Auflagen
landete der Vater dann aber 2014 doch
noch für eineinhalb Jahre im Gefängnis.
Sein Sohn Uwe folgte ihm kurz darauf,
nachdem er mit 1,8 Kilogramm Crystal
Meth aufgegriffen worden war.
Der Journalist Thomas Datt, der die
Die sächsische Polizei war an der
Razzia nicht beteiligt.
Der Verdacht drängt sich auf, dass
die Bundesbehörden ihr nicht ganz
vertrauen.
rechte Szene in der Region seit Jahren
verfolgt, veröffentlichte schon im März
2017 im Leipziger Stadtmagazin Kreuzer
einen »Report aus einer rechtsfreien
Zone im mittelsächsischen Hügelland«.
Darin kann man lesen, dass Drohungen,
Übergriffe und Anschläge der Familie
N., die schon damals in Sportwagen
durch den kleinen Ort heizte, zum Alltag
gehörten. An woh ner:innen beschrieben
ein Klima der Angst und Einschüchterung,
den Holzfachhandel
der Familie nannten sie »braune Halle«,
viele verließen aus Angst den Ort.
Zollfahndungsamt Dresden
Kurz vor Ostern überraschte die Gewerkschaft IG Metall mit der
Forderung nach Arbeitszeitverkürzung. Eine Viertagewoche mit
32 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich – mit dieser Forderung
will die Gewerkschaft in die Ende 2023 anstehende Tarifrunde
in der nordwestdeutschen Stahlindustrie gehen. Ihr Vorsitzender
Jörg Hofmann erwartet gar eine gesamtgesellschaftliche Wirkung:
Die Stahlindustrie sei schon oft Vorreiter für fortschrittliche Regelungen
gewesen. Insofern habe diese Forderung eine »grundsätzliche
Ausstrahlung über die Stahlbranche hinaus«.
Mit Recht verweist die IG Metall auf die intensiver werdende Debatte
über Arbeitszeitverkürzungen. Laut einer Forsa-Umfrage aus
dem vergangenen Jahr wünschen sich 70 Prozent der Beschäftigten
in Deutschland eine Viertagewoche.
Die Ankündigung der Gewerkschaft kommt zur richtigen Zeit, sie
setzt einen Kontrapunkt zu den belehrenden und anmaßenden
Tönen von Politikern und Arbeitgebern. Erst im Februar ermahnte
Andrea Nahles, ehemalige SPD-Vorsitzende und heutige Vorstandsvorsitzende
der Bundesagentur für Arbeit, junge Menschen mit erhobenem
Zeigefinger: »Arbeiten ist kein Ponyhof.« Und Steffen
Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände,
forderte längere Arbeitszeiten und »mehr Bock
auf Arbeit«. Arrogante Ansprüche, die meilenweit entfernt sind von
dem, was immer mehr Menschen bewegt, die aus guten Gründen
eben keinen Bock haben.
Die Arbeitgeber reagierten alarmiert. Mit Blick auf die Tarifrunde
im Herbst kommenden Jahres wiesen die Metall- und Elektrounternehmen
im Südwesten schon mal vorsorglich solche Forderungen
zurück. Die Viertagewoche gehe in die falsche Richtung, teilte der
Hauptgeschäftsführer von Südwestmetall, Oliver Barta, der Stuttgarter
Zeitung mit. Infolge des Fachkräftemangels wüssten viele Unternehmen
kaum noch, wie sie ihr Geschäft erledigen sollen. »Generell
weniger zu arbeiten«, wäre demnach »kein Beitrag zu einer
Lösung«, so Barta.
Prinzipiell ist es zu begrüßen, dass Gewerkschaften die Arbeitszeitverkürzung
zum Thema machen. Doch so offensiv, wie es nötig
wäre, ist die IG Metall dann doch nicht. Zwar verweist sie auch auf
»Lebensqualität und Gesundheit«, begründet ihre Forderung aber
vor allem mit der Sicherung von Arbeitsplätzen und einer erhöhten
Produktivität, mit der sie glaubt, Arbeitgeber ködern zu können.
Das unterscheidet sie nicht von vielen anderen Befürwortern der
Viertagewoche. Selbst der Co-Vorsitzende der Linkspartei, Martin
Schirdewan, stößt ins selbe Horn. Erfahrungen aus Schweden, Island
oder Belgien würden bereits zeigen, dass die Viertagewoche die
Arbeitsbelastung senke und die Produktivität erhöhe, so seine Argumentation.
Doch das unreflektierte Beschwören erhöhter Produktivität
versäumt es nicht nur, die zerstörerische Megamaschine aus
maximalem Profit und ewigem Wachstum zu kritisieren, die die
Beschäftigten jeden Tag mit ihrer Arbeit am Laufen halten. Es tut
sogar so, als könne deren rasendes Tempo ohne negative Folgen
noch weiter gesteigert werden. Mit permanent steigender Produktivität
immer noch mehr schädliche und überflüssige Betonbauten,
Containerschiffe, Flugzeuge und Autos zu bauen, führt in die Klimakatastrophe.
Produktivität wäre vernünftigerweise kein unhinterfragbares
Prinzip, dem sich fraglos zu unterwerfen ist, sondern von Fall zu
Fall gesellschaftlich auszuhandeln: Was soll produziert werden und
was nicht? Das aber setzte die Abkehr von der kapitalistischen
Wirtschaftsweise voraus. Dass diese in den Gewerkschaften bis dato
kaum kritisiert wird, hat allerdings einen handfesten Grund. Das
Problem ist, dass die ganze Gesellschaft und eben auch die Arbeitsplätze
der Gewerkschaftsmitglieder von der kapitalistischen Wirtschaft
abhängen: die Profite, die Arbeitsplätze, die Steuereinnahmen.
Doch die Gleichsetzung von sicherem Leben mit sicheren Arbeitsplätzen
ist das entscheidende Hindernis auf dem Weg in eine
bessere Zukunft. Es wäre daran gelegen, Kämpfe um radikale Arbeitszeitverkürzung
mit solchen um Klimaschutz und um Vergesellschaftung
zentraler Ressourcen zu verbinden.
Auf den Seiten der antifaschistischen
Rechercheplattform Chronik.LE lassen
sich Dutzende Einträge über rechte
Gewalt und neonazistische Aktivitäten
in Colditz finden, viele mit Bezug zur Familie
N.
»Bauen Rechtsextreme kriminelle
Netzwerke in Sachsen auf?« titelte die
Leipziger Volkszeitung (LVZ) nach den
Durchsuchungen, und man fragt sich,
ob das wirklich etwas Neues sei, gerade
in Sachsen. Aber wenigstens wird
durch die Razzia die Situation in Colditz
nun wieder öffentlich diskutiert.
Valentin Lippmann, der innenpolitische
Sprecher der Grünen-Fraktion im
Sächsischen Landtag, sprach von einer
»verfestigten Struktur von rechtsextremer
Clan-Kriminalität«, der SPD-Landtagsabgeordnete
und Innenexperte
Albrecht Pallas
zeigte sich besorgt, dass
»organisierte Nazis jahrelang
relativ frei ihr Unwesen
in der Stadt trieben«.
Anfang April war die Razzia
Thema im sächsischen
Innenausschuss, wo es auch
darum ging, warum die
sächsische Polizei nicht an der Razzia
beteiligt war und die lokale Polizeidirektion
erst zum Beginn des Einsatzes
von den Bundesbehörden informiert
wurde. Im Innenausschuss soll dies
dem MDR zufolge als gängiges Vorgehen
bezeichnet worden sein, und auch
der sächsische Landespolizeipräsident
Jörg Kubiessa wiegelte in der LVZ ab:
Bei Drogendelikten mit Grenzbezug sei
eben der Zoll zuständig.
Der Verdacht drängt sich aber auf,
dass die ermittelnden Behörden der
sächsischen Polizei nicht ganz vertrauen.
Zumindest legt diese nicht gerade
viel Engagement im Kampf gegen neonazistische
Strukturen an den Tag, was
sich auch am Fall Colditz zeigt, denn
die dortigen Verhältnisse sind seit Jahren
bekannt, ohne dass die Polizei der
Familie N. Einhalt gebieten konnte oder
wollte. Gegen die Familie sei dem
MDR zufolge nach Informationen aus
dem Innenausschuss eine dreistellige
Zahl von Ermittlungsverfahren geführt
worden, ohne dass sich die Situation
an Ort und Stelle verbessert hätte.
Die Berichte aus Colditz zeichnen das
Bild einer »national befreiten Zone«
in der sächsischen Provinz, in der die
Baseballschlägerjahre bis heute anhalten.
Drei wichtige Beteiligte sitzen
nun erst mal im Gefängnis. Bezeichnend
ist aber, dass die Männer einzig
wegen ihrer Drogengeschäfte aus dem
Verkehr gezogen wurden und nicht wegen
ihrer jahrelangen Ausübung rechten
Terrors. Wenig Beachtung findet bisher
auch, dass es ein geeignetes Umfeld
braucht, in dem solche faschistischen
Clanstrukturen agieren und sich
ausbreiten können. Colditz und der
Muldentalkreis sind bereits seit den
neunziger Jahren, schon bevor die Familie
N. in den Ort zog, ein Hotspot militanter
Neonazistrukturen und rechter
Gewalt. 1998 wurde ein elfjähriges türkisches
Mädchen bei einem Brandanschlag
schwer verletzt (Jungle World
40/1998). 30 Jahre später wurde die
AfD bei der Bundestagswahl mit fast
30 Prozent der Stimmen stärkste
Kraft im Ort. Es ist diese ungebrochene
rechte Hegemonie oder »Tradition«,
wie es in Sachsen gerne heißt, die in
den Blick genommen werden muss.
Die Familie N., so die Linkspartei-Landtagsabgeordnete
Kerstin Köditz, sei
»nur die Spitze des Eisbergs«.
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
INLAND ∎∎∎ SEITE 9