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Es bleibt laut. Mit Töpfen und Kochlöffeln begleiten Protestierende die Rede Emmanuel Macrons vor dem Pariser Rathaus am 17. April
picture alliance / NurPhoto / Guillaume Pinon
Macrons 100-Tage-Plan
Auch nachdem das Verfassungsgericht die Rentenreform in Frankreich
gebilligt hat, gehen die Proteste weiter. Präsident Macron, der nun
versucht, seine Beliebtheit wiederherzustellen, wendet sich dabei auch
der politischen Rechten zu.
Von Bernhard Schmid, Paris
»Ich gestehe ein, dass ich in der Debatte
nicht genügend präsent war«, sagte
der französische Staatspräsident Emmanuel
Macron zu Wochenbeginn im
Interview der Tageszeitung Le Parisien,
um anzukündigen: »Ich werde mich
stärker engagieren.«
Thema des Interviews war der rasante
Popularitätsverlust, den sich Macron
und seine Regierung unter Premierministerin
Elisabeth Borne eingehandelt
haben, als sie im März die umstrittene
Rentenreform ohne parlamentarische
Mehrheit per gewonnenem Misstrauensvotum
durchsetzten. Am 14. April
hat nun auch der französischen Verfassungsrat
– der Conseil constitutionnel,
der in Frankreich die Funktion eines
Verfassungsgerichts übernimmt – die
Reform abgesegnet (siehe S. 4). Nur
noch 26 Prozent der Franzosen erklärten
sich Ende vergangener Woche
allgemein »zufrieden« mit Macrons
Amtsführung. Hingegen wählten
47 Prozent die negativste Antwort, die
das Umfrageinstitut Ifop angeboten
hatte: »sehr unzufrieden«. Ausnahmslos
alle demoskopischen Institute stellen
große und stabile Mehrheiten fest,
die die Rentenreform ablehnen. Unter
den abhängig Beschäftigten lehnen bis
zu 90 Prozent das Vorhaben ab. In der
Umfrage des Institut Elabe sagten ferner
64 Prozent der Befragten, sie wünschten
eine Fortsetzung der Proteste durch
die Gewerkschaften, ungeachtet dessen,
dass der Verfassungsrat der Reform
zugestimmt hat.
Im Nachtprogramm des Privatfernsehsenders
BFM TV interpretierte der
Grünen-Politiker Yannick Jadot (Europe
Écologie – Les Verts) Macrons Eingeständnis
am Sonntagabend so: »Ich
habe noch nicht genug geredet. Ich
muss noch mehr reden!« Macrons Ankündigung
fassten viele eher als Drohung
denn als Angebot auf. Mehr reden
lassen wollten zahlreiche Französinnen
und Franzosen den Staatspräsidenten
nicht unbedingt. Als Macron am
Mittwoch voriger Woche im elsässischen
Muttersholtz eine Fabrik besuchen
wollte, fiel dort der Strom aus. Im
Nachbarstädtchen Sélestat empfing ihn
eine weitgehend feindselige Menschenmenge.
Drei Anwesende sollen
nun im September vor Gericht erscheinen.
Ihnen wird zur Last gelegt,
dass sie dem Präsidenten den Mittelfinger
entgegengereckt haben sollen.
Zu einem Stromausfall kam es auch
früh am Donnerstag voriger Woche, als
Macron das südfranzösische Département
Hérault besuchte – zunächst am
Flughafen von Montpellier, später an
der Mittelstufenschule in der ländlichen
Gemeinde Ganges, die der Staatschef
besichtigte. Im 4 000-Einwohner-Örtchen
demonstrierten rund 1 000
Menschen gegen ihn, die auf Kochtöpfe,
Deckel und Pfannen schlugen. Diese
Protestform wird seit vorvergangener
Woche immer populärer, am Montag
wurden erneut rund 400 französische
Städte auf diese Weise beschallt. Anlass
war der erste Jahrestag der Wiederwahl
Macrons.
Die Stromausfälle kommen nicht von
ungefähr. Die CGT-Gewerkschaft im
Energiesektor hatte zuvor angekündigt,
Politikern und Unternehmen unfreiwillige
»Energiesparmaßnahmen« aufzuerlegen.
Das war auch eine Reaktion
darauf, dass Macron in einer Fernsehansprache
am Abend des 17. April verkündet
hatte, innerhalb von »100 Tagen«
werde er nun Verbesserungen
den Bereichen Schule, Gesundheitssystem,
Soziales, Ökologie einleiten. Größtenteils
lässt sich Macron nicht auf
konkrete Zusagen ein, dem Lehrpersonal
an Schulen stellte er am vergangenen
Donnerstag auf dem Pressetermin
beim Schulbesuch im Département
Hérault jedoch eine Erhöhung des Nettolohns
um 100 Euro in Aussicht. Dabei
handelt es sich aber nur um die Wiederholung
dessen, was der von Macron
gewünschte »Lehrerpakt« vorsieht:
Lehrern im Gegenzug für eine zusätzliche
Vergütung weitere Aufgaben zuzuteilen.
Ein Vorschlag, den die Gewerkschaften
bereits in der Vergangenheit
kritisierten.
In Reaktion auf Macrons 100-Tage
Programm kündigte die CGT Energie
Träte Marine Le Pen am kom men -
den Sonntag gegen Emmanuel
Macron bei der Stichwahl um die
Präsident schaft an, würde sie
Umfragen zufolge mit 55 Prozent
haushoch gewinnen.
»100 Aktionstage« an. Macrons Ankündigung
diente wohl vor allem dazu, die
Gewerkschaften zur Mitarbeit zu bewegen
und dabei ihre in den Augen der
Regierung starrsinnige Ablehnung der
Rentenreform abzuschwächen. Nur
lehnen sämtliche französischen Gewerkschaften,
unabhängig von ihren
sonstigen Richtungsunterschieden,
Macrons Gesprächsangebot ab. Sie wissen
dabei die Bevölkerungsmehrheit
an ihrer Seite.
Zu den Strategien, mit denen Macron
seine Popularität wieder steigern
möchte, zählt auch ein indirektes, aber
deutliches Zugeständnis an die extreme
Rechte. In seinem Interview in der
Tageszeitung Le Parisien kündigte der
Präsident ein neues Ausländergesetz
an – eines in einer langen Reihe,
schließlich hat es seit 1980 bereits 29
neue Ausländergesetze (Stand 2022)
gegeben, eines alle 17 Monate. Es scheint,
als ob Macron hier die Handlungsfähigkeit
demonstrieren möchte, auf die
er in ökonomischen und sozialen Belangen
verzichtet, wo allein nur noch
der angebliche Sachzwang herrschen
soll. Im Dezember hatte Macrons Innenminister
Gérald Darmanin einen entsprechenden
Gesetzentwurf vorgelegt.
Da die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse
in Sachen Rentenreform
sich da bereits zu Ungunsten der Regierung
verschoben, entschloss man
sich, Darmanins Vorschlag zunächst
zu vertagen. Nun soll das Gesetzesvorhaben
erneut auf die Tagesordnung
gesetzt werden.
Macron und Darmanin möchten
neue Härten für straffällige Ausländer
und sonstige Ausreisepflichtige einführen:
So soll der Anteil der tatsächlich
vollzogenen Ausweisungen von Ausreisepflichtigen,
der derzeit bei 15 Prozent
liegt, erheblich angehoben werden.
Auch dem Arbeitskräftebedarf von
Unternehmen beispielsweise im Gaststätten-
und Baugewerbe will man berücksichtigen:
Arbeitnehmer ohne Papiere
in Sektoren mit Arbeitskräftemangel
sollen ihren Aufenthalt zukünftig
leichter legalisieren können. Letzteres
empört den rechten Flügel von LR
ebenso wie den Rassemblement national
(RN) und Éric Zemmour, den bekannten
Vorsitzenden der rechtsextremen
Partei Reconquête. Sie alle beschwören
eine Katastrophe in Gestalt
einer »massenhaften Einladung von
Illegalen zum Abholen von Aufenthaltstiteln«.
Für eine parlamentarische Mehrheit
wäre die weitreichende Zustimmung
von Abgeordneten der konservativen
Oppositionspartei Les Républicains
(LR) entscheidend. Auch die Rentenreform
auf herkömmlichen Weg durchs
Parlament zu bringen, scheiterte daran,
dass Macron nicht die Zustimmung
der Mehrzahl der LR-Abgeordneten erreichen
konnte. Darmanin baut darauf,
dass Verschärfungen
etwa bei der Verhängung
von Ausreiseverpflichtungen
und bei Abschiebungen
auch bei LR auf Zustimmung
stoßen.
Die konservative Partei
wählte im Dezember einen
neuen Vorsitzenden, Éric
Ciotti, der auf mehreren Feldern
– Innere Sicherheit,
Bürgerrechtspolitik, Einwanderung,
Islam, nationale Identität –
erklärtermaßen mit der ex tremen Rechten
konkurriert. Ciotti hatte im September
2021 angekündigt, falls es zu einer
Stichwahl um die Präsidentschaft
zwischen Macron und dem Rechtsextremen
Éric Zemmour käme (letztlich
erhielt Zemmour nur sieben Prozent
der Stimmen im ersten Wahlgang),
würde er für Zemmour stimmen, Marine
Le Pen hingegen sei ihm sozialpolitisch
»zu links«.
Dieses Image macht diese derzeit
aber eher populärer. Am Samstagmorgen
konnte die Fraktionsvorsitzende
des RN in der Nationalversammlung
beim Besuch einer Landwirtschaftsmesse
in Beaucroissant, in der Nähe
von Grenoble, in der Menge baden.
Umfragen verkünden, dass, wenn Le Pen
am kommenden Sonntag gegen Macron
bei der Stichwahl um die Präsidentschaft
anträte, sie diese mit 55 Prozent
haushoch gewinnen würde.
Die Parteiführung von Emmanuel
Macrons Partei, Renaissance, kündigte
Ende voriger Woche an, eine Sonderkommission
zur politischen Bekämpfung
des RN einzusetzen. Das Problem
dabei ist nur, dass sie dies bereits zum
dritten Mal in Folge seit 2019 ankündigt.
Marine Le Pen profitiert als lachende
Dritte vom Ringen zwischen Regierung
und Kapitalvertretern einerseits und
Gewerkschaften auf der anderen Seite,
jedenfalls solange die Gewerkschaften
den Abwehrkampf nicht gewinnen und
Macron weiterhin eine schlechte Figur
abgibt. Dabei hält Le Pen sich relativ
bedeckt. An Demonstrationen nimmt
ihre Partei nicht teil, platziert jedoch
vereinzelt populistischen Äußerungen
gegen die Rentenreform, ohne inhaltlich
viel beizusteuern (Jungle World
12/2023). Das funktioniert, weil der RN
zwar nicht auf der Straße präsent ist,
jedoch seit 2022 das Parlament als Bühne
nutzen kann und in zahlreichen
Fernseh-Talkshows vertreten ist. Auch
die linke parlamentarische Opposition
könnte von der Situation profitieren, allerdings
ist die linkspopulistische
Wahlplattform LFI (La France insoumise)
zerstritten und hat es überdies
nicht geschafft, den Gewerkschaften die
Führung der organisierten Proteste
streitig zu machen; so kann sie sich derzeit
nicht besonders profilieren.
Ursprünglich war die extreme Rechte
selbst für eine Erhöhung des Rentenantrittsalters
eingetreten. Als das Rentenmindestalter
noch bei 60 Jahren
lag, also vor Nicolas Sarkozys Rentenreform
vom Herbst 2010, propagierte der
Front national – so lautete der damalige
Parteiname des heutigen RN – eine
Anhebung des Renteneintrittsalters auf
65. Der verbreitete Unmut über die
Reform unter Sarkozy ließ die rechtsextreme
Partei dann jedoch Gegenteiliges
in ihre Wahlprogramme schreiben
und gegen eine Erhöhung wettern,
ohne das inhaltlich großartig zu begründen.
Zemmour, der dem RN gerne realpolitische
Aufweichung seiner Grundsätze
vorwirft und ideologische Prinzipientreue
von ihm oder gegen ihn einfordert,
blieb seinerseits den früheren
Forderungen des RN treu. Er sagte bereits
im Februar, wäre er Abgeordneter,
würde er der Rentenreform Macrons
zustimmen.
Jungle World 17 ∎∎∎ 27. April 2023
SEITE 3 ∎∎∎ THEMA