02.08.2023 Aufrufe

Held:innen-Taten in Krisenzeiten: Das Ehrenamtsmagazi

Seit dem Jahr 2022 macht ein Begriff die Runde, den die Wissenschaftler Thomas Homer-Dixon, Ortwin Renn, Johan Rockstrom, Jonathan F. Donges und Scott Janzwood geprägt haben: „Polykrise“ . Ihre These: Unsere Welt wird nicht nur von einer immer größer werdenden Anzahl an Krisen gebeutelt. Diese Krisen scheinen auch miteinander verknüpft. Durchschaubar sei das bislang nicht, ebenso wenig erforscht. Sie waren überzeugt, das müsse sich ändern. Dass es im Augenblick nicht die eine Krise gibt, sondern zumeist mehrere zusammenspielen und zu unterschiedlichen Konsequenzen führen, das hat auch das Team von Aktion Musik / local heroes e.V. erfahren. Im Rahmen ihrer zweiten Publikation untersuchten sie „Held:innen-Taten in Krisenzeiten“. Fokus ihrer Recherchen und der dazugehörigen wissenschaftlichen Untersuchung war (natürlich) das Thema Musik. Sie wollten wissen: Was bedeutet „Krise“ in diesem Zusammenhang? Und welche Konsequenzen entstanden und entstehen daraus?

Seit dem Jahr 2022 macht ein Begriff die Runde, den die Wissenschaftler Thomas Homer-Dixon, Ortwin Renn, Johan Rockstrom, Jonathan F. Donges und Scott Janzwood geprägt haben: „Polykrise“ . Ihre These: Unsere Welt wird nicht nur von einer immer größer werdenden Anzahl an Krisen gebeutelt. Diese Krisen scheinen auch miteinander verknüpft. Durchschaubar sei das bislang nicht, ebenso wenig erforscht. Sie waren überzeugt, das müsse sich ändern.

Dass es im Augenblick nicht die eine Krise gibt, sondern zumeist mehrere zusammenspielen und zu unterschiedlichen Konsequenzen führen, das hat auch das Team von Aktion Musik / local heroes e.V. erfahren. Im Rahmen ihrer zweiten Publikation untersuchten sie „Held:innen-Taten in Krisenzeiten“. Fokus ihrer Recherchen und der dazugehörigen wissenschaftlichen Untersuchung war (natürlich) das Thema Musik. Sie wollten wissen: Was bedeutet „Krise“ in diesem Zusammenhang? Und welche Konsequenzen entstanden und entstehen daraus?

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IT'S A KIND OF

MAGIC

Dieses Magazin ist nicht nur eine

Hommage an all die heldenhaften

Menschen da draußen, sondern

auch ein lebendiges Abbild

unserer vielfältigen und leidenschaftlichen

Gesellschaft. Denn

hier geht es nicht nur um Zahlen

und Statistiken – nein, es geht um

euch, die wahren Superstars ohne

Umhang, die das Ehrenamt mit

Herzblut und Hingabe prägen.

Es ist Zeit für Magie, denn es

ist eure. Liebe Heldinnen, liebe

Helden und alle, die es noch werden

wollen, Euch allen ist dieses

Magazin gewidmet. Denn: Ihr seid

Leuchttürme in Krisenzeiten. Deswegen

möchten wir eure Ehrenamtsgeschichten

erzählen.

SEITE 3 GRUSSWORT | JULIA WARTMANN

Weil Musik uns

alle inspiriert.

Musik fördern, heißt

Gemeinschaft stärken.

Darum unterstützt die

Sparkassen-Finanzgruppe

viele spannende Musikprojekte.

Weil’s um mehr als Geld geht.

Es ist vielmehr dringend notwendig!

Wir wollten und müssen mit

euch ins Gespräch kommen, als

Form der Wertschätzung einerseits,

andererseits um voneinander

zu lernen und Erfahrungen

in verschiedenen Instanzen wie

öffentlicher Verwaltung, Politik,

Wirtschaft und Wissenschaft

zu teilen. Um zu motivieren, um

Zeichen zu setzen, um den Superheroines

und Superheroes ein

Gesicht zu geben.

Hinter den 29 Millionen Engagierten

in Deutschland verbirgt sich

ein ganzes Universum voller Geschichten,

Träume und Visionen.

Wir stellen in unserem zweiten

Ehrenamtsmagazin „Held:innen-

Taten in Krisenzeiten“ 22 Power-Frauen

und -Männer vor, die

sich kulturell, sozial und politisch

einsetzen. Es sind Menschen, die

auch in Krisenzeiten leuchten,

die Wegweiser:innen sind, die

mit ihrer Entschlossenheit und

Beharrlichkeit die Welt um sich

herum zum Besseren verändern.

Wir wissen um die Dringlichkeit

des Ehrenamts. In Zeiten,

in denen von jungen Menschen

eine Vier-Tage-Woche gefordert

wird, schöpft es Hoffnung, künftig

wieder mehr Raum und Kopf für

gesellschaftliches Engagement

zu haben. Immerhin leidet auch

das Ehrenamt unter einem Nachwuchsproblem,

wie wir in unserer

ersten wissenschaftlichen Erhebung,

die ihr auf Seite 8 und 9 in

einer Zusammenfassung nachlesen

könnt, erfahren haben. Ohne

die Menschen, die sich auf, hinter

und vor den Bühnen für kulturelle

Vielfalt einsetzen – ebenso wie

die Einsatzkräfte im Bevölkerungsschutz

und auch mit Blick auf

Engagierte im Sport, im Umweltschutz,

in der Nachbarschaftshilfe

oder in der Integrationshilfe

– wäre unser Land längst nicht

so bunt, so sicher, so vielfältig,

so lebendig. Im Klartext: Magie

entsteht nicht aus dem Nichts –

sie entsteht durch euch und eure

unermüdliche Hingabe. Ohne euch

läuft nichts!

Ich danke auf diesem Weg all

unseren Interviewpartner:innen

für ihre Bereitschaft, über ihre Krisenerfahrungen

der vergangenen

Jahre zu sprechen. Trotz unterschiedlicher

Herausforderungen

haben sie alle nie den Blick auf

ihre Inspirationen und Glücksmomente

verloren. Ihr seid grandios.

Ebenso wie das gesamte Team,

das an dieser zweiten Ausgabe

mitgewirkt hat. Vielen Dank.

Julia Wartmann Geschäftsführerin

des Projektes “local heroes”

mit Begeisterung für Non-Profits,

Musik- und strategisches

Management und Schildkröten



PORTRAIT

BUSINESS INSIGHTS

DEEPER KNOWLEDGE

LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 5

SEITE 4

INHALTE

SEITE 3

SEITE 6

GRUSSWORT

JULIA WARTMANN

ÜBER LOCAL HEROES

SEITE 33

SEITE 36

CHRISTIAN STAHL & KLAUS SCHMITT //

"AB GEHT DIE LUTZI"-FESTIVAL

ROXY SCHULZ

INHALTE

SEITE 7

WAS SIND WIR OHNE EUCH?

SEITE 38

ANNA-LENA ÖHMANN & JOHANNES HILLE //

DIEPOP

SEITE 8

BUSINESS INSIGHTS

QUO VADIS EHRENAMT?

SEITE 40

JULIA SCHWENDNER

SEITE 10

JACQUELINE BRÖSICKE

SEITE 43

TIMO HOLLMANN

SEITE 13

VERA LÜDECK

SEITE 45

LINA BURGHAUSEN

SEITE 16

GERHARD KÄMPFE

SEITE 48

BUSINESS INSIGHTS

KRISE IN DER MUSIKINDUSTRIE

SEITE 18

BUSINESS INSIGHTS

CLUBKULTUR IN DER KRISE

SEITE 50

JONAS OCHS

SEITE 23

MELANIE GOLLIN, ALENA STRUZH & ROSALIE

ERNST // ZWISCHEN ZWEI UND VIER

SEITE 52

RESI SCHEUERMANN

SEITE 26

MARIE WESTPHAL

SEITE 54

RIKE JUST

SEITE 28

MARCO HEIDE

SEITE 56

NACHWORT

SEITE 30

DEEPER KNOWLEDGE

HELD:INNENZEIT

SEITE 58

IMPRESSUM



PORTRAIT

BUSINESS INSIGHTS

DEEPER KNOWLEDGE

LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 6 ÜBER LOCAL HEROES

ÜBER LOCAL

HEROES

Hinter dem Non-Profit-Projekt

„local heroes“ stehen der gemeinnützige

Verein Aktion Musik /

local heroes e.V. und ein beeindruckendes

Netzwerk aus kreativen,

engagierten Köpfen. Gemeinsam

knüpfen wir seit 1989, als die Idee

geboren wurde, ein unsichtbares

Band zwischen Jugendlichen

(ursprünglich aus Ost und West,

inzwischen europaweit) – und das

alles durch die Königin Musik!

Seitdem sind über 30 Jahre vergangen,

und in dieser Zeit haben

wir zahlreiche junge Talente aus

allen Ecken Deutschlands gefördert.

Egal, ob Bands, Solointerpret:innen

oder Musikfan, bei uns

findet jede:r einen Bühnenslot oder

Backstageraum. Unsere Mission?

Musikalische Vielfalt und kulturelle

Teilhabe für alle!

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: PAUL WEBER (S. 7)

Aus der Hansestadt Salzwedel

(Sachsen-Anhalt) heraus werden

wir zusammen mit unserem

Netzwerk deutschlandweit tätig.

Wir knüpfen Netzwerke zwischen

Veranstalter:innen, Bookern, Mentor:innen,

Wettbewerben, Journalist:innen,

Studios, Clubs, Förderern

und Sponsoren, Prominenten

und weniger Prominenten und

machen diese für Musiker:innen

nutzbar.

Local heroes ist ein Non-Profit-Projekt,

deren Umsetzung von zahlreichen

Förder:innen, Sponsor:innen

und Spender:innen getragen

wird. Inzwischen sind hunderte

ehren- und hauptamtlich Engagierte

bundesweit für eine lebendige

Newcomer:innen-Szene im Einsatz.

Wir verstehen Musikförderung als

demokratische Aufgabe und füllen

diese mit unterschiedlichen Angeboten

der kulturellen Teilhabe aus.

Das bundesweite local heroes-

Netzwerk wird seit 2015 von Julia

Wartmann geleitet, die den Staffelstab

von Mit-Begründer und dem

langjährigen Projektleiter Dieter

Herker überreicht bekam. Er ist

weiterhin beratend tätig.

Du möchtest mehr über uns erfahren?

Kein Problem! Auf unserer

Webseite www.local-heroes.de

findest du alle Informationen, Neuigkeiten

und sogar den ein oder

anderen Trick, um die musikalische

Bühnen zu rocken.

Also schnapp dir deine Instrumente

oder deine Kamera und schließ

dich uns an – denn wir freuen uns

auf deinen Einsatz auf, hinter oder

vor den Bühnen, die bereit für dich

und/oder deine Musik sind!

EIN MOIN VON DENMANTAU AN

DAS EHRENAMT ODER: GEDANKEN

EINES 15-JÄHRIGEN SÄNGERS

Es ist 00:15 Uhr, DenManTau hat

eingepackt, die Luft flimmert

noch, die Atmosphäre schwelgt

im Echo von Rufen, Applaus,

wummernden Bässen, Gitarren-,

Schlagzeug-, und Trompetensounds.

Ich lasse meine Gedanken

schweifen: „Nicht zu fassen, da waren

Leute, die haben getanzt, als wir

gespielt haben!“ Stolz und Dankbarkeit

durchflutet mich, mein

Wunsch ist klar: Ich will Musiker

sein, nichts anderes!

Bevor wir die Leinen losmachen

und weiter schippern, ein letzter

Blick auf die Bühne und ein

gewichtiger Blick in den Backstage…

ohne „Idiotenrunde“ geht

nichts! Langsam lernt man mit.

Andauernd fehlen Kabel, Mikrofonstative,

zuweilen gehen sogar

Trompeten verloren. Wenn’s hart

auf hart kommt, sogar die Stimme

des Sängers. „Tolle Scheiße, denke

ich heiser, hier steckt sie nicht.“ Zumindest

finde ich ein angefangenes

Bier, ein Plektron und die auf

einer Serviette gekrickelte Setlist.

Die kommen hübsch mit auf den

nächsten Gig. Oder wir spielen

halt ohne, das wird schon, wer

braucht schon Struktur?

Hauptsache Rock’n‘Roll, Hauptsache

laut, Hauptsache Alles. Ja

man, das ist doch alles, was wir

brauchen! Konzerte, Leute bewegen,

bewegt werden. Ich bin so

taub! Lass uns das bitte für immer

machen!

„Aber wie? Aber wo? Wie wird man

sowas? Eine Band fürs Leben? Kann

man sich da irgendwo anmelden?

Wer erklärt mir wie das geht?“

GEDANKEN EINES 15-JÄHRIGEN

SÄNGERS.

Es hat nicht lange gedauert und

schon nach wenig Recherche war

die Sache klar: „local heroes.“

Da müssen wir mitmachen! Es

gibt kein größeres und überregional

verbindenderes Netzwerk für

Musiker als diese Helden.

Für uns hieß es immer: „Haben da

nicht mal Madsen gewonnen?“ Legende,

Mythos, Wahrheit! Ey, wir

machen da mit! Gesagt, getan.

Anmeldung raus und los geht’s.

Ab da an hieß es: Fans mobilisieren,

Songs schreiben, proben, aufbauen,

Kopf aus, Bier rein, Licht

an, Show ab, Rock ab, Licht aus,

hau in Sack. Rinse and repeat.

Und alter Schwede, wir haben so

lange local heroes mitgenommen,

bis wir endlich dann auch den

ersten Platz gemacht haben, und

das hat gedauert!

… Das hat so lange gedauert, dass

wir heute alle miteinander per Du

sind und über Jahre andauernde

Freundschaften entstanden sind.

Local heroes hat uns nicht nur die

Chance gegeben live zu spielen,

sondern das Business besser zu

verstehen. Workshops und Dozenten

waren Wegbegleiter für unser

Verständnis und Teil des Reifeprozesses

für uns.

Noch heute kommen wir zusammen

und arbeiten mit und

an kulturellen Projekten. Es ist

diese Ausdauer und Hingabe, die

nicht nur eine Band braucht, um

sich mit ihrer Kunst das Leben

zu verdingen, sondern auch

ein Netzwerk, das unermüdlich

arbeitet, um junge Menschen zur

Musik zu führen und ihnen eine

Plattform zu geben. Durch local

heroes kamen wir zum ersten Mal

in Berührungen mit Presse, Liveund

Studio-Produktionen, Filmaufnahmen,

Dozenten u.v.m. Und das

Wichtigste: Wir kamen in Kontakt

mit Gleichgesinnten, die auch nur

das eine im Kopf hatten.

…heute 18 Jahre später, dieses

Mal auf dem Weg zu einem Konzert

in den Harz, wir sitzen im Van

und mich blicken immer noch die

gleichen Nasen an, die nur das

Eine wollen ... geil! DANKE LOCAL

HEROES

SEITE 7

WAS SIND WIR OHNE EUCH?



PORTRAIT

BUSINESS INSIGHTS

DEEPER KNOWLEDGE

LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

„MEHRERE STUDIEN ZEIGEN, DASS DAS ENGAGEMENT IM KULTUR-

BEREICH ZU DEN HÄUFIGSTEN ENGAGEMENTS GEHÖRT“, SAGT DR. OLE

LÖDING.

QUO VADIS EHRENAMT?

„ÜBERLEGUNG ZUR STÄRKUNG DES

EHRENAMTLICHEN ENGAGEMENTS“

Der Großteil der Kulturvereine in

Deutschland wird ausschließlich

durch ehrenamtlich engagierte

Menschen getragen werden,

lediglich in jedem siebten Kulturverein

sind bezahlte Beschäftigte

sind – so heißt es in einem vom

Stifterverband veröffentlichten

Papier des Dachverbands der

Kulturfördervereine (2020). Diese

hohe intrinsische Motivation und

der sinnstiftende Einsatz ehrenamtlich

Engagierter ist bemerkenswert.

Mit den Motiven und

Herausforderungen für Engagement

beschäftigte sich der Verein

Aktion Musik / local heroes e.V.

bereits 2021.

Das Ergebnis: Im ersten Ehrenamtsmagazin

des Vereins mit dem

Titel „Heldentaten“ (2021) gab die

Netzwerk-Plattform umfangreiche

persönliche Einblicke in das

Leben und die Beweggründe von

ehrenamtlich agierenden Personen.

Darüber hinaus nimmt eine

aktuelle Grundlagen-Studie die

Engagement-Lage im Kultur-Musikbereich

ins Visier. Gemeinsam

mit dem Musikjournalisten

und Autor Dr. Ole Löding ging es

nunmehr auf wissenschaftliche

„Spurensuche“.

„Weil unsere Gesellschaft das

braucht“, mit diesem so einfachen,

wie prägnanten Satz bringt Max

Kupfer auf den Punkt, was für

knapp 40 Prozent der Gesamtbevölkerung

ab 14 Jahren selbstverständlich

ist: ein Ehrenamt. Kupfer,

der im Rahmen des Projekts

„local heroes“ unter anderem für

die Bandbetreuung zuständig ist,

sagt weiter: „Weil wir ein Miteinander

brauchen und weil wir feststellen,

dass wir miteinander deutlich

mehr erreichen können als alleine.“

So wahr eine solche Erkenntnis

ist, so prekär ist auf der anderen

Seite die Situation hierzulande.

Dr. Ole Löding skizziert diese vor

dem Hintergrund der vergangenen

Pandemie-Jahre wie folgt: „Die

kulturelle Infrastruktur ist stark

geschwächt: Auftrittsstätten und

Clubs mussten schließen. Personal

in Kulturstätten und soziokulturellen

Zentren befand bzw. befindet sich

in Kurzarbeit.“ Ehrenamtler:innen,

so der Autor von „Sound of the Cities“,

mit freier kreativer Tätigkeit,

deren Ausübung in der Corona-

Pandemie nicht mehr möglich war,

hätten ihren Job wechseln müssen

und häufig auch den Wohnort,

befänden sich in einer beruflichen

Neuorientierung oder wirtschaftlichen

Existenznöten. Organisationen

und Vereine, die die Arbeit

von Ehrenamtler:innen begleiten,

betreuen und anleiten, seien durch

die Corona-Pandemie in finanzielle

Schwierigkeiten geraten, hätten

ihre Angebote reduziert. Andere

hätten ihre Tätigkeit ungewollt

unterbrochen bzw. beendet und

müssten jetzt neu von einem

Wiedereinstieg überzeugt werden.

Und das „bei gleichzeitig in den

jeweiligen Vereinen und Organisationen

geringeren personellen und

finanziellen Ressourcen“.

Kinder und Jugendliche hat es

ebenfalls hart getroffen. Sie

„durften sich über einen langen

Zeitraum nicht mit ihrem Hobby

beschäftigen“.Hierzu zählt Dr. Ole

Löding das aktive Musizieren, was

weiterhin zu den führenden Freizeitbeschäftigungen

zähle. Der

Weg von aktiver Beschäftigung in

einem Hobby hin zu einer nachhaltigen

Beschäftigung mit diesem

Thema als Ehrenamt sei ihm zufolge

somit länger und komplizierter

geworden. Auf der anderen Seite

seien auch direkte Kontakte zu

Kindern und Jugendlichen durch

die Organisationen abgebrochen

oder eingeschränkt.

Die Auswirkungen auf den gesamten

Kulturbereich sind fatal.

Löding verdeutlicht das anschaulich,

indem er unter anderem auf

den ZiviZ-Survey von 2017 verweist.

Darin heißt es: „Die meisten

Kulturfördervereine (86 %) sind rein

ehrenamtlich getragen. Ohne diese

freiwillig Engagierten gäbe es diese

Kulturfördervereine nicht.“ Stark

unterrepräsentiert seien allerdings

junge Menschen und Schüler:innen,

so Löding weiter. Ihr Engagement

richte sich stärker auf den

schulischen Bereich selbst oder

den Sportbereich.

Insgesamt attestiert Löding dem

Kulturbereich Diversitäts- und

Nachwuchsprobleme. Menschen

mit Migrationshintergrund sind

deutlich unterrepräsentiert – aus

den unterschiedlichsten Gründen.

Hierzu schreibt er: „Zwar hat der

Anteil der Akteur:innen mit Migrationshintergrund

in den vergangenen

Jahren geringfügig zugenommen, er

liegt aber weiterhin gerade einmal

bei 14 Prozent.“ Und junge Menschen,

die sie sich in Vereinen und

Organisationen engagierten, hätten

ihr Engagement zu einem immer

größeren Teil in den Bereich

der digitalen Sphäre verlagert.

Löding mahnt: „Gerade etablierte

Engagement-Organisationen wie

Vereine, Kirchen, Stiftungen oder

Genossenschaften müssen im Blick

behalten, hier nicht den Anschluss

zu verlieren.“

Die Frage lautet also: Quo vadis

Ehrenamt? Aufschluss – wenn

auch nicht repräsentativ – könnte

hier Aktion Musik / local heroes

e.V. geben. Der in Salzwedel ansässige

Verein zur Förderung

junger Musiker:innen und von

Menschen, die sich für Musik

und Medien interessieren, unterstützt

bereits seit 1989 popmusikalischen

Nachwuchs. Und

das bundesweit. Im Rahmen des

Projektes „Netzwerkbildung im

Kultur-Musik-Bildungsbereich“

wurden von Juni bis Oktober 2021

leitfadengestützte Interviews mit

Ehrenamtler:innen geführt. „Sie“,

so Löding, „bieten (…) lesenswerte,

nachvollziehbare, konkrete und nahbare

Einblicke in die Tätigkeiten der

Engagierten.“

Eine wesentliche – und bisher statistisch

nur schwach abgebildete

Erkenntnis: „Fast alle Einstiege in

das Ehrenamt sind durch einen persönlichen

Kontakt und eine persönliche

Ansprache gelungen.“ Der Studienautor

konstatiert: „Bei allen

nachvollziehbaren Forderungen, das

Ehrenamt und die Ansprache von

Interessierten digitaler zu gestalten,

darf, das kann hieraus geschlossen

werden, die Ebene der persönlichen

Kontakte unter keinen Umständen

vernachlässigt werden.“

Entscheidend ist auch der Blick

auf die Motivation. In seiner Studie

beschreibt Löding das als ein

„Zurückgeben von als positiv wahrgenommenen

persönlichen

Erfahrungen.“

Dieser Aspekt der Motivation für

das Engagement sei in den Statistiken

nicht besonders gut ablesbar.

In den Interviews tauche er

aber in vielfachen Varianten auf.

Diese Freude an der Tätigkeit gehe

sogar soweit, dass Gesprächspartner:innen

mehrfach den Begriff

der ehrenamtlichen Arbeit für sich

gar nicht in Anspruch nehmen

mochten. Eine der zentralen Voraussetzungen

für diese „Freude an

der ehrenamtlichen Tätigkeit“ sei

jedoch ein Umfeld, das bestärke

und nicht belaste. Als weiteres,

gewichtiges Motiv kristallisierte

sich Löding zufolge das „Finden

neuer persönlicher Kontakte oder

Freundschaften“ und damit verbundene,

spezifische Kompetenzgewinne,

wie etwa mehr soziales

Bewusstsein, heraus. Selbstoptimierung

spiele hingegen eine eher

untergeordnete Rolle.

Seine Folgerung ist deutlich: „Im

Gesamtbild zeichnen die Gespräche

ein ausnehmend positives Bild

des ehrenamtlichen Engagements.

Umso bedeutender scheint es,

möglichst vielen Menschen den

zumindest potentiellen Zugang zu

diesen Erfahrungen zu ermöglichen.“

Gelingen könnte das mittels

einer ganzen Reihe von Ansätzen.

Löding fasst diese in insgesamt

30 Handlungsempfehlungen für

Vereine, und Organisationen, die

mit Ehrenamtler:innen arbeiten,

zusammen. Dabei konzentriert

sich der Wissenschaftler vor allem

auf die Themen Netzwerk-Bildung,

Wertschätzung, nachhaltiges Recruiting,

Diversität und Digitalität.

Seine Hinweise sind ernst zu

nehmen. Denn für nicht wenige

Organisationen, Vereine und Institutionen

könnten sie zur Überlebensfrage

werden…

Die Umsetzung der Studie wurde

u.a. finanziert durch die Stiftung

Deutsche Jugendmarke e.V. und

das Land Sachsen-Anhalt.

HIER GEHTS

ZUR STUDIE!

SEITE 9

BUSINESS INSIGHTS | QUO VADIS EHRENAMT?

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: NICOLE OPPELT



DIE UNERMÜDLICHE

Jacqueline Brösicke GESCHÄFTS-

FÜHRERIN „VOLKSBAD BUCKAU“

MAGDEBURG

Jacqueline Brösicke leitet seit

über 30 Jahren ein soziokulturelles

und Frauenzentrum in Magdeburg.

Die vergangenen drei Jahre

waren für sie und ihre Kolleg:innen

eine enorm große Herausforderung

– doch es gab auch positive

Erfahrungen, die die ehrenamtliche

Arbeit nachhaltig veränderten.

Kurse, Workshops, themenzentrierte

Veranstaltungen mit

entsprechenden Inhalten – die

Angebote des Frauenzentrums

„Volksbad Buckau“ in Magdeburg

sind vielfältig. Dabei ist das nicht

ein Frauenzentrum, wie es viele im

Land gibt. „Hier ist eine Mischung

entstanden, die es vorher noch nie

gab“, erzählt Jacqueline. „Seit

2006 sind unser soziokulturelles

Zentrum und Frauenzentrum in einer

Hand – das ist das Besondere an

uns“. Hier treffen sich zum Beispiel

der Volkschor, ein Fotoclub oder die

Töpfergruppe „Figur und Topf“.

Für Jacqueline und ihre Fraueninitiative

bedeutet soziokulturelle

Arbeit: Anderen ermöglichen,

selbst kreativ tätig zu werden.

Dabei wollen sie und ihre KollegInnen

vor allem Frauen und

Mädchen fördern. „Local heroes

waren für uns zunächst Menschen

wie der Volkschor, deren Mitglieder

in Krankenhäusern oder anderen

solidarischen Orten singen“, sagt

Jacqueline.

So wurde das „Volksbad“ damals

zur local heroes-Veranstalterin.

Dann kam 2020. Und mit ihm die

Coronakrise. Mehrfach musste

das Haus für öffentliche Veranstaltungen

geschlossen werden.

Welche Folgen hatte das für die

ehrenamtliche Arbeit? „Die Gruppen,

die hier im Haus waren, hatten

große Probleme. Die Schließzeiten

waren für sie ein Desaster“, erinnert

sich Jacqueline. „Sie haben ihren

Ort hier. Und wenn sie sich nicht

treffen können, dann fehlt bei denen

etwas ganz Entscheidendes im Leben,

nämlich die Gemeinsamkeit.

Viele von diesen Menschen waren

deprimiert, denn sie hatten ihren Ort

verloren, an dem sie sich einmal in

der Woche treffen und sich austauschen,

sich ihre Probleme erzählen

konnten.“

Mühselig wurden Kompromisse

gefunden. Der Chor konnte bei

gutem Wetter draußen proben, die

Töpfergruppe sich mit weniger

Leuten treffen, um die geforderten

Abstände einhalten zu können.

„Uns war es wichtig, dass sie hierherkommen

konnten, dass sie nicht

isoliert waren und nicht den Glauben

an ihr Dasein verlieren“, sagt

Jacqueline.

Das Kulturzentrum hatte in all den

Jahren noch nie eine Schließzeit

durchleben müssen. Noch nie

waren kulturelle Orte insgesamt

geschlossen gewesen. „Das war so

etwas einschneidend Dramatisches,

dass die meisten Menschen erst an

der Stelle gespürt haben, was Kultur

für sie bedeutet, was das einerseits

für ein Luxus ist und auch ein

Segen“, so Jacqueline.

„Wir machten auch die Erfahrung,

wie man etwas vermissen kann,

wenn man es gar nicht hat. Als alle

kulturellen Orte geschlossen hatten,

haben ganz viele gemerkt, dass ihr

Leben extrem beeinträchtigt ist und

sie unter Vereinsamung und Isolation

leiden. Das möchte ich eigentlich

so nicht noch mal erleben.“

Auch für die ehrenamtlich Tätigen

war das eine außerordentlich

schwierige Zeit. Es entstanden

völlig neue Aufgaben, mussten

wesentlich flexibler verteilt werden.

„Wir mussten permanent neue

Aufgaben lernen, die wir vorher

noch nie machen mussten. Das war

schon eine enorme Belastung. Das

hat man nicht mal so nebenbei weggesteckt.

Andererseits planen wir

weniger, weil es einfach nicht absehbar

ist, wie sich zum Beispiel die

Energiekosten weiterentwickeln.“

Ein soziokulturelles – oder auch

Frauenzentrum – zu erhalten, ist

an sich schon eine herausfordernde

Arbeit. Doch die zusätzlichen

Aufgaben, die in der Coronakrise

von Veranstalter:innen verlangt

wurden, brachten für Jacqueline

und ihr Team größte Schwierigkeiten

mit sich. Impfausweise

kontrollieren, Masken bereithalten,

kontrollieren, ob der Abstand eingehalten

wird – das waren noch

nicht einmal herausforderndsten

Tätigkeiten.

SEITE 11 PORTRAIT | JACQUELINE BRÖSICKE

BILDER:

TEXT: NICOLE OPPELT



PORTRAIT

BUSINESS INSIGHTS

DEEPER KNOWLEDGE

LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 12

PORTRAIT | JACQUELINE BRÖSICKE

„Die absolute Schwierigkeit war, zu

entscheiden, ob eine Veranstaltung

überhaupt durchgeführt werden soll,

auch wenn sie völlig unrentabel ist“,

erinnert sich die Magdeburgerin.

„Da mussten wir wirklich jeden Tag

neu drüber nachdenken, was macht

man jetzt, was lohnt sich, wie viel

Personalaufwand kann ich betreiben?

Und wie viel Personal habe ich

überhaupt, um das alles zu stemmen?

Und natürlich jetzt mit dieser

Energiekrise ständig zu schauen,

wo man noch Geld herbekommt für

andere Inhalte? Und immer am Ball

bleiben – und natürlich noch flexibler

sein, als man vorher schon war“,

so Jacqueline.

Irgendwann lässt selbst bei der

engagiertesten Veranstalter:in die

Energie nach. „Ich habe schon eine

Menge auf meine Schultern genommen.

Aber es ist natürlich trotzdem

so, dass du dich immer wieder

fragst, wie viel kann ich noch an Verantwortung

übernehmen, ohne dass

es mich zu sehr belastet?“, erinnert

sich Jacqueline. „Schließlich gab

es ja auch die rechtliche Verantwortung,

die Haftung als Veranstalter:in.“

TROTZ ALLER SCHWIERIGKEITEN HABEN JACQUELINE BRÖSICKE

UND IHRE KOLLEG:INNEN WÄHREND DER KRISENZEIT MENSCHEN EINE

MÖGLICHKEIT ZUR ZUSAMMENKUNFT GEGEBEN.

Doch es gab auch positive Erfahrungen.

Menschen bedankten sich

überschwänglich, signalisierten,

wie sehr sie das Zentrum brauchen.

Jacqueline:

Wenn die Leute das, was wir machen,

vermissen und uns damit

auch wertschätzen. Und was für

mich auch positiv war, war die

Besinnung darauf, wie wichtig es

im Leben ist, etwas gemeinsam zu

machen.“ Die technischen Möglichkeiten,

sich zu vernetzen,

bekamen plötzlich eine ganz neue

Bedeutung. Meetingsoftware wird

bis heute regelmäßig genutzt.

Die Ukrainekrise brachte dann weitere

Erkenntnisse: „Wenn es eine

konkrete Bedrohung gibt, etwas,

was sie mit ihrem Leben verbinden

können, sind Menschen eher bereit,

etwas ehrenamtlich zu leisten“, hat

Jacqueline erfahren.

Jacqueline denkt, dass die Menschen

in den Krisenzeiten erkannt

haben, dass sie etwas bewegen

können, dass das, was sie tun,

Früchte trägt. Für die Zukunft

wünscht sie sich, dass ehrenamtliches

Engagement auch ohne Vereinsstrukturen

mehr unterstützt

wird.

WIR BRAUCHEN AUF ALLEN EBENEN EINE BESSERE ABSICHERUNG.

AUCH ALS FRAU MIT KIND MUSS ES MÖGLICH SEIN, VON MUSIK ZU

LEBEN.

DIE KÄMPFERIN

Vera Lüdeck GESCHÄFTSFÜHRE-

RIN DER LAG ROCK IN NIEDER-

SACHSEN E.V.

Seit 30 Jahren kümmert sich Vera

Lüdeck um die Popularmusikförderung

im Land Niedersachsen

und hat in den letzten Jahrzehnten

schon einige Krisen und Herausforderungen

gemeistert. Um weiterhin

motiviert zu bleiben, stellt

sie sich selbst immer wieder neue

Herausforderungen und findet

stets neue Wege, kreativ zu sein,

auch in Krisenzeiten.

Flexibilität gehörte schon immer

zu Veras Job dazu. Sie ist frei in

der Auswahl der Projekte, die sie

betreut, der Menschen, Netzwerke

und Kooperationen, mit denen sie

zusammenarbeitet, und sie kann

ihrer Kreativität freien Lauf lassen.

„Das macht es natürlich sehr

leicht, dort so lange zu verweilen“,

sagt Vera Lüdeck zu ihrer hauptamtlichen

Tätigkeit. Ehrenamtlich

engagiert sie sich als Mitglied des

Aufsichtsrats des Musikzentrums

Hannover und im Präsidium des

Landesmusikrates Niedersachsen.

FRISCHES,

NEUES,

KREATIVES

ENTSTEHT

Auch wenn sie in den vergangenen

Jahren viele Herausforderungen

gemeistert hat, war auch für

Vera Lüdeck die Pandemie eine

Ausnahmesituation und sie hat

hautnah mitbekommen, dass die

Musikbranche mit am härtesten

von der Coronakrise betroffen war.

Sie sprach mit Musiker:innen, die

Hartz IV beziehen, die Branche

wechseln oder an ihre private

Altersvorsorge mussten, um sich

über Wasser halten zu können. In

ländlichen Gebieten verschwanden

und verschwinden noch immer Kooperationspartner:innen,

da diese

meist ehrenamtlich gestützten Vereine

ihrer gemeinnützigen Arbeit

angesichts steigender Energiekosten

oder zu vieler ausgefallener

Konzerte nicht mehr nachkommen

können. Zusätzlich haben viele

die Motivation verloren weiterzumachen,

während sie parallel ihren

hauptamtlichen Tätigkeiten nachgehen,

so Vera im Interview.

Auch für Newcomerbands war

und ist es weiterhin eine schwierige

Zeit, da teilweise immer noch

Nachholkonzerte von größeren

Bands stattfinden und daher keine

Kapazitäten mehr für neue Konzerte

und Bands vorhanden sind.

SEITE 13

PORTRAIT | VERA LÜDECK

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: ANGELIKA BLANK



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LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

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SEITE 14

PORTRAIT | VERA LÜDECK

„Es ist zurzeit für Newcomer:innen

im musikalischen Sektor eine denkbar

ungünstige Zeit anzufangen“,

erzählt Vera.

Angesichts der Herausforderungen

der Pandemie war sie gezwungen,

noch flexibler zu sein.

Sie musste die Entwicklungen zu

den Coronaregelungen genauestens

und tagesaktuell beobachten

und umsetzen; schauen, inwiefern

Veranstaltungen überhaupt

durchgeführt werden durften.

Dabei wurden auch grundsätzliche,

„schon fast philosophische

Fragen diskutiert“, beispielsweise

ob ungeimpfte Personen zu den

Konzerten kommen dürfen, was

auch anstrengend war. Dazu kam

eine enorme Doppelbelastung, da

alle Veranstaltungen mehrfach geplant

wurden, da man nie wusste,

unter welchen Konditionen und

Bedingungen die Events durchgeführt

werden durften. Innerhalb

weniger Tage mussten da Pläne

komplett umgeschmissen und neu

konzipiert werden. Vera hat also,

so wie viele andere Menschen in

der Branche auch, doppelt gearbeitet.

Ein besonders schmerzhaftes

und einprägsames Ereignis war

für Vera der Moment, als ausgerechnet

am Tag des Aufbaus der

Ausstellung „Starting Pop“ der

Lockdown ausgerufen wurde. Über

ein Jahr hatte ein Team daran

gearbeitet und sie konnte schließlich

nicht stattfinden. Obwohl sie

und alle Beteiligten das Beste aus

dieser Situation machten, waren

die Arbeit und die Anstrengungen

eines ganzen Jahres hinfällig.

Eine weitere Herausforderung, die

Vera benennt, war der verstärkte

Kontakt und Austausch mit den

unterschiedlichen niedersächsischen

Ministerien. Zwar gab es

viele Unterstützungsmaßnahmen

auf Bundesebene, die Musiker:innen

in Anspruch nehmen konnten,

aber diese waren leider zu bürokratisiert,

was die langjährige Musikerförderin

sehr verärgert hat.

Sie weiß von Musiker:innen, die

„das Geld zurückzahlen mussten,

weil ihr Einkommen 10 Cent über der

zulässigen Grenze lag“.

Doch statt sich der Ohnmacht

einer scheinbar perspektivlosen

Situation hinzugeben, hat Vera

ihre Fähigkeiten und ihre Position

genutzt, um für die Szene

zu kämpfen. Der Fokus ihrer

ehrenamtlichen Arbeit hat sich

in Richtung Schwerpunktunterstützung

von Soloselbstständigen

verändert, da sie gemerkt hat, „wie

fragil diese Szene und wie unterstützenswert

das aber auf der anderen

Seite ist“. Sie setzt sich dafür ein,

dass es ein besseres Auffangnetz

für eben diese Gruppe von Soloselbstständigen

gibt, damit diese

auch Krisenzeiten möglichst gut

überstehen können. Sie fordert

beispielsweise Mindestgagen und

-honorare und eine Arbeitslosenversicherungen

für Künstler:innen

ein.

Einen positiven Aspekt, den die

Pandemie hervorgebracht hat,

ist laut Vera Lüdeck das Thema

Digitalisierung. Ohne die Pandemie

hätte es nicht die Möglichkeit und

vor allem die Gelder gegeben, so

schnell neue digitale Infrastrukturen

aufzubauen, um z.B. digitale

Workshops und Tutorials anbieten

zu können.

Auch Streaming oder andere

digitale Anwendungen wären ohne

die finanzielle Unterstützung nicht

umsetzbar gewesen. Durch diese

neuen digitalen Tools sind auch

heute noch Mitgliederversammlungen

per Zoom möglich, die auch

Menschen, die nicht aus Hannover

kommen, wahrnehmen können.

Jedoch führe das auch dazu, dass

man sich entfremdet. Der persönliche

Kontakt fällt weg.

Vera Lüdeck konnte auch persönlich

an den Ausnahmesituationen

wachsen und hat gemerkt, „dass

ich doch wesentlich mehr schaffe,

als ich immer so denke“ und „dass

im Grunde alles immer irgendwie gut

wird“. Ohne die Unterstützung ihrer

Kolleg:innen, ihres Teams, Netzwerk-

und Kooperationspartner:innen

wäre dies für die Hannoveranerin

aber nicht denkbar gewesen.

Sie ist seither dankbarer und

demütiger geworden. Vera schätzt

sich glücklich, dass sie einen Job

ausüben darf, der ein geregeltes

Einkommen bringt und sie nicht

davon abhängig ist, durch Auftritte

oder freiberufliche Tätigkeiten ihr

Geld verdienen zu müssen.

„DURCH EIN SO STARKES NETZWERK [WIE LOCAL HEROES] SIND WIR

NATÜRLICH AUCH GESTÄRKT.“

Diese verstärkte Dankbarkeit bekommt

Vera auch auf der anderen

Seite mit, wenn sich Teilnehmende

der Frauenmusiktage oder des

MädchenMusikCamps EMMA bei

ihr bedanken und so glücklich

darüber sind, dass diese Veranstaltungen

wieder stattfinden

können. Das ist das, was für Vera

das Ehrenamt ebenfalls ausmacht,

dass es ein gegenseitiges Geben

und Profitieren ist.

Was sich an ihrem ehrenamtlichen

Engagement geändert hat, ist,

dass sie sich eher überlegt, womit

sie ihre Zeit verbringen möchte

und vermutet, dass das auch für

viele andere so sein wird. Die

Frage nach der politischen, ökologischen

und ökonomischen Sinnhaftigkeit

eines ehrenamtlichen

Projektes wird vermehrt gestellt

werden: „Warum mache ich das?

WARUM

MACHE ICH

DAS?

Und was hat das für Auswirkungen,

was ich hier tue? (…) Ist es nachhaltig?

(…) Identifiziere ich mich

politisch mit dem, was ich hier tue

und was bringt mir das?“ Außerdem

werden laut Vera die Menschen nicht

mehr „so langfristig ehrenamtlich

engagiert sein, sondern eher kürzer

und eher öfter auch mal wechseln.“

Es ist zwingend notwendig, dass

die hauptamtlichen Strukturen im

Bereich Popularmusik gestärkt

werden, um den vielfältigen Anforderungen

der ehrenamtlichen

Tätigkeiten gerecht zu werden

und diese weiter ermöglichen zu

können.

Vor allem braucht die niedersächsische

Popularmusikszene viel

mehr finanzielle Förderung, damit

Projekte realisiert und Menschen

bezahlt werden können.

PORTRAIT | VERA LÜDECK

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: RUBI MURUGESAPILLAI



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PORTRAIT | GERHARD KÄMPFE

DER

TAUSENDSASSA

Gerhard Kämpfe KULTURMANAGER

UND PRODUZENT

Ob als Musik-, Hörfunk- oder

Fernsehproduzent, Kulturmanager,

Festivalveranstalter, Komiker oder

Dozent – Gerhard Kämpfe ist wohl

jemand, den man als Tausendsassa

bezeichnen kann. Seit nunmehr

vier Jahrzenten aktiv, ist Kämpfe

nicht mehr aus der Kulturszene

wegzudenken und hat in Krisenzeiten

gelernt, flexibel zu sein und

sich auf das Positive zu konzentrieren.

Angefangen hat Gerhard Kämpfe

in den 70er Jahren als Künstler:innenmanager.

Später wurde er Produzent,

um den kreativen Prozess

der Musikproduktion aktiv mitzugestalten.

Im Laufe der Jahre hat

er in den verschiedensten Genres

und mit einer Vielzahl von Künstler:innen,

von Singer-Songwritern

wie Bernard Brink und Roland

Kaiser bis hin zu Rockbands und

Jazz-Rock-Formationen, zusammengearbeitet.

Darüber hinaus war er auch im

Fernsehen und Hörfunk als Produzent

aktiv und hat eine besondere

Leidenschaft für jüdischen Humor

entwickelt. Als Komiker tritt er

auch heute noch auf diversen Bühnen

Deutschlands auf, erstmals im

Rahmen der Jüdischen Kulturtage,

die Kämpfe fünf Jahre lang als

Intendant begleitete.

Zudem veranstaltet Gerhard Kämpfe

seit 1992 das Classic Open-Air

Festival auf dem Gendarmenmarkt

in Berlin. An fünf Juli-Abenden finden

verschiedene Konzerte statt,

mit Auftritten von Solist:innen wie

„NICHT AUF EINE BÜHNE ZU KÖNNEN, WENN DAS DEINE LEIDENSCHAFT

IST, DAS IST (…) EIN STARKER VERLUST AN LEBENSQUALITÄT.“

José Carreras oder Montserrat

Caballé bis hin zu Gruppen wie

Buena Vista Social Club oder den

Scorpions mit Orchesterbegleitung

und Themenabenden rund

um Komponisten wie Mozart oder

Wagner. Seit 2021 ist er Intendant

des Dessauer Kurt-Weill-Festes

und hatte in diesem Rahmen auch

die ersten Berührungspunkte mit

den local heroes.

Als Konzertveranstalter hat ihn die

Pandemie am meisten getroffen.

Konzerte fielen aus, Mitarbeitende

verließen die Branche und die Besucher:innen

blieben weiter lange

vorsichtig, bevor sich langsam

wieder so etwas wie Normalität im

Kulturbetrieb einstellte. Auch das

Classic Open-Air Festival musste

in den Pandemiejahren ausfallen

und findet erst 2025 wieder statt,

da zwischenzeitlich Sanierungsarbeiten

am Gendarmenmarkt

begannen.

Das Ausfallen von Konzerten hatte

natürlich in erster Linie finanzielle

und ökonomische Auswirkungen.

Kämpfe schaffte es nur mit Hilfe

des ehemaligen Berliner Kultursenators

Ausfallhonorare für die

Künstler:innen und Musiker:innen

zu zahlen. Dies entlastete die

Menschen nicht nur finanziell, sondern

wurde auch als Zeichen der

Anerkennung gedeutet. Doch er

selbst musste auch schauen, dass

die ökonomische Schieflage, die

durch ausgefallene Konzerte und

fehlende Einnahmen einerseits und

weiter laufende Kosten und Ausgaben

andererseits, ausgeglichen

wurde und das vorhandene Kapitel

sorgsam verwaltet wurde.

Diese Situation wurde zur psychischen

Belastungsprobe: „Nicht auf

eine Bühne zu können, wenn das

deine Leidenschaft ist, das ist (…)

ein starker Verlust an Lebensqualität“,

so Kämpfe im Interview. Auch

unter den Konzertbesucher:innen

herrschte eine starke Verunsicherung

und der Stellenwert des

Sektors Kultur verschob sich.

In Krisenzeiten stünden die Grundbedürfnisse

im Vordergrund: Könne

man seine Familie ernähren?

Miete zahlen? Für die Schulkosten

der Kinder aufkommen? Das sind

alles Dinge, die Vorrang hätten,

und da stünde und stände auch in

möglichen künftigen Krisensituationen

die Kultur hinten an. Nichtsdestotrotz

haben die Freude über

wiederstattfindende Veranstaltungen

und das dankbare Annehmen

von Kulturangeboten Kämpfe gezeigt,

dass Kultur ein unverzichtbarer

Bereich des gesellschaftlichen

Lebens ist.

Generell ließ sich Gerhard Kämpfe

nicht von der Krise entmutigen und

versuchte, stets positiv zu bleiben

und sich auf die Solidarität zu

besinnen, die insbesondere in Krisenzeiten

verstärkt zum Vorschein

kommt.

Da ehrenamtliche Tätigkeiten im

weiteren Sinne der Gemeinschaft

und ihrem Wohl dienen und diese

in Krisenzeiten gefährdet sind,

wird auch das Ehrenamt umso

wichtiger. Als Beispiele für diese

Solidarität nennt Kämpfe die

Waldbrände in Brandenburg in den

vergangenen Jahren, die ohne die

Hilfe der Freiwilligen Feuerwehren

nicht so einfach zu löschen und zu

bändigen gewesen wären.

Auch die große Hilfsbereitschaft

während der Fluten im Ahrtal oder

des anhaltenden Angriffskriegs auf

die Ukraine und der daraus resultierenden

Flucht vieler Ukrainer:innen

nach Deutschland hat gezeigt,

dass ehrenamtliche Tätigkeiten

unerlässlich sind, um in Krisenzeiten

aufeinander Acht zu geben und

das gesellschaftliche Miteinander

zu stärken.

Diese Solidarität beobachtete

Kämpfe auch in seiner Branche, wo

festangestellte Musiker:innen ihre

Ausfallhonorare mit freiarbeitenden

Musiker:innen teilten oder sie

ihnen gänzlich überließen. Andere

taten sich zusammen, wenn sie

merkten, dass es befreundeten

Musiker:innen finanziell nicht gut

ging und unterstützen diese dann

gemeinsam: „Solche Aktionen

haben mich dann schon auch sehr

glücklich gestimmt und gezeigt,

dass auch Solidarität möglich ist“,

erzählt Kämpfe.

Ehrenamtliches Engagement hilft

nicht nur den Menschen, die diese

Unterstützung benötigen, sondern

auch denjenigen, die diese Hilfe

leisten. Es bereichert einen also

auch persönlich und bietet Erfüllung.

Dies erfuhr Kämpfe vor allem in

den Jahren als ehrenamtlicher

Dozent an der FU Berlin. Dort

empfand er das Ehrenamt als ein

stetes Geben und Nehmen. Indem

er Studierenden etwas beigebracht

und sie an seinem Know-how

teilhaben lassen hat, hat er sich

selbst noch mal intensiv mit den

Inhalten beschäftigt, was seine

Expertise und sein Wissen weiter

bereicherte.

Das wurde ihm auch so von den

Studierenden reflektiert und diese

Erfahrung im Ehrenamt schätzt er

sehr, „dass man als ehrenamtlich

tätiger Mensch eine Reflexion bekommt,

die einem selbst mindestens

so gut tut wie demjenigen, für den

man das Ehrenamt ausführt.“

Um die Potenziale des Ehrenamtes

nachhaltig auch in der Zukunft

zu stärken, muss laut Kämpfe

die gesellschaftliche Bedeutung

ehrenamtlicher Tätigkeiten stärker

hervorgehoben und das Bewusstsein

für diese geschärft werden.

Kämpfe sagt, dass ehrenamtliches

Engagement insbesondere „medial,

also sowohl im Netz als auch

in den Printmedien, vielleicht noch

etwas mehr hervorgehoben werden

müsste“. Auch das Weitergeben

von Wissen durch ältere Menschen

versteht Kämpfe als essenziell und

schlägt vor, dass solche möglichen

ehrenamtlichen Tätigkeiten

beispielsweise auch durch den

Gesetzgeber implementiert werden

können, indem Rahmenbedingungen

dafür geschaffen werden.

Darüber hinaus sollten bereits

Schüler:innen lernen, welche positiven

Aspekte das ehrenamtliche

Arbeiten mit sich bringt und dass

auch sie, indem sie anderen Menschen

helfen, davon profitieren.

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PORTRAIT | GERHARD KÄMPFE

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: RUBI MURUGESAPILLAI



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BUSINESS INSIGHTS | CLUBKULTUR IN DER KRISE

JOJO SCHULZ UND SEINE CREW MÜSSEN HEUTE MEHR RECHNEN. „DAS LÄSST DIE SPIELRÄUME

VOR ALLEM IN DER SUBKULTUR KLEINER WERDEN.“

AUS DER KRISE IN DIE ZUKUNFT:

PERSPEKTIVEN DER LIVE-CLUBS

Joachim Schulz DIPLOM-SOZIAL-

PÄDAGOGE / MUSIKER / INHABER

„POSTHALLE“ WÜRZBURG

Michael Conrad VERANSTALTER

/ INHABER „INSEL DER JUGEND“

MAGDEBURG

Wenn sich die Tore öffnen, liegt

Liebe in der Luft. Liebe zu Kultur

– ganz gleich, ob Musik, Kabarett,

Kulinarik oder gar Charity. Besondere

Veranstaltungsstätten

wie die „Posthalle“ in Würzburg

oder die „Insel der Jugend“ in

Magdeburg gehören zum (sozio-)

kulturellen Herzen einer Stadt.

Hier können Menschen ausgelassen

tanzen, feiern, sich austauschen

und sie gewinnen obendrein

viel dazu. Joachim „Jojo“ Schulz

und Michael Conrad führen diese

Einrichtungen mit Leidenschaft.

Obendrein sind sie erfahrene

Event- und Konzertveranstalter.

Krisen können solche „alten Hasen“

nicht erschüttern. Oder?

Konzerte, die kurzfristig wackeln,

Personal, das auf die Schnelle

noch gesucht werden muss, Planungen

und Verhandlungen, die

sich über lange Zeiträume ziehen:

Das und noch vieles mehr sind

Unwägbarkeiten, die das Eventund

Konzertgeschäft seit jeher

mit sich bringen. Die Kulturschaffenden

sind darauf eingestellt.

Und sie gehen zumeist souverän

mit allen Fallstricken um, die sich

ihnen in den Weg stellen. Die

noch nicht lange zurückliegende

Corona-Pandemie als auch die

aktuelle Energiekrise sind anders.

So empfindet es Jojo Schulz, der

Betreiber der Würzburger Posthalle,

der im Jahr 2019 noch 180.000

Besucher:innen bei rund 180

Veranstaltungen verschiedenster

Art begrüßen durfte. „Beide Krisen

gab es in dieser Form nie zuvor und

beide betreffen uns nach wie vor direkt“,

sagt der 50-Jährige. Die Jahre

2020 und Folgende haben sich

dem Familienvater ins Gedächtnis

gebrannt. „Wir mussten das Rad

neu erfinden. Das war existenziell

bedrohlich. Bis die Förderprogramme

angelaufen waren, wusste ich

nicht, ob wir im darauffolgenden

Monat wieder aufmachen können“,

erinnert er sich zurück.

Michael Conrad von der „Insel

der Jugend“ in Magdeburg erging

und ergeht es ähnlich wie seinem

Würzburger Kollegen. Im Jahr

2019 habe er pro Party etwa 350

bis 400 Gäste begrüßen können.

Dann kam der Bruch. „Gut zweieinhalb

Jahre hatten wir keine Möglichkeit

Kultur umzusetzen.“ An Förderungen

zu gelangen sei schwierig

gewesen. „Für die einen waren wir

ein Kulturbetrieb, für die anderen

ein Wirtschaftsbetrieb. Die Bälle

wurden hin- und hergespielt.“ Alle

Gespräche, die er mit Politiker:innen

geführt habe, hätten zu nichts

geführt. „Ich hatte das Gefühl, sie

versuchten, sich mit Klubbesitzer:innen

zu schmücken.“ Über die

Sinnhaftigkeit von Schließungen

selbst mag er sich jedoch kein

Urteil erlauben. Hautnah habe

er durch seine Frau, die in einem

Krankenhaus arbeitet, die andere

Seite der Medaille erfahren. „Ich

war froh, dass wir nicht gezwungen

waren, weiterhin Veranstaltungen

zu machen.“ Heute sei die Situation

jedoch fast schlimmer als

während der Krise. Die staatlichen

Förderungen seien ausgelaufen

und obendrein sei „halbvoll“ das

neue „Ausverkauft“, so der Eindruck

von Michael Conrad, den er

nicht nur auf sein Haus, sondern

auf viele weitere in der gesamten

Stadt bezieht. „Wir sind froh, wenn

wir ein Drittel davon haben.“

Die Corona-Pandemie hat die

Tätigkeiten der beiden verändert.

Nachhaltig. „Heute braucht es deutlich

mehr Spontanität als früher. Die

Branche steht Kopf“, so die Einschätzung

von Jojo Schulz.

Nichts funktioniere dieser Tage so

wie vor der Pandemie. Die Personalsituation

habe sich nochmals

verschärft. Die Kosten liefen aus

dem Ruder. Und auch Künstler:innen

wüssten heutzutage nicht

mehr, ob sie Touren überhaupt

noch finanzieren könnten. „Derzeit

laufen Veranstaltungen wieder

solide. Wir benötigen allerdings

rund 800 Besucher:innen statt vormals

300, um kostendeckend zu

wirtschaften“, rechnet der gelernte

Sparkassenkaufmann, der eigentlich

bis zu 3000 Menschen in der

„Posthalle“ empfangen könnte,

vor. „Sämtliche Parameter haben

sich verschoben. Einige Formate,

die in der Posthalle stattfanden,

haben sich überholt und müssen

überdacht werden.“

Doch aufgeben gilt nicht. Jojo

Schulz hat mit seinem Team quasi

alles auf den „Prüfstand“ gestellt.

Wo sind die Kostengräber, wo

verdienen wir Geld, seien dabei

wesentliche Fragen gewesen.

Auch Michael Conrad hat Konsequenzen

gezogen. „Ich habe nun

eine leitende Angestellte, die das

Geschäft weiterführt, und weitere

Leute eingestellt, die sich um die innerbetrieblichen

Abläufe kümmern.

In das Chaos vor der Pandemie habe

ich mich nicht mehr hineingestürzt

und mir einen neuen, hauptamtlichen

Job gesucht. Als Geschäftsführer

und Inhaber konzentriere ich

mich nur noch auf das Wesentliche.

Damit bin ich mehr als nur zufrieden.

Ich mache das mit Herzblut.“

INANSPRUCHNAHME WIRTSCHAFTLICHER HILFSMASSNAHMEN

(MEHRFACHNENNUNG), QUELLE: INITIATIVE MUSIK GGMBH (2021):

CLUBSTUDIE, S. 77, ABB: 44

SEITE 19 BUSINESS INSIGHTS | CLUBKULTUR IN DER KRISE

BILD: MARIO SCHMITT

TEXT: NICOLE OPPELT



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SEITE 20

BUSINESS INSIGHTS | CLUBKULTUR IN DER KRISE

Für Jojo Schulz und Michael

Conrad kamen die vergangenen

Jahre in mancher Hinsicht einem

Richtungswechsel gleich. „Natürlich

ist es belastend, wenn Perspektiven

‚flöten‘ gehen und man Neue

schaffen muss. Aber genau das

ist das Besondere daran. In jedem

Niedergang ist auch ein Neuanfang.

Sich ab und an neu zu erfinden hat

auf jeden Fall etwas Gutes“, betont

Jojo Schulz. Und noch einen

wesentlichen Effekt hat die Krise

gehabt, das wird Michael Conrad

nicht müde zu betonen: „Endlich

wurden Clubs als kulturelle Stätten

wahrgenommen – zumindest in

Sachsen-Anhalt – und zum Großteil

auch gefördert.“ Außerdem würden

sie von Institutionen um Rat

gefragt, gerade wenn es etwa um

das Thema Jugendkultur gehe.

„Diese Möglichkeit hatten wir vorher

nicht.“

„AM ENDE KANN

ICH NUR DAVON

PROFITIEREN.“

GEISTIG, KÖRPERLICH UND FAMILIÄR HAT DIE PANDEMIE FÜR MICHAEL

CONRAD EINE POSITIVE ENTWICKLUNG GENOMMEN.

Für Jojo Schulz und seinen Magdeburger

Kollegen kam mit der

Krise vor allem der private Benefit.

Beide hatten auf einmal deutlich

mehr Zeit für ihre Familien. „Ich

habe das Familienleben wieder

kennen und lieben gelernt“, blickt

Michael Conrad zurück. „Das

habe ich als großen Goldschatz der

Pandemie empfunden.“ Auch Jojo

Schulz sah seine drei Kinder auf

einmal deutlich häufiger als früher.

Eine Zeit, die er nicht missen

möchte.

Die Posthallen-Crew hat ihre

„Hausaufgaben“ gemacht und

bislang – trotz weiterer Widrigkeiten

(der Standort wackelte

und wackelt beträchtlich) – den

Veranstaltungsbetrieb fortführen

können.

Und das ohne Subventionen.

„Wir müssen uns zu 100 Prozent

finanzieren. Die Planungen laufen

entsprechend vorsichtiger“, gibt

Jojo Schulz zu bedenken. Aus rationaler

Warte heraus betrachtet,

dürfe er einige Shows in Zukunft

nicht mehr stattfinden lassen.

Doch der Veranstalter hat auch die

Menschen im Blick. „Es gibt einige

Dinge, die finden schon seit Jahren

bei uns statt. Das Publikum möchte

sie sehen. Das Hadern ist manchmal

sehr groß.“ Das Angebot der „Insel

der Jugend“ hat sich ebenfalls

verändert. „Wir sind eigentlich ein

Techno-Klub, der sich sehr breit aufgestellt

hat und auch viele Konzerte

macht.“ Derzeit bewege sich der

Fokus weg von Partys zu immer

mehr Konzerten – größtenteils

Hiphop, antifaschistische Veranstaltungen

mit Hardcore und Punk

und natürlich jede Menge „locals“.

Aus gutem Grund: Sehr gut besuchte

Partys seien schwieriger

umzusetzen. Das liege zum einen

am aktuellen Musikgeschmack

der jungen Leute, den die „Insel

der Jugend“ nicht teilt, zum

anderen jedoch auch an der sich

verändernden Ausgeh-Kultur.

„Viele Menschen haben nicht mehr

das Verlangen in der Nacht wegzugehen“,

ist Michael Conrad

mittlerweile überzeugt. Sie seien

eher bereit, Konzertkarten für eine

bestimmte Band für eine bestimmte

Zeit am Abend zu erwerben.

Sein Eindruck gibt ihm Recht.

„Bis dato sind alle unsere Konzerte

ausverkauft gewesen. Wir haben

also in weniger Zeit fast das gleiche

Geld verdient, wie in einer Nacht, die

wir uns um die Ohren geschlagen

haben.“

Und ein weiterer Punkt habe sich

verändert: „Vor Corona waren für

uns die Herbst- und Wintermonate

entscheidend. Jetzt hat sich der

Fokus komplett in den Sommer auf

das große Open Air-Gelände verlegt.“

Schwer sei es allerdings, den

selbst gestellten „Anspruch“ ohne

Förderungen aufrechtzuerhalten,

gibt Michael Conrad zu bedenken.

Der liegt hoch: Immerhin wurde

die „Insel der Jugend“ bereits

zwei Mal mit dem sogenannten

Applaus-Preis ausgezeichnet. Mit

diesem Programmpreis ehrt die

Kulturstaatsministerin Konzertprogramme

unabhängiger Musikclubs

sowie Veranstaltungsreihen

aus allen Bereichen von Popularmusik

und Jazz.

„Sachsen-Anhalt ist ein kulturell

unterschätztes Bundesland. Viele

Konzertveranstalter:innen und

Bookingagenturen vernachlässigen

Sachsen-Anhalt komplett“, erklärt

Michael Conrad. Daher haben er

und seine Mitarbeiter:innen in

den vergangenen Jahren sehr

viel Wert darauf gelegt, dass

Künstler:innen, die bei ihnen zu

Gast sind, auch exklusiv für sie

spielen bzw. bislang noch nicht in

Sachsen-Anhalt aufgetreten sind.

„Wir versuchen sie für unsere Gäste

spürbar und erlebbar zu machen –

und das vor Ort, nicht etwa in Berlin

oder Leipzig.“ Aufgrund der neuen

Finanzlage und der neuen Publikumsstruktur

sei das mittlerweile

schwerer umzusetzen. „Die Freiheit

beim Kuratieren fehlt.“ Michael

Conrad und sein Team bleibt nur

eins: Sie müssen auf „sichere

Pferde“ setzen.

NEUER FOKUS – WEG VON INDOOR-VERANSTALTUNGEN: „DAS LEBENSGEFÜHL UND DIE MUSIKALISCHE

AUSRICHTUNG DER MENSCHEN IST DANN VIEL OFFENER“, FREUT SICH MICHAEL CONRAD AUF DAS SOM-

MERGESCHEHEN.

SEITE 21

BUSINESS INSIGHTS | CLUBKULTUR IN DER KRISE



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BUSINESS INSIGHTS | CLUBKULTUR IN DER KRISE

Jojo Schulz‘ Prognose für die Zukunft

der Veranstaltungsbranche

fällt insgesamt verhalten aus.

„Es wird sich weiter auf die großen

‚Player‘ zentralisieren“, befürchtet

er. „Diese werden alles dafür tun,

kleine und individuelle Akteur:innen

zu verdrängen.“ Funktionierende

Nischen, daran glaubt er fest, werde

es aber weiterhin geben. „Diese

Spielräume muss man sich erarbeiten.“

Michael Conrad ist bereits

dabei. Noch während Corona hat

er an neuen Veranstaltungsformaten

gearbeitet. So hat er die Clubs

seiner Stadt zusammengebracht,

um gemeinsam ein Event auf die

Beine zu stellen. „Die größte, beste

und positivste daraus resultierende

Veränderung ist, dass nun alle

Clubbesitzer:innen auf Augenhöhe

miteinander kommunizieren und

Vorurteile abgebaut wurden.“ Eine

nachhaltige Entwicklung, die

mittlerweile sehr schöne Kooperations-Veranstaltungen

ermögliche.

Neue (freie) Räume (im übertragenen

Sinne), die bräuchte es nach

Meinung des langjährigen local

heroes Bayern-Jurors Jojo Schulz

auch, um das Ehrenamt nachhaltig

zu stärken. Dieses werde

gerade in der Subkultur dringend

benötigt. „Wer sein Studium in

kurzer Zeit durchziehen muss,

wird diesen Freiraum nicht haben.

Gleiches gilt auch für Schüler:innen,

deren Zeit zunehmend begrenzt ist.“

INFO:

www.posthalle.de

www.inselderjugend.de

Er selbst hat seine Studienzeit

ausgekostet und sich genau diese

Zeit gelassen. „Wenn ich das nicht

getan hätte, hätte ich nie diesen

Freiraum für Kreativität gewinnen

können und letztlich auch den Impuls

nicht gehabt, diese Spielstätte

zu initiieren.“

Sein eigener Lebenslauf als auch

die jüngsten Krisenerfahrungen

haben Jojo Schulz zu einer starken

Persönlichkeit werden lassen.

„Am Ende kann ich davon nur

profitieren.“

CHALLENGE ACCEPTED!

GEPLANTE ÄNDERUNGEN IM PROGRAMMBEREICH, QUELLE:

INITIATIVE MUSIK GGMBH (2021): CLUBSTUDIE, S. 80, ABB: 48

„Die Corona-Pandemie hat die deutsche KKW [Kultur- und Kreativwirtschaft]

in den vergangenen zwei Jahren stark getroffen. Der

Umsatzeinbruch im Jahr 2020 um -8,7 Prozent war der größte Rückschlag

seit Beginn des Monitorings der Entwicklung der Kultur- und

Kreativwirtschaft im Jahr 2009. Insgesamt liegen die Umsatzverluste

der KKW für 2020 bei -15,3 Mrd. Euro. Der Rückgang hat einzelne

Teilbranchen auf das Umsatzniveau von vor 2003 zurückgeworfen.

Die Teilmärkte der Kulturwirtschaft für sich genommen sind sogar

mit -13,5 % betroffen. Zu den besonders stark betroffenen Teilmärkten

der KKW gehören u. a. der Markt für Darstellende Künste (-81

%), die Musikwirtschaft (-44 %), die Filmwirtschaft (-41 %) und der

Kunstmarkt (-39 %). Diese Ergebnisse verweisen einmal mehr auf

die Sonderposition von Kulturschaffenden im wirtschaftspolitischen

Kontext der Corona-Krise.“

Quelle: Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des

Bundes (2022): Betroffenheit der Kultur- und Kreativwirtschaft von der

Corona-Pandemie, Abstract

ZWISCHEN ZWEI UND VIER –

ODER AUCH ALLER GUTEN DINGE

SIND DREI!

Melanie Gollin PRODUKTMANA-

GERIN / MUSIKJOURNALISTIN /

MODERATORIN

Alena Struzh FREIBERUFLICHE

JOURNALISTIN / STUDENTIN DER

LITERATURWISSENSCHAFT

Rosalie Ernst FREIBERUFLICHE

JOURNALISTIN / STUDENTIN DER

KULTURWISSENSCHAFT

Die drei Frauen schreiben nicht

nur für Magazine, sie haben auch

ein gemeinsames „Magazin“.

Genauer gesagt: einen musikalischen

Newsletter. Er nennt sich

Zwischen Zwei Und Vier und ist

ein Musikmagazin fürs Mailfach.

Dieser Newsletter ist eine Art

Reminiszenz der guten alten Bloggerszene,

von der die drei Fans

sind. Vielleicht auch, weil diese

Form des Journalismus nicht so

konventionell daherkommt wie der

herkömmliche Musikjournalismus.

Denn das spielt den Frauen gut in

die Karten. So können sie sich gut

austoben. Den Newsletter nach

ihrem Gusto gestalten und ihrem

Markenzeichen, ihrer radikalen

Subjektivität, auch gleich alle

Ehre machen.

Es ist November 2021 als sich

Melanie Gollin gemeinsam mit

Jochen Overbeck den „Newsletter

fürs Mailfach“ ausdenkt. Die

Inspiration für diesen besonderen

Newsletter war die Stagnation des

Musikjournalismus.

„Die immer gleichen Leute besetzen

die wenigen Flächen, die es für

bezahlten Musikjournalismus noch

gibt“, sagt Melanie.

Wenig Platz also, um als junger

Mensch in der Szene Fuß zu fassen,

gerade wenn es um Musikjournalismus,

Feuilleton und Popjournalismus

geht. Dabei ist es

genau das, was die drei machen

wollen. Schreiben über die Musikszene.

Aber mit unzensierten

Möglichkeiten, für alle!

„Von Anfang an war die Idee, dass

wir uns ein Konzept für eine Plattform

überlegen, auf der wir über

Musik schreiben können, die dann

aber auch so eine Art Metaebene

hat von: Wir wollen schreiben, was

wir wollen, und wir wollen dabei

aber unabhängig sein und den Wert

von Kultur zeigen und immer wieder

daran erinnern“, sagt Alena.

Rosalie und Alena bringen, seit

ihrem Einstieg in das Ehrenamt

2022, neben ihrem journalistischen

Können auch Wut und viel

Idealismus dazu. Das gefällt Gründungsmitglied

Melanie.

„WENN ES NACH UNS GEHT, DANN SOLLTEN LEUTE MACHEN KÖNNEN,

WAS SIE LIEBEN UND DAVON DANN AUCH LEBEN KÖNNEN. DAS IST

DAS OBERSTE ZIEL.“

SEITE 23

PORTRAIT | ZWISCHEN ZWEI UND VIER – ODER AUCH ALLER GUTEN DINGE SIND DREI!

ILLUSTRATIONEN:

MADELEINE MAROS



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PORTRAIT | ZWISCHEN ZWEI UND VIER – ODER AUCH ALLER GUTEN DINGE SIND DREI!

RELEVANT, AMÜSANT

UND AUF AUGENHÖHE!

„Das ist genau die Mischung, die

es braucht, um den Newsletter am

Laufen zu halten.“ Finanziert wird

das Ehrenamt zu 80% von Menschen

aus der Branche. Die drei

glauben, dass das daran liegen

könnte, dass sich die Rezipient:innen

die prekäre Lage der Musikszene

einfach nicht vorstellen

können. Gerade in Corona-Zeiten.

Die Frauen befinden sind am Puls

des Geschehens.

Schließlich leben sie davon,

über Musik und Künstler:innen

zu schreiben. Und genau dieser

Zeitgeist, die außergewöhnliche

Situation der Coronapandemie,

hat dieses eine Thema nach ganz

oben gespült, und so zum leidenschaftlichen

Lieblingsthema der

drei mutieren lassen.

Geld in der Kulturbranche. Wie ist

das verteilt? Und wer kriegt das?

„Ich liebe es konkrete Zahlen genannt

zu bekommen und auch zu

veröffentlichen, um den Leuten

einfach mal klarzumachen, guck

mal hier, das ist unsere Realität, in

der wir stattfinden. Das ist so wenig

Geld oder das ist gar nicht bezahlt

oder das kostet so viel. Und das hilft

uns natürlich dabei, Geld von unseren

Leser:innen zu erhalten. Aber ich

möchte auch, dass das ein Bewusstsein

dafür schafft, dass man für

Kultur bezahlen muss. Bei uns ist es

die Musik, bezahlt die Bands, unterstützt

die Bands und das versuchen

wir immer so von hinten nach vorne

ins Licht zu bringen.

„WIR SIND ALLE EIN BISSCHEN WÜTEND. ALSO SACHEN, DIE MAN

VORHER VIELLEICHT MAL DURCH DIE BLUME ANGESPROCHEN HAT,

WERDEN JETZT SCHON GANZ SCHÖN KLAR KOMMUNIZIERT. ALSO ICH

GLAUBE, WIR HABEN DA ALLE DREI KEINE GEDULD MEHR.“

Damit sich das auf längere Sicht

einfach einfräst in den Köpfen der

Menschen“, sagt Melanie. Neben

der Möglichkeit des eigenen Jobs

nachzugehen, geht es den Frauen

um die gerechte Monetarisierung

von Künstler:innen. Damit das

gelingt, kann es nur unermüdlich

um Transparenz und Engagement

gehen.

Denn die Journalistinnen finanzieren

ihr Projekt über Leser:innen-

Abos, und legen offen, wie viel

Geld sie damit verdienen – und

dass sich das finanziell nicht

lohnt. Sie wünschen sich eigentlich,

dass alle Musiker:innen ihre

Hosen runterlassen und sagen,

was los ist: Nämlich dass die Musik

für die allermeisten ein besseres

Hobby oder Nebenjob ist und

dass sich genau das ändern muss.

„Die Kultur hat meiner Meinung

nach eine relativ schlechte Lobby in

der Politik“, meint Rosalie.

Natürlich gibt es Förderungen für

Musiker:innen, das Problem dabei?

„Oftmals haben die Künstler:innen

einen Eigenanteil zu stemmen

oder müssen das Geld vorstrecken.

Manche nehmen sogar Kredite deswegen

auf.“ Und auch deswegen

ist der Newsletter für die drei so

wichtig. Das gute Feedback, das

Lob, der Austausch treibt die drei

Frauen weiter an. Und natürlich

die Tatsache, dass „wenn wir dann

wieder eine Künstlerin featuren, sie

sich darüber freut. Oder wenn ich

sehe, dass unser Newsletter von vielen

Leuten in der Branche gelesen

wird. Und wenn ich dann sehe, dass

eine Künstlerin noch kein Label hatte,

aber sechs Monate später eins

hat, weil die Labelmanagerin unseren

Newsletter liest, dann denke ich

mir natürlich: ‚Vielleicht war das ein

kleiner Stein auf diesem Weg.‘, und

das ist das, was mich wahnsinnig

motiviert. Einfach anderen Leuten

zu helfen, andere Leute zu unterhalten“,

sagt Melanie.

Mit Leidenschaft tragen die Frauen

dazu bei, dass diese Branche

funktioniert: „Es ist halt schon eine

Entscheidung, ob ich neben meinen

Job als freiberufliche Journalistin,

der gerade so meine Kosten deckt,

jetzt noch einen zweiten Job annehme.

Oder mache ich lieber das,

worauf ich Bock habe?“, sagt Alena.

Die drei glauben, dass es ein

verstärktes Bewusstsein, gerade

nach und in den Krisen dafür

geben wird und gibt, dass große

Teile der Gesellschaft auf Ehrenämter

aufgebaut sind. „Ob die Leute

daraus dann auch Konsequenzen

für sich ziehen, indem sie sich dem

Ehrenamt anschließen oder mehr

Geld spenden, weiß ich nicht. Aber

ich glaube, das Bewusstsein ist

schon gewachsen“, meint Melanie.

Die drei sind sich jedenfalls einig:

„Wenn es nach uns ginge, sollten

alle Kunst machen und davon leben

können.“

Die Arbeit der drei Frauen an dem Newsletter dauert für jede

der Frauen mindestens einen ganzen Tag. Ihr Antrieb ist auch

die Gewissheit, dass die Krise nicht so schnell vorbei sein wird

und dass in Zukunft noch mehr Musikschaffende auf ein

Ehrenamt angewiesen sein werden. ZWISCHEN ZWEI UND

VIER ist nicht nur ein journalistisches Projekt, es ist auch der

Versuch zu beweisen, dass Crowd-finanzierter Musikjournalismus

möglich ist. Deshalb setzt das Projekt auf die freiwillige

Finanzierung seines Publikums: https://www.zwischenzweiundvier.de/geld

SEITE 25

PORTRAIT | ZWISCHEN ZWEI UND VIER – ODER AUCH ALLER GUTEN DINGE SIND DREI!

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: ANGELA PELTNER



PORTRAIT

BUSINESS INSIGHTS

DEEPER KNOWLEDGE

LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 26

PORTRAIT | MARIE WESTPHAL

ALS EHRENAMTLICHE ENGAGIERTE PERSON HAT ES MARY BESTÄRKT,

SICH ALS MUSIKERIN SELBSTSTÄNDIG ZU MACHEN.

DIE MUSIKALISCHE

CHEMIKERIN

Marie Westphal MUSIKERIN / VER-

ANSTALTERIN / CHEMIKERIN/

MOTORRADFAHRERIN

Marie Westphal, die von allen Mary

genannt wird, ist ein Tausendsassa.

Mitbegründer:in bei Grrrl

Noisy, Musikerin, Veranstaltungsorganisatorin.

Sie ist im Übrigen

Chemikerin von Beruf und fährt

gerne Motorrad (eine Kawasaki

Ltd. 440), vielleicht auch ein

klitzekleines bisschen, weil viele

Schlagzeuger:innen aus welchen

Gründen auch immer, ebenfalls

Motorrad fahren.

Mary spielt auf einem „Tama

Granstar“ in Creme weiß. Vintage.

Aber auch ohne Motorrad und

Schlagzeug ist Mary eine unglaubliche

explosive und vor Neugier

strotzende Mischung Mensch, die

man fragen möchte, wann sie denn

schläft? Vielleicht liegt es daran,

dass sie in der Stadt wohnt, die nie

schläft und wo man immer noch

einen Koffer stehen hat. Berlin.

Mary kleckert nicht. Sie klotzt.

Sie fährt nicht nur angstfrei (trotz

schwerem Unfall) Motorrad, sie

kann auch alle Maschinen fahren.

„Als wir dann mit der Band ‚24 Diva

Heaven‘ auf dem Petrolettes Festival

gespielt haben, da hat es dann Klick

gemacht und danach hatte ich dann

auch den Führerschein fertig in der

Tasche.“ Es schreit geradezu nach

einem Oxymoron: Die Chemikerin,

die seit über zehn Jahren versucht,

nachhaltig und grünen Innovationen

auf die Spur zu gehen, und die

im nächsten Augenblick die Soft

Shopper unter dem Po die Landstraßen

Brandenburgs unsicher

macht.

Und die spürt man deutlich im

Interview mit ihr. Als Musikerin und

Veranstalterin fand sie den Wegfall

des Kulturbereichs in der Musikszene

während der Pandemie nicht

nur „knallhart“. Sie prangert auch

den Umgang mit dem Kulturbereich

an.

„Und wenn denn auch der Staat

meinte, dass alles System unrelevant

wäre, was unter die Kategorie

Veranstaltung, Livekonzert etc. fällt,

war das für mich, die genau solche

Veranstaltungen mitorganisiert und

auf die Beine stellt, heftig. Aber

auch als leidenschaftliche Konzertgängerin

war das schlimm. Das

große Überthema Gemeinschaft, das

miteinander Abhängen, sich austauschen,

zu verbinden. Alles weg. Ich

persönlich lebe mit dem Austausch

der anderen Menschen, die mich

umgeben.“

Als Privatperson war es ebenfalls

hart für Mary, auch das Ehrenamt

hat es natürlich getroffen.

Mary arbeitet mit kreativen Kolleginnen ehrenamtlich im Musikkollektiv

Grrrl Noisy. Grrrl Noisy ist eine Community, die sich seit 2019

dafür stark macht, FLINTA*-Personen zusammenzubringen, dazu

beizutragen, dass Newcomerbands aus dem Proberaum heraus,

direkt erste Bühnenerfahrung sammeln können. Aber auch im Technik-Bereich

werden Personen und auch FLINTA* Personen gefördert.

Grrrl Noisy kreieren damit einen Safer Space mit ihrer Eventreihe,

einem Opener-Konzert mit anschließender Jamsession. Neben Grrrl

Noisy engagiert sich Mary auch ehrenamtlich beim „Petrolettes Festival“,

ein Festival für Motorradfahrende Frauen.

„Ich durfte keine Veranstaltungen

mehr organisieren, um Newcomer:innen

auf die Bühne zu bringen. Die

Start-Up-Szene, der ich angehöre,

lebt davon, sich ständig neu aufzustellen.

Und neue Wege zu gehen.“

Und auch darum gaben Mary und

ihre Kolleg:innen vom Musikkollektiv

Grrrl Noisy während der Krise

natürlich nicht auf. Schon vorher,

seit November 2019, war ihnen der

Safer-Space für Newcomer:innen,

die sich auch im Speziellen für

FLINTA*Personen einsetzen und

ihnen eine Bühne bieten, wichtig.

Jetzt hieß es, das Begonnene trotz

Krise weiteraufzubauen.

„Wir haben andere Formate aufgezogen.

Einen Podcast auf die Beine

gestellt. Oder wir haben damit begonnen

u.a. auch Video-Liveschnitte

aufzunehmen. Wir haben zusätzlich

Bands interviewt, die dann von ihrem

Release gesprochen oder sich beim

Proben gefilmt haben. Ja einfach

den Fans online gezeigt haben, wie

sie gerade arbeiten, oder wie der

Song soundso entstanden ist. Und

um den Musikcharakter nicht in Vergessenheit

geraten zu lassen, haben

wir dann auch Online-Jamsessions

und Online-Konzerte organisiert.

Dafür haben wir eigenes Grrrl Noisy-

Equipment zur Verfügung gestellt,

das wir uns mithilfe von Fördergeldern,

zum Beispiel vom ‚Musicboard

Berlin‘, kaufen konnten.

Und das braucht man halt auch,

wenn man dazu einlädt, dass so

viele Menschen wie möglich bei der

Jamsession da auch drauf spielen.“

Mit jeder Faser und mit jedem

Wort spürt man die Verbindung

und die Leidenschaft zur Musik.

Den Wunsch von Mary, dass es nur

weil es früher so war, nicht heute

anders sein kann. Unabhängig von

der Krise, sondern einfach nur auf

ganz banale Fragen eine Antwort

zu haben. „Ich versuche dazu beizutragen,

dass eben nicht immer

gesagt wird: Hey, wir finden hier

keine Musikerin am Schlagzeug oder

wir finden auch keine ehrenamtliche,

weiblich gelesene Person, denn die

MARY WÜNSCHT SICH WELTFRIEDEN. PUNKT.

gibt es zuhauf. Und das wollen wir

aufzeigen, Sichtbarkeit schaffen und

uns gegenseitig auch empowern

und natürlich jeder auch eine Bühne

geben, um sich auszuprobieren und

zu professionalisieren.“ Aus Grrrl

Noisy-Projekten sind auch Selbstständigkeiten

entstanden, die sich

zum Beispiel als Bookerin oder

auch als Musikerin selbstständig

gemacht haben, was für Mary ein

echter „Kick“ war, festzustellen,

dass es auch so geht. „Ich gehe

aus meinem Hauptjob raus ab in die

Vollzeitselbstständigkeit als Musikerin.“

Solche Lebensläufe und

Entscheidungen sind für Mary ein

großer Erfolg. Es lohnt sich. Dafür

geben sie und ihre Kolleginnen

unermüdlich Tipps an ihre „Musiker:innen“

weiter oder leiten die

entsprechenden Kontakte weiter.

Sie arbeiten zum Beispiel mit dem

Musicboard, dem Musicpool Berlin

und mit der Berlin Music Commission

zusammen. „Da hatten wir für

Grrrl Noisy auch einen Preis gekriegt!

Für unser Engagement für die

Berliner Musikszene.“

Und es wird einmal mehr klar, die

Coronakrise war nicht der Anfang

für Marys Ehrenamt und auch definitiv

nicht ihr Ende. Jetzt erst recht

lautet ihre Devise.

SEITE 27

PORTRAIT | MARIE WESTPHAL

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: ANGELA PELTNER



PORTRAIT

BUSINESS INSIGHTS

DEEPER KNOWLEDGE

LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 28

PORTRAIT | MARCO HEIDE

DER ANPACKER

Marco Heide JOURNALIST &

FAMILIENVATER

Marco Heide ist 34 Jahre alt und

Familienvater. Als Journalist hatte

er local heroes kennengelernt.

Daraus entstand eine enge Zusammenarbeit

mit den von ihm

mitgegründeten „Kickerfreunden

Salzwedel“. Vor allem nach der

Coronakrise machte er als Ehrenamtler

und Veranstalter erstaunlich

positive Erfahrungen.

Herausforderungen meistern

und sich täglich neuen Aufgaben

stellen, ist für Marco Heide Alltag.

Wenn ein Problem auftaucht,

will er es einfach lösen. Und das

schafft er auch. Doch dass er und

seine „Kickerfreunde“ ihre Sportund

Kulturveranstaltungen im

„Eskadron“ schon nach einem

guten halben Jahr wieder einstellen

mussten, hat das Team sehr

hart getroffen.

Und auch die fehlenden Kontakte

zerrten an den Nerven. 2014 hatte

Marco mit einigen Freunden einen

kleinen Kickerverein gegründet, der

zunächst in der Kneipe kickerte.

„Aber wir hatten schon den Hintergedanken,

das Kickern vom reinen

Kneipenimage zu befreien“, erzählt

Marco. Indirekt beteiligt an der

Gründung war damals auch der

Aktion Musik / local heroes e.V.:

„Bei den Kickerturnieren hat sich die

Kerngruppe gefunden.“ Im soziokulturellen

Zentrum Hanseat e.V.,

wo der Musikverein sitzt, wurden

damals Turniere via Livestream

zusammen mit dem Offenen Kanal

Kanal übertragen.

MARCO HEIDE SCHEUT KEINE HERAUSFORDERUNG.

ABER DIE ERZWUNGENE KONTAKTLOSIGKEIT WÄHREND DER CORONA-

LOCKDOWNS GING IHM SEHR AN DIE NERVEN.

Aus dem kleinen Verein mit rund

einem Dutzend Mitgliedern ist im

Laufe der Jahre ein Kicker- und

Kulturverein geworden, dem heute

90 Leute angehören. Marco Heide

ist bis heute Vorsitzender des

Vereins. Mittlerweile hat der Verein

eine eigene Mannschaft, die

im regulären Liga-Spielbetrieb ist

– weshalb der Verein vor einigen

Jahren in den Landessportbund

Sachsen-Anhalt und damit auch in

den Kreissportbund (KSB) Salzwedel

aufgenommen wurde.

Ein weiteres Standbein des Vereins

sind Kulturveranstaltungen: „Wir

haben von Anfang an mit Aktion

Musik / local heroes zusammengearbeitet“,

erzählt Marco. „Irgendwann

waren wir dann so weit, dass wir

gesagt haben, wir wollen selbst Musikveranstaltungen

machen. Mittlerweile

machen wir teilweise mehrere

Konzerte im Monat, Standard sind

dabei 50 bis 100 Besucher:innen.“

Marco ist überzeugt davon, dass

man „einfach viel mehr machen“

kann, wenn man zusammenarbeitet.

Und Aktion Musik ist für ihn

seit Jahren ein wichtiger Unterstützungspartner.

„Die Coronazeit brachte echt viele

Probleme mit sich. Wir waren ja erst

2019 in die neue Location umgezogen.

Und kaum ein halbes Jahr später

kamen die Lockdowns“, erinnert

sich Marco.

Glücklicherweise gab es einige

Förderprogramme, sodass die

„Kickerfreunde“ nie in große finanzielle

Not geraten sind. Vorteilhaft

war auch, dass der Verein Mitglied

im KSB ist, so konnten auch Gelder

aus der Sportförderung beantragt

werden. Auch eine schockierend

hohe Energiekosten-Nachzahlung

konnte durch Fördergelder bezahlt

werden. Die organisatorischen

und finanziellen Probleme „wuppte“

Marco. „Aber emotional bin ich

an meine Grenze gestoßen. Wenn

du veranstaltest und häufig unter

Leuten bist und dann gibt es keine

Veranstaltung, also auch keine Kontakte

mehr. Das geht schon an die

Nerven.“ Dabei hatten die „Kickerfreunde“

noch Glück. Sie konnten

sich mit ein paar Leuten quasi

privat in „ihre“ Kneipe setzen. „Wir

waren froh, das nutzen zu können“,

sagt Marco rückblickend.

Trotzdem sieht er sich von den Krisen

nicht persönlich betroffen: „Ich

bin jemand, der ein Problem einfach

lösen will, wenn es auftaucht. Punkt

aus. Wir haben es bisher immer geschafft,

schnell zumindest Informationen

zu sammeln und eine Klärung

zu bewirken. Ich kann gar nicht

sagen, inwieweit mich die Krisen in

irgendeiner Form in meinem Handeln

beeinflusst haben.“

Für die „Kickerfreunde“ hatte die

Coronakrise – wenn auch erst

nachdem sie zu Ende war – außerordentlich

positive Effekte, die

auch die ehrenamtliche Arbeit entscheidend

veränderten.

Als es wieder Veranstaltungen

geben durfte, stieg das Interesse

enorm. „Alles, was wir anboten, hat

bombastisch funktioniert“, erzählt

Marco. „Und auch der Verein entwickelte

sich rasant“. 2023 steht

bereits zum dritten Mal das Vereinsfest

in Salzwedel unter seiner

Obhut – eine Veranstaltung mit

zahlreichen Kooperationspartner:innen

und mehreren tausend

Besucher:innen. Eine solche Großveranstaltung

erfordert professionelle

Kompetenzen. Indirekt ist

es der Coronakrise zu verdanken,

dass das Team professionelle Organisationsstrukturen

entwickelte.

Auch Marco musste sich umstellen:

„Für mich ist es die größte Herausforderung,

Sachen abzugeben.

Ich lerne das jetzt und das tut auch

dem Verein gut.“

Vor allem änderte sich die Zusammenarbeit.

Die Kommunikation

wurde digitalisierter, Vorstandssitzungen

und andere Treffen im Hybridformat

zur Normalität. „Ein paar

Dinge sind halt einfach praktisch.

Die haben wir dann auch übernommen.

Das hat die Vorstandsarbeit

schon sehr verändert“, sagt Marco.

Mit dem Wachstum wurde es

schwierig, das Gemeinschaftsgefühl

aufrechtzuerhalten.

Das ist noch nicht „zu 100 Prozent“

gelungen, wie Marco sagt,

aber dem Verein ist es wichtig, den

alten Zusammenhalt wiederherzustellen.

Für die Zukunft wünscht

Marco sich, dass ehrenamtliche

Tätigkeit gesellschaftlich mehr

Wertschätzung erfährt. „Gerade im

ländlichen Raum werden Kulturangebote

fast ausschließlich von

Ehrenamtlichen organisiert. Sie

haben mehr als einen netten Dank

verdient“, so Marco. „Vielleicht

ist es ein Hirngespinst, aber nach

meiner Meinung braucht es eine Art

Grundeinkommen für Ehrenamtliche,

die sich gesellschaftlich engagieren.

Dann könnten sie sich mit voller

Energie hauptamtlich einsetzen.“

Durch ihren unermüdlichen Einsatz

und die Fähigkeit, sich jeden

Tag auf neue Herausforderungen

einstellen zu können, sind die

„Kickerfreunde Salzwedel“ gut

durch die Krise/n gekommen. Doch

Marco wünscht sich etwas: „Wenn

es erneut eine solch massive Krise

geben sollte, dann soll die Politik

von Anfang an finanzielle Sicherheit

schaffen und keinen brutalen Lockdown

verordnen. Denn es ist wichtig,

dass die Zwischenmenschlichkeit,

die für die wohlige Wärme im Alltag

ganz wichtig ist, erhalten bleibt“.

"ALS ES WIEDER VERANSTALTUNGEN GEBEN DURFTE, STIEG DAS INTE-

RESSE ENORM", BLICKT MARCO HEIDE AUF DEN NEUSTART ZURÜCK.

SEITE 29

PORTRAIT | MARCO HEIDE

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: ANGELIKA BLANK



PORTRAIT

BUSINESS INSIGHTS

DEEPER KNOWLEDGE

LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 30

DEEPER KNOWLEDGE | HELD:INNENZEIT

HELD:INNENZEIT

Denkt man an Helden (oder Heldinnen!),

dann kommen schnell

die ganzen Superheroes aus dem

Marvel-Universum in den Kopf:

Spider-Man, Iron Man oder Captain

America, Wonder Woman oder Jessica

Jones. Aber wer kann schon

Spinnennetze aus den Händen

schießen? Oder hat einen Anzug,

mit dem man fliegen kann?

Held:in sein heißt allzu oft, etwas

ganz Besonderes, Außergewöhnliches

leisten zu können. Superkräfte

zu haben. Über uns allzu

sterblichen „Normalos“ zu stehen.

Also: Heroisch über sich hinauszuwachsen

und tapfere Ruhmestaten

zu vollbringen. Held:innen stehen

auf Podesten, werden Weltmeister:innen,

bekommen Medaillen

umgehängt oder erhalten im Buckingham

Palast den Ritterschlag.

Man kann diese Held:innen bewundern,

ihr Fan sein oder davon

träumen, ‚einmal einen Tag lang so

wie sie zu sein‘.

Aber als Vorbilder und Inspiration

für das tägliche Leben? Taugen

sie nur bedingt. Denn wir alle, die

Allermeisten zumindest, können

eben nicht so einfach tagtäglich

heroisch Außergewöhnliches

leisten.

Oder doch?

Wie oft treffen wir auf ganz gewöhnliche

Menschen, die anderen

Menschen selbstlos helfen, oft

über die eigenen Kraftreserven

hinaus. Die sich für andere einsetzen,

ohne etwas im Gegenzug

zu erwarten, einfach weil sie es für

selbstverständlich halten. Menschen,

die ohne mit der Wimper

zu zucken, Überstunden leisten,

weil es gerade viel zu tun gibt und

es ohne ihren Einsatz anderen

schlechter ginge.

Die für erkrankte Kolleg:innen

einspringen, weil der Laden laufen

muss. Die sich ehrenamtlich engagieren,

um die Welt mit ihren Kräften

ein kleines bisschen besser

zu machen. Überall um uns herum

sind sie. Die kleinen, ganz großen

Held:innen.

Für alle diese Menschen gibt es

das schöne Wort „Alltagshelden“.

Damit gemeint: Held:innen, die nur

selten eine Urkunde bekommen

oder ein Krönchen oder auch nur

einen dankbaren Klopf auf die

Schulter. Ohne die in unserer Welt

aber nichts geht.

Vielleicht ist dieses Held:innentum

sogar noch schwerer zu leisten, als

das Weltenretten von Superman

und Wonder Woman. Über diese

werden Filme gedreht, sie werden

angehimmelt und bekommen

Lieder geschrieben. Alltagsheld:innentum

geht hingegen – im trubeligen,

gestressten, heldenhaften

– Alltag oft unter. Klar, jede(r) freut

sich über den Altruismus von engagierten

Ehrenamtler:innen. Aber

für ein ausführliches Dankeschön

ist dann doch gerade keine Zeit.

Und immer dann, wenn bei den engagierten

kleinen großen Held:innen

mal wieder die Aufgabenlast

größer wird, der große Stress ausbricht

und alle am Limit arbeiten,

bleiben Dank und Wertschätzung

(leider) gerne mal auf der Strecke

- Super-Alltagsheld:innen laufen

unter dem Berühmtheitsradar. Und

gerade weil bei vielem ehrenamtlichen

Engagement eine jegliche

Wirkung nicht sofort sichtbar ist,

sondern sich erst im Laufe der

Zeit zeigt, gibt es selten den einen

Moment, an dem der Böse besiegt

ist, die Welt gerettet wurde und die

Menschheit auf Knien dankt. Nachhaltiges

Engagement nennt sich

dieses dauerhafte Bessermachen

in kleinen Schritten. Das meint

aber auch: Ehrenamtlich Engagierte

brauchen einen langen Atem,

der sie auch durch frustrierte,

anstrengende, mühsame Momente

trägt.

Eine Atemhilfe in all den unvermeidlichen

Momenten, an denen

die Anstrengung zu groß und der

Dank zu klein werden, kann Musik

sein. Dann helfen all die Songs,

die eben gerade nicht („We are the

Champions!”) die Superheld:innen

feiern. Sondern die Hymnen, Hits

und Held:innen-Songs, die sich den

„Übersehenen“ widmen. Lieder,

in denen man sich gerade deshalb

wiederfinden und verstanden

fühlen kann. Weil sie sagen: Es ist

gigantisch, was Du leistest.

Als Musikfan kommt einem natürlich

als erstes David Bowie in den

Kopf: „We can be Heroes. Just

for one day”. Und auch, wenn es

in diesem Song eigentlich um

eine heimliche Liebe im Schatten

der Berliner Mauer geht: Bowies

Helden-Glanzstunde geht immer

zur Ermutigung in Zweifelszeiten.

Apropos Ermutigung.

Wolf Biermanns vielleicht bekanntestes

Stück „Ermutigung“, - geschrieben

für den von der SED

überwachten Freund Peter Huchel,

erinnert dann daran, sich auch bei

Gegenwind nicht wegzuducken

und bei allem Frust den Humor zu

behalten.

Dieses leise, vertrackte Stück ist

zum Innehalten. Wer ausrasten

will, greift sich das Album „The

Colour and the Shape“ der Foo

Fighters aus Seattle. In dem

vielleicht berühmtesten Song über

Alltagsheld:innen heißt es:

Ordinary – gewöhnlich, vielleicht.

Aber niemals verzichtbar. Auch

wenn es sich manchmal so anfühlen

kann. Gerade dann, wenn sich

bei allem Engagement die Wirkung

nicht sofort zeigt, wenn es Geduld,

Ausdauer, Leidensfähigkeit

und Durchhaltevermögen braucht,

um zwei Schritte vor, einen zurück

und dann wieder zwei nach vorne

zu gehen. Dann ist im Ohr dieses

Zweifelsstimme.

Die lässt sich besonders gut mit

Jack Johnson und Ben Harper zum

Schweigen bringen. Oder besser:

Übertönen lassen.

"I CAN CHANGE THE WORLDM,

WITH MY OWN TWO HANDS

MAKE IT A BETTER PLACE,

WITH MY OWN TWO HANDS

MAKE IT A KINDER PLACE,

WITH MY OWN TWO HANDS

WITH MY OWN

WITH MY OWN TWO HANDS

I CAN MAKE PEACE ON EARTH,

WITH MY OWN TWO HANDS

I CAN CLEAN UO THE EARTH,

WITH MY OWN TWO HANDS

I CAN REACH OUT TO YOU,

WITH MY OWN TWO HANDS

WITH MY OWN

WITH MY OWN TWO HANDS

WITH MY OWN

WITH MY OWN TWO HANDS."

JACK JOHNSON & BEN HARPER

WITH MY OWN TWO HANDS

Und neben den zwei Händen hat

man ja noch diesen großen Kraftspeicher

innendrin. Allen Mut, alle

Kraft, alle Liebe und alles Engagement,

daran erinnert Mariah Carey

in ihrem Hit „Hero“, findet man in

sich selbst:

SEITE 31

DEEPER KNOWLEDGE | HELD:INNENZEIT

TEXT: OLE LÖDING



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LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 32

DEEPER KNOWLEDGE | HELD:INNENZEIT

Das Tolle an der Popmusik: Hier

werden die everyday heroes in

allen Genres, in allen Facetten und

in allen Farben gefeiert. Diejenigen,

die stärker sind als alle Widerstände

(Sia – Unstoppable), diejenigen,

die unterschätzt werden (Alicia

Keys – Underdog). Die Held:innen,

die diese Welt ein bisschen besser

machen (Birdy – People help the

People), die couragiert für etwas

Gutes einstehen (Superchick –

Hero), die Mutigen (Katy Perry

– Roar) und die Kämpferischen

(Christina Aguilera – Fighter),

die Widerständigen (The Script –

Superheroes).

Vielleicht ist das ein Life-Hack?

Die eigene, persönliche Playlist mit

Alltagsheld:innen-Songs erstellen

und immer dabei haben! Auf

meiner wär’ Melissa Etheridge’s

„Giant“ der Opener:

Und dann kämen Loukas „Nur Dein

Kopf“, Morten Abels „Keep yourself

in Motion“, Sarah Bettens (heute:

Sam Bettens) „Put it out for good“,

Gisbert zu Knyphausens „Grau,

grau, grau“ und für die frustrierten

Momente Niels Freverts „Gemeinsame

Sache“. Außerdem: Kein

Tag ohne Bruce Springsteens „No

Surrender“!

Egal wie die Playlist bestückt

ist: Aufhören sollte sie mit den

Schockrockern von Kiss.

"IN A WORLD WITHOUT DREAMS

THINGS ARE NO MORE THAN

THEY SEEM

AND A WORLD WITHOUT HEROES

IS LIKE A BIRD WITHOUT WINGS

OR A BELL THAT NEVER RINGS

JUST AS SAD AS USELESS

THINGS."

KISS – A WORLD WITHOUT HEROES

Also: Playlist erstellen. Oder:

Die local heroes Playlist „Alltagsheld:innen“

mit all diesen Songs

und noch viel mehr abonnieren.

Kopfhörer auf. Und dann: Erst

recht loslegen und die Welt verändern!

HIER GEHTS

ZUR PLAYLIST!

"WILLKOMMEN IN DER ZEIT

HELDEN SIND BEREIT

SEID IHR SOWEIT

HELDENZEIT HELDENZEIT

SEID IHR SOWEIT?

HAT IRGENDWER GESAGT

ES WÄRE ZEIT FÜR HELDEN?

HELDENZEIT!

WILLKOMMEN IN DER ZEIT

WIR KOMMEN UM DIE ANDEREN

HELDEN ANZUMELDEN."

WIR SIND HELDEN – HELDENZEIT

DIE TÜRÖFFNER

Christian Stahl DIPL. MASCHINEN-

BAU-INGENIEUR / VERANSTALTER

/ „AB GEHT DIE LUTZI“

Klaus Schmitt ELEKTRO-TECHNI-

KER / VERANSTALTER / „AB GEHT

DIE LUTZI“

Seit dem ersten Tag im Jahr 2010

versteht sich das vollkommen

ehrenamtlich organisierte „ab geht

die Lutzi“-Festival in Rottershausen

als Veranstaltung für alle.

Jung und Alt kommen zusammen

und haben eine gute Zeit. Niemand

wird ausgegrenzt. Alle sind willkommen.

Um das nachhaltig zu

gewährleisten, hat sich das Team

des „ab geht die Lutzi“ mit Expert:innen

zusammengetan. Das

langfristige Ziel: Das Festival will

sich auch für Menschen mit Behinderung

bestmöglich aufstellen.

Der Sommer 2022 war für viele ein

„Neubeginn“. Für das nicht einmal

1000 Einwohner:innen zählende

Rottershausen im Speziellen stand

nach zweijähriger Pause endlich

wieder eine Großveranstaltung

auf dem Programm. Erstmals fand

wieder das „ab geht die Lutzi“ statt

und lockte rund 5.000 Gäste (an

jeweils drei Tagen) in die kleine

unterfränkische Gemeinde nahe

der bekannten Kurstadt Bad

Kissingen. Und nicht wenigen fiel

sofort auf: Die durch die Corona-

Pandemie verursachte „Zwangspause“

wurde hinter den Kulissen

gut genutzt.

„Der HÖME Festival Playground gab

für uns den Anstoß, uns künftig

intensiv mit den Themen Inklusion

„NACH WIE VOR SUCHEN WIR TESTPERSONEN, DIE SICH ZUTRAUEN

DABEI ZU SEIN UND SCHWACHSTELLEN AUFDECKEN“, LÄDT CHRISTIAN

STAHL DAZU EIN, SICH AKTIV ZU BETEILIGEN.

und Barrierefreiheit auseinanderzusetzen“,

erinnert sich Festival-Chef

Christian Stahl zurück. Hinter dem

Festival Playground verbirgt sich ein

Zusammenschluss von über 120 Festivals,

die an einer nachhaltigen und

innovativen Festivalzukunft arbeiten

möchten. Die Erkenntnis der hier versammelten

Expert:innen: „Inklusion

wird auf immer mehr Festivals mitgedacht.

Doch häufig geht es dabei

lediglich um barrierearme Geländeplanung.“

Das greife zu kurz.

Seit Mitte Januar 2022 arbeiten

die „Lutzi“-Verantwortlichen daher

konkret daran, das Festival umzugestalten.

„Das Ganze ist ein langfristiger

(Lern-)Prozess. Wir hatten

zu Beginn keinerlei Erfahrungswerte.

Es bestand jedoch der dringende

Wunsch, kulturelle Teilhabe für alle

zu ermöglichen“, so Christian Stahl,

der das Ganze mit Klaus Schmitt

hauptverantwortlich koordiniert.

„Schließlich geht es darum, Menschenrechte

umzusetzen.“ Doch

wo fängt man an? Hygiene? Befestigung?

Kommunikation? Ein

riesiger Berg an Aspekten, der zu

bewältigen war und immer noch

ist. Das Team holte sich Hilfe –

mit Erfolg: In Zusammenarbeit mit

dem Landkreis Bad Kissingen, vertreten

durch die Projektmanagerin

Antje Rink und Felix Gantner vom

Regionalmanagement des Landkreises

Bad Kissingen, dem Bezirk

Unterfranken, vertreten durch

den Popularmusikbeauftragten

SEITE 33

PORTRAIT | AB GEHT DIE LUTZI

TEXT: OLE LÖDING



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IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 34

PORTRAIT | AB GEHT DIE LUTZI

Benjamin Haupt und unterstützt

durch die Initiative „barrierefrei

feiern“, wurde sich gemeinsam in

das Thema eingearbeitet, etwa via

eines Workshops mit eben jenen

Expert:innen der Initiative „barrierefrei

feiern“.

Die ersten Erkenntnisse ergaben

sich schnell: Ein inklusives

Festival bedeutet ein „normales

Miteinander“ aller Menschen. Die

Bemühungen dürfen sich nicht

nur auf eine Zielgruppe – etwa

Rollstuhlfahrer:innen – konzentrieren.

Es galt und gilt bis heute, das

„Mindset“ zu verändern und zudem

offen bei jenen nachzufragen, die

es betrifft. Scheu ist ebenso fehl

am Platz wie „übermäßiges Taktgefühl“.

Denn: „Die Kompromissbereitschaft

bei Betroffenen ist groß“,

so die Botschaft der Initiative

„barrierefrei feiern“.

Die Initiative machte von Anfang

an deutlich. Am Ende machen viele

kleine Schritte den Unterschied.

Gesagt, getan: Für das „ab geht die

Lutzi“ startete „Phase 1“. Der Aufbau

eines regionalen Netzwerks

ist bis heute in vollem Gange. Den

Anfang machte eine erste Geländebegehung

samt Begutachtung

kritischer Stellen am Gelände.

Und auch virtuell wird die Parole

der Stunde „Hinkommen, reinkommen,

klarkommen“ verfolgt. Der

Online-Auftritt wurde mittlerweile

überarbeitet. Eine eigene Seite zur

Barrierefreiheit und die Anpassung

der FAQ ist umgesetzt, ebenso

der gesamte Homepage-Auftritt in

leichter Sprache. Es versteht sich

von selbst, dass die Macher Telefonnummern

und Kontaktadressen

kommunizieren. Auch eine detaillierte

Beschreibung dessen, was

die Besucher:innen vor Ort vorfinden,

findet sich auf ihrer Seite.

Das Angebot, sich vorab beim „ab

geht die Lutzi“-Team zu melden,

um Bedarfe zu klären, war für sie

ebenfalls ein logischer Schritt.

Und was verändert sich auf dem

Festival gerade selbst? „Auf jeden

Fall nicht nur die Bodenbeläge“,

schmunzelt Klaus Schmitt. „Wichtig

ist uns – neben einer Umgestaltung

der Umgebung – dass das

gesamte Team sensibilisiert wird“,

betont Christian Stahl. Es gehe

darum, Situationen zu erkennen,

schnell unterstützen zu können

und insgesamt angemessen zu

reagieren. „Das erachten wir als unverzichtbaren

Aspekt einer sensiblen

Umgebung und gleichberechtigten

Teilhabe.“ Die Festival-Crew wurde

daher von Expert:innen in eigener

Sache geschult, um die Belange

der Besucher:innen mit Behinderung

bestmöglich verstehen und

umsetzen zu können. „Außerdem

haben wir auf dem Festival ein

Awareness-Team im Einsatz, damit

sich alle Besucher:innen sicher und

damit wohl fühlen können“, ergänzt

Klaus Schmitt.

Doch das ist bei Weitem nicht

alles. Das Team lernt permanent

dazu und baut sein Angebot

Stück für Stück aus. So können

Inhaber:innen eines Schwerbehindertenausweises

mit dem Zusatz

„B“ kostenlos eine Begleitperson

ihrer Wahl mitbringen. Zudem

machen die Festival-Macher auf

die nächstgelegene barrierefreie

Bahn-Haltestelle, etwa 800 Meter

vom Festivalgelände entfernt, aufmerksam.

Der Weg vom Bahnhof

Rottershausen bis zum Festivalgelände

ist selbstverständlich ebenfalls

barrierefrei und beschildert.

„AM LUTZI FESTIVAL IST FAST

JEDER WILLKOMMEN. WIR HABEN

KEINEN PLATZ FÜR RASSISMUS,

SEXISMUS, ABLEISMUS ODER

JEGLICHE ANDERE ART VON DIS-

KRIMINIERUNG“, SAGT KLAUS

SCHMITT.

„ZUKÜNFTIG MÖCHTEN WIR AUCH UNSEREN CAMPINGPLATZ

VOLLUMFÄNGLICH BARRIEREFREI GESTALTEN“, KÜNDIGEN DIE FESTI-

VAL-MACHER AN.

Wer diese Strecke nicht bewältigen

kann, dem werden barrierefreie Taxi-Shuttle

aus der Region ans Herz

gelegt. Direkt vor dem Festivaleingang

befinden sich außerdem

ausreichend, gekennzeichnete Behindertenparkplätze.

Fahrdienste

können nach Voranmeldung sogar

bis zum Festivalgelände einfahren.

Angebote für Blinde gibt es ebenfalls.

„Unser Awareness-Team bietet

blinden und sehbehinderten Besucher:innen

einen Abholdienst ab der

nächstgelegenen Haltestelle Bahnhaltepunkt

Rottershausen an“, erklärt

Christian Stahl. „Einfach vorab

bei uns melden. Zertifizierte Assistenz-

und Blindenführhunde sind auf

dem Lutzi Festival natürlich willkommen.“

Zusammen mit einer Expertin

von „aktiv.mit.rolli“ hat das

„Lutzi“-Team das Festivalgelände

auf Barrierefreiheit überprüft.

Stufen oder Unebenheiten wurden

auf allen Publikums- und Sozialflächen

mit mobilen Rampensystemen

und/oder Schwerlastmatten

beseitigt. Sollte jemand aufgrund

von Mobilitätseinschränkungen

vor Ort Unterstützung benötigen,

kann er oder sie sich an das

Awareness-Team wenden, ebenso,

wenn es darum geht, einen Elektrorollstuhl

aufzuladen. Für freie Sicht

gibt es ein erhöhtes Podest an der

Hauptbühne des Festivals. Ein Teil

der Theken an Essens- und Getränkeständen

wurde abgesenkt. Ein

barrierefreier Toilettencontainer

befindet sich im Infield. Auf dem

Campingplatz gibt es außerdem

eine barrierefreie Toilette (DIXI).

Darüber hinaus gibt es 50 genderneutrale

Toiletten. Wer duschen

möchte, kann dies im Backstage

barrierefrei tun.

Und was, wenn der Festival-Trubel

zu viel wird? „Auf dem Gelände

befindet sich ein reizarmer Ruhebereich,

der in besonderen Fällen, etwa

zur medizinischen Selbstversorgung

oder zum Stressabbau als Rückzugsort

genutzt werden kann“, erläutert

Christian Stahl.

„Phase 2“ zündet 2023. „Schon

im Vorfeld der ‚Lutzi‘ 2022 hat sich

gezeigt, dass wir das ein oder andere

mit kreativen Ideen und etwas

Improvisation in der Organisation

hinbekommen und 2023 umsetzen

können“, sagt Christian Stahl, der

gemeinsam mit seinem Team weit

in die Zukunft denkt. Mit Spannung

blicken sie auf die Erkenntnisse,

die sich bereits ergeben haben

und noch ergeben werden. Klar sei

aber schon jetzt: „Es gibt einige,

grundlegende Punkte, die nicht ohne

größere Investitionen zu bewältigen

sein werden.“ Dazu gehört etwa das

Programm in Gebärdensprache

übersetzen zu lassen. „Selbstverständlich

freuen wir uns dennoch

über gehörlose Besucher:innen und

versprechen, im Rahmen unserer

Möglichkeiten eine adäquate Kommunikation

zu ermöglichen.“

Die Anstrengungen in Rottershausen

haben sich herumgesprochen.

Das Festival wurde mit dem Bayerischen

Popkulturpreis 2022 in der

Kategorie „Soziale Nachhaltigkeit“

ausgezeichnet. In der Begründung

heißt es: „Nicht zuletzt stellen die

Organisator:innen ihr erworbenes

Wissen und daraus folgende Erkenntnisse

zur Barrierefreiheit auf

lokaler Ebene für weitere Vorhaben

zur Verfügung und dienen damit gewissermaßen

als Botschafter:innen

für das Thema Barrierefreiheit und

Kultur in der Region.“

SEITE 35

PORTRAIT | AB GEHT DIE LUTZI

BILDER: DAVID LEHMANN / AB GEHT DIE LUTZI

TEXT: NICOLE OPPELT



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DAS MAGAZIN

SEITE 36

PORTRAIT | ROXY SCHULZ

DIE KUH-VOM-EIS-

SCHIEBERIN

Roxy Schulz SÄNGERIN / MARKE-

TINGMANAGERIN / KONZERTVER-

ANSTALTERIN

In den Adern von Roxanne Melody,

die von allen Roxy genannt wird,

fließt Musik. Erwachsen geworden

in der Musikbranche ist die Hamburgerin,

die u.a. das StadtMagazin

OXMOX koordiniert, heute

von A wie Anträge schreiben bis Z

wie zivilgesellschaftliches Engagement

in Vollzeit Haupt- und

Ehrenamtlerin. Wie das funktioniert?

Mit der Unterstützung zahlreicher

prominenter und nicht prominenter

Menschen, Freund:innen

und Familie, die sich regelmäßig

von Roxys Engagement anstecken

lassen.

Roxy, du bist Vorständlerin von

gleich vier Vereinen, publizierst

das Hamburger Stadtmagazin

OXMOX, organisierst Konzerte und

leistest gefühlt jeden Tag erste

Hilfe, wenn es um Themen wie

Tierschutz, Willkommenskultur am

Hamburger Hauptbahnhof, Musikworkshops

in Flüchtlingsunterkünften

oder medizinische Grundversorgung

geht. Du bist extrem

vielseitig engagiert.

KANNST DU UNS EINEN KLEINEN

EINBLICK GEBEN, WIE DICH DIE

KRISEN DER LETZTEN JAHRE

KONKRET BETROFFEN HABEN?

Erst einmal wurde unserer ganzen

Branche im Grunde die Ausübung

unseres Berufes verboten. Neben

dem Veranstaltungsmagazin

OXMOX betreiben wir auch die

Mediaagentur, ABC Media, mit der

wir Veranstaltungen wie Konzerte

organisieren. Das Veranstaltungsverbot

hat uns insofern natürlich

von beiden Seiten voll getroffen.

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: JULIA WARTMANN

Wobei es viele Jahre sehr, sehr

gut lief. Wir haben einen sicheren

Stand, den andere nicht haben.

Wenn ich zum Beispiel an Straßenmusiker

denke, die von Gig

zu Gig leben. Die haben alle bei

mir angerufen, weil man sich über

Jahrzehnte kennt. Ihnen habe ich

geholfen, Anträge zu schreiben, obwohl

ich beim ersten Antrag auch

erst überfordert war. Irgendwann

war man im Antragsflow, aber ich

hasse das. Und es kann nicht sein,

dass es so schwer ist, so etwas

auszufüllen. Vielen wurde gesagt:

„Geh doch jetzt Knöllchen schreiben."

Ich sage: „Das ist ein Künstler,

der geht ein, wenn du ihn ins Amt

setzt. Der muss Kunst machen. Der

ist wie ein Rennpferd, das du im Stall

einsperrst. Das funktioniert nicht."

Leider gab es sehr, sehr viele

Selbstmorde daraufhin in unserer

Branche, was natürlich auch

komplett verschwiegen wird, weil

den Leuten einfach die Lebensgrundlage

genommen wurde. Und

du kannst nicht eine Familie von

5.000 Euro ein Jahr lang ernähren.

Das ist Bullshit.

WIE HAST DU AUF SOLCHE ER-

FAHRUNGEN UND GESCHICHTEN

REAGIERT?

Wir haben in der Corona-Krise zum

Beispiel den Verein Alive!Kultur

gegründet, mit dem wir z.B. mit

Kiezbäcker zusammen die Obdachlosen

mit Essen versorgt haben.

Veranstalter haben Obdachlosen

von der Schanze bis Ottensen

haben außerdem Klamotten gebracht.

Sie hatten plötzlich alle

Zeit bzw. sagten: „Ich langweile

mich. Noch einen Tag länger auf der

Couch und ich kriege eine Depression.

Bitte nimm mich mit!“ Wir sind

ja alles Macherleute.

Neben deinem Engagement für

Musiker:innen während der Corona-Pandemie

setzt du dich auch

für Kinder und Jugendliche aus

Syrien und der Ukraine ein.

WELCHER DIESER KRISEN

HAT DEN MEISTEN EINFLUSS

AUF DEINE EHRENAMTLICHEN

TÄTIGKEITEN GENOMMEN?

Das erste Mal richtig betroffen war

ich, als die Flüchtlingswellen aus

Syrien am Hamburger Hauptbahnhof

kamen. Ich habe ein Kind mit

Schussverletzung gesehen oder

einen Typen, der einen offenen

Bauch hatte, weil er seine Niere

für die Überfahrt verkauft hat

und keiner ihn zugenäht hatte.

Wir durften die Menschen nicht

versorgen, haben es aber natürlich

trotzdem gemacht. Es kamen

nach und nach immer mehr Helfer

und irgendwann waren wir 300.

Mittlerweile gibt u.a. auch unsere

OXMOX-Buchhaltung Malkurse

im Flüchtlingscamp. Ich habe

einfach meinen gesamten Freundeskreis

verpflichtet. Alle, die ich

kenne, helfen mit. Wir müssen jetzt

irgendwie die Kuh vom Eis kriegen

hier.

Wir sind rund einmal die Woche

in diversen Notunterkünften.

Eigentlich müssten wir in jedem

jeden Tag sein, weil die Kinder und

Jugendlichen keinen Kita- oder

Schulplatz kriegen, so lange der

Aufenthaltsstatus der Eltern nicht

geklärt ist. In einigen Einrichtungen

gibt es schon Kitas (z.B.

Schnackenburgallee), aber in den

Einrichtungen, wo die Eltern noch

auf Klärung warten (z.B. Rahlstedt,

Harburg u.a.) bekommen die

Kinder weder einen Schul- noch

Kitaplatz und das kann Monate

dauern. Und auch in den Einrichtungen,

die sowas haben, gibt es

so gut wie keine Beschäftigung für

die Kinder und Jugendlichen und

die wenigen Helfer sind bereits

stark überlastet. Wir bringen Musiker

dorthin, die mit ihnen Musik

machen. Und im Lockdown haben

wir dann zum Beispiel Streams

organisiert, wo sogar Hugo Egon

Balder mitgemacht hat.

WELCHE POSITIVEN ASPEKTE

HAST DU TROTZ DEINER GRAVIE-

RENDEN PERSÖNLICHEN KRISEN-

ERFAHRUNGEN FÜR DICH ERFAH-

REN?

Ganz viele. Wir sind alle zusammengewachsen.

Wir sind stärker

geworden. Wir haben durch das

Helfen Menschen kennengelernt,

die wir sonst nie kennengelernt

hätten. Auch ganz tolle Musiker.

„JEDE:R MIT EINEM SAUBEREN

FÜHRUNGSZEUGNIS KANN MIR

GERNE HELFEN IN DEN CAMPS.

WIR BRAUCHEN DRINGEND

LEUTE!“ (ROXY SCHULZ)

Zum Beispiel habe ich gebloggt

und über die Vereine ganz viele

Musiker mit Behinderung kennengelernt,

die richtig genial gut sind.

Das ist kein Mitleidsthema, sondern

es sind einfach geile Musiker,

die man sehen muss. Oder Udo

Lindenberg hat uns für ein Retterbier

Etiketten gemalt. Getränkeland

hat uns dabei unterstützt. Wir

haben damit 2.000 Euro Spenden

gesammelt.

Ich dachte: „Jetzt geht das Gekloppe

um das Geld los.“ Dem war nicht

so. Alle sagten: „Nein, gib es denen,

die nichts haben.“ Alle waren sich

einig, keiner wollte was abhaben.

Wir sollten das ganze Geld den

Straßenmusiker geben. Das war

richtig schön. Oder mir fallen die

Taxifahrer ein, denen im Lockdown

alle Clubtouren weggebrochen

sind. Sie haben dann selbstverständlich

die Geflüchteten gefahren.

Das war beeindruckend. Und

man sagt zurecht: In der Not zeigt

sich der wahre Charakter.

Und generell: Auch wenn ich

schlimme Sachen gesehen habe,

macht der Einsatz auch Spaß.

WAS HAT SICH AUS DEINER SICHT

DURCH DIE HERAUSFORDERUN-

GEN UND DIE KRISEN IN DER

ARBEIT IM EHRENAMT GRUND-

SÄTZLICH VERÄNDERT?

Leider gar nicht viel. Also die Stadt

braucht im Grunde die Ehrenamtlichen,

da sie allein nicht hinterherkommt.

Ich war letzt mit 700 Kindern

aus einem Flüchtlingsheim

beim Circus Roncalli. Ich habe

dort viele Partner aus der Branche

getroffen, die sagen: „Wir wollen

auch helfen.“ Und selbst wenn sie

sagen: „Wir haben kein Geld“, sage

ich: „Dann komm mit, pack mit an“

oder sing ein Lied oder zieh dir ein

Hasenkostüm an. Das sind Mutmacher

für die Kinder.

SEITE 37

PORTRAIT | ROXY SCHULZ



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IHR SPIELT DIE MUSIK.

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SEITE 38

PORTRAIT | DIEPOP

FREYA WOIDNOK, JOHANNES HILLE, LISSY OBERLÄNDER UND ANNA-LENA ÖHMANN (V.R.N.L.) SOWIE ANNE

BAUMBACH UND LARA MÜHLINGHAUS (NICHT IM BILD)

DEN FLOW WIEDERFINDEN – UND

NEUES ENTWICKELN

Anna-Lena Öhmann und Johannes

Hille diePOP WEIMAR

Anna-Lena Öhmann ist als Kulturmanagerin

seit 2022 Fachreferentin

für Musik bei der Kulturdirektion

Weimar tätig. Zuvor war sie

Teil des KUNSTFEST WEIMAR und

der BUGA Erfurt 2021. Seit 2018

unterstützt sie die diePOP in den

Bereichen Projektmanagement,

Öffentlichkeitsarbeit und Website

sowie Veranstaltungstechnik.

Johannes Hille gründete 2017 die

Musikinitiative diePOP und ist

neben seiner Tätigkeit im Kulturmanagement

seit Jahren als Musiker

im Studio sowie auf der Bühne

unterwegs. 2015 übernahm er die

Organisation des Saitensprung-

Festivals in Weimar. Das Jahr über

tourt er mit Bands und Künstler:innen

nicht nur durch Deutschland.

Die beiden Ehrenamtler:innen

stehen stellvertretend für ein

Kollektiv junger Erwachsener, die

in Weimar und Umgebung Auftrittsmöglichkeiten,

Wahrnehmung

und Öffentlichkeitsarbeit für lokale

Newcomeracts schaffen. Die die-

POP ist Teil des Kulturtragwerk

e.V., welcher als Träger verschiedenster

Projektinitiativen fungiert.

Dies bietet ihnen u.a. Zugang zum

Mascha in Weimar, mit welchem

sie über eigene Vereinsräume verfügen

um für Musik und Kunst eine

kulturelle Begegnungsstätte zu

eröffnen.

Für Johannes Hille war die Corona-

Krise ein extremer Einschnitt. „Man

hat ja in der Soziokultur immer zu

kämpfen, insofern hat uns das nicht

so krass überrascht“, sagt Johannes.

Anna-Lena ergänzt: „Aber es

verändert Menschen, wenn Kultur

gar nicht mehr stattfindet, Häuser

zugesperrt werden müssen und keine

Begegnungsmöglichkeiten mehr

da sind.“ In den Krisenjahren ist

beiden der „Flow abhandengekommen“,

wie sie selber sagen – aber

sie nutzten ihre Strukturen und

Räumlichkeiten und richteten eine

Ausgabestelle und einen Netzwerkpunkt

für Geflüchtete sowie eine

Abstrichstelle für Coronatests ein.

Anna-Lena: „Wir mussten von jetzt

auf gleich umplanen. Aber wir konnten

die Location weiter nutzen – was

auch nicht selbstverständlich ist.“

Ihre eigentliche Arbeit als Kooperationspartner

von local heroes

und wichtiges Netzwerkmitglied

in der Musikförderung Thüringens

mussten sie allerdings erst einmal

auf Eis legen. Johannes:

„Formate sind eingeschlafen – also

zum Beispiel die Bandcamparbeit

oder die ‚Musik durchs Land-Tour‘.“

„Diesen Flow wiederzufinden, erlebe

ich als relativ schwierig“, sagt

Anna-Lena. „So langsam wird es

wieder und wir haben wieder eine

Perspektive für dieses Jahr. Es

ging auch darum, das Profil nachzuschärfen.

Inzwischen ist schon

einiges angestoßen worden“. Wie

zum Beispiel ein Straßenfest. Die

Idee war schon vor der Krise entwickelt

worden und wurde dann zu

einer regelmäßigen Veranstaltung.

„Besonders schön ist, dass sich

die Zusammenarbeit mit der Stadt

Erfurt sehr positiv entwickelt hat“,

so Johannes. Die Landeshauptstadt

liegt schließlich nur wenige

Kilometer von der Bauhaus-Stadt

entfernt. „Sie gab uns zum Beispiel

die Möglichkeit, im Rahmen des

renommierten Krämerbrückenfestes

in Erfurt ein Bühnenprogramm für

Thüringer Nachwuchskünstler:innen

zu gestalten“.

Eine große Veränderung kam auch

dadurch ins Team, dass beide

Teammitglieder hauptamtliche

Jobs annehmen mussten, um wirtschaftlich

überleben zu können.

Johannes ist im medizinischen

Bereich und als Musiklehrer tätig

und nicht mehr mit „100 Prozent

Energie“ für das Ehrenamt da.

So geht es auch Anna-Lena, die

eine hauptamtliche Anstellung

als Kulturmanagerin hat. „Durch

den hauptamtlichen Job habe ich

inhaltlich sehr viel gelernt. Dadurch

habe ich mehr Erfahrung und mehr

Horizont bekommen“, sagt sie.

Für Johannes hat eine Festanstellung

weitere entscheidende

Vorteile: „Du kannst im Ehrenamt

entspannter sein, wenn Du ein festes

Einkommen hast“, sagt er. „Grundbedürfnisse

absichern ist natürlich

wichtig. Gleichzeitig muss man aber

auch den Spagat schaffen, sich in

seinem Hauptjob nicht so auszulaugen,

dass man keine Energie mehr

hat ehrenamtlich aktiv zu sein“.

Die Musikinitiative diePOP Weimar ist seit 2017 für die Musikförderung

in den Bereichen Rock, Pop, Jazz in Thüringen aktiv. Die

Initiative bietet Raum für Netzwerk und Austausch in der Thüringer

Musikszene und ist zugleich Initiatorin, Beraterin und Veranstalterin.

diePOP verbindet die Bereiche Networking, Jugendförderung und

Festival. Sie ist aus dem Saitensprung-Festival hervorgegangen, das

von 2002 bis 2017 in Weimar stattgefunden hat.

Weitere Infos: www.diepop.de

Deshalb hält es Johannes für

dringend, dass es mehr Angebote

für Halb- oder Dreiviertelzeit-Stellungen

gibt. Trotz aller Schwierigkeiten

sind sich Anna-Lena und

Johannes einig: Ohne ehrenamtliche

Aktivität können sie sich ihr

Leben nicht vorstellen. „Ehrenamt

ist ein kreativer Teil meines Lebens“,

sagt Johannes. Für Anna-Lena ist

die Gemeinschaft unverzichtbar:

„Ehrenamt macht für mich aus, dass

wir das als Gruppe, als Gemeinschaft,

machen, denn das Team ist

das, was am Ende das Projekt trägt“.

Und das hat diePOP auch über die

Krisenjahre gebracht.

EHRENAMT IST

EIN KREATIVER TEIL

MEINES LEBENS.

SEITE 39

PORTRAIT | DIEPOP

BILDER: ALESSANDRO DI MARTINO

TEXT: ANGELIKA BLANK



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SEITE 40

PORTRAIT | JULIA SCHWENDNER

DIE DOKU-

MENTATORIN

Julia Schwendner FOTOGRAFIN

„Ich begeistere mich für Musik,

Kultur und Menschen“, sagt Julia

Schwendner. Die 40-jährige selbstständige

Fotografin lebt in Hamburg

und ist vielfach ehrenamtlich

engagiert. Aktion Musik / local

heroes e.V. gehört dazu, clubkinder

e.V. in ihrer Wahlheimat sowie

Rap for Refugees e.V. Die Corona-

Pandemie war für sie eine Zäsur.

Aufregend, spannend und schwierig.

Das ist ihre Geschichte…

„Wir arbeiten sehr viel mit Menschen,

machen sehr viele Veranstaltungen,

ob Kultur- oder Musikveranstaltungen,

die brachen vollkommen weg“,

erinnert sich Julia Schwendner an

die Pandemie-Zeit im clubkinder

e.V. zurück. Nicht nur dort sei das

so gewesen, sondern in allen Vereinen,

in denen sie sich engagiert.

„Das war ein Schock für uns alle.“

Es gab keine Veranstaltungen

mehr, über die Spenden generiert

werden konnten. Natürlich gab

es kleine Lichter am Horizont.

Die Kulturförderung, mit all ihren

Fördergeldern und -töpfen, griff –

zumindest partiell. Eine Kardinalslösung

heraus aus der Misere war

sie jedoch nicht. Es braucht mehr.

„Ich habe kürzlich gelesen, dass die

Spendenbereitschaft in Deutschland

so groß ist wie noch nie. Aber

dass sich diese stets sehr auf

Großereignisse konzentriere.“ Die

Konsequenz liegt für sie auf der

Hand: Langfristige und kontinuierliche

Spenden für kleinere Vereine

und Initiativen würden dadurch oft

wegfallen.

DIE CORONA-PANDEMIE HAT JULIA SCHWENDNER GELEHRT: „UM

GLÜCKLICH ZU SEIN, BRAUCHST DU NICHT VIEL.“

Und es werde nicht besser. Denn

es gesellten sich weitere Krisen

hinzu. Energiepreise oder Inflation

seien hier nur exemplarisch

genannt. „Die Menschen haben

nicht mehr Geld zur Verfügung und

deshalb überlegen sie sich genau,

ob und wohin sie das Geld spenden.“

Das wirke sich langfristig auf

die beständige Arbeit in kleinen

Vereinen aus. Clubkinder e.V. ist

einer davon. Rap For Refugees ein

anderer.

Der gemeinnützige Verein wurde

2011 in Hamburg gegründet.

„Unsere Maxime war und ist, dass

wir unsere Stadt ein bisschen besser

machen wollen“, umreißt sie die

Intention. Im Fokus standen zunächst

Projekte in der Stadt, für

die Spenden gesammelt wurden.

Heute ist der Schwerpunkt anders.

„Wir wollen vor allem Menschen zum

Ehrenamt bewegen. Das bedeutet

viel Vernetzungsarbeit.“

Wo wird Hilfe benötigt? Was kann ich tun? Julia Schwendner rät,

sich an Institutionen wie etwa das AKTIVOLI-Landesnetzwerk in

Hamburg zu wenden. „Hier kannst du dich informieren, welche

Initiativen es gibt und welche zum Beispiel einen niederschwelligen

Einstieg anbieten.“ Besonders hilfreich: Einmal im Jahr bringt

die AKTIVOLI FreiwilligenBörse, immerhin die größte Plattform für

bürgerschaftliches Engagement in Norddeutschland, gemeinnützige

Organisationen und Engagementinteressierte zusammen. Dort, aber

auch online, kann zusammenfinden, was zusammenpasst. Klick‘

dich rein und finde dein Match! Info: www.aktivoli-boerse.de

Julia und ihre Mitstreiter:innen

gehen hierfür zum Beispiel an die

„Basis“. Im Rahmen von „clubkinder

Schulen“ werden Schüler:innen

schon früh ans Ehrenamt herangeführt.

Hier werden sie motiviert,

können eigene Projekte entwickeln

und starten. Vorbild bietet der

Verein genug. Ein Beispiel hierfür

ist das Projekt „clubkinder Klang-

Visite“. Mit diesem Projekt in den

Jahren 2020 und 2021 wurde für

Ablenkung und bunte Gedanken

bei Senior:innen und Gäst:innen

verschiedener Einrichtungen in

Hamburg gesorgt. Ein weiterer

positiver Nebeneffekt dieses

Projekts: Die Kulturszene wurde

unterstützt, indem Künstler:innen

eine ordentliche Gage erhielten

und zudem die Möglichkeit bekamen,

so ausgefallene Konzerte zu

kompensieren. Ermöglicht wurde

das mit Hilfe der Klaus und Lore

Rating Stiftung.

EHRENAMT HILFT BEI DER WELT-

SCHMERZBEWÄLTIGUNG, IST

SICH JULIA SICHER. ES SCHAFFT

EIN GEFÜHL DES ZURÜCKGEBENS,

WENN MAN POSITIVES BEWIRKEN

KANN.

Die Nutzer:innen der Angebote

bekommen ein Gefühl für „Ehrenamt“.

Der Verein fördert darüber

hinaus aber auch Geflüchtete und

alte Menschen, er betreibt Umwelt

& Tierschutz, und schließlich auch

Kultur und Musik. So wurden in der

Vergangenheit zum Beispiel mit

„clubkinder Klanglabor“ Auftrittsmöglichkeiten

für junge Künstler:innen

und Bands geschaffen

und in Kooperation mit hiesigen

Medien Musikpreise ausgetragen.

Julia steuerte hierzu einen wichtigen

Preis bei, der im Normalfall

viel Geld verschlingen würde: Ein

Fotoshooting, in dem professionelle

Pressefotos aufgenommen

wurden – essenziell, um sich als

musikalischer Nachwuchs zu präsentieren.

Für die integrativ interkulturelle

Initiative Rap for Refugees begleitet

sie fotografisch verschiedene

Workshops, etwa in den Bereichen

Beatboxing und Tanz. Die Initiative

veranstaltet daneben auch Festivals

und Konzerte. Auch hier ist

Julia mit ihrer Kamera unterwegs.

Ihr Talent kommt aber nicht nur

den Künstler:innen, die sie ablichtet,

zugute, sondern auch den Vereinen

bzw. Initiativen. Ihre Fotos

sind wesentlicher Bestandteil der

Pressearbeit. Sie sorgen für die

nötige Aufmerksamkeit, und bei

Ämtern und Behörden durch eine

Fülle an Anschauungsmaterial für

die notwendige Legitimation.

Corona hat das Tätigkeitsfeld der

Hamburgerin verändert, sagt sie.

„In der ersten krassen Zeit habe ich

Essen an Obdachlose ausgefahren,

die in Hotels untergebracht waren.“

Auch heute ist die Situation nicht

wie zuvor. Ihre Auftragslage als

Selbstständige ist nicht gerade

rosig. Auftraggeber, so ihr Gefühl,

sind zurückhaltender geworden.

SEITE 41

PORTRAIT | JULIA SCHWENDNER

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: NICOLE OPPELT



PORTRAIT

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LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 42

PORTRAIT | JULIA SCHWENDNER

Sie stoßen weniger Projekte an, geben

weniger Geld aus. Angst (auch

vor der Zukunft) spiele eine große

Rolle, davon ist Julia überzeugt.

Sie kann das nachvollziehen. „Für

mich war es während der Pandemie

am schwierigsten, Ruhe zu bewahren

und nicht in Panik und Existenzangst

zu verfallen.“

WIR MÜSSEN

DIE MENSCHEN

ZUSAMMEN-

BRINGEN.

Diese Sichtweise hat sie manifestiert.

„Ich glaube sogar, das ist auch

das, was mich immer zum Ehrenamt

hingezogen hat“, sagt sie. „Es ist

das Gefühl, der Gesellschaft ein bisschen

was zurückgeben zu können.“

Und das möchte sie künftig verstärkt

auch so konkret und direkt,

wie zu Pandemie-Zeiten, tun. „Ich

will richtig anpacken – mit direkten

Effekten!“ Für Julia ist klar:

„Der Bedarf an konkreter Unterstützung

und auch Ehrenamt ist

gestiegen.“ Sie sieht jedoch die

Politik – gerade bei der Deckung

von Grundbedürfnissen wie etwa

Hygiene – mehr in der Pflicht. Bis

es soweit ist, kann jeder selbst etwas

tun. Eigeninitiative (auch ohne

Vereinsstruktur) ist gefragt. Es

geht um nicht weniger als uns und

die kommenden Generationen.

DIE BREMER PERLE

Timo Hollmann TONTECHNIKER /

LOKALPATRIOT

Timo Hollmann ist bei Rockbands

beinahe so etwas wie eine Legende.

Roadie, Bühnengehilfe oder

Veranstaltungstechniker – der

49-jährige Bremer ist ein Alleskönner.

Seit mittlerweile rund 30

Jahren ist er in der Livebranche

tätig, als Tontechniker war er

(unter anderem) mit den Söhnen

Mannheims oder Mando Diao auf

Tournee – auch international.

Doch jenseits der „Großen“ bleibt

ihm die lokale Musikszene und

ihre Förderung außerordentlich

wichtig. 2022 gründete er mit anderen

eine Anlauf- und Beratungsstelle

für Musiker:innen – das POP

Office Bremen.

„Da sind wir natürlich auf die Straße

gegangen und haben deutlich

gemacht, dass wir irgendwo hinmüssen“,

erzählt Timo. „Daraufhin

wurde dann damals der Musikszene

e.V. gegründet.“

Die Stadt überließ ihnen Räume in

der Übersee-Stadt. Eine Notlösung,

denn mehrere Bands mussten sich

einen Raum teilen. Das bedeutete:

Nach jeder Probe abbauen, wieder

hochstecken, alles wegpacken,

damit die anderen am nächsten

Tag proben konnten. Es gab kein

öffentliches Geld für eine eigene

Halle – woraufhin die Gruppe entschied,

privat eine solche anzumieten

und sie selbst auszustatten.

Ein Allover-Netzwerk sollte es werden,

mit Übungsräumen, Studios

und Coachings.

Als die Corona-Beschränkungen

begannen, galt es umzudenken.

Die Umsetzung seiner Projekte, wie

z.B. Live In Bremen, gerieten ins

Stocken. Sie starteten „club-100“

– ein flexibles Veranstaltungsprogramm

mit Streaming- und Liveangeboten.

SEITE 43

PORTRAIT | TIMO HOLLMANN

Ihr Leben „on the road“ mit vielen

verschiedenen Projekten war

vorbei. Der anfängliche „Spirit“ des

„Wir halten zusammen“ habe sich

in ihren Augen nicht weitergetragen.

Im Gegenteil:

Sein Geld verdient Timo Hollmann

zwar mit den Großen der Musikbranche,

aber sein Herz schlägt

für seine Heimatstadt Bremen

und ihre lokalen Bands und Clubs.

Timo hatte selbst eine Band, weiß

also sehr genau, wie schwierig es

für kleine Acts ist, in der Branche

Fuß zu fassen.

Für sich selbst kann Julia dennoch

positive Schlüsse ziehen. Im

direkten Kontakt mit Armut und

Obdachlosigkeit sei sie sich ihrer

eigenen Position bewusst geworden.

Sie fühlt sich „privilegiert“.

Sie habe ein Dach über dem Kopf,

einen vollen Kühlschrank und eine

warme Dusche. Und obendrein

Freund:innen und Familie, deren

Unterstützung sie sich sicher sein

kann.

„HIER KANN ICH MICH FREI ENTFALTEN. HIER HABE ICH KEINEN

ALLTAGSSTRESS“, SAGT JULIA SCHWENDNER. ALS PROFESSIONELLE

FOTOGRAFIN STELLT SIE VEREINEN IHR TALENT ZUR VERFÜGUNG UND

DOKUMENTIERT DEREN ARBEIT FOTOGRAFISCH.

2005 war für ihn das Jahr, in dem

er begann, sich auch politisch für

die Interessen der Musiker:innen

einzusetzen. Seine eigene und

ungefähr 60 andere Bands standen

urplötzlich auf der Straße, weil ihre

Proberäume gekündigt worden

waren.

HERAUSFORDERUNGEN GEHÖREN

FÜR TIMO HOLLMANN ZUM

ALLTAG, WIE Z.B. DER GRÜNDUNG

DES BREMER POP OFFICES.



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LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 44

PORTRAIT | TIMO HOLLMANN

Die Stadt finanzierte das Projekt

mit zwei Millionen Euro für 40

Streaming-Shows.

Nach dem Ende der Coronakrise

wurde es knapp mit dem Geld. Der

Ukraine-Krieg hatte begonnen und

die Sponsoren – hauptsächlich ein

großer Energieversorger – zögerten

mit Weiterbewilligungen. „Unser

Hauptsponsor muss nun auch

sehr kämpfen“, sagt Timo. Folge:

Live In Bremen musste pausieren.

Parallel wurde die Idee des POP

Offices Bremen vorangetrieben, die

politisch gewollt ist, aber nur mit

einer Finanzierung für ein Jahr planen

kann. „Aber eigentlich müssen

wir für zwei Jahre kalkulieren.“

Wieder galt es einen neuen Weg

einzuschlagen, sich als Wirtschaftsprojekt

zu definieren

„Eigentlich sind wir ja ein Teil der

Musikbranche, insofern ja kommerziell“,

so Timo.

Seit 2022 dient das POP Office Bremen den Popkulturszenen

in Bremen als Schnittstelle für Entwicklung und Vernetzung,

bietet Kooperation und Förderung sowie Informationen über

aktuelle Förderprogramme. Darüber sorgt es für eine Stärkung

der Außendarstellung der Bremischen Musiklandschaft. Die

Zielgruppe des Netzwerks vereint einerseits Musiker:innen,

Produzent:innen, DJs, Bands und Musikschaffende, aber auch

bestehende Netzwerke, Vereine, Verbände und Institutionen.

Weitere Infos: www.popofficebremen.de

„Das erfordert aber eine andere

Kommunikation. Da werden die

wirtschaftlichen Perspektiven sehr

viel schärfer geprüft.“ Dank eines

musikaffinen Sachbearbeiters in

der Wirtschaftsbehörde des Senats

gelang es tatsächlich, Fördergelder

zu bekommen. Die Krise

brachte für Timo noch eine andere

Erkenntnis: Durch den Wegfall von

Großevents bekamen die kleinen

Bands wesentlich mehr Chancen,

aufzutreten. „Sie wurden viel mehr

gesehen. Da wurde deutlich, wie

hoch ihre Qualität ist“, so Timo.

In seiner ehrenamtlichen Tätigkeit

hat sich für Timo wenig verändert.

Er hat sich mehr auf Studioarbeit

verlegt, aber sein Engagement

für kleine Bands ist ungebrochen.

„Für mich geht es weiterhin darum,

die lokalen Bands so gut wie möglich

zu fördern“, sagt er. „Gehör

zu finden ist halt immer noch sehr

schwierig. Machen wir uns nichts

vor, wer kommt nach Udo Lindenberg,

Westernhagen, Herbert Grönemeyer,

wenn die weg sind, wer soll

das übernehmen?“ Hier Nachwuchs

zu befördern, hat Timo Hollmann

sich zur Aufgabe gemacht – trotz

immer wieder neuer Herausforderungen.

DA WURDE

DEUTLICH, WIE

HOCH IHRE

QUALITÄT IST.

TROTZ SEINES JOBS BEI INTER-

NATIONALEN TOURNEEN ENGA-

GIERT SICH TIMO HOLLMANN

INTENSIV FÜR KLEINE BREMER

BANDS.

„DURCH DIE GANZEN UNSICHERHEITEN AUF DER WELT BESINNEN SICH

DIE LEUTE LIEBER AUF MUSIK, DIE SCHON DRAUSSEN IST“, BEDAUERT

LINA BURGHAUSEN.

DIE OPTIMISTIN

Lina Burghausen MEDIEN- UND

MUSIKMANAGERIN / INITIATORIN

VON „365 FE*MALE MCS“

Lina Burghausen, vielen auch

unter dem Namen ihrer PR-Agentur

„Mona Lina“ bekannt, ist eine

taffe Frau. Künstler*innen stärken,

ihnen zu gleicher Wahrnehmung

in einer von Männern dominierten

Szene verhelfen, das ist die Passion

der Musikpromoterin, Journalistin

und DJane. Die Freiberuflerin

ist unermüdlich. Hindernisse, Krisen

– es wirkt so, als ob sie diese

mit Leichtigkeit bewältigt. Doch

die Zeiten ändern sich…

Ihr Terminkalender ist gut getaktet.

Releases, Festivals, PR-Arbeit

noch und nöcher. Dazwischen immer

wieder Luft holen, kreativ sein

(und auch müssen). Lina Burghausens

Leben ist das, was man

als „voll“ bezeichnen würde. Sie ist

Inhaberin einer Musik-PR-Agentur,

sie arbeitet für das Splash Festival

als Brandmanagerin, hat ein Labelprojekt

namens „365XX“, das erste

female Rap-Label Europas, und Ehrenamt

ist ihre Leidenschaft. Seit

2016 ist sie in die Pressearbeit von

local heroes involviert. Regelmäßig

taucht ihr Name im Zusammenhang

mit Vereinsprojekten wie den

BahnhofBeats auf.

IN ERSTER

LINIE BIN ICH

MUSIKFAN.

Und wer überregional über die

Netzwerk-Plattform liest, der kann

sicher sein, die junge Leipzigerin

hat dafür gesorgt, Themen an

unzählige Medienpartner:innen

zu tragen. Ihre 2018 ins Leben

gerufene, ehrenamtliche Blogreihe

„365 fe*male MCs“ ist obendrein

ein Meilenstein (nicht nur) in der

Szene und wurde bereits mit dem

International Music Journalism

Award ausgezeichnet. „In erster

Linie bin ich Musikfan“, sagt Lina

Burghausen bescheiden. Eine

Untertreibung. Denn sie kämpft mit

hohem persönlichem Einsatz für

eine diverse und gleichberechtigte

Welt.

Doch diese Welt wird aus den Angeln

gehoben – und das nicht nur

durch Entwicklungen, die jeglichen

feministischen Anstrengungen

zuwiderlaufen. Es sind Krisen wie

die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg,

aber auch die derzeit

herrschende Inflation, die Lina

Burghausen an die Grenzen ihres

haupt- und ehrenamtlichen Engagements

brachten und bringen.

„Es gibt viele Korrelationen. Ich

arbeite in einer Branche, die durch

die Pandemie heftig durchgeschüttelt

wurde und darauf angewiesen

wäre, dass es einen wirtschaftlichen

Aufschwung gibt. Dass die Menschen

wieder in der Lage sind, Geld

für Kultur auszugeben und dass es

einen Wunsch nach Innovation, nach

Neuigkeiten gibt.“

SEITE 45

PORTRAIT | LINA BURGHAUSEN

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: ANGELIKA BLANK



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SEITE 46

PORTRAIT | LINA BURGHAUSEN

Doch das Gegenteil sei der Fall.

„Es ist insgesamt schwieriger geworden,

überhaupt Kapazitäten für eine

ehrenamtliche Tätigkeit zu finden.

Gerade, wenn man freiberuflich tätig

ist oder in einem Bereich arbeitet, in

dem Leute tendenziell von beruflichen

Einschränkungen betroffen

waren. Hier hat man den Wegfall

zum Teil schon sehr gemerkt“, umreißt

sie den Status quo. Bemerkbar

habe sich das vor allem bei

ihrem Projekt „365 Fe*male MCs“

gemacht. Hier sei sie „sehr darauf

angewiesen“, dass es Menschen

gibt, die für diesen Blog schreiben,

illustrieren und vieles mehr. „Am

Anfang der Pandemie war es noch

leicht Unterstützung zu bekommen,

weil die Leute das als Chance gesehen

haben Referenzen in der Musikindustrie

zu sammeln.“

Die fehlenden Kapazitäten sind

jedoch nur eine Seite der Medaille.

Lina Burghausen spricht offen an,

wie es vermutlich vielen geht. Die

Psyche leidet in solchen Zeiten.

Sie bemerkt, wie vielen Menschen

in ihrer Branche die Kraft fehle,

sich „über das normale Maß

hinweg zu engagieren“. Manchmal

gehe es schlicht nur noch darum,

sich „selbst zusammenzuhalten“.

Die bittere Konsequenz:

Und noch schlimmer: Lethargie

macht sich breit. „Es ist wichtig,

dass wir aufeinander aufpassen und

uns gegenseitig den Rücken stärken“,

appelliert sie an ihre Mitmenschen.

Halt und Stabilität hätten ihr vor

allem ihre Partnerschaft und

Freund:innen gegeben, ebenso

wie „Keychange“, ein Netzwerk für

FLINTA*-Personen in der europäischen

Musikbranche, das sehr

viele Vernetzungs- und Austauschangebote

während der Pandemie

geschaffen hat. Doch auch Lina

Burghausen muss mit ihren Kräften

haushalten. Der Überlebensund

auch Kämpferinnenmodus

der Pandemiejahre, in denen sie

sich noch einmal breiter aufgestellte,

um das zu sichern, was sie

sich über Jahre aufgebaut hat, ist

vorbei. Sie hat ihre Prioritäten neu

sortiert und ihre Präsenz deutlich

zurückgeschraubt. Interviews, die

sie gibt, Veranstaltungen, die sie

besucht, all das wählt sie mit Bedacht

aus. Sie möchte den Dingen,

die sie macht, wieder vollends gerecht

werden können.

„Ich habe das große Glück mir die

Menschen, mit denen ich arbeite,

größtenteils aussuchen zu können.

Das sind sehr tolle und auch

sehr verständnisvolle Menschen.“

Gemeinsam mit ihnen kämpft

sie auch für ihr ehrenamtliches

Projekt „365 Fe*male MCs“ weiter.

„Eine der Hauptschwierigkeiten ist

schon immer gewesen, auch vor der

Pandemie, dass es für ein Projekt

wie dieses keine Fördertöpfe gibt.

Es fällt durch, da es kein Verein und

auch keine NGO, aber eben auch

nicht wirtschaftlich ist.“ Alle, die

sich hier engagieren, erhalten kein

Geld.

„Das bedeutet Investment an jeder

Front und auf der anderen Seite ist

das Risiko für alles, was wir inhaltlich

machen, 100 Prozent bei mir.“

Das Thema Kommunikation

habe sich sogar noch verschärft.

„Aktuell liegt der Workload auf den

Schultern von einigen sehr wenigen.

Es ist schwierig, alle abzuholen, zu

verpflichten, aber auch zu sagen:

Wann ist der Punkt, wo wir den

Stecker ziehen, weil es nicht mehr zu

händeln ist?“

Eine Antwort darauf hat sie bislang

nicht. Ihren Optimismus hat sie

sich (nichtsdestotrotz) bewahren

können.

Ihrer Ansicht nach werde sich das

ehrenamtliche Engagement künftig

wieder verstärkt in Richtung „Real

Life“ und weg von Online-Projekten

bewegen. In jedem Fall werde

die Musikindustrie auf ein solches

Engagement angewiesen bleiben.

„Veränderung in der Branche wird

immer zu Teilen aus einem Hobby-/

Ehrenamtskontext kommen“, stellt

sie klar. Und dafür brauche es

„Raum für Menschlichkeit“.

SEITE 47

PORTRAIT | LINA BURGHAUSEN

Mittlerweile hat sich das Blatt

gewendet. Die Bereitschaft ist geschwunden.

Der finanzielle Druck

auf die Musikbranche, in der sie

auch hauptberuflich arbeite, sei

deutlich größer geworden. Die Livebranche

habe sich bislang nicht

von der Pandemie erholen können.

Auch die Recorded-Musikbranche

habe sich gewandelt – und das

nicht zum Vorteil jener, die aktuell

Musik herausbrächten. „Ich merke

an mir selbst, dass ich faktisch gar

keine Kapazitäten mehr für Ehrenamt

habe und dass es vielen anderen, die

sich für solche Projekte engagieren,

genauso geht. Das ist schade und

führt dazu, dass viel wegbricht.“

OHNE UNTERSTÜTZUNG GEHT ES

NICHT: „ICH HABE DAS GROSSE

GLÜCK, DASS ICH IN ALLEN PRO-

JEKTEN, DIE ICH MACHE,

MIT EINEM TEAM ZUSAMMENAR-

BEITE“, SAGT LINA BURGHAUSEN.

GR E

NZ S AITEN

DER PODCAST.

Alles, was du über

Popmusikgeschichte wissen wolltest.

Wirklich alles.

Jetzt streamen!

BILDER: VANESSA SEIFERT

TEXT: NICOLE OPPELT



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SEITE 48

BUSINESS INSIGHTS | KRISE IN DER MUSIKINDUSTRIE

DIE LIVE-BRANCHE

RÜCKT ZUSAMMEN

Michael Schacke GRÜNDER UND

GESCHÄFTSFÜHRER UNDERCO-

VER GMBH / MUSIKER

Michael Schacke kennt die Musikbranche

von der Picke auf. Erste

Konzerte stellen er und sein bester

Freund Dirk Wink-Hartmann schon

in jungen Jahren auf die Beine.

„Do it yourself!“ lautete das Motto

in der niedersächsischen Provinz:

Räume anbieten, Bandfotos

knipsen, Werbematerial entwerfen,

drucken, verteilen aufhängen.

Heute ist er Vollprofi und gehört

zu den erfolgreichsten Veranstaltern

Norddeutschlands. Den Bezug

zur Basis hält er eisern – auch in

schwierigen Zeiten…

„Am direktesten betroffen waren wir

bei Undercover von der Covid-Krise,

die uns ab März 2020 – wie auch

alle anderen Kolleg:innen – vor die

Situation gestellt hat, keine Shows

mehr veranstalten zu können“, erinnert

sich Michael Schacke. Kurz

danach habe Undercover sein rund

30-köpfiges Team in Kurzarbeit

bringen können. Heute, mehr als

drei Jahre später und rund ein

Jahr nach dem Wiederanlaufen

von Veranstaltungen, beschäftige

sie das Thema noch immer. „So

etwas hat es in den über 30 Jahren,

in denen ich diese Firma leite, noch

nicht gegeben. Es war die härteste

Phase seit Jahrzehnten, die uns vor

Herausforderungen gestellt hat, die

es noch nie gab.“ Der Schock sei

bei allen riesengroß gewesen. In

dieser Situation habe jeder erst

einmal bei sich selbst schauen

müssen und versucht, nicht auf

Unsummen an Kosten sitzenzubleiben.

„Doch ob groß oder klein:

Allen in der Branche wurde schnell

klar, dass wir bei dieser Krise gleich

betroffen sind.“

ABSEITS GROSSER BÜHNEN: 2019 WURDE DAS ENGAGEMENT VON

UNDERCOVER IM CLUBBEREICH („EULE UNDERCOVER“) MIT DEM PREIS

„APPLAUS“ DER INITIATIVE MUSIK AUSGEZEICHNET.

Diese Erkenntnis, macht Michael

Schacke deutlich, hatte einen

interessanten Effekt: „Bestehende

Verträge wurden zwar nicht irrelevant,

aber doch zweitrangig, weil der

gesunde Menschenverstand durchaus

Solidarisches an die Oberfläche

gebracht hat.“ Schacke und sein

Team haben mit den betroffenen

Clubs gesprochen und Situationen

individuell ausgelotet. „Wir haben

geschaut, dass wir uns gegenseitig

nicht schaden und dass wir gemeinsam

daran interessiert sind, die

Kosten und den Druck so gering wie

möglich für alle Beteiligten zu halten.“

Die Konsequenz: Die „Lasten“

der Krise wurden auf alle Schultern

gerecht verteilt. Eine positive

Entwicklung, wie Michael Schacke

heute sagen kann.

„Es wurde deutlich, dass es doch

eine Form von Miteinander gibt,

wenn man Schwierigkeiten gemeinsam

erlebt.“ Damals sei es

natürlich anders gewesen. Ängste

und Existenzsorgen standen im

Vordergrund.

Aber das Wichtigste: Die Hoffnung

sei (aufgrund des wellenartigen

Verlaufs) nie ganz verloren gegangen.

„Mittlerweile hat es sich gut

nivelliert. In der Branche haben wir

einen guten Umgang miteinander

gefunden.“

Dem 53-Jährigen ist durchaus

bewusst, dass es nicht allen so

erging. Einige seien leider auch

„unter die Räder“ gekommen, gibt

er zu bedenken. Dass er die Dinge

so gehandhabt hat und gegenwärtig

so einordnen kann, ist sicherlich

auch seiner persönlichen

Historie geschuldet. „Ich komme

aus einem kleinen Dorf [Knesebeck

Anm.d.Red.] und habe mein Leben

lang Newcomer:innen-Arbeit, Clubkonzerte

und Artist Development

gemacht und als wertvoll erachtet“,

sagt er. Noch heute betreibe Undercover

genau das, obschon das

Unternehmen sein Geld mit völlig

anderen Dingen, nämlich großen

Kulturveranstaltungen, verdiene.

„Das ist eine Form von Leidenschaft

und auch Investment in junge

Kultur, in Clubkultur, aber auch in

Forschung und Entwicklung. Und natürlich

in Talentförderung mit allem,

was dazugehört“, beschreibt er die

Intention, unermüdliche Basisarbeit

zu leisten. Am sichtbarsten

wird diese Philosophie – Michael

Schacke nennt es „Grassroots-Arbeit“

– in der seit 2015 bestehenden

Zusammenarbeit mit dem

Braunschweiger Club „Eulenglück“.

„Hier gibt es eine feste Kooperation

namens ‚Eule Undercover‘“, erklärt

Michael Schacke.

In diesem Rahmen werden pro

Jahr zehn bis 20 Konzerte mit

bis zu 199 Besucher:innen veranstaltet.

Der Fokus liegt hier auf

Nischenkünstler:innen und Newcomer:innen,

„die in diesem kleinen

Segment eine Bühne brauchen“.

Schacke und seine Mitstreiter:innen

haben ein gutes Gespür. Denn

einstige Gäste wie "Kytes", "Liedfett",

"Chefboss" oder "Von Wegen

Lisbeth" sind heute im Line-Up

großer Festivals zu finden.

Nach der Corona bedingten

Zwangspause ist seit Sommer

2022 die Braunschweigische

Landessparkasse (BLSK) mit im

Boot. Diese hat sich die Förderung

der Subkultur in der Region auf die

Fahne geschrieben und unterstützt

seither die Konzerte mit. Generell

sind Schacke und seinem Team bei

der Zusammenarbeit mit kleinen

Clubs zwei Dinge wichtig:

Zum einen, dass die Menschen,

die dort arbeiten, anständiges

Geld verdienen. „Und zwar genauso

viel, als würden sie bei einer großen

Show arbeiten.“ Zum anderen sollen

auch die hier auftretenden Künstler:innen

ihre Gage erhalten. Denn

ihr Schaffen habe Wert! Darüber

hinaus ist Undercover auch Tourneeveranstalter

und Bookingagentur.

Und auch hier gilt: Einige unter

Vertrag stehende Künstler:innen

bewegen sich im sogenannten

„Kleinclub-Segment“. „Es ist wichtig,

dass das Teil unserer DNA ist“,

betont Michael Schacke. „Das wird

auch nicht über Bord geworfen.“

Überzeugtes Engagement, das

gemeinsame Erheben der Stimmen,

liegt ihm am Herzen – und

das nicht erst seit Corona. Umso

schöner, wenn dies Früchte trägt

und möglichst viele davon profitieren.

Das Team von Undercover

sieht sich bei all dem jedoch

nicht im Vordergrund. „Wir wirken

im Hintergrund“, stellt Michael

Schacke heraus. Das täten sie

bei Veranstaltungen und auch,

wenn es darum gehe, Position

zu beziehen, zum Beispiel durch

die Auswahl von Künstler:innen

oder Redner:innen. Die vergangenen

Jahre, so sein Fazit, hätten

Bindungen sowohl gestärkt

als auch klarer werden lassen.

Gleichzeitig hätten sie die Fragilität

der Branche zutage gefördert.

Von diesem Eindruck ausgehend

scheint es nun umso wichtiger,

das kulturelle Profil von Städten

und Regionen weiter zu entwickeln

und mitzuprägen. Michael

Schacke und sein Team sind

dabei…

SEITE 49 BUSINESS INSIGHTS | KRISE IN DER MUSIKINDUSTRIE

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: NICOLE OPPELT



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SEITE 50

PORTRAIT | JONAS OCHS

DER

FACKELTRÄGER

Jonas Ochs DIPLOM-PÄDAGOGE /

RAPPER

„Bambärch, bassd scho!“, ruft Jonas

Ochs dem Publikum mit voller

Kraft entgegen. Und man möchte

dem Frontmann der Bamberger

Rap-Combo „Bambägga“ aus voller

Kehle zustimmen. Zumindest im

Mikrokosmos dieser seit 18 Jahren

bestehenden Formation aus

Oberfranken scheint die Welt in

Ordnung. Doch ist sie es wirklich?

Der 38-jährige Familienvater ist

ein umtriebiger Geist und in vielen

Bereichen ehrenamtlich engagiert.

Sich immer wieder auf neue Situationen

einstellen, Krisen meistern

– das gehört für ihn im Beruf und

in seinem musikalischen Hobby

dazu. „Egal, was wir machen, ob es

die ehrenamtliche Arbeit mit Behinderten,

in der Musik, aber auch in

der Organisation von Konzerten oder

Kulturveranstaltungen ist: Das waren

riesengroße Herausforderungen, die

uns immer wieder auf den Prüfstand

gestellt haben“, blickt er auf die

vergangenen Jahre zurück. Pandemie,

Ukraine- und Klimakrise,

Inflation – alle diese Dinge haben

ihn auf verschiedenste Weise und

teils in „extremer Form“ getroffen.

Immer wieder hätten sich seine

Mitstreiter:innen und er gefragt:

„Was wollen wir? Was können wir?

Was ist möglich und wie können wir

kreativ mit den Dingen umgehen, die

wir jetzt als Hürden vor uns haben?“

Insbesondere die Corona-Krise habe

sich eingebrannt, meint er. „Sie hat

dem Kulturbereich, in dem wir viel

ehrenamtlich organisieren, komplett

den Boden unter den Füßen weggezogen.“

„ICH MÖCHTE MIT MENSCHEN IN KONTAKT TRETEN, VON IHNEN

LERNEN, MICH WEITERBILDEN. DAS IST DAS IST MEIN ANTRIEB, MEINE

ENERGIE“, SAGT JONAS OCHS.

In dieser Situation wollten sie als

kleines Kollektiv mit ihrer langjährigen

Erfahrung Vorbild sein und

„ein Stück weit als Fackelträger“

vorweg gehen, um zumindest ein

„kleines Streichholz der Hoffnung“

zu tragen und den Menschen

Mut zu machen. Jonas und seine

Freunde fackelten (im wahrsten

Sinne des Wortes) nicht lange. Sie

gingen nach draußen. „Wir haben

mit 100 Meter Abstand in abgesperrten

Ebenen Outdoor-Konzerte mit

Masken gemacht“, erzählt er. „Wir

haben versucht Streaming-Konzerte

zu spielen. Wir sind zu den Leuten

nach Hause und haben auf Balkonen

gespielt.“

Zu seinen schönsten Erfahrungen

gehört eine kleine Hip-Hop-Konzertreihe

durch Seniorenheime.

Wer jetzt denkt, diese „Welten“

passen nicht zueinander, der irrt.

„Diese Menschen waren zeitweise in

einem Hochsicherheitstrakt und hatten

überhaupt keinen Kontakt mehr

zu Kultur. Also mussten wir genau

dort hin“, erinnert sich Jonas.

Sein Instinkt gab ihm Recht. Die

Freude sei riesig und die daraus

entstandene Euphorie ansteckend

gewesen. Aus einem ersten Experiment

wurde eine ganze Tour.

Diese führte sie zu zahlreichen

Einrichtungen und ließ am Ende

sogar einen Film daraus entstehen.

Möglichkeiten finden und

diese auch ausschöpfen – das ist

in Bamberg gelungen und nach

Meinung von Jonas auch das, was

Ehrenamt ausmacht. Jonas ist

überzeugt, dass so etwas gerade

in der nicht-beruflichen Situation

besser gelingen kann als im Job.

Der Schlüssel ist „Herzblut“. Im

Ehrenamt könnten Dinge mit

„voller Liebe und Hingabe“ angegangen

werden, weil sie eine „sehr

bewusste Entscheidung“ seien.

„Diese Herangehensweise ist hundertprozentig

ehrlich!“ Diese These

trifft im Fall von Jonas und seinen

Mitstreiter:innen vollends zu.

„Krisen spornen mich extrem an. Sie

sind für mich Motivation und lassen

mich ‚out of the box‘ denken“, sagt

er.

Dieser Effekt setze gerade dann

ein, wenn um ihn herum Menschen

aufgeben. „Ich schüttele mich kurz

zwei Tage und dann bin ich Feuer

und Flamme. Krisen zwingen mich,

kreativ zu sein und aus meiner Komfortzone

herauszukommen.“

Die veränderten Rahmenbedingungen

während der Corona-Krise

haben auch ihn vor so manche

Herausforderung gestellt. Scharfe

Auflagen durch Ämter und Behörden

waren aber nur eine Seite der

Medaille. Augenscheinlicher ist für

Jonas eine andere Beobachtung –

bis heute. „Die Menschen scheinen

gefühlt gehetzter. In ihrem Alltag ist

weniger Zeit für Ehrenamt. Einige

vermitteln das Gefühl, es geht auch

ohne – auch ohne Kultur, insbesondere

Musik. Und zu guter Letzt gibt

es jene, die glauben, es geht sogar

ohne Mitmenschen.“ In seinen

Augen sei das eine fatale Entwicklung.

Gerade das Ehrenamt lebe

davon, Dinge gemeinsam zu erschaffen.

„Wenn plötzlich diese Gemeinschaft,

wie etwa in der Coronakrise,

von so viel Skepsis geprägt ist,

dann ist das eine ganz schön große

Herausforderung diesen ‚Spirit‘ am

Leben zu erhalten.“ Die bislang erlebten

Krisen empfindet er daher

als „traumatisierend und bereichernd“

zugleich. „Bereichernd, weil

sich das Mindset geändert hat und

noch mal klarer wurde, was ist mir

eigentlich im Leben wichtig?“ Traumatisierend,

weil Krisen natürlich

auch Angst machen würden. Wie

erkläre ich das meinen Kindern?

Wie wird deren Zukunft aussehen?

Aber auch, wie geht es kurzfristig

weiter? Seine größte Stütze waren

und sind seine Familie und seine

Freund:innen. Sie geben Rückhalt.

Sie bestärken und erden ihn. „Krisen

lassen dich auch klarer in deinen

Gedanken werden“, ist er überzeugt.

Man lernt, wie sehr man sich auf

sich selbst verlassen könne, wie

resilient man sei. „Wer ein Ehrenamt

ausübt, der muss eine stabile

Person sein. Es ist keine Therapie,

sondern eine Überzeugung. Und diese

hat mich über die Jahre wachsen

lassen – eine geniale Selbsterfahrung!“

Sein Blick in die Zukunft ist

optimistisch. „Gerade junge Leute

haben Bock. Sie brauchen lediglich

Ideen. Das ist unsere Aufgabe. Wir

müssen es ihnen vorleben und das,

was sie tun, auch wertschätzen.“

Kleines Budget – große Bühne?

Jonas und seine Crew sind in Bamberg für sogenannte „Pop-up-

Konzerte“ bekannt. Sie treten auf Balkonen, in Kunstwerkstätten

oder in Galerien auf. Das sei eine gute Methode, sich mit wenig

Aufwand und kaum finanziellen Mitteln langfristig eine große Bühne

zu schaffen. Als Künstler:in sei dafür nicht nur das eigene Können

ausschlaggebend. „Das Wichtigste sind Verlässlichkeit, Respekt und

Authentizität“, sagt Jonas Ochs. Er rät, die Dinge selbst in die Hand

zu nehmen und aktiv auf Lokalitäten zuzugehen. Gemeinsam kann

dann überlegt werden, wer aus dem Kollektiv was geben könne.

„Die daraus entstehende Summe ist entscheidend – nicht die Gage oder

potenzielle Einnahmen der Veranstalter:innen.“ Einmal gestartet, könne

das einen echten „Schneeballeffekt“ haben. „Denkt in kleinen Schritten

und nicht in ausverkauften Arenen.“ Der Spirit verbreite sich, ist er

sich sicher. Für „Bambägga“ zahlt sich das so entstandene Netzwerk

seit vielen Jahren aus. Und es trägt sie weiter – zum Beispiel mit

dem Goethe-Institut durch die große, weite Welt.

SEITE 51

PORTRAIT | JONAS OCHS

BILDER: DAVID LEHMANN

TEXT: NICOLE OPPELT



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SEITE 52

PORTRAIT | RESI SCHEUERMANN

EGAL WELCHES GESCHLECHT, ALTER, HERKUNFT, HAUTFARBE, RELI-

GION. RESI WILL BEI FÆMM EINFACH GLEICHBERECHTIGT ARBEITEN

UND SOMIT RÄUME ERSCHAFFEN, IN DENEN JEDE:R WILLKOMMEN IST

UND JEDE:R GESCHÄTZT WIRD.

DIE WEICHENSTELLERIN

Resi Scheuermann PROMOTERIN /

BOOKERIN / BERLINER PFLANZE

Resi kommt aus der Musikszene.

Sie ist seit Jahren Bookerin

und Promoterin im Konzertbüro

Schoneberg und leitet den

Standort Berlin. In der Agentur

arbeitet sie mit Newcomer:innen,

aber auch weltbekannten internationalen

Stars zusammen. In

der Konzertsaison (Frühjahr und

Herbst) betreut sie round about

10 Shows im Monat. Ende Februar

2020, nur zwei Wochen vor dem

ersten Lockdown, launchte sie als

Mitbegründerin die ehrenamtliche

Initiative „fæmm“.

„Fæmm ist ein feministischer Verein

in der Musikbranche mit intersektionalem

und queer feministischem Anspruch.

Wir haben uns auf die Fahne

geschrieben, dass wir FLINTA*-Personen

in der Musikbranche, die hinter,

vor und auf der Bühne arbeiten,

eine Plattform geben werden, egal

wie“, beschreibt die Wahlberlinerin

ihr Herzens-Ehrenamtsprojekt. Als

bunte, gemixte Spielwiese verstehen

Resi und ihre Kolleginnen

ihren Einsatz für die Musikbranche:

„Jede Person, die mitmacht,

kann das machen und ausprobieren,

worauf sie Bock hat.“ Sicherlich

erklärt diese Offenheit und Freiheit

den Erfolg von fæmm. Und

auch die dringende Notwendigkeit:

Einzig die Live-Branche betrachtet,

liegt der Frauenanteil auf deutschen

Festivalbühnen laut einer

Untersuchung der MaLisa-Stiftung

(2022) zur Geschlechtergerechtigkeit

in der Musikbranche weiterhin

bei weniger als 20 Prozent. Auch

die Analysen hinsichtlich Recorded

Music oder Songwriting zeichnen

kein gegenteiliges Bild.

Fæmm versteht sich zwar als ein

deutschlandweiter Verein, alle Ehrenamtlichen

kommen allerdings

aus Berlin – so wie die meisten

Netzwerke und Veranstaltungen,

die von dem Verein ins Leben

gerufen werden. Das soll sich

idealerweise ändern: Die Macherinnen

strecken ihre Fühler aus,

was sie zum Beispiel zur c/o pop

nach Köln oder zum Reeperbahnfestival

nach Hamburg brachte.

„Es war dringend Zeit, dass aus der

ursprünglichen Initiative ‚fæmm‘ ein

Verein wurde“, findet Resi, „damit

auch Leute in Köln, in Hamburg,

vielleicht in Würzburg oder keine

Ahnung in Buxtehude Lust haben,

sich uns anzuschließen. Wir sind

offen für alles, aber momentan sind

wir sehr Berlin based, gerade was

zum Beispiel unsere Bukett Sessions

angeht oder auch die Netzwerktreffen

für FLINTA*-Personen aus der

Branche.“

FLINTA* ist eine Abkürzung und steht für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche,

nichtbinäre, trans und agender Personen. Der angehängte

Asterisk dient dabei als Platzhalter, um alle nicht-binären

Geschlechtsidentitäten einzubeziehen.

Bukett Sessions, damit ist eine

feministische und empowernde

FLINTA-Veranstaltungsreihe von

fæmm und Selective Artists gemeint,

bei denen ein Slot des Line

Ups immer über fæmm verlost

wird. Die Veranstaltungen vereinen

Konzerte und Networking zwischen

Newcomer:innen und Profis.

Das gemeinnützige Potpourri ist

allerdings um einiges größer: Resi

und ihre Kolleginnen veranstalten

nicht nur diverse Sessions,

Stammtische, Panels oder Kooperationen

und Online-Präsentationen

über Instagram, sie haben

auch eine eigene Radioshow, die

von ihrer Kollegin Rike kuratiert

wird: fæmm FM. Jeden zweiten

Donnerstag läuft das Programm,

das sie fæmm.party nennen, von

14 bis 15 Uhr bei Alex Berlin. Die

Sendung setzt sich aus Playlisten

zusammen in denen die Weichenstellerinnen

FLINTA*-Artists präsentieren.

Und da ist noch so viel

mehr in der Mache.

Wenn man Resi zuhört, wie intensiv

und wichtig ihr Ehrenamt bei

fæmm mit all den verschiedenen

Projekten ist, wird einem bewusst,

was für ein Sog ein Ehrenamt auf

die Ausführenden, aber auch auf

die Menschen haben kann, die

Resis Engagement sehr gerne

annehmen. Resi empfindet ihr

Engagement als „eine Zeit, die

ich nicht als Arbeitskraft einsetze,

sondern eben in ein Ehrenamt. Was

mich beim Ehrenamt voranbringt,

sind die Leute, die sich von Herzen

bedanken und das Gute darin sehen,

so wie ich. Das bedeutet mir persönlich

sehr viel. Da geht es um Wertschätzung.“

Ein unverzichtbares Thema im Ehrenamts-

und Kulturbereich ist das

Thema Fördergeld. „Ohne Fördergelder

geht das nicht, da die Vereinsbeiträge

so gering sind, dass man da

nichts mit abdecken kann.“

Ihre Konzertreihen sind immer

noch sehr günstig.

„13 Euro für drei Bands. Das gibt es

heute nur noch mit Förderung. Da

muss man dranbleiben und das ist

nicht immer leicht.“ Resi beobachtet

auch, dass es schwerer wird in

diesen krisengebeutelten Zeiten.

Ukrainekrieg, Inflation, Klimastreik.

„Die Menschen sind mental im

Krieg“, nennt Resi das und glaubt

auch, dass das ein Grund ist,

warum die Menschen keinen Kopf

für ein Ehrenamt hätten. Und dass

auf beiden Seiten. Weniger Zeit

und Kapazität zum Ausüben und

Annehmen gleichzeitig. Dabei kann

Krise immer auch gut sein. Resi

hat festgestellt, dass die Coronazeit

nur in den ersten zwei Monaten

holprig für fæmm war. „Danach

ging es richtig ab. Die Goldenen

Zeiten von ‚fæmm‘ waren das.“

Plötzlich hatten die (Wahl-)

Berlinerinnen Zeit – ihre eigene

Arbeit in der Musikindustrie ruhte

weitestgehend. Sie dachten sich

Onlineformate aus und nahmen

Instagram damit voll in Beschlag.

So entstanden diverse digitale

Interviewformate. Eins davon war

z.B. die Video-Interview-Reihe

„Meet the Icon“ / „Meet the Artist“,

bei der Künstler:innen, aber auch

Frauen vorgestellt worden sind,

die hinter der Bühne arbeiten:

„Von der Tontechniker:in, Booker:in,

Produzent:in, Fotograf:in haben

wir versucht, einfach eine ziemlich

große Reichweite zu erschließen,

weil unser Ziel ist es, Newcomer:innen

zu fördern.“ Bei Resi war es

nämlich zu ihren Schulzeiten nicht

klar, „dass ich vor allem als Frau in

der Musikbranche tätig sein kann.“

Fæmm – und allen voran Resi –

will mit dieser Interviewreihe junge

Personen ansprechen, die durch

das Format Vorbilder im Internet

finden können, um die geschlechterbezogene

Denkweise einzelner

Berufe zu überwinden. Das Engagement

macht Mut, dass sich

mit dieser kraftvollen Stimme in

Zukunft eine Geschlechter-Parität

in der Musikindustrie feststellen

lässt.

SEITE 53

PORTRAIT | RESI SCHEUERMANN

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: ANGELA PELTNER



PORTRAIT

BUSINESS INSIGHTS

DEEPER KNOWLEDGE

LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 54

PORTRAIT | RIKE JUST

DAS ORGANISATIONS-

TALENT

Rike Just SELBSTÄNDIGE TOUR-

MANGAGERIN / GRÜNDERIN

"WAAL"

Mit Livegrößen wie Leoniden, Roy

Bianco & Die Abbrunzati Boys oder

Giant Rooks auf Tour gehen? Was

für viele wie ein Traum klingt, ist

für Rike Just längst Realität – mit

allen dazugehörigen Höhen und

Tiefen.

Als Tourmanagerin lebt die aus

Magdeburg stammende Rike seit

Jahren in Hamburg. Nach Lehrjahren

bei Landstreicher Booking

machte sie sich 2019 selbstständig

und und begleitete die Kieler

Band Leoniden gleich mal auf 80

Konzerte in wenigen Monaten.

Umso härter traf auch sie die Corona-Krise

– finanziell wie mental.

Doch aus der Not der erzwungenen

Arbeitspause entstand schnell

ehrenamtliches Engagement:

„UNTER SCHWIERIGSTEN BE-

DINGUNGEN, GERADE IN KRISEN-

ZEITEN, KOMMT MEINE KÄMPFER-

NATUR ZUM VORSCHEIN. DANN

SAGE ICH: JETZT ERST RECHT!“

OHNE KRISE

GÄBE ES WAAL

WOHL IN DER

FORM NICHT.

RIKE, WIE KAM ES ZU DEINEM

EHRENAMTLICHEN PROJEKT?

Als ich in der Coronakrise nicht

mehr meinem Job nachgehen

konnte, kam mir die Idee für

Frauen hinter den Bühnen in der

Musikbranche eine Plattform zu

schaffen. In wenigen Tagen habe

ich mit befreundeten Frauen ein

Team zusammengestellt und einen

passenden Namen gefunden:

Wir wollten zum einen Frauen in

der Branche und ihren Werdegang

als positive Role Models zeigen.

Zum anderen wollen wir weiblichen

Nachwuchs und Etablierte vernetzen,

damit der Weg für alle leichter

wird. Denn viele Jobs werden vor

allem durch Empfehlung vergeben

und besonders leitende Positionen

im Veranstaltungsbereich sind

nach wie vor meist männlich besetzt.

WELCHE KRISENBEDINGTEN

HERAUSFORDERUNGEN GAB

ES DABEI?

Uns war wichtig, mit den Personen

face-to-face zu sprechen, nicht

nur online oder telefonisch, damit

wir den Vibe der Person einfangen

können. Interviews und Fotoshootings

deutschlandweit mit Abstandsregelungen

und Tests umzusetzen

war eine Challenge. Dass

wir es trotzdem geschafft haben,

so viele Frauen aus dem Veranstaltungsgeschäft

zu porträtieren

und sichtbar zu machen – da bin

schon stolz darauf.

WIE HABEN KRISEN DEINE

TÄTIGKEIT IN DEN VERGANGENEN

JAHREN VERÄNDERT?

Ohne Krise gäbe es WAAL wohl

in der Form nicht. Ich hatte viel

Zeit zur Reflektion und dem Verarbeiten

von Erlebtem. Denn in

der Musikbranche tätig zu sein,

ist cool, aber erfordert hundert Prozent

Leidenschaft und ist häufig

mit ungesunden Arbeitszeiten und

viel Stress verbunden. Viele haben

während Corona deshalb auch

die Branche gewechselt und ich

bin umso dankbarer über jede, die

noch oder wieder dabei ist.

Vor der Coronakrise habe ich – wie

vermutlich viele andere – jahrelang

ohne Urlaub durchgearbeitet

und bin im Nachhinein etwas froh

über diese erzwungene Pause. Früher

dachte ich, dass ich jeden Job

annehmen müsse - mit unserem

ehrenamtlichen Projekt wollen wir

auch andere Kolleginnen besser

darauf vorbereiten und unterstützen,

die richtige Balance zu finden.

ZUSAMMEN MIT FREUNDINNEN

UND IHRER SCHWESTER HAT RIKE

ANFANG 2020 WE ARE A LOT

GEGRÜNDET.

WELCHE ÄNDERUNGEN SPÜRST

DU IN DEINEM EHRENAMT?

Seitdem wir wieder richtig auf Tour

gehen können, bleibt natürlich

weniger Zeit für WAAL. Vor allem

ist es viel schwerer, gemeinsame

Termine zu finden, weil alle wieder

viel unterwegs sind. Denn am Ende

müssen alle ihr Geld verdienen

und können sich meist nur zwischendurch

die Zeit für das Projekt

freischaufeln. Also gilt es auch

hier, die richtige Balance zu finden,

denn nachdem die Livebranche

letztes Jahr wieder richtig angelaufen

ist, nimmt die Arbeit viel

Raum ein und das Ehrenamt leidet

darunter.

WIE PLANST DU IN DER

ZUKUNFT DEIN ENGAGEMENT

EINZUSETZEN?

Aktuell planen wir Videoformate,

bei denen wir z.B. eine Tourmanagerin

einen Tag lang durch

eine Produktion begleiten. Wir

wollen noch mehr Blicke hinter

die Kulissen ermöglichen und so

mehr Frauen dafür begeistern. Bei

allem Zauber ist das Livegeschäft

ja keine Raketenwissenschaft und

wir wollen mit unnötigen, elitären

Vorurteilen aufräumen. Außerdem

würden wir gerne noch mehr Austausch

ermöglichen, z.B. durch

Vermittlung von Hospitationen.

Da gibt es tolle Formate in England

wie „Women in Music“, bei

denen Interessierte in Abläufe von

Veranstaltungen reinschnuppern

können, so genanntes „shadowing“.

Wenn wir das in Deutschland

vermitteln könnten, wäre das

ein toller Schritt, um mehr Frauen

in die Branche zu holen.

SEITE 55

PORTRAIT | RIKE JUST

BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER

TEXT: TOM VOGELSANG



PORTRAIT

BUSINESS INSIGHTS

DEEPER KNOWLEDGE

LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

SEITE 56

EIN RÜCKBLICK VON CHRISTOPH EISENMENGER

DER NACHKLANG.

DAS KONZEPT. DIE

REISE. DAS FAZIT.

Christoph Eisenmenger FOTOGRAF

„Ehrenamt ist tausendmal krasser

als ein scheiß Praktikum!“ Die

Erkenntnis von Christoph Eisenmenger

nach intensiver Tour durch

Deutschland könnte prägnanter

nicht sein. Anfang 2023 hat er sich

erneut auf den Weg gemacht, um

die unterschiedlichsten Menschen

und ihre inspirierenden Geschichten

für die nun vorliegende zweite

Ausgabe des Ehrenamtsmagazins

einzufangen. Die Begegnungen

haben ihn bewegt, inspiriert und

zum Nachdenken gebracht…

Die Gelegenheit kam unverhofft.

Und um ehrlich zu sein: Kaum

einer der Beteiligten hatte so

kurz nach dem Erscheinen von

„Heldentaten“ im Jahr 2021 damit

gerechnet. So auch Christoph

Eisenmenger. Hinter den Kulissen

einer Produktion in Dessau um den

Jahreswechsel 2022/2023 herum

erfuhr er zwischen einem Shooting

mit Afrob und Mia. von der

nächsten „Mission“. „Das war echt

aufregend“, erinnert sich Christoph

an eine vor Freude strahlende Julia

Wartmann, die sich zuvor im Stillen

um die Förderung einer zweiten

Auflage bemüht hatte. „Meine

ersten Gedanken: Was machen wir

überhaupt? Welches Thema wollen

wir angehen? Und wie schaffen

wir das?“ Und obendrein: Nur gut

sechs Monate Zeit für die Entstehung

eines umfangreichen Magazins.

Das ist auch unter optimalen

Bedingungen nicht viel.

„Ehrenamt in Zeiten der Krise“

– der Entschluss im Kernteam,

welches auch diesmal unter der

Ägide von Dr. Ole Löding wissenschaftlich

begleitet wurde, war

schnell gefasst. Unsicherheiten

hätten dennoch bestanden, so der

erfahrene Fotograf. Zwar sei das

ein Thema, das viele betreffe, aber

wurde darüber nicht schon genug

geschrieben? Gibt es den einen

roten Faden? Und: Ist die Definition

von „Krise“ nicht für jeden eine

andere? Es galt, die ursprüngliche

Idee nachzujustieren und dabei

auch über den eigenen Tellerrand

zu blicken. Das bedeutete unter

anderem: Nicht – wie noch in der

ersten Ausgabe – „nur“ im direkten

Umfeld von local heroes nach

Menschen Ausschau halten, die

etwas zu erzählen haben. Und vor

allem, mindestens ein redaktionelles

„Gleichgewicht“ zwischen

den Geschlechtern herzustellen

– darin hätten die Hauptaufgaben

in den ersten Wochen bestanden,

so Christoph, dem gerade dieser

Punkt sehr wichtig war.

Die Ausgangsposition für die nun

vor allen liegende Zeit hatte sich

jedoch geändert. Das Team hatte

aus den Erfahrungen der ersten

Ausgabe gelernt. „Die Startschwierigkeiten

von damals waren weg. Wir

wussten jetzt, wie wir Prozesse über

alle Ebenen einer solchen Produktion

optimieren können. Das hat vieles

vereinfacht.“

Bereits Ende Februar 2023 fand

sich Wahl-Hamburger Christoph

alias Titus in seinem Auto und

damit auf Tour wieder. „Der Anfang

war echt holprig“, gesteht der

Freiberufler. Das in seinem Kopf

schon fertige Magazin war noch

lange nicht im Einklang mit seinen

ersten Gesprächen, die er wohlweislich

mit Personen führte, die

er bereits sehr gut kannte.

„Am Anfang wusste ich – trotz gut

konzipiertem Fragebogen – wirklich

nicht: Wo geht die Reise hin.“

Schnell kristallisierte sich für ihn

aber heraus: „Im Kern war jede

Persönlichkeit, die ich interviewt und

fotografiert habe, von den großen

Krisen betroffen. Allerdings wurden

diese unterschiedlich für sich selbst

bewertet.“

Die Konsequenzen seien daher

breit gefächert gewesen. „Viele Gesprächspartner:innen

haben Krisen

dazu bewogen, über ihr Leben und

auch Erfahrungen – insbesondere

während der Corona-Pandemie –

nachzudenken und neue Einordnungen

vorzunehmen.“ Erfahren habe er

sowohl intime als auch Dinge, die

jeden beträfen. Und noch ein Aspekt

habe ihn überrascht. „Im Vorfeld

habe ich mir natürlich Gedanken

über die Themen gemacht, die die

jeweiligen Gesprächspartner:innen

wohl anschneiden werden. Ich gestehe,

ich hatte nie Recht“, erzählt

er schmunzelnd.

„ICH HABE ERFAHREN: IM EHREN-

AMT KANN ICH – UNABHÄNGIG

VON FINANZEN UND AUSBILDUNG

– SACHEN MACHEN, DIE ICH

NOCH NIE GEMACHT HABE“, SO

DER EINDRUCK VON CHRISTOPH,

DER SICH SELBST SEIT RUND 20

JAHREN ENGAGIERT.

Auch fotografisch gestaltete sich

die Arbeit anders als im Zuge der

ersten Ausgabe mit ihren sehr

offenen, klaren und strukturierten

Bildern. Christoph macht sich im

Vorfeld viele Gedanken über sein

Gegenüber und die Darstellung.

Vielleicht zu viel, wie er zugibt.

„Am Anfang wollte ich die Menschen

möglichst einheitlich, in einem ‚cleanen‘

Umfeld portraitieren, um eine

Art Neutralität zu haben“, sagt er.

„Das hat überhaupt nicht funktioniert.“

Auf der anderen Seite wollte

er die Personen so „intim wie

möglich“ bei sich zuhause oder

im Arbeitsumfeld bzw. am Ort des

Schaffens ablichten. Dieser Gedanke

fruchtete und führte ihn letztendlich

zu den unterschiedlichsten

Locations. „Die Bilder sollen zeigen,

wie es hinter den Kulissen aussieht.

Entsprechend stark ist das persönliche,

enge Umfeld eingeblendet und

die Beleuchtung zu großen Teilen

sehr hart. Der Betrachter soll sich in

das Bild hineinversetzen können und

erkennen, dass nicht alles perfekt

ist, aber man sich trotzdem wohlfühlen

kann.“ Das sei für ihn auch ein

Grundsatz im Ehrenamt.

„Auch wenn etwas nicht perfekt ist,

birgt es dennoch Potenzial.“ Christophs

Bilder zeigen das echte

Leben: Ein bisschen verrückt und

ein bisschen improvisiert!

Fokus Sozio- und Musikkultur?

Es geht weit darüber hinaus!

Nun ist Christophs Trip zu Ende.

Doch er „schwingt“ nach. „Ausnahmslos

jedes Interview hat auch

mich zur Selbstreflexion angetrieben

und oftmals auch emotional berührt.

Es gab viel mehr Reibungspunkte

und Dinge, die im Gespräch an die

Oberfläche gekommen sind. Letztlich

hat mich diese Reise inspiriert,

selbst etwas Positives zu tun.“

Christoph war also nicht bloß

Interviewer und Fotograf. Seine

Deutschland-Tour für das Ehrenamtsmagazin

hat ihn – anders als

beim ersten Mal – selbst ein Stück

weitergebracht. Bei jedem Gespräch

habe er aufs Neue gespürt,

„dass Ehrenamt wirklich erfüllend

sein kann“.

In den Interviews sollten zunächst

Soziokultur und natürlich die Musikbranche

im Vordergrund stehen.

Zu kurz gegriffen! Denn die Menschen

entwickeln sich angesichts

von Krisen offenbar über dieses

spezielle Feld hinaus und betätigen

sich, teils bis heute, in ganz

anderen Bereichen. „Das hat uns

die Augen geöffnet“ und letztlich

nicht nur die Auswahl der Gesprächspartner:innen

beeinflusst,

sondern auch die „Macher:innen“

hinter den Magazin-Kulissen.

Von diesen neuen Perspektiven

und Tätigkeitsfeldern zu erfahren

sei sehr erfrischend und auch ein

Ansporn gewesen, sich außerhalb

der Musikbranche zu engagieren,

so Christoph. „Ich habe auf dieser

Reise so tolle, neue Sachen kennengelernt,

von denen ich vorher noch

nie gehört hatte. Das war richtig

krass!“

SEITE 57

EIN RÜCKBLICK VON CHRISTOPH EISENMENGER

BILDER: ROBIN SCHMIEDEBACH

TEXT: NICOLE OPPELT



SEITE 58

PORTRAIT

BUSINESS INSIGHTS

DEEPER KNOWLEDGE

LOCAL HEROES

IHR SPIELT DIE MUSIK.

DAS MAGAZIN

Mein Sachsen-Anhalt.

Mein LOTTO.

IMPRESSUM

IMPRESSUM

DAS VORLIEGENDE MAGAZIN ENTSTAMMT AUS DER FEDER DES

PROJEKTES „LOCAL HEROES“.

HERAUSGEBER

Aktion Musik / local heroes e.V.

Altperverstraße 23

29410 Salzwedel

T 03901 477 288

M kontakt@local-heroes.de

W www.local-heroes.de

GESCHÄFTSFÜHRERIN

Julia Wartmann

REDAKTION

Nicole Oppelt [Ltg.]

Angelika Blank

Rubi Murugesapillai

Dr. Ole Löding

Angela Peltner

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Julia Wartmann

REDAKTIONSASSISTENZ

Christoph Eisenmenger

Jennifer Scholl

Dr. Anja Wartmann

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JUNI 2023

Namentlich gekennzeichnete

Beiträge geben nicht unbedingt

die Meinung der Redaktion wieder.

Nachdruck ist nur mit vorheriger

Freigabe erlaubt.

Local heroes bedankt sich bei

allen Interviewpartner:innen und

Gastautor:innen für die offenen

und wertschätzenden Gespräche

sowie bei allen Engagierten für den

kreativen, liebevollen, unverzichtbaren

und wichtigen gemeinnützigen

Einsatz.

LOTTO

fördert.

Jeden Tag fließen rd. 19.000 Euro

von LOTTO Sachsen-Anhalt an

gemeinnützige Projekte im Land.

JUNI 2023



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