Held:innen-Taten in Krisenzeiten: Das Ehrenamtsmagazi
Seit dem Jahr 2022 macht ein Begriff die Runde, den die Wissenschaftler Thomas Homer-Dixon, Ortwin Renn, Johan Rockstrom, Jonathan F. Donges und Scott Janzwood geprägt haben: „Polykrise“ . Ihre These: Unsere Welt wird nicht nur von einer immer größer werdenden Anzahl an Krisen gebeutelt. Diese Krisen scheinen auch miteinander verknüpft. Durchschaubar sei das bislang nicht, ebenso wenig erforscht. Sie waren überzeugt, das müsse sich ändern. Dass es im Augenblick nicht die eine Krise gibt, sondern zumeist mehrere zusammenspielen und zu unterschiedlichen Konsequenzen führen, das hat auch das Team von Aktion Musik / local heroes e.V. erfahren. Im Rahmen ihrer zweiten Publikation untersuchten sie „Held:innen-Taten in Krisenzeiten“. Fokus ihrer Recherchen und der dazugehörigen wissenschaftlichen Untersuchung war (natürlich) das Thema Musik. Sie wollten wissen: Was bedeutet „Krise“ in diesem Zusammenhang? Und welche Konsequenzen entstanden und entstehen daraus?
Seit dem Jahr 2022 macht ein Begriff die Runde, den die Wissenschaftler Thomas Homer-Dixon, Ortwin Renn, Johan Rockstrom, Jonathan F. Donges und Scott Janzwood geprägt haben: „Polykrise“ . Ihre These: Unsere Welt wird nicht nur von einer immer größer werdenden Anzahl an Krisen gebeutelt. Diese Krisen scheinen auch miteinander verknüpft. Durchschaubar sei das bislang nicht, ebenso wenig erforscht. Sie waren überzeugt, das müsse sich ändern.
Dass es im Augenblick nicht die eine Krise gibt, sondern zumeist mehrere zusammenspielen und zu unterschiedlichen Konsequenzen führen, das hat auch das Team von Aktion Musik / local heroes e.V. erfahren. Im Rahmen ihrer zweiten Publikation untersuchten sie „Held:innen-Taten in Krisenzeiten“. Fokus ihrer Recherchen und der dazugehörigen wissenschaftlichen Untersuchung war (natürlich) das Thema Musik. Sie wollten wissen: Was bedeutet „Krise“ in diesem Zusammenhang? Und welche Konsequenzen entstanden und entstehen daraus?
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IT'S A KIND OF
MAGIC
Dieses Magazin ist nicht nur eine
Hommage an all die heldenhaften
Menschen da draußen, sondern
auch ein lebendiges Abbild
unserer vielfältigen und leidenschaftlichen
Gesellschaft. Denn
hier geht es nicht nur um Zahlen
und Statistiken – nein, es geht um
euch, die wahren Superstars ohne
Umhang, die das Ehrenamt mit
Herzblut und Hingabe prägen.
Es ist Zeit für Magie, denn es
ist eure. Liebe Heldinnen, liebe
Helden und alle, die es noch werden
wollen, Euch allen ist dieses
Magazin gewidmet. Denn: Ihr seid
Leuchttürme in Krisenzeiten. Deswegen
möchten wir eure Ehrenamtsgeschichten
erzählen.
SEITE 3 GRUSSWORT | JULIA WARTMANN
Weil Musik uns
alle inspiriert.
Musik fördern, heißt
Gemeinschaft stärken.
Darum unterstützt die
Sparkassen-Finanzgruppe
viele spannende Musikprojekte.
Weil’s um mehr als Geld geht.
Es ist vielmehr dringend notwendig!
Wir wollten und müssen mit
euch ins Gespräch kommen, als
Form der Wertschätzung einerseits,
andererseits um voneinander
zu lernen und Erfahrungen
in verschiedenen Instanzen wie
öffentlicher Verwaltung, Politik,
Wirtschaft und Wissenschaft
zu teilen. Um zu motivieren, um
Zeichen zu setzen, um den Superheroines
und Superheroes ein
Gesicht zu geben.
Hinter den 29 Millionen Engagierten
in Deutschland verbirgt sich
ein ganzes Universum voller Geschichten,
Träume und Visionen.
Wir stellen in unserem zweiten
Ehrenamtsmagazin „Held:innen-
Taten in Krisenzeiten“ 22 Power-Frauen
und -Männer vor, die
sich kulturell, sozial und politisch
einsetzen. Es sind Menschen, die
auch in Krisenzeiten leuchten,
die Wegweiser:innen sind, die
mit ihrer Entschlossenheit und
Beharrlichkeit die Welt um sich
herum zum Besseren verändern.
Wir wissen um die Dringlichkeit
des Ehrenamts. In Zeiten,
in denen von jungen Menschen
eine Vier-Tage-Woche gefordert
wird, schöpft es Hoffnung, künftig
wieder mehr Raum und Kopf für
gesellschaftliches Engagement
zu haben. Immerhin leidet auch
das Ehrenamt unter einem Nachwuchsproblem,
wie wir in unserer
ersten wissenschaftlichen Erhebung,
die ihr auf Seite 8 und 9 in
einer Zusammenfassung nachlesen
könnt, erfahren haben. Ohne
die Menschen, die sich auf, hinter
und vor den Bühnen für kulturelle
Vielfalt einsetzen – ebenso wie
die Einsatzkräfte im Bevölkerungsschutz
und auch mit Blick auf
Engagierte im Sport, im Umweltschutz,
in der Nachbarschaftshilfe
oder in der Integrationshilfe
– wäre unser Land längst nicht
so bunt, so sicher, so vielfältig,
so lebendig. Im Klartext: Magie
entsteht nicht aus dem Nichts –
sie entsteht durch euch und eure
unermüdliche Hingabe. Ohne euch
läuft nichts!
Ich danke auf diesem Weg all
unseren Interviewpartner:innen
für ihre Bereitschaft, über ihre Krisenerfahrungen
der vergangenen
Jahre zu sprechen. Trotz unterschiedlicher
Herausforderungen
haben sie alle nie den Blick auf
ihre Inspirationen und Glücksmomente
verloren. Ihr seid grandios.
Ebenso wie das gesamte Team,
das an dieser zweiten Ausgabe
mitgewirkt hat. Vielen Dank.
Julia Wartmann Geschäftsführerin
des Projektes “local heroes”
mit Begeisterung für Non-Profits,
Musik- und strategisches
Management und Schildkröten
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 5
SEITE 4
INHALTE
SEITE 3
SEITE 6
GRUSSWORT
JULIA WARTMANN
ÜBER LOCAL HEROES
SEITE 33
SEITE 36
CHRISTIAN STAHL & KLAUS SCHMITT //
"AB GEHT DIE LUTZI"-FESTIVAL
ROXY SCHULZ
INHALTE
SEITE 7
WAS SIND WIR OHNE EUCH?
SEITE 38
ANNA-LENA ÖHMANN & JOHANNES HILLE //
DIEPOP
SEITE 8
BUSINESS INSIGHTS
QUO VADIS EHRENAMT?
SEITE 40
JULIA SCHWENDNER
SEITE 10
JACQUELINE BRÖSICKE
SEITE 43
TIMO HOLLMANN
SEITE 13
VERA LÜDECK
SEITE 45
LINA BURGHAUSEN
SEITE 16
GERHARD KÄMPFE
SEITE 48
BUSINESS INSIGHTS
KRISE IN DER MUSIKINDUSTRIE
SEITE 18
BUSINESS INSIGHTS
CLUBKULTUR IN DER KRISE
SEITE 50
JONAS OCHS
SEITE 23
MELANIE GOLLIN, ALENA STRUZH & ROSALIE
ERNST // ZWISCHEN ZWEI UND VIER
SEITE 52
RESI SCHEUERMANN
SEITE 26
MARIE WESTPHAL
SEITE 54
RIKE JUST
SEITE 28
MARCO HEIDE
SEITE 56
NACHWORT
SEITE 30
DEEPER KNOWLEDGE
HELD:INNENZEIT
SEITE 58
IMPRESSUM
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 6 ÜBER LOCAL HEROES
ÜBER LOCAL
HEROES
Hinter dem Non-Profit-Projekt
„local heroes“ stehen der gemeinnützige
Verein Aktion Musik /
local heroes e.V. und ein beeindruckendes
Netzwerk aus kreativen,
engagierten Köpfen. Gemeinsam
knüpfen wir seit 1989, als die Idee
geboren wurde, ein unsichtbares
Band zwischen Jugendlichen
(ursprünglich aus Ost und West,
inzwischen europaweit) – und das
alles durch die Königin Musik!
Seitdem sind über 30 Jahre vergangen,
und in dieser Zeit haben
wir zahlreiche junge Talente aus
allen Ecken Deutschlands gefördert.
Egal, ob Bands, Solointerpret:innen
oder Musikfan, bei uns
findet jede:r einen Bühnenslot oder
Backstageraum. Unsere Mission?
Musikalische Vielfalt und kulturelle
Teilhabe für alle!
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: PAUL WEBER (S. 7)
Aus der Hansestadt Salzwedel
(Sachsen-Anhalt) heraus werden
wir zusammen mit unserem
Netzwerk deutschlandweit tätig.
Wir knüpfen Netzwerke zwischen
Veranstalter:innen, Bookern, Mentor:innen,
Wettbewerben, Journalist:innen,
Studios, Clubs, Förderern
und Sponsoren, Prominenten
und weniger Prominenten und
machen diese für Musiker:innen
nutzbar.
Local heroes ist ein Non-Profit-Projekt,
deren Umsetzung von zahlreichen
Förder:innen, Sponsor:innen
und Spender:innen getragen
wird. Inzwischen sind hunderte
ehren- und hauptamtlich Engagierte
bundesweit für eine lebendige
Newcomer:innen-Szene im Einsatz.
Wir verstehen Musikförderung als
demokratische Aufgabe und füllen
diese mit unterschiedlichen Angeboten
der kulturellen Teilhabe aus.
Das bundesweite local heroes-
Netzwerk wird seit 2015 von Julia
Wartmann geleitet, die den Staffelstab
von Mit-Begründer und dem
langjährigen Projektleiter Dieter
Herker überreicht bekam. Er ist
weiterhin beratend tätig.
Du möchtest mehr über uns erfahren?
Kein Problem! Auf unserer
Webseite www.local-heroes.de
findest du alle Informationen, Neuigkeiten
und sogar den ein oder
anderen Trick, um die musikalische
Bühnen zu rocken.
Also schnapp dir deine Instrumente
oder deine Kamera und schließ
dich uns an – denn wir freuen uns
auf deinen Einsatz auf, hinter oder
vor den Bühnen, die bereit für dich
und/oder deine Musik sind!
EIN MOIN VON DENMANTAU AN
DAS EHRENAMT ODER: GEDANKEN
EINES 15-JÄHRIGEN SÄNGERS
Es ist 00:15 Uhr, DenManTau hat
eingepackt, die Luft flimmert
noch, die Atmosphäre schwelgt
im Echo von Rufen, Applaus,
wummernden Bässen, Gitarren-,
Schlagzeug-, und Trompetensounds.
Ich lasse meine Gedanken
schweifen: „Nicht zu fassen, da waren
Leute, die haben getanzt, als wir
gespielt haben!“ Stolz und Dankbarkeit
durchflutet mich, mein
Wunsch ist klar: Ich will Musiker
sein, nichts anderes!
Bevor wir die Leinen losmachen
und weiter schippern, ein letzter
Blick auf die Bühne und ein
gewichtiger Blick in den Backstage…
ohne „Idiotenrunde“ geht
nichts! Langsam lernt man mit.
Andauernd fehlen Kabel, Mikrofonstative,
zuweilen gehen sogar
Trompeten verloren. Wenn’s hart
auf hart kommt, sogar die Stimme
des Sängers. „Tolle Scheiße, denke
ich heiser, hier steckt sie nicht.“ Zumindest
finde ich ein angefangenes
Bier, ein Plektron und die auf
einer Serviette gekrickelte Setlist.
Die kommen hübsch mit auf den
nächsten Gig. Oder wir spielen
halt ohne, das wird schon, wer
braucht schon Struktur?
Hauptsache Rock’n‘Roll, Hauptsache
laut, Hauptsache Alles. Ja
man, das ist doch alles, was wir
brauchen! Konzerte, Leute bewegen,
bewegt werden. Ich bin so
taub! Lass uns das bitte für immer
machen!
„Aber wie? Aber wo? Wie wird man
sowas? Eine Band fürs Leben? Kann
man sich da irgendwo anmelden?
Wer erklärt mir wie das geht?“
GEDANKEN EINES 15-JÄHRIGEN
SÄNGERS.
Es hat nicht lange gedauert und
schon nach wenig Recherche war
die Sache klar: „local heroes.“
Da müssen wir mitmachen! Es
gibt kein größeres und überregional
verbindenderes Netzwerk für
Musiker als diese Helden.
Für uns hieß es immer: „Haben da
nicht mal Madsen gewonnen?“ Legende,
Mythos, Wahrheit! Ey, wir
machen da mit! Gesagt, getan.
Anmeldung raus und los geht’s.
Ab da an hieß es: Fans mobilisieren,
Songs schreiben, proben, aufbauen,
Kopf aus, Bier rein, Licht
an, Show ab, Rock ab, Licht aus,
hau in Sack. Rinse and repeat.
Und alter Schwede, wir haben so
lange local heroes mitgenommen,
bis wir endlich dann auch den
ersten Platz gemacht haben, und
das hat gedauert!
… Das hat so lange gedauert, dass
wir heute alle miteinander per Du
sind und über Jahre andauernde
Freundschaften entstanden sind.
Local heroes hat uns nicht nur die
Chance gegeben live zu spielen,
sondern das Business besser zu
verstehen. Workshops und Dozenten
waren Wegbegleiter für unser
Verständnis und Teil des Reifeprozesses
für uns.
Noch heute kommen wir zusammen
und arbeiten mit und
an kulturellen Projekten. Es ist
diese Ausdauer und Hingabe, die
nicht nur eine Band braucht, um
sich mit ihrer Kunst das Leben
zu verdingen, sondern auch
ein Netzwerk, das unermüdlich
arbeitet, um junge Menschen zur
Musik zu führen und ihnen eine
Plattform zu geben. Durch local
heroes kamen wir zum ersten Mal
in Berührungen mit Presse, Liveund
Studio-Produktionen, Filmaufnahmen,
Dozenten u.v.m. Und das
Wichtigste: Wir kamen in Kontakt
mit Gleichgesinnten, die auch nur
das eine im Kopf hatten.
…heute 18 Jahre später, dieses
Mal auf dem Weg zu einem Konzert
in den Harz, wir sitzen im Van
und mich blicken immer noch die
gleichen Nasen an, die nur das
Eine wollen ... geil! DANKE LOCAL
HEROES
SEITE 7
WAS SIND WIR OHNE EUCH?
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
„MEHRERE STUDIEN ZEIGEN, DASS DAS ENGAGEMENT IM KULTUR-
BEREICH ZU DEN HÄUFIGSTEN ENGAGEMENTS GEHÖRT“, SAGT DR. OLE
LÖDING.
QUO VADIS EHRENAMT?
„ÜBERLEGUNG ZUR STÄRKUNG DES
EHRENAMTLICHEN ENGAGEMENTS“
Der Großteil der Kulturvereine in
Deutschland wird ausschließlich
durch ehrenamtlich engagierte
Menschen getragen werden,
lediglich in jedem siebten Kulturverein
sind bezahlte Beschäftigte
sind – so heißt es in einem vom
Stifterverband veröffentlichten
Papier des Dachverbands der
Kulturfördervereine (2020). Diese
hohe intrinsische Motivation und
der sinnstiftende Einsatz ehrenamtlich
Engagierter ist bemerkenswert.
Mit den Motiven und
Herausforderungen für Engagement
beschäftigte sich der Verein
Aktion Musik / local heroes e.V.
bereits 2021.
Das Ergebnis: Im ersten Ehrenamtsmagazin
des Vereins mit dem
Titel „Heldentaten“ (2021) gab die
Netzwerk-Plattform umfangreiche
persönliche Einblicke in das
Leben und die Beweggründe von
ehrenamtlich agierenden Personen.
Darüber hinaus nimmt eine
aktuelle Grundlagen-Studie die
Engagement-Lage im Kultur-Musikbereich
ins Visier. Gemeinsam
mit dem Musikjournalisten
und Autor Dr. Ole Löding ging es
nunmehr auf wissenschaftliche
„Spurensuche“.
„Weil unsere Gesellschaft das
braucht“, mit diesem so einfachen,
wie prägnanten Satz bringt Max
Kupfer auf den Punkt, was für
knapp 40 Prozent der Gesamtbevölkerung
ab 14 Jahren selbstverständlich
ist: ein Ehrenamt. Kupfer,
der im Rahmen des Projekts
„local heroes“ unter anderem für
die Bandbetreuung zuständig ist,
sagt weiter: „Weil wir ein Miteinander
brauchen und weil wir feststellen,
dass wir miteinander deutlich
mehr erreichen können als alleine.“
So wahr eine solche Erkenntnis
ist, so prekär ist auf der anderen
Seite die Situation hierzulande.
Dr. Ole Löding skizziert diese vor
dem Hintergrund der vergangenen
Pandemie-Jahre wie folgt: „Die
kulturelle Infrastruktur ist stark
geschwächt: Auftrittsstätten und
Clubs mussten schließen. Personal
in Kulturstätten und soziokulturellen
Zentren befand bzw. befindet sich
in Kurzarbeit.“ Ehrenamtler:innen,
so der Autor von „Sound of the Cities“,
mit freier kreativer Tätigkeit,
deren Ausübung in der Corona-
Pandemie nicht mehr möglich war,
hätten ihren Job wechseln müssen
und häufig auch den Wohnort,
befänden sich in einer beruflichen
Neuorientierung oder wirtschaftlichen
Existenznöten. Organisationen
und Vereine, die die Arbeit
von Ehrenamtler:innen begleiten,
betreuen und anleiten, seien durch
die Corona-Pandemie in finanzielle
Schwierigkeiten geraten, hätten
ihre Angebote reduziert. Andere
hätten ihre Tätigkeit ungewollt
unterbrochen bzw. beendet und
müssten jetzt neu von einem
Wiedereinstieg überzeugt werden.
Und das „bei gleichzeitig in den
jeweiligen Vereinen und Organisationen
geringeren personellen und
finanziellen Ressourcen“.
Kinder und Jugendliche hat es
ebenfalls hart getroffen. Sie
„durften sich über einen langen
Zeitraum nicht mit ihrem Hobby
beschäftigen“.Hierzu zählt Dr. Ole
Löding das aktive Musizieren, was
weiterhin zu den führenden Freizeitbeschäftigungen
zähle. Der
Weg von aktiver Beschäftigung in
einem Hobby hin zu einer nachhaltigen
Beschäftigung mit diesem
Thema als Ehrenamt sei ihm zufolge
somit länger und komplizierter
geworden. Auf der anderen Seite
seien auch direkte Kontakte zu
Kindern und Jugendlichen durch
die Organisationen abgebrochen
oder eingeschränkt.
Die Auswirkungen auf den gesamten
Kulturbereich sind fatal.
Löding verdeutlicht das anschaulich,
indem er unter anderem auf
den ZiviZ-Survey von 2017 verweist.
Darin heißt es: „Die meisten
Kulturfördervereine (86 %) sind rein
ehrenamtlich getragen. Ohne diese
freiwillig Engagierten gäbe es diese
Kulturfördervereine nicht.“ Stark
unterrepräsentiert seien allerdings
junge Menschen und Schüler:innen,
so Löding weiter. Ihr Engagement
richte sich stärker auf den
schulischen Bereich selbst oder
den Sportbereich.
Insgesamt attestiert Löding dem
Kulturbereich Diversitäts- und
Nachwuchsprobleme. Menschen
mit Migrationshintergrund sind
deutlich unterrepräsentiert – aus
den unterschiedlichsten Gründen.
Hierzu schreibt er: „Zwar hat der
Anteil der Akteur:innen mit Migrationshintergrund
in den vergangenen
Jahren geringfügig zugenommen, er
liegt aber weiterhin gerade einmal
bei 14 Prozent.“ Und junge Menschen,
die sie sich in Vereinen und
Organisationen engagierten, hätten
ihr Engagement zu einem immer
größeren Teil in den Bereich
der digitalen Sphäre verlagert.
Löding mahnt: „Gerade etablierte
Engagement-Organisationen wie
Vereine, Kirchen, Stiftungen oder
Genossenschaften müssen im Blick
behalten, hier nicht den Anschluss
zu verlieren.“
Die Frage lautet also: Quo vadis
Ehrenamt? Aufschluss – wenn
auch nicht repräsentativ – könnte
hier Aktion Musik / local heroes
e.V. geben. Der in Salzwedel ansässige
Verein zur Förderung
junger Musiker:innen und von
Menschen, die sich für Musik
und Medien interessieren, unterstützt
bereits seit 1989 popmusikalischen
Nachwuchs. Und
das bundesweit. Im Rahmen des
Projektes „Netzwerkbildung im
Kultur-Musik-Bildungsbereich“
wurden von Juni bis Oktober 2021
leitfadengestützte Interviews mit
Ehrenamtler:innen geführt. „Sie“,
so Löding, „bieten (…) lesenswerte,
nachvollziehbare, konkrete und nahbare
Einblicke in die Tätigkeiten der
Engagierten.“
Eine wesentliche – und bisher statistisch
nur schwach abgebildete
Erkenntnis: „Fast alle Einstiege in
das Ehrenamt sind durch einen persönlichen
Kontakt und eine persönliche
Ansprache gelungen.“ Der Studienautor
konstatiert: „Bei allen
nachvollziehbaren Forderungen, das
Ehrenamt und die Ansprache von
Interessierten digitaler zu gestalten,
darf, das kann hieraus geschlossen
werden, die Ebene der persönlichen
Kontakte unter keinen Umständen
vernachlässigt werden.“
Entscheidend ist auch der Blick
auf die Motivation. In seiner Studie
beschreibt Löding das als ein
„Zurückgeben von als positiv wahrgenommenen
persönlichen
Erfahrungen.“
Dieser Aspekt der Motivation für
das Engagement sei in den Statistiken
nicht besonders gut ablesbar.
In den Interviews tauche er
aber in vielfachen Varianten auf.
Diese Freude an der Tätigkeit gehe
sogar soweit, dass Gesprächspartner:innen
mehrfach den Begriff
der ehrenamtlichen Arbeit für sich
gar nicht in Anspruch nehmen
mochten. Eine der zentralen Voraussetzungen
für diese „Freude an
der ehrenamtlichen Tätigkeit“ sei
jedoch ein Umfeld, das bestärke
und nicht belaste. Als weiteres,
gewichtiges Motiv kristallisierte
sich Löding zufolge das „Finden
neuer persönlicher Kontakte oder
Freundschaften“ und damit verbundene,
spezifische Kompetenzgewinne,
wie etwa mehr soziales
Bewusstsein, heraus. Selbstoptimierung
spiele hingegen eine eher
untergeordnete Rolle.
Seine Folgerung ist deutlich: „Im
Gesamtbild zeichnen die Gespräche
ein ausnehmend positives Bild
des ehrenamtlichen Engagements.
Umso bedeutender scheint es,
möglichst vielen Menschen den
zumindest potentiellen Zugang zu
diesen Erfahrungen zu ermöglichen.“
Gelingen könnte das mittels
einer ganzen Reihe von Ansätzen.
Löding fasst diese in insgesamt
30 Handlungsempfehlungen für
Vereine, und Organisationen, die
mit Ehrenamtler:innen arbeiten,
zusammen. Dabei konzentriert
sich der Wissenschaftler vor allem
auf die Themen Netzwerk-Bildung,
Wertschätzung, nachhaltiges Recruiting,
Diversität und Digitalität.
Seine Hinweise sind ernst zu
nehmen. Denn für nicht wenige
Organisationen, Vereine und Institutionen
könnten sie zur Überlebensfrage
werden…
Die Umsetzung der Studie wurde
u.a. finanziert durch die Stiftung
Deutsche Jugendmarke e.V. und
das Land Sachsen-Anhalt.
HIER GEHTS
ZUR STUDIE!
SEITE 9
BUSINESS INSIGHTS | QUO VADIS EHRENAMT?
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: NICOLE OPPELT
DIE UNERMÜDLICHE
Jacqueline Brösicke GESCHÄFTS-
FÜHRERIN „VOLKSBAD BUCKAU“
MAGDEBURG
Jacqueline Brösicke leitet seit
über 30 Jahren ein soziokulturelles
und Frauenzentrum in Magdeburg.
Die vergangenen drei Jahre
waren für sie und ihre Kolleg:innen
eine enorm große Herausforderung
– doch es gab auch positive
Erfahrungen, die die ehrenamtliche
Arbeit nachhaltig veränderten.
Kurse, Workshops, themenzentrierte
Veranstaltungen mit
entsprechenden Inhalten – die
Angebote des Frauenzentrums
„Volksbad Buckau“ in Magdeburg
sind vielfältig. Dabei ist das nicht
ein Frauenzentrum, wie es viele im
Land gibt. „Hier ist eine Mischung
entstanden, die es vorher noch nie
gab“, erzählt Jacqueline. „Seit
2006 sind unser soziokulturelles
Zentrum und Frauenzentrum in einer
Hand – das ist das Besondere an
uns“. Hier treffen sich zum Beispiel
der Volkschor, ein Fotoclub oder die
Töpfergruppe „Figur und Topf“.
Für Jacqueline und ihre Fraueninitiative
bedeutet soziokulturelle
Arbeit: Anderen ermöglichen,
selbst kreativ tätig zu werden.
Dabei wollen sie und ihre KollegInnen
vor allem Frauen und
Mädchen fördern. „Local heroes
waren für uns zunächst Menschen
wie der Volkschor, deren Mitglieder
in Krankenhäusern oder anderen
solidarischen Orten singen“, sagt
Jacqueline.
So wurde das „Volksbad“ damals
zur local heroes-Veranstalterin.
Dann kam 2020. Und mit ihm die
Coronakrise. Mehrfach musste
das Haus für öffentliche Veranstaltungen
geschlossen werden.
Welche Folgen hatte das für die
ehrenamtliche Arbeit? „Die Gruppen,
die hier im Haus waren, hatten
große Probleme. Die Schließzeiten
waren für sie ein Desaster“, erinnert
sich Jacqueline. „Sie haben ihren
Ort hier. Und wenn sie sich nicht
treffen können, dann fehlt bei denen
etwas ganz Entscheidendes im Leben,
nämlich die Gemeinsamkeit.
Viele von diesen Menschen waren
deprimiert, denn sie hatten ihren Ort
verloren, an dem sie sich einmal in
der Woche treffen und sich austauschen,
sich ihre Probleme erzählen
konnten.“
Mühselig wurden Kompromisse
gefunden. Der Chor konnte bei
gutem Wetter draußen proben, die
Töpfergruppe sich mit weniger
Leuten treffen, um die geforderten
Abstände einhalten zu können.
„Uns war es wichtig, dass sie hierherkommen
konnten, dass sie nicht
isoliert waren und nicht den Glauben
an ihr Dasein verlieren“, sagt
Jacqueline.
Das Kulturzentrum hatte in all den
Jahren noch nie eine Schließzeit
durchleben müssen. Noch nie
waren kulturelle Orte insgesamt
geschlossen gewesen. „Das war so
etwas einschneidend Dramatisches,
dass die meisten Menschen erst an
der Stelle gespürt haben, was Kultur
für sie bedeutet, was das einerseits
für ein Luxus ist und auch ein
Segen“, so Jacqueline.
„Wir machten auch die Erfahrung,
wie man etwas vermissen kann,
wenn man es gar nicht hat. Als alle
kulturellen Orte geschlossen hatten,
haben ganz viele gemerkt, dass ihr
Leben extrem beeinträchtigt ist und
sie unter Vereinsamung und Isolation
leiden. Das möchte ich eigentlich
so nicht noch mal erleben.“
Auch für die ehrenamtlich Tätigen
war das eine außerordentlich
schwierige Zeit. Es entstanden
völlig neue Aufgaben, mussten
wesentlich flexibler verteilt werden.
„Wir mussten permanent neue
Aufgaben lernen, die wir vorher
noch nie machen mussten. Das war
schon eine enorme Belastung. Das
hat man nicht mal so nebenbei weggesteckt.
Andererseits planen wir
weniger, weil es einfach nicht absehbar
ist, wie sich zum Beispiel die
Energiekosten weiterentwickeln.“
Ein soziokulturelles – oder auch
Frauenzentrum – zu erhalten, ist
an sich schon eine herausfordernde
Arbeit. Doch die zusätzlichen
Aufgaben, die in der Coronakrise
von Veranstalter:innen verlangt
wurden, brachten für Jacqueline
und ihr Team größte Schwierigkeiten
mit sich. Impfausweise
kontrollieren, Masken bereithalten,
kontrollieren, ob der Abstand eingehalten
wird – das waren noch
nicht einmal herausforderndsten
Tätigkeiten.
SEITE 11 PORTRAIT | JACQUELINE BRÖSICKE
BILDER:
TEXT: NICOLE OPPELT
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 12
PORTRAIT | JACQUELINE BRÖSICKE
„Die absolute Schwierigkeit war, zu
entscheiden, ob eine Veranstaltung
überhaupt durchgeführt werden soll,
auch wenn sie völlig unrentabel ist“,
erinnert sich die Magdeburgerin.
„Da mussten wir wirklich jeden Tag
neu drüber nachdenken, was macht
man jetzt, was lohnt sich, wie viel
Personalaufwand kann ich betreiben?
Und wie viel Personal habe ich
überhaupt, um das alles zu stemmen?
Und natürlich jetzt mit dieser
Energiekrise ständig zu schauen,
wo man noch Geld herbekommt für
andere Inhalte? Und immer am Ball
bleiben – und natürlich noch flexibler
sein, als man vorher schon war“,
so Jacqueline.
Irgendwann lässt selbst bei der
engagiertesten Veranstalter:in die
Energie nach. „Ich habe schon eine
Menge auf meine Schultern genommen.
Aber es ist natürlich trotzdem
so, dass du dich immer wieder
fragst, wie viel kann ich noch an Verantwortung
übernehmen, ohne dass
es mich zu sehr belastet?“, erinnert
sich Jacqueline. „Schließlich gab
es ja auch die rechtliche Verantwortung,
die Haftung als Veranstalter:in.“
TROTZ ALLER SCHWIERIGKEITEN HABEN JACQUELINE BRÖSICKE
UND IHRE KOLLEG:INNEN WÄHREND DER KRISENZEIT MENSCHEN EINE
MÖGLICHKEIT ZUR ZUSAMMENKUNFT GEGEBEN.
Doch es gab auch positive Erfahrungen.
Menschen bedankten sich
überschwänglich, signalisierten,
wie sehr sie das Zentrum brauchen.
Jacqueline:
Wenn die Leute das, was wir machen,
vermissen und uns damit
auch wertschätzen. Und was für
mich auch positiv war, war die
Besinnung darauf, wie wichtig es
im Leben ist, etwas gemeinsam zu
machen.“ Die technischen Möglichkeiten,
sich zu vernetzen,
bekamen plötzlich eine ganz neue
Bedeutung. Meetingsoftware wird
bis heute regelmäßig genutzt.
Die Ukrainekrise brachte dann weitere
Erkenntnisse: „Wenn es eine
konkrete Bedrohung gibt, etwas,
was sie mit ihrem Leben verbinden
können, sind Menschen eher bereit,
etwas ehrenamtlich zu leisten“, hat
Jacqueline erfahren.
Jacqueline denkt, dass die Menschen
in den Krisenzeiten erkannt
haben, dass sie etwas bewegen
können, dass das, was sie tun,
Früchte trägt. Für die Zukunft
wünscht sie sich, dass ehrenamtliches
Engagement auch ohne Vereinsstrukturen
mehr unterstützt
wird.
WIR BRAUCHEN AUF ALLEN EBENEN EINE BESSERE ABSICHERUNG.
AUCH ALS FRAU MIT KIND MUSS ES MÖGLICH SEIN, VON MUSIK ZU
LEBEN.
DIE KÄMPFERIN
Vera Lüdeck GESCHÄFTSFÜHRE-
RIN DER LAG ROCK IN NIEDER-
SACHSEN E.V.
Seit 30 Jahren kümmert sich Vera
Lüdeck um die Popularmusikförderung
im Land Niedersachsen
und hat in den letzten Jahrzehnten
schon einige Krisen und Herausforderungen
gemeistert. Um weiterhin
motiviert zu bleiben, stellt
sie sich selbst immer wieder neue
Herausforderungen und findet
stets neue Wege, kreativ zu sein,
auch in Krisenzeiten.
Flexibilität gehörte schon immer
zu Veras Job dazu. Sie ist frei in
der Auswahl der Projekte, die sie
betreut, der Menschen, Netzwerke
und Kooperationen, mit denen sie
zusammenarbeitet, und sie kann
ihrer Kreativität freien Lauf lassen.
„Das macht es natürlich sehr
leicht, dort so lange zu verweilen“,
sagt Vera Lüdeck zu ihrer hauptamtlichen
Tätigkeit. Ehrenamtlich
engagiert sie sich als Mitglied des
Aufsichtsrats des Musikzentrums
Hannover und im Präsidium des
Landesmusikrates Niedersachsen.
FRISCHES,
NEUES,
KREATIVES
ENTSTEHT
Auch wenn sie in den vergangenen
Jahren viele Herausforderungen
gemeistert hat, war auch für
Vera Lüdeck die Pandemie eine
Ausnahmesituation und sie hat
hautnah mitbekommen, dass die
Musikbranche mit am härtesten
von der Coronakrise betroffen war.
Sie sprach mit Musiker:innen, die
Hartz IV beziehen, die Branche
wechseln oder an ihre private
Altersvorsorge mussten, um sich
über Wasser halten zu können. In
ländlichen Gebieten verschwanden
und verschwinden noch immer Kooperationspartner:innen,
da diese
meist ehrenamtlich gestützten Vereine
ihrer gemeinnützigen Arbeit
angesichts steigender Energiekosten
oder zu vieler ausgefallener
Konzerte nicht mehr nachkommen
können. Zusätzlich haben viele
die Motivation verloren weiterzumachen,
während sie parallel ihren
hauptamtlichen Tätigkeiten nachgehen,
so Vera im Interview.
Auch für Newcomerbands war
und ist es weiterhin eine schwierige
Zeit, da teilweise immer noch
Nachholkonzerte von größeren
Bands stattfinden und daher keine
Kapazitäten mehr für neue Konzerte
und Bands vorhanden sind.
SEITE 13
PORTRAIT | VERA LÜDECK
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: ANGELIKA BLANK
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 15
SEITE 14
PORTRAIT | VERA LÜDECK
„Es ist zurzeit für Newcomer:innen
im musikalischen Sektor eine denkbar
ungünstige Zeit anzufangen“,
erzählt Vera.
Angesichts der Herausforderungen
der Pandemie war sie gezwungen,
noch flexibler zu sein.
Sie musste die Entwicklungen zu
den Coronaregelungen genauestens
und tagesaktuell beobachten
und umsetzen; schauen, inwiefern
Veranstaltungen überhaupt
durchgeführt werden durften.
Dabei wurden auch grundsätzliche,
„schon fast philosophische
Fragen diskutiert“, beispielsweise
ob ungeimpfte Personen zu den
Konzerten kommen dürfen, was
auch anstrengend war. Dazu kam
eine enorme Doppelbelastung, da
alle Veranstaltungen mehrfach geplant
wurden, da man nie wusste,
unter welchen Konditionen und
Bedingungen die Events durchgeführt
werden durften. Innerhalb
weniger Tage mussten da Pläne
komplett umgeschmissen und neu
konzipiert werden. Vera hat also,
so wie viele andere Menschen in
der Branche auch, doppelt gearbeitet.
Ein besonders schmerzhaftes
und einprägsames Ereignis war
für Vera der Moment, als ausgerechnet
am Tag des Aufbaus der
Ausstellung „Starting Pop“ der
Lockdown ausgerufen wurde. Über
ein Jahr hatte ein Team daran
gearbeitet und sie konnte schließlich
nicht stattfinden. Obwohl sie
und alle Beteiligten das Beste aus
dieser Situation machten, waren
die Arbeit und die Anstrengungen
eines ganzen Jahres hinfällig.
Eine weitere Herausforderung, die
Vera benennt, war der verstärkte
Kontakt und Austausch mit den
unterschiedlichen niedersächsischen
Ministerien. Zwar gab es
viele Unterstützungsmaßnahmen
auf Bundesebene, die Musiker:innen
in Anspruch nehmen konnten,
aber diese waren leider zu bürokratisiert,
was die langjährige Musikerförderin
sehr verärgert hat.
Sie weiß von Musiker:innen, die
„das Geld zurückzahlen mussten,
weil ihr Einkommen 10 Cent über der
zulässigen Grenze lag“.
Doch statt sich der Ohnmacht
einer scheinbar perspektivlosen
Situation hinzugeben, hat Vera
ihre Fähigkeiten und ihre Position
genutzt, um für die Szene
zu kämpfen. Der Fokus ihrer
ehrenamtlichen Arbeit hat sich
in Richtung Schwerpunktunterstützung
von Soloselbstständigen
verändert, da sie gemerkt hat, „wie
fragil diese Szene und wie unterstützenswert
das aber auf der anderen
Seite ist“. Sie setzt sich dafür ein,
dass es ein besseres Auffangnetz
für eben diese Gruppe von Soloselbstständigen
gibt, damit diese
auch Krisenzeiten möglichst gut
überstehen können. Sie fordert
beispielsweise Mindestgagen und
-honorare und eine Arbeitslosenversicherungen
für Künstler:innen
ein.
Einen positiven Aspekt, den die
Pandemie hervorgebracht hat,
ist laut Vera Lüdeck das Thema
Digitalisierung. Ohne die Pandemie
hätte es nicht die Möglichkeit und
vor allem die Gelder gegeben, so
schnell neue digitale Infrastrukturen
aufzubauen, um z.B. digitale
Workshops und Tutorials anbieten
zu können.
Auch Streaming oder andere
digitale Anwendungen wären ohne
die finanzielle Unterstützung nicht
umsetzbar gewesen. Durch diese
neuen digitalen Tools sind auch
heute noch Mitgliederversammlungen
per Zoom möglich, die auch
Menschen, die nicht aus Hannover
kommen, wahrnehmen können.
Jedoch führe das auch dazu, dass
man sich entfremdet. Der persönliche
Kontakt fällt weg.
Vera Lüdeck konnte auch persönlich
an den Ausnahmesituationen
wachsen und hat gemerkt, „dass
ich doch wesentlich mehr schaffe,
als ich immer so denke“ und „dass
im Grunde alles immer irgendwie gut
wird“. Ohne die Unterstützung ihrer
Kolleg:innen, ihres Teams, Netzwerk-
und Kooperationspartner:innen
wäre dies für die Hannoveranerin
aber nicht denkbar gewesen.
Sie ist seither dankbarer und
demütiger geworden. Vera schätzt
sich glücklich, dass sie einen Job
ausüben darf, der ein geregeltes
Einkommen bringt und sie nicht
davon abhängig ist, durch Auftritte
oder freiberufliche Tätigkeiten ihr
Geld verdienen zu müssen.
„DURCH EIN SO STARKES NETZWERK [WIE LOCAL HEROES] SIND WIR
NATÜRLICH AUCH GESTÄRKT.“
Diese verstärkte Dankbarkeit bekommt
Vera auch auf der anderen
Seite mit, wenn sich Teilnehmende
der Frauenmusiktage oder des
MädchenMusikCamps EMMA bei
ihr bedanken und so glücklich
darüber sind, dass diese Veranstaltungen
wieder stattfinden
können. Das ist das, was für Vera
das Ehrenamt ebenfalls ausmacht,
dass es ein gegenseitiges Geben
und Profitieren ist.
Was sich an ihrem ehrenamtlichen
Engagement geändert hat, ist,
dass sie sich eher überlegt, womit
sie ihre Zeit verbringen möchte
und vermutet, dass das auch für
viele andere so sein wird. Die
Frage nach der politischen, ökologischen
und ökonomischen Sinnhaftigkeit
eines ehrenamtlichen
Projektes wird vermehrt gestellt
werden: „Warum mache ich das?
WARUM
MACHE ICH
DAS?
Und was hat das für Auswirkungen,
was ich hier tue? (…) Ist es nachhaltig?
(…) Identifiziere ich mich
politisch mit dem, was ich hier tue
und was bringt mir das?“ Außerdem
werden laut Vera die Menschen nicht
mehr „so langfristig ehrenamtlich
engagiert sein, sondern eher kürzer
und eher öfter auch mal wechseln.“
Es ist zwingend notwendig, dass
die hauptamtlichen Strukturen im
Bereich Popularmusik gestärkt
werden, um den vielfältigen Anforderungen
der ehrenamtlichen
Tätigkeiten gerecht zu werden
und diese weiter ermöglichen zu
können.
Vor allem braucht die niedersächsische
Popularmusikszene viel
mehr finanzielle Förderung, damit
Projekte realisiert und Menschen
bezahlt werden können.
PORTRAIT | VERA LÜDECK
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: RUBI MURUGESAPILLAI
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 16
PORTRAIT | GERHARD KÄMPFE
DER
TAUSENDSASSA
Gerhard Kämpfe KULTURMANAGER
UND PRODUZENT
Ob als Musik-, Hörfunk- oder
Fernsehproduzent, Kulturmanager,
Festivalveranstalter, Komiker oder
Dozent – Gerhard Kämpfe ist wohl
jemand, den man als Tausendsassa
bezeichnen kann. Seit nunmehr
vier Jahrzenten aktiv, ist Kämpfe
nicht mehr aus der Kulturszene
wegzudenken und hat in Krisenzeiten
gelernt, flexibel zu sein und
sich auf das Positive zu konzentrieren.
Angefangen hat Gerhard Kämpfe
in den 70er Jahren als Künstler:innenmanager.
Später wurde er Produzent,
um den kreativen Prozess
der Musikproduktion aktiv mitzugestalten.
Im Laufe der Jahre hat
er in den verschiedensten Genres
und mit einer Vielzahl von Künstler:innen,
von Singer-Songwritern
wie Bernard Brink und Roland
Kaiser bis hin zu Rockbands und
Jazz-Rock-Formationen, zusammengearbeitet.
Darüber hinaus war er auch im
Fernsehen und Hörfunk als Produzent
aktiv und hat eine besondere
Leidenschaft für jüdischen Humor
entwickelt. Als Komiker tritt er
auch heute noch auf diversen Bühnen
Deutschlands auf, erstmals im
Rahmen der Jüdischen Kulturtage,
die Kämpfe fünf Jahre lang als
Intendant begleitete.
Zudem veranstaltet Gerhard Kämpfe
seit 1992 das Classic Open-Air
Festival auf dem Gendarmenmarkt
in Berlin. An fünf Juli-Abenden finden
verschiedene Konzerte statt,
mit Auftritten von Solist:innen wie
„NICHT AUF EINE BÜHNE ZU KÖNNEN, WENN DAS DEINE LEIDENSCHAFT
IST, DAS IST (…) EIN STARKER VERLUST AN LEBENSQUALITÄT.“
José Carreras oder Montserrat
Caballé bis hin zu Gruppen wie
Buena Vista Social Club oder den
Scorpions mit Orchesterbegleitung
und Themenabenden rund
um Komponisten wie Mozart oder
Wagner. Seit 2021 ist er Intendant
des Dessauer Kurt-Weill-Festes
und hatte in diesem Rahmen auch
die ersten Berührungspunkte mit
den local heroes.
Als Konzertveranstalter hat ihn die
Pandemie am meisten getroffen.
Konzerte fielen aus, Mitarbeitende
verließen die Branche und die Besucher:innen
blieben weiter lange
vorsichtig, bevor sich langsam
wieder so etwas wie Normalität im
Kulturbetrieb einstellte. Auch das
Classic Open-Air Festival musste
in den Pandemiejahren ausfallen
und findet erst 2025 wieder statt,
da zwischenzeitlich Sanierungsarbeiten
am Gendarmenmarkt
begannen.
Das Ausfallen von Konzerten hatte
natürlich in erster Linie finanzielle
und ökonomische Auswirkungen.
Kämpfe schaffte es nur mit Hilfe
des ehemaligen Berliner Kultursenators
Ausfallhonorare für die
Künstler:innen und Musiker:innen
zu zahlen. Dies entlastete die
Menschen nicht nur finanziell, sondern
wurde auch als Zeichen der
Anerkennung gedeutet. Doch er
selbst musste auch schauen, dass
die ökonomische Schieflage, die
durch ausgefallene Konzerte und
fehlende Einnahmen einerseits und
weiter laufende Kosten und Ausgaben
andererseits, ausgeglichen
wurde und das vorhandene Kapitel
sorgsam verwaltet wurde.
Diese Situation wurde zur psychischen
Belastungsprobe: „Nicht auf
eine Bühne zu können, wenn das
deine Leidenschaft ist, das ist (…)
ein starker Verlust an Lebensqualität“,
so Kämpfe im Interview. Auch
unter den Konzertbesucher:innen
herrschte eine starke Verunsicherung
und der Stellenwert des
Sektors Kultur verschob sich.
In Krisenzeiten stünden die Grundbedürfnisse
im Vordergrund: Könne
man seine Familie ernähren?
Miete zahlen? Für die Schulkosten
der Kinder aufkommen? Das sind
alles Dinge, die Vorrang hätten,
und da stünde und stände auch in
möglichen künftigen Krisensituationen
die Kultur hinten an. Nichtsdestotrotz
haben die Freude über
wiederstattfindende Veranstaltungen
und das dankbare Annehmen
von Kulturangeboten Kämpfe gezeigt,
dass Kultur ein unverzichtbarer
Bereich des gesellschaftlichen
Lebens ist.
Generell ließ sich Gerhard Kämpfe
nicht von der Krise entmutigen und
versuchte, stets positiv zu bleiben
und sich auf die Solidarität zu
besinnen, die insbesondere in Krisenzeiten
verstärkt zum Vorschein
kommt.
Da ehrenamtliche Tätigkeiten im
weiteren Sinne der Gemeinschaft
und ihrem Wohl dienen und diese
in Krisenzeiten gefährdet sind,
wird auch das Ehrenamt umso
wichtiger. Als Beispiele für diese
Solidarität nennt Kämpfe die
Waldbrände in Brandenburg in den
vergangenen Jahren, die ohne die
Hilfe der Freiwilligen Feuerwehren
nicht so einfach zu löschen und zu
bändigen gewesen wären.
Auch die große Hilfsbereitschaft
während der Fluten im Ahrtal oder
des anhaltenden Angriffskriegs auf
die Ukraine und der daraus resultierenden
Flucht vieler Ukrainer:innen
nach Deutschland hat gezeigt,
dass ehrenamtliche Tätigkeiten
unerlässlich sind, um in Krisenzeiten
aufeinander Acht zu geben und
das gesellschaftliche Miteinander
zu stärken.
Diese Solidarität beobachtete
Kämpfe auch in seiner Branche, wo
festangestellte Musiker:innen ihre
Ausfallhonorare mit freiarbeitenden
Musiker:innen teilten oder sie
ihnen gänzlich überließen. Andere
taten sich zusammen, wenn sie
merkten, dass es befreundeten
Musiker:innen finanziell nicht gut
ging und unterstützen diese dann
gemeinsam: „Solche Aktionen
haben mich dann schon auch sehr
glücklich gestimmt und gezeigt,
dass auch Solidarität möglich ist“,
erzählt Kämpfe.
Ehrenamtliches Engagement hilft
nicht nur den Menschen, die diese
Unterstützung benötigen, sondern
auch denjenigen, die diese Hilfe
leisten. Es bereichert einen also
auch persönlich und bietet Erfüllung.
Dies erfuhr Kämpfe vor allem in
den Jahren als ehrenamtlicher
Dozent an der FU Berlin. Dort
empfand er das Ehrenamt als ein
stetes Geben und Nehmen. Indem
er Studierenden etwas beigebracht
und sie an seinem Know-how
teilhaben lassen hat, hat er sich
selbst noch mal intensiv mit den
Inhalten beschäftigt, was seine
Expertise und sein Wissen weiter
bereicherte.
Das wurde ihm auch so von den
Studierenden reflektiert und diese
Erfahrung im Ehrenamt schätzt er
sehr, „dass man als ehrenamtlich
tätiger Mensch eine Reflexion bekommt,
die einem selbst mindestens
so gut tut wie demjenigen, für den
man das Ehrenamt ausführt.“
Um die Potenziale des Ehrenamtes
nachhaltig auch in der Zukunft
zu stärken, muss laut Kämpfe
die gesellschaftliche Bedeutung
ehrenamtlicher Tätigkeiten stärker
hervorgehoben und das Bewusstsein
für diese geschärft werden.
Kämpfe sagt, dass ehrenamtliches
Engagement insbesondere „medial,
also sowohl im Netz als auch
in den Printmedien, vielleicht noch
etwas mehr hervorgehoben werden
müsste“. Auch das Weitergeben
von Wissen durch ältere Menschen
versteht Kämpfe als essenziell und
schlägt vor, dass solche möglichen
ehrenamtlichen Tätigkeiten
beispielsweise auch durch den
Gesetzgeber implementiert werden
können, indem Rahmenbedingungen
dafür geschaffen werden.
Darüber hinaus sollten bereits
Schüler:innen lernen, welche positiven
Aspekte das ehrenamtliche
Arbeiten mit sich bringt und dass
auch sie, indem sie anderen Menschen
helfen, davon profitieren.
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PORTRAIT | GERHARD KÄMPFE
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: RUBI MURUGESAPILLAI
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BUSINESS INSIGHTS
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LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
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BUSINESS INSIGHTS | CLUBKULTUR IN DER KRISE
JOJO SCHULZ UND SEINE CREW MÜSSEN HEUTE MEHR RECHNEN. „DAS LÄSST DIE SPIELRÄUME
VOR ALLEM IN DER SUBKULTUR KLEINER WERDEN.“
AUS DER KRISE IN DIE ZUKUNFT:
PERSPEKTIVEN DER LIVE-CLUBS
Joachim Schulz DIPLOM-SOZIAL-
PÄDAGOGE / MUSIKER / INHABER
„POSTHALLE“ WÜRZBURG
Michael Conrad VERANSTALTER
/ INHABER „INSEL DER JUGEND“
MAGDEBURG
Wenn sich die Tore öffnen, liegt
Liebe in der Luft. Liebe zu Kultur
– ganz gleich, ob Musik, Kabarett,
Kulinarik oder gar Charity. Besondere
Veranstaltungsstätten
wie die „Posthalle“ in Würzburg
oder die „Insel der Jugend“ in
Magdeburg gehören zum (sozio-)
kulturellen Herzen einer Stadt.
Hier können Menschen ausgelassen
tanzen, feiern, sich austauschen
und sie gewinnen obendrein
viel dazu. Joachim „Jojo“ Schulz
und Michael Conrad führen diese
Einrichtungen mit Leidenschaft.
Obendrein sind sie erfahrene
Event- und Konzertveranstalter.
Krisen können solche „alten Hasen“
nicht erschüttern. Oder?
Konzerte, die kurzfristig wackeln,
Personal, das auf die Schnelle
noch gesucht werden muss, Planungen
und Verhandlungen, die
sich über lange Zeiträume ziehen:
Das und noch vieles mehr sind
Unwägbarkeiten, die das Eventund
Konzertgeschäft seit jeher
mit sich bringen. Die Kulturschaffenden
sind darauf eingestellt.
Und sie gehen zumeist souverän
mit allen Fallstricken um, die sich
ihnen in den Weg stellen. Die
noch nicht lange zurückliegende
Corona-Pandemie als auch die
aktuelle Energiekrise sind anders.
So empfindet es Jojo Schulz, der
Betreiber der Würzburger Posthalle,
der im Jahr 2019 noch 180.000
Besucher:innen bei rund 180
Veranstaltungen verschiedenster
Art begrüßen durfte. „Beide Krisen
gab es in dieser Form nie zuvor und
beide betreffen uns nach wie vor direkt“,
sagt der 50-Jährige. Die Jahre
2020 und Folgende haben sich
dem Familienvater ins Gedächtnis
gebrannt. „Wir mussten das Rad
neu erfinden. Das war existenziell
bedrohlich. Bis die Förderprogramme
angelaufen waren, wusste ich
nicht, ob wir im darauffolgenden
Monat wieder aufmachen können“,
erinnert er sich zurück.
Michael Conrad von der „Insel
der Jugend“ in Magdeburg erging
und ergeht es ähnlich wie seinem
Würzburger Kollegen. Im Jahr
2019 habe er pro Party etwa 350
bis 400 Gäste begrüßen können.
Dann kam der Bruch. „Gut zweieinhalb
Jahre hatten wir keine Möglichkeit
Kultur umzusetzen.“ An Förderungen
zu gelangen sei schwierig
gewesen. „Für die einen waren wir
ein Kulturbetrieb, für die anderen
ein Wirtschaftsbetrieb. Die Bälle
wurden hin- und hergespielt.“ Alle
Gespräche, die er mit Politiker:innen
geführt habe, hätten zu nichts
geführt. „Ich hatte das Gefühl, sie
versuchten, sich mit Klubbesitzer:innen
zu schmücken.“ Über die
Sinnhaftigkeit von Schließungen
selbst mag er sich jedoch kein
Urteil erlauben. Hautnah habe
er durch seine Frau, die in einem
Krankenhaus arbeitet, die andere
Seite der Medaille erfahren. „Ich
war froh, dass wir nicht gezwungen
waren, weiterhin Veranstaltungen
zu machen.“ Heute sei die Situation
jedoch fast schlimmer als
während der Krise. Die staatlichen
Förderungen seien ausgelaufen
und obendrein sei „halbvoll“ das
neue „Ausverkauft“, so der Eindruck
von Michael Conrad, den er
nicht nur auf sein Haus, sondern
auf viele weitere in der gesamten
Stadt bezieht. „Wir sind froh, wenn
wir ein Drittel davon haben.“
Die Corona-Pandemie hat die
Tätigkeiten der beiden verändert.
Nachhaltig. „Heute braucht es deutlich
mehr Spontanität als früher. Die
Branche steht Kopf“, so die Einschätzung
von Jojo Schulz.
Nichts funktioniere dieser Tage so
wie vor der Pandemie. Die Personalsituation
habe sich nochmals
verschärft. Die Kosten liefen aus
dem Ruder. Und auch Künstler:innen
wüssten heutzutage nicht
mehr, ob sie Touren überhaupt
noch finanzieren könnten. „Derzeit
laufen Veranstaltungen wieder
solide. Wir benötigen allerdings
rund 800 Besucher:innen statt vormals
300, um kostendeckend zu
wirtschaften“, rechnet der gelernte
Sparkassenkaufmann, der eigentlich
bis zu 3000 Menschen in der
„Posthalle“ empfangen könnte,
vor. „Sämtliche Parameter haben
sich verschoben. Einige Formate,
die in der Posthalle stattfanden,
haben sich überholt und müssen
überdacht werden.“
Doch aufgeben gilt nicht. Jojo
Schulz hat mit seinem Team quasi
alles auf den „Prüfstand“ gestellt.
Wo sind die Kostengräber, wo
verdienen wir Geld, seien dabei
wesentliche Fragen gewesen.
Auch Michael Conrad hat Konsequenzen
gezogen. „Ich habe nun
eine leitende Angestellte, die das
Geschäft weiterführt, und weitere
Leute eingestellt, die sich um die innerbetrieblichen
Abläufe kümmern.
In das Chaos vor der Pandemie habe
ich mich nicht mehr hineingestürzt
und mir einen neuen, hauptamtlichen
Job gesucht. Als Geschäftsführer
und Inhaber konzentriere ich
mich nur noch auf das Wesentliche.
Damit bin ich mehr als nur zufrieden.
Ich mache das mit Herzblut.“
INANSPRUCHNAHME WIRTSCHAFTLICHER HILFSMASSNAHMEN
(MEHRFACHNENNUNG), QUELLE: INITIATIVE MUSIK GGMBH (2021):
CLUBSTUDIE, S. 77, ABB: 44
SEITE 19 BUSINESS INSIGHTS | CLUBKULTUR IN DER KRISE
BILD: MARIO SCHMITT
TEXT: NICOLE OPPELT
PORTRAIT
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SEITE 20
BUSINESS INSIGHTS | CLUBKULTUR IN DER KRISE
Für Jojo Schulz und Michael
Conrad kamen die vergangenen
Jahre in mancher Hinsicht einem
Richtungswechsel gleich. „Natürlich
ist es belastend, wenn Perspektiven
‚flöten‘ gehen und man Neue
schaffen muss. Aber genau das
ist das Besondere daran. In jedem
Niedergang ist auch ein Neuanfang.
Sich ab und an neu zu erfinden hat
auf jeden Fall etwas Gutes“, betont
Jojo Schulz. Und noch einen
wesentlichen Effekt hat die Krise
gehabt, das wird Michael Conrad
nicht müde zu betonen: „Endlich
wurden Clubs als kulturelle Stätten
wahrgenommen – zumindest in
Sachsen-Anhalt – und zum Großteil
auch gefördert.“ Außerdem würden
sie von Institutionen um Rat
gefragt, gerade wenn es etwa um
das Thema Jugendkultur gehe.
„Diese Möglichkeit hatten wir vorher
nicht.“
„AM ENDE KANN
ICH NUR DAVON
PROFITIEREN.“
GEISTIG, KÖRPERLICH UND FAMILIÄR HAT DIE PANDEMIE FÜR MICHAEL
CONRAD EINE POSITIVE ENTWICKLUNG GENOMMEN.
Für Jojo Schulz und seinen Magdeburger
Kollegen kam mit der
Krise vor allem der private Benefit.
Beide hatten auf einmal deutlich
mehr Zeit für ihre Familien. „Ich
habe das Familienleben wieder
kennen und lieben gelernt“, blickt
Michael Conrad zurück. „Das
habe ich als großen Goldschatz der
Pandemie empfunden.“ Auch Jojo
Schulz sah seine drei Kinder auf
einmal deutlich häufiger als früher.
Eine Zeit, die er nicht missen
möchte.
Die Posthallen-Crew hat ihre
„Hausaufgaben“ gemacht und
bislang – trotz weiterer Widrigkeiten
(der Standort wackelte
und wackelt beträchtlich) – den
Veranstaltungsbetrieb fortführen
können.
Und das ohne Subventionen.
„Wir müssen uns zu 100 Prozent
finanzieren. Die Planungen laufen
entsprechend vorsichtiger“, gibt
Jojo Schulz zu bedenken. Aus rationaler
Warte heraus betrachtet,
dürfe er einige Shows in Zukunft
nicht mehr stattfinden lassen.
Doch der Veranstalter hat auch die
Menschen im Blick. „Es gibt einige
Dinge, die finden schon seit Jahren
bei uns statt. Das Publikum möchte
sie sehen. Das Hadern ist manchmal
sehr groß.“ Das Angebot der „Insel
der Jugend“ hat sich ebenfalls
verändert. „Wir sind eigentlich ein
Techno-Klub, der sich sehr breit aufgestellt
hat und auch viele Konzerte
macht.“ Derzeit bewege sich der
Fokus weg von Partys zu immer
mehr Konzerten – größtenteils
Hiphop, antifaschistische Veranstaltungen
mit Hardcore und Punk
und natürlich jede Menge „locals“.
Aus gutem Grund: Sehr gut besuchte
Partys seien schwieriger
umzusetzen. Das liege zum einen
am aktuellen Musikgeschmack
der jungen Leute, den die „Insel
der Jugend“ nicht teilt, zum
anderen jedoch auch an der sich
verändernden Ausgeh-Kultur.
„Viele Menschen haben nicht mehr
das Verlangen in der Nacht wegzugehen“,
ist Michael Conrad
mittlerweile überzeugt. Sie seien
eher bereit, Konzertkarten für eine
bestimmte Band für eine bestimmte
Zeit am Abend zu erwerben.
Sein Eindruck gibt ihm Recht.
„Bis dato sind alle unsere Konzerte
ausverkauft gewesen. Wir haben
also in weniger Zeit fast das gleiche
Geld verdient, wie in einer Nacht, die
wir uns um die Ohren geschlagen
haben.“
Und ein weiterer Punkt habe sich
verändert: „Vor Corona waren für
uns die Herbst- und Wintermonate
entscheidend. Jetzt hat sich der
Fokus komplett in den Sommer auf
das große Open Air-Gelände verlegt.“
Schwer sei es allerdings, den
selbst gestellten „Anspruch“ ohne
Förderungen aufrechtzuerhalten,
gibt Michael Conrad zu bedenken.
Der liegt hoch: Immerhin wurde
die „Insel der Jugend“ bereits
zwei Mal mit dem sogenannten
Applaus-Preis ausgezeichnet. Mit
diesem Programmpreis ehrt die
Kulturstaatsministerin Konzertprogramme
unabhängiger Musikclubs
sowie Veranstaltungsreihen
aus allen Bereichen von Popularmusik
und Jazz.
„Sachsen-Anhalt ist ein kulturell
unterschätztes Bundesland. Viele
Konzertveranstalter:innen und
Bookingagenturen vernachlässigen
Sachsen-Anhalt komplett“, erklärt
Michael Conrad. Daher haben er
und seine Mitarbeiter:innen in
den vergangenen Jahren sehr
viel Wert darauf gelegt, dass
Künstler:innen, die bei ihnen zu
Gast sind, auch exklusiv für sie
spielen bzw. bislang noch nicht in
Sachsen-Anhalt aufgetreten sind.
„Wir versuchen sie für unsere Gäste
spürbar und erlebbar zu machen –
und das vor Ort, nicht etwa in Berlin
oder Leipzig.“ Aufgrund der neuen
Finanzlage und der neuen Publikumsstruktur
sei das mittlerweile
schwerer umzusetzen. „Die Freiheit
beim Kuratieren fehlt.“ Michael
Conrad und sein Team bleibt nur
eins: Sie müssen auf „sichere
Pferde“ setzen.
NEUER FOKUS – WEG VON INDOOR-VERANSTALTUNGEN: „DAS LEBENSGEFÜHL UND DIE MUSIKALISCHE
AUSRICHTUNG DER MENSCHEN IST DANN VIEL OFFENER“, FREUT SICH MICHAEL CONRAD AUF DAS SOM-
MERGESCHEHEN.
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BUSINESS INSIGHTS | CLUBKULTUR IN DER KRISE
Jojo Schulz‘ Prognose für die Zukunft
der Veranstaltungsbranche
fällt insgesamt verhalten aus.
„Es wird sich weiter auf die großen
‚Player‘ zentralisieren“, befürchtet
er. „Diese werden alles dafür tun,
kleine und individuelle Akteur:innen
zu verdrängen.“ Funktionierende
Nischen, daran glaubt er fest, werde
es aber weiterhin geben. „Diese
Spielräume muss man sich erarbeiten.“
Michael Conrad ist bereits
dabei. Noch während Corona hat
er an neuen Veranstaltungsformaten
gearbeitet. So hat er die Clubs
seiner Stadt zusammengebracht,
um gemeinsam ein Event auf die
Beine zu stellen. „Die größte, beste
und positivste daraus resultierende
Veränderung ist, dass nun alle
Clubbesitzer:innen auf Augenhöhe
miteinander kommunizieren und
Vorurteile abgebaut wurden.“ Eine
nachhaltige Entwicklung, die
mittlerweile sehr schöne Kooperations-Veranstaltungen
ermögliche.
Neue (freie) Räume (im übertragenen
Sinne), die bräuchte es nach
Meinung des langjährigen local
heroes Bayern-Jurors Jojo Schulz
auch, um das Ehrenamt nachhaltig
zu stärken. Dieses werde
gerade in der Subkultur dringend
benötigt. „Wer sein Studium in
kurzer Zeit durchziehen muss,
wird diesen Freiraum nicht haben.
Gleiches gilt auch für Schüler:innen,
deren Zeit zunehmend begrenzt ist.“
INFO:
www.posthalle.de
www.inselderjugend.de
Er selbst hat seine Studienzeit
ausgekostet und sich genau diese
Zeit gelassen. „Wenn ich das nicht
getan hätte, hätte ich nie diesen
Freiraum für Kreativität gewinnen
können und letztlich auch den Impuls
nicht gehabt, diese Spielstätte
zu initiieren.“
Sein eigener Lebenslauf als auch
die jüngsten Krisenerfahrungen
haben Jojo Schulz zu einer starken
Persönlichkeit werden lassen.
„Am Ende kann ich davon nur
profitieren.“
CHALLENGE ACCEPTED!
GEPLANTE ÄNDERUNGEN IM PROGRAMMBEREICH, QUELLE:
INITIATIVE MUSIK GGMBH (2021): CLUBSTUDIE, S. 80, ABB: 48
„Die Corona-Pandemie hat die deutsche KKW [Kultur- und Kreativwirtschaft]
in den vergangenen zwei Jahren stark getroffen. Der
Umsatzeinbruch im Jahr 2020 um -8,7 Prozent war der größte Rückschlag
seit Beginn des Monitorings der Entwicklung der Kultur- und
Kreativwirtschaft im Jahr 2009. Insgesamt liegen die Umsatzverluste
der KKW für 2020 bei -15,3 Mrd. Euro. Der Rückgang hat einzelne
Teilbranchen auf das Umsatzniveau von vor 2003 zurückgeworfen.
Die Teilmärkte der Kulturwirtschaft für sich genommen sind sogar
mit -13,5 % betroffen. Zu den besonders stark betroffenen Teilmärkten
der KKW gehören u. a. der Markt für Darstellende Künste (-81
%), die Musikwirtschaft (-44 %), die Filmwirtschaft (-41 %) und der
Kunstmarkt (-39 %). Diese Ergebnisse verweisen einmal mehr auf
die Sonderposition von Kulturschaffenden im wirtschaftspolitischen
Kontext der Corona-Krise.“
Quelle: Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des
Bundes (2022): Betroffenheit der Kultur- und Kreativwirtschaft von der
Corona-Pandemie, Abstract
ZWISCHEN ZWEI UND VIER –
ODER AUCH ALLER GUTEN DINGE
SIND DREI!
Melanie Gollin PRODUKTMANA-
GERIN / MUSIKJOURNALISTIN /
MODERATORIN
Alena Struzh FREIBERUFLICHE
JOURNALISTIN / STUDENTIN DER
LITERATURWISSENSCHAFT
Rosalie Ernst FREIBERUFLICHE
JOURNALISTIN / STUDENTIN DER
KULTURWISSENSCHAFT
Die drei Frauen schreiben nicht
nur für Magazine, sie haben auch
ein gemeinsames „Magazin“.
Genauer gesagt: einen musikalischen
Newsletter. Er nennt sich
Zwischen Zwei Und Vier und ist
ein Musikmagazin fürs Mailfach.
Dieser Newsletter ist eine Art
Reminiszenz der guten alten Bloggerszene,
von der die drei Fans
sind. Vielleicht auch, weil diese
Form des Journalismus nicht so
konventionell daherkommt wie der
herkömmliche Musikjournalismus.
Denn das spielt den Frauen gut in
die Karten. So können sie sich gut
austoben. Den Newsletter nach
ihrem Gusto gestalten und ihrem
Markenzeichen, ihrer radikalen
Subjektivität, auch gleich alle
Ehre machen.
Es ist November 2021 als sich
Melanie Gollin gemeinsam mit
Jochen Overbeck den „Newsletter
fürs Mailfach“ ausdenkt. Die
Inspiration für diesen besonderen
Newsletter war die Stagnation des
Musikjournalismus.
„Die immer gleichen Leute besetzen
die wenigen Flächen, die es für
bezahlten Musikjournalismus noch
gibt“, sagt Melanie.
Wenig Platz also, um als junger
Mensch in der Szene Fuß zu fassen,
gerade wenn es um Musikjournalismus,
Feuilleton und Popjournalismus
geht. Dabei ist es
genau das, was die drei machen
wollen. Schreiben über die Musikszene.
Aber mit unzensierten
Möglichkeiten, für alle!
„Von Anfang an war die Idee, dass
wir uns ein Konzept für eine Plattform
überlegen, auf der wir über
Musik schreiben können, die dann
aber auch so eine Art Metaebene
hat von: Wir wollen schreiben, was
wir wollen, und wir wollen dabei
aber unabhängig sein und den Wert
von Kultur zeigen und immer wieder
daran erinnern“, sagt Alena.
Rosalie und Alena bringen, seit
ihrem Einstieg in das Ehrenamt
2022, neben ihrem journalistischen
Können auch Wut und viel
Idealismus dazu. Das gefällt Gründungsmitglied
Melanie.
„WENN ES NACH UNS GEHT, DANN SOLLTEN LEUTE MACHEN KÖNNEN,
WAS SIE LIEBEN UND DAVON DANN AUCH LEBEN KÖNNEN. DAS IST
DAS OBERSTE ZIEL.“
SEITE 23
PORTRAIT | ZWISCHEN ZWEI UND VIER – ODER AUCH ALLER GUTEN DINGE SIND DREI!
ILLUSTRATIONEN:
MADELEINE MAROS
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
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LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 24
PORTRAIT | ZWISCHEN ZWEI UND VIER – ODER AUCH ALLER GUTEN DINGE SIND DREI!
RELEVANT, AMÜSANT
UND AUF AUGENHÖHE!
„Das ist genau die Mischung, die
es braucht, um den Newsletter am
Laufen zu halten.“ Finanziert wird
das Ehrenamt zu 80% von Menschen
aus der Branche. Die drei
glauben, dass das daran liegen
könnte, dass sich die Rezipient:innen
die prekäre Lage der Musikszene
einfach nicht vorstellen
können. Gerade in Corona-Zeiten.
Die Frauen befinden sind am Puls
des Geschehens.
Schließlich leben sie davon,
über Musik und Künstler:innen
zu schreiben. Und genau dieser
Zeitgeist, die außergewöhnliche
Situation der Coronapandemie,
hat dieses eine Thema nach ganz
oben gespült, und so zum leidenschaftlichen
Lieblingsthema der
drei mutieren lassen.
Geld in der Kulturbranche. Wie ist
das verteilt? Und wer kriegt das?
„Ich liebe es konkrete Zahlen genannt
zu bekommen und auch zu
veröffentlichen, um den Leuten
einfach mal klarzumachen, guck
mal hier, das ist unsere Realität, in
der wir stattfinden. Das ist so wenig
Geld oder das ist gar nicht bezahlt
oder das kostet so viel. Und das hilft
uns natürlich dabei, Geld von unseren
Leser:innen zu erhalten. Aber ich
möchte auch, dass das ein Bewusstsein
dafür schafft, dass man für
Kultur bezahlen muss. Bei uns ist es
die Musik, bezahlt die Bands, unterstützt
die Bands und das versuchen
wir immer so von hinten nach vorne
ins Licht zu bringen.
„WIR SIND ALLE EIN BISSCHEN WÜTEND. ALSO SACHEN, DIE MAN
VORHER VIELLEICHT MAL DURCH DIE BLUME ANGESPROCHEN HAT,
WERDEN JETZT SCHON GANZ SCHÖN KLAR KOMMUNIZIERT. ALSO ICH
GLAUBE, WIR HABEN DA ALLE DREI KEINE GEDULD MEHR.“
Damit sich das auf längere Sicht
einfach einfräst in den Köpfen der
Menschen“, sagt Melanie. Neben
der Möglichkeit des eigenen Jobs
nachzugehen, geht es den Frauen
um die gerechte Monetarisierung
von Künstler:innen. Damit das
gelingt, kann es nur unermüdlich
um Transparenz und Engagement
gehen.
Denn die Journalistinnen finanzieren
ihr Projekt über Leser:innen-
Abos, und legen offen, wie viel
Geld sie damit verdienen – und
dass sich das finanziell nicht
lohnt. Sie wünschen sich eigentlich,
dass alle Musiker:innen ihre
Hosen runterlassen und sagen,
was los ist: Nämlich dass die Musik
für die allermeisten ein besseres
Hobby oder Nebenjob ist und
dass sich genau das ändern muss.
„Die Kultur hat meiner Meinung
nach eine relativ schlechte Lobby in
der Politik“, meint Rosalie.
Natürlich gibt es Förderungen für
Musiker:innen, das Problem dabei?
„Oftmals haben die Künstler:innen
einen Eigenanteil zu stemmen
oder müssen das Geld vorstrecken.
Manche nehmen sogar Kredite deswegen
auf.“ Und auch deswegen
ist der Newsletter für die drei so
wichtig. Das gute Feedback, das
Lob, der Austausch treibt die drei
Frauen weiter an. Und natürlich
die Tatsache, dass „wenn wir dann
wieder eine Künstlerin featuren, sie
sich darüber freut. Oder wenn ich
sehe, dass unser Newsletter von vielen
Leuten in der Branche gelesen
wird. Und wenn ich dann sehe, dass
eine Künstlerin noch kein Label hatte,
aber sechs Monate später eins
hat, weil die Labelmanagerin unseren
Newsletter liest, dann denke ich
mir natürlich: ‚Vielleicht war das ein
kleiner Stein auf diesem Weg.‘, und
das ist das, was mich wahnsinnig
motiviert. Einfach anderen Leuten
zu helfen, andere Leute zu unterhalten“,
sagt Melanie.
Mit Leidenschaft tragen die Frauen
dazu bei, dass diese Branche
funktioniert: „Es ist halt schon eine
Entscheidung, ob ich neben meinen
Job als freiberufliche Journalistin,
der gerade so meine Kosten deckt,
jetzt noch einen zweiten Job annehme.
Oder mache ich lieber das,
worauf ich Bock habe?“, sagt Alena.
Die drei glauben, dass es ein
verstärktes Bewusstsein, gerade
nach und in den Krisen dafür
geben wird und gibt, dass große
Teile der Gesellschaft auf Ehrenämter
aufgebaut sind. „Ob die Leute
daraus dann auch Konsequenzen
für sich ziehen, indem sie sich dem
Ehrenamt anschließen oder mehr
Geld spenden, weiß ich nicht. Aber
ich glaube, das Bewusstsein ist
schon gewachsen“, meint Melanie.
Die drei sind sich jedenfalls einig:
„Wenn es nach uns ginge, sollten
alle Kunst machen und davon leben
können.“
Die Arbeit der drei Frauen an dem Newsletter dauert für jede
der Frauen mindestens einen ganzen Tag. Ihr Antrieb ist auch
die Gewissheit, dass die Krise nicht so schnell vorbei sein wird
und dass in Zukunft noch mehr Musikschaffende auf ein
Ehrenamt angewiesen sein werden. ZWISCHEN ZWEI UND
VIER ist nicht nur ein journalistisches Projekt, es ist auch der
Versuch zu beweisen, dass Crowd-finanzierter Musikjournalismus
möglich ist. Deshalb setzt das Projekt auf die freiwillige
Finanzierung seines Publikums: https://www.zwischenzweiundvier.de/geld
SEITE 25
PORTRAIT | ZWISCHEN ZWEI UND VIER – ODER AUCH ALLER GUTEN DINGE SIND DREI!
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: ANGELA PELTNER
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 26
PORTRAIT | MARIE WESTPHAL
ALS EHRENAMTLICHE ENGAGIERTE PERSON HAT ES MARY BESTÄRKT,
SICH ALS MUSIKERIN SELBSTSTÄNDIG ZU MACHEN.
DIE MUSIKALISCHE
CHEMIKERIN
Marie Westphal MUSIKERIN / VER-
ANSTALTERIN / CHEMIKERIN/
MOTORRADFAHRERIN
Marie Westphal, die von allen Mary
genannt wird, ist ein Tausendsassa.
Mitbegründer:in bei Grrrl
Noisy, Musikerin, Veranstaltungsorganisatorin.
Sie ist im Übrigen
Chemikerin von Beruf und fährt
gerne Motorrad (eine Kawasaki
Ltd. 440), vielleicht auch ein
klitzekleines bisschen, weil viele
Schlagzeuger:innen aus welchen
Gründen auch immer, ebenfalls
Motorrad fahren.
Mary spielt auf einem „Tama
Granstar“ in Creme weiß. Vintage.
Aber auch ohne Motorrad und
Schlagzeug ist Mary eine unglaubliche
explosive und vor Neugier
strotzende Mischung Mensch, die
man fragen möchte, wann sie denn
schläft? Vielleicht liegt es daran,
dass sie in der Stadt wohnt, die nie
schläft und wo man immer noch
einen Koffer stehen hat. Berlin.
Mary kleckert nicht. Sie klotzt.
Sie fährt nicht nur angstfrei (trotz
schwerem Unfall) Motorrad, sie
kann auch alle Maschinen fahren.
„Als wir dann mit der Band ‚24 Diva
Heaven‘ auf dem Petrolettes Festival
gespielt haben, da hat es dann Klick
gemacht und danach hatte ich dann
auch den Führerschein fertig in der
Tasche.“ Es schreit geradezu nach
einem Oxymoron: Die Chemikerin,
die seit über zehn Jahren versucht,
nachhaltig und grünen Innovationen
auf die Spur zu gehen, und die
im nächsten Augenblick die Soft
Shopper unter dem Po die Landstraßen
Brandenburgs unsicher
macht.
Und die spürt man deutlich im
Interview mit ihr. Als Musikerin und
Veranstalterin fand sie den Wegfall
des Kulturbereichs in der Musikszene
während der Pandemie nicht
nur „knallhart“. Sie prangert auch
den Umgang mit dem Kulturbereich
an.
„Und wenn denn auch der Staat
meinte, dass alles System unrelevant
wäre, was unter die Kategorie
Veranstaltung, Livekonzert etc. fällt,
war das für mich, die genau solche
Veranstaltungen mitorganisiert und
auf die Beine stellt, heftig. Aber
auch als leidenschaftliche Konzertgängerin
war das schlimm. Das
große Überthema Gemeinschaft, das
miteinander Abhängen, sich austauschen,
zu verbinden. Alles weg. Ich
persönlich lebe mit dem Austausch
der anderen Menschen, die mich
umgeben.“
Als Privatperson war es ebenfalls
hart für Mary, auch das Ehrenamt
hat es natürlich getroffen.
Mary arbeitet mit kreativen Kolleginnen ehrenamtlich im Musikkollektiv
Grrrl Noisy. Grrrl Noisy ist eine Community, die sich seit 2019
dafür stark macht, FLINTA*-Personen zusammenzubringen, dazu
beizutragen, dass Newcomerbands aus dem Proberaum heraus,
direkt erste Bühnenerfahrung sammeln können. Aber auch im Technik-Bereich
werden Personen und auch FLINTA* Personen gefördert.
Grrrl Noisy kreieren damit einen Safer Space mit ihrer Eventreihe,
einem Opener-Konzert mit anschließender Jamsession. Neben Grrrl
Noisy engagiert sich Mary auch ehrenamtlich beim „Petrolettes Festival“,
ein Festival für Motorradfahrende Frauen.
„Ich durfte keine Veranstaltungen
mehr organisieren, um Newcomer:innen
auf die Bühne zu bringen. Die
Start-Up-Szene, der ich angehöre,
lebt davon, sich ständig neu aufzustellen.
Und neue Wege zu gehen.“
Und auch darum gaben Mary und
ihre Kolleg:innen vom Musikkollektiv
Grrrl Noisy während der Krise
natürlich nicht auf. Schon vorher,
seit November 2019, war ihnen der
Safer-Space für Newcomer:innen,
die sich auch im Speziellen für
FLINTA*Personen einsetzen und
ihnen eine Bühne bieten, wichtig.
Jetzt hieß es, das Begonnene trotz
Krise weiteraufzubauen.
„Wir haben andere Formate aufgezogen.
Einen Podcast auf die Beine
gestellt. Oder wir haben damit begonnen
u.a. auch Video-Liveschnitte
aufzunehmen. Wir haben zusätzlich
Bands interviewt, die dann von ihrem
Release gesprochen oder sich beim
Proben gefilmt haben. Ja einfach
den Fans online gezeigt haben, wie
sie gerade arbeiten, oder wie der
Song soundso entstanden ist. Und
um den Musikcharakter nicht in Vergessenheit
geraten zu lassen, haben
wir dann auch Online-Jamsessions
und Online-Konzerte organisiert.
Dafür haben wir eigenes Grrrl Noisy-
Equipment zur Verfügung gestellt,
das wir uns mithilfe von Fördergeldern,
zum Beispiel vom ‚Musicboard
Berlin‘, kaufen konnten.
Und das braucht man halt auch,
wenn man dazu einlädt, dass so
viele Menschen wie möglich bei der
Jamsession da auch drauf spielen.“
Mit jeder Faser und mit jedem
Wort spürt man die Verbindung
und die Leidenschaft zur Musik.
Den Wunsch von Mary, dass es nur
weil es früher so war, nicht heute
anders sein kann. Unabhängig von
der Krise, sondern einfach nur auf
ganz banale Fragen eine Antwort
zu haben. „Ich versuche dazu beizutragen,
dass eben nicht immer
gesagt wird: Hey, wir finden hier
keine Musikerin am Schlagzeug oder
wir finden auch keine ehrenamtliche,
weiblich gelesene Person, denn die
MARY WÜNSCHT SICH WELTFRIEDEN. PUNKT.
gibt es zuhauf. Und das wollen wir
aufzeigen, Sichtbarkeit schaffen und
uns gegenseitig auch empowern
und natürlich jeder auch eine Bühne
geben, um sich auszuprobieren und
zu professionalisieren.“ Aus Grrrl
Noisy-Projekten sind auch Selbstständigkeiten
entstanden, die sich
zum Beispiel als Bookerin oder
auch als Musikerin selbstständig
gemacht haben, was für Mary ein
echter „Kick“ war, festzustellen,
dass es auch so geht. „Ich gehe
aus meinem Hauptjob raus ab in die
Vollzeitselbstständigkeit als Musikerin.“
Solche Lebensläufe und
Entscheidungen sind für Mary ein
großer Erfolg. Es lohnt sich. Dafür
geben sie und ihre Kolleginnen
unermüdlich Tipps an ihre „Musiker:innen“
weiter oder leiten die
entsprechenden Kontakte weiter.
Sie arbeiten zum Beispiel mit dem
Musicboard, dem Musicpool Berlin
und mit der Berlin Music Commission
zusammen. „Da hatten wir für
Grrrl Noisy auch einen Preis gekriegt!
Für unser Engagement für die
Berliner Musikszene.“
Und es wird einmal mehr klar, die
Coronakrise war nicht der Anfang
für Marys Ehrenamt und auch definitiv
nicht ihr Ende. Jetzt erst recht
lautet ihre Devise.
SEITE 27
PORTRAIT | MARIE WESTPHAL
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: ANGELA PELTNER
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 28
PORTRAIT | MARCO HEIDE
DER ANPACKER
Marco Heide JOURNALIST &
FAMILIENVATER
Marco Heide ist 34 Jahre alt und
Familienvater. Als Journalist hatte
er local heroes kennengelernt.
Daraus entstand eine enge Zusammenarbeit
mit den von ihm
mitgegründeten „Kickerfreunden
Salzwedel“. Vor allem nach der
Coronakrise machte er als Ehrenamtler
und Veranstalter erstaunlich
positive Erfahrungen.
Herausforderungen meistern
und sich täglich neuen Aufgaben
stellen, ist für Marco Heide Alltag.
Wenn ein Problem auftaucht,
will er es einfach lösen. Und das
schafft er auch. Doch dass er und
seine „Kickerfreunde“ ihre Sportund
Kulturveranstaltungen im
„Eskadron“ schon nach einem
guten halben Jahr wieder einstellen
mussten, hat das Team sehr
hart getroffen.
Und auch die fehlenden Kontakte
zerrten an den Nerven. 2014 hatte
Marco mit einigen Freunden einen
kleinen Kickerverein gegründet, der
zunächst in der Kneipe kickerte.
„Aber wir hatten schon den Hintergedanken,
das Kickern vom reinen
Kneipenimage zu befreien“, erzählt
Marco. Indirekt beteiligt an der
Gründung war damals auch der
Aktion Musik / local heroes e.V.:
„Bei den Kickerturnieren hat sich die
Kerngruppe gefunden.“ Im soziokulturellen
Zentrum Hanseat e.V.,
wo der Musikverein sitzt, wurden
damals Turniere via Livestream
zusammen mit dem Offenen Kanal
Kanal übertragen.
MARCO HEIDE SCHEUT KEINE HERAUSFORDERUNG.
ABER DIE ERZWUNGENE KONTAKTLOSIGKEIT WÄHREND DER CORONA-
LOCKDOWNS GING IHM SEHR AN DIE NERVEN.
Aus dem kleinen Verein mit rund
einem Dutzend Mitgliedern ist im
Laufe der Jahre ein Kicker- und
Kulturverein geworden, dem heute
90 Leute angehören. Marco Heide
ist bis heute Vorsitzender des
Vereins. Mittlerweile hat der Verein
eine eigene Mannschaft, die
im regulären Liga-Spielbetrieb ist
– weshalb der Verein vor einigen
Jahren in den Landessportbund
Sachsen-Anhalt und damit auch in
den Kreissportbund (KSB) Salzwedel
aufgenommen wurde.
Ein weiteres Standbein des Vereins
sind Kulturveranstaltungen: „Wir
haben von Anfang an mit Aktion
Musik / local heroes zusammengearbeitet“,
erzählt Marco. „Irgendwann
waren wir dann so weit, dass wir
gesagt haben, wir wollen selbst Musikveranstaltungen
machen. Mittlerweile
machen wir teilweise mehrere
Konzerte im Monat, Standard sind
dabei 50 bis 100 Besucher:innen.“
Marco ist überzeugt davon, dass
man „einfach viel mehr machen“
kann, wenn man zusammenarbeitet.
Und Aktion Musik ist für ihn
seit Jahren ein wichtiger Unterstützungspartner.
„Die Coronazeit brachte echt viele
Probleme mit sich. Wir waren ja erst
2019 in die neue Location umgezogen.
Und kaum ein halbes Jahr später
kamen die Lockdowns“, erinnert
sich Marco.
Glücklicherweise gab es einige
Förderprogramme, sodass die
„Kickerfreunde“ nie in große finanzielle
Not geraten sind. Vorteilhaft
war auch, dass der Verein Mitglied
im KSB ist, so konnten auch Gelder
aus der Sportförderung beantragt
werden. Auch eine schockierend
hohe Energiekosten-Nachzahlung
konnte durch Fördergelder bezahlt
werden. Die organisatorischen
und finanziellen Probleme „wuppte“
Marco. „Aber emotional bin ich
an meine Grenze gestoßen. Wenn
du veranstaltest und häufig unter
Leuten bist und dann gibt es keine
Veranstaltung, also auch keine Kontakte
mehr. Das geht schon an die
Nerven.“ Dabei hatten die „Kickerfreunde“
noch Glück. Sie konnten
sich mit ein paar Leuten quasi
privat in „ihre“ Kneipe setzen. „Wir
waren froh, das nutzen zu können“,
sagt Marco rückblickend.
Trotzdem sieht er sich von den Krisen
nicht persönlich betroffen: „Ich
bin jemand, der ein Problem einfach
lösen will, wenn es auftaucht. Punkt
aus. Wir haben es bisher immer geschafft,
schnell zumindest Informationen
zu sammeln und eine Klärung
zu bewirken. Ich kann gar nicht
sagen, inwieweit mich die Krisen in
irgendeiner Form in meinem Handeln
beeinflusst haben.“
Für die „Kickerfreunde“ hatte die
Coronakrise – wenn auch erst
nachdem sie zu Ende war – außerordentlich
positive Effekte, die
auch die ehrenamtliche Arbeit entscheidend
veränderten.
Als es wieder Veranstaltungen
geben durfte, stieg das Interesse
enorm. „Alles, was wir anboten, hat
bombastisch funktioniert“, erzählt
Marco. „Und auch der Verein entwickelte
sich rasant“. 2023 steht
bereits zum dritten Mal das Vereinsfest
in Salzwedel unter seiner
Obhut – eine Veranstaltung mit
zahlreichen Kooperationspartner:innen
und mehreren tausend
Besucher:innen. Eine solche Großveranstaltung
erfordert professionelle
Kompetenzen. Indirekt ist
es der Coronakrise zu verdanken,
dass das Team professionelle Organisationsstrukturen
entwickelte.
Auch Marco musste sich umstellen:
„Für mich ist es die größte Herausforderung,
Sachen abzugeben.
Ich lerne das jetzt und das tut auch
dem Verein gut.“
Vor allem änderte sich die Zusammenarbeit.
Die Kommunikation
wurde digitalisierter, Vorstandssitzungen
und andere Treffen im Hybridformat
zur Normalität. „Ein paar
Dinge sind halt einfach praktisch.
Die haben wir dann auch übernommen.
Das hat die Vorstandsarbeit
schon sehr verändert“, sagt Marco.
Mit dem Wachstum wurde es
schwierig, das Gemeinschaftsgefühl
aufrechtzuerhalten.
Das ist noch nicht „zu 100 Prozent“
gelungen, wie Marco sagt,
aber dem Verein ist es wichtig, den
alten Zusammenhalt wiederherzustellen.
Für die Zukunft wünscht
Marco sich, dass ehrenamtliche
Tätigkeit gesellschaftlich mehr
Wertschätzung erfährt. „Gerade im
ländlichen Raum werden Kulturangebote
fast ausschließlich von
Ehrenamtlichen organisiert. Sie
haben mehr als einen netten Dank
verdient“, so Marco. „Vielleicht
ist es ein Hirngespinst, aber nach
meiner Meinung braucht es eine Art
Grundeinkommen für Ehrenamtliche,
die sich gesellschaftlich engagieren.
Dann könnten sie sich mit voller
Energie hauptamtlich einsetzen.“
Durch ihren unermüdlichen Einsatz
und die Fähigkeit, sich jeden
Tag auf neue Herausforderungen
einstellen zu können, sind die
„Kickerfreunde Salzwedel“ gut
durch die Krise/n gekommen. Doch
Marco wünscht sich etwas: „Wenn
es erneut eine solch massive Krise
geben sollte, dann soll die Politik
von Anfang an finanzielle Sicherheit
schaffen und keinen brutalen Lockdown
verordnen. Denn es ist wichtig,
dass die Zwischenmenschlichkeit,
die für die wohlige Wärme im Alltag
ganz wichtig ist, erhalten bleibt“.
"ALS ES WIEDER VERANSTALTUNGEN GEBEN DURFTE, STIEG DAS INTE-
RESSE ENORM", BLICKT MARCO HEIDE AUF DEN NEUSTART ZURÜCK.
SEITE 29
PORTRAIT | MARCO HEIDE
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: ANGELIKA BLANK
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 30
DEEPER KNOWLEDGE | HELD:INNENZEIT
HELD:INNENZEIT
Denkt man an Helden (oder Heldinnen!),
dann kommen schnell
die ganzen Superheroes aus dem
Marvel-Universum in den Kopf:
Spider-Man, Iron Man oder Captain
America, Wonder Woman oder Jessica
Jones. Aber wer kann schon
Spinnennetze aus den Händen
schießen? Oder hat einen Anzug,
mit dem man fliegen kann?
Held:in sein heißt allzu oft, etwas
ganz Besonderes, Außergewöhnliches
leisten zu können. Superkräfte
zu haben. Über uns allzu
sterblichen „Normalos“ zu stehen.
Also: Heroisch über sich hinauszuwachsen
und tapfere Ruhmestaten
zu vollbringen. Held:innen stehen
auf Podesten, werden Weltmeister:innen,
bekommen Medaillen
umgehängt oder erhalten im Buckingham
Palast den Ritterschlag.
Man kann diese Held:innen bewundern,
ihr Fan sein oder davon
träumen, ‚einmal einen Tag lang so
wie sie zu sein‘.
Aber als Vorbilder und Inspiration
für das tägliche Leben? Taugen
sie nur bedingt. Denn wir alle, die
Allermeisten zumindest, können
eben nicht so einfach tagtäglich
heroisch Außergewöhnliches
leisten.
Oder doch?
Wie oft treffen wir auf ganz gewöhnliche
Menschen, die anderen
Menschen selbstlos helfen, oft
über die eigenen Kraftreserven
hinaus. Die sich für andere einsetzen,
ohne etwas im Gegenzug
zu erwarten, einfach weil sie es für
selbstverständlich halten. Menschen,
die ohne mit der Wimper
zu zucken, Überstunden leisten,
weil es gerade viel zu tun gibt und
es ohne ihren Einsatz anderen
schlechter ginge.
Die für erkrankte Kolleg:innen
einspringen, weil der Laden laufen
muss. Die sich ehrenamtlich engagieren,
um die Welt mit ihren Kräften
ein kleines bisschen besser
zu machen. Überall um uns herum
sind sie. Die kleinen, ganz großen
Held:innen.
Für alle diese Menschen gibt es
das schöne Wort „Alltagshelden“.
Damit gemeint: Held:innen, die nur
selten eine Urkunde bekommen
oder ein Krönchen oder auch nur
einen dankbaren Klopf auf die
Schulter. Ohne die in unserer Welt
aber nichts geht.
Vielleicht ist dieses Held:innentum
sogar noch schwerer zu leisten, als
das Weltenretten von Superman
und Wonder Woman. Über diese
werden Filme gedreht, sie werden
angehimmelt und bekommen
Lieder geschrieben. Alltagsheld:innentum
geht hingegen – im trubeligen,
gestressten, heldenhaften
– Alltag oft unter. Klar, jede(r) freut
sich über den Altruismus von engagierten
Ehrenamtler:innen. Aber
für ein ausführliches Dankeschön
ist dann doch gerade keine Zeit.
Und immer dann, wenn bei den engagierten
kleinen großen Held:innen
mal wieder die Aufgabenlast
größer wird, der große Stress ausbricht
und alle am Limit arbeiten,
bleiben Dank und Wertschätzung
(leider) gerne mal auf der Strecke
- Super-Alltagsheld:innen laufen
unter dem Berühmtheitsradar. Und
gerade weil bei vielem ehrenamtlichen
Engagement eine jegliche
Wirkung nicht sofort sichtbar ist,
sondern sich erst im Laufe der
Zeit zeigt, gibt es selten den einen
Moment, an dem der Böse besiegt
ist, die Welt gerettet wurde und die
Menschheit auf Knien dankt. Nachhaltiges
Engagement nennt sich
dieses dauerhafte Bessermachen
in kleinen Schritten. Das meint
aber auch: Ehrenamtlich Engagierte
brauchen einen langen Atem,
der sie auch durch frustrierte,
anstrengende, mühsame Momente
trägt.
Eine Atemhilfe in all den unvermeidlichen
Momenten, an denen
die Anstrengung zu groß und der
Dank zu klein werden, kann Musik
sein. Dann helfen all die Songs,
die eben gerade nicht („We are the
Champions!”) die Superheld:innen
feiern. Sondern die Hymnen, Hits
und Held:innen-Songs, die sich den
„Übersehenen“ widmen. Lieder,
in denen man sich gerade deshalb
wiederfinden und verstanden
fühlen kann. Weil sie sagen: Es ist
gigantisch, was Du leistest.
Als Musikfan kommt einem natürlich
als erstes David Bowie in den
Kopf: „We can be Heroes. Just
for one day”. Und auch, wenn es
in diesem Song eigentlich um
eine heimliche Liebe im Schatten
der Berliner Mauer geht: Bowies
Helden-Glanzstunde geht immer
zur Ermutigung in Zweifelszeiten.
Apropos Ermutigung.
Wolf Biermanns vielleicht bekanntestes
Stück „Ermutigung“, - geschrieben
für den von der SED
überwachten Freund Peter Huchel,
erinnert dann daran, sich auch bei
Gegenwind nicht wegzuducken
und bei allem Frust den Humor zu
behalten.
Dieses leise, vertrackte Stück ist
zum Innehalten. Wer ausrasten
will, greift sich das Album „The
Colour and the Shape“ der Foo
Fighters aus Seattle. In dem
vielleicht berühmtesten Song über
Alltagsheld:innen heißt es:
Ordinary – gewöhnlich, vielleicht.
Aber niemals verzichtbar. Auch
wenn es sich manchmal so anfühlen
kann. Gerade dann, wenn sich
bei allem Engagement die Wirkung
nicht sofort zeigt, wenn es Geduld,
Ausdauer, Leidensfähigkeit
und Durchhaltevermögen braucht,
um zwei Schritte vor, einen zurück
und dann wieder zwei nach vorne
zu gehen. Dann ist im Ohr dieses
Zweifelsstimme.
Die lässt sich besonders gut mit
Jack Johnson und Ben Harper zum
Schweigen bringen. Oder besser:
Übertönen lassen.
"I CAN CHANGE THE WORLDM,
WITH MY OWN TWO HANDS
MAKE IT A BETTER PLACE,
WITH MY OWN TWO HANDS
MAKE IT A KINDER PLACE,
WITH MY OWN TWO HANDS
WITH MY OWN
WITH MY OWN TWO HANDS
I CAN MAKE PEACE ON EARTH,
WITH MY OWN TWO HANDS
I CAN CLEAN UO THE EARTH,
WITH MY OWN TWO HANDS
I CAN REACH OUT TO YOU,
WITH MY OWN TWO HANDS
WITH MY OWN
WITH MY OWN TWO HANDS
WITH MY OWN
WITH MY OWN TWO HANDS."
JACK JOHNSON & BEN HARPER
WITH MY OWN TWO HANDS
Und neben den zwei Händen hat
man ja noch diesen großen Kraftspeicher
innendrin. Allen Mut, alle
Kraft, alle Liebe und alles Engagement,
daran erinnert Mariah Carey
in ihrem Hit „Hero“, findet man in
sich selbst:
SEITE 31
DEEPER KNOWLEDGE | HELD:INNENZEIT
TEXT: OLE LÖDING
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 32
DEEPER KNOWLEDGE | HELD:INNENZEIT
Das Tolle an der Popmusik: Hier
werden die everyday heroes in
allen Genres, in allen Facetten und
in allen Farben gefeiert. Diejenigen,
die stärker sind als alle Widerstände
(Sia – Unstoppable), diejenigen,
die unterschätzt werden (Alicia
Keys – Underdog). Die Held:innen,
die diese Welt ein bisschen besser
machen (Birdy – People help the
People), die couragiert für etwas
Gutes einstehen (Superchick –
Hero), die Mutigen (Katy Perry
– Roar) und die Kämpferischen
(Christina Aguilera – Fighter),
die Widerständigen (The Script –
Superheroes).
Vielleicht ist das ein Life-Hack?
Die eigene, persönliche Playlist mit
Alltagsheld:innen-Songs erstellen
und immer dabei haben! Auf
meiner wär’ Melissa Etheridge’s
„Giant“ der Opener:
Und dann kämen Loukas „Nur Dein
Kopf“, Morten Abels „Keep yourself
in Motion“, Sarah Bettens (heute:
Sam Bettens) „Put it out for good“,
Gisbert zu Knyphausens „Grau,
grau, grau“ und für die frustrierten
Momente Niels Freverts „Gemeinsame
Sache“. Außerdem: Kein
Tag ohne Bruce Springsteens „No
Surrender“!
Egal wie die Playlist bestückt
ist: Aufhören sollte sie mit den
Schockrockern von Kiss.
"IN A WORLD WITHOUT DREAMS
THINGS ARE NO MORE THAN
THEY SEEM
AND A WORLD WITHOUT HEROES
IS LIKE A BIRD WITHOUT WINGS
OR A BELL THAT NEVER RINGS
JUST AS SAD AS USELESS
THINGS."
KISS – A WORLD WITHOUT HEROES
Also: Playlist erstellen. Oder:
Die local heroes Playlist „Alltagsheld:innen“
mit all diesen Songs
und noch viel mehr abonnieren.
Kopfhörer auf. Und dann: Erst
recht loslegen und die Welt verändern!
HIER GEHTS
ZUR PLAYLIST!
"WILLKOMMEN IN DER ZEIT
HELDEN SIND BEREIT
SEID IHR SOWEIT
HELDENZEIT HELDENZEIT
SEID IHR SOWEIT?
HAT IRGENDWER GESAGT
ES WÄRE ZEIT FÜR HELDEN?
HELDENZEIT!
WILLKOMMEN IN DER ZEIT
WIR KOMMEN UM DIE ANDEREN
HELDEN ANZUMELDEN."
WIR SIND HELDEN – HELDENZEIT
DIE TÜRÖFFNER
Christian Stahl DIPL. MASCHINEN-
BAU-INGENIEUR / VERANSTALTER
/ „AB GEHT DIE LUTZI“
Klaus Schmitt ELEKTRO-TECHNI-
KER / VERANSTALTER / „AB GEHT
DIE LUTZI“
Seit dem ersten Tag im Jahr 2010
versteht sich das vollkommen
ehrenamtlich organisierte „ab geht
die Lutzi“-Festival in Rottershausen
als Veranstaltung für alle.
Jung und Alt kommen zusammen
und haben eine gute Zeit. Niemand
wird ausgegrenzt. Alle sind willkommen.
Um das nachhaltig zu
gewährleisten, hat sich das Team
des „ab geht die Lutzi“ mit Expert:innen
zusammengetan. Das
langfristige Ziel: Das Festival will
sich auch für Menschen mit Behinderung
bestmöglich aufstellen.
Der Sommer 2022 war für viele ein
„Neubeginn“. Für das nicht einmal
1000 Einwohner:innen zählende
Rottershausen im Speziellen stand
nach zweijähriger Pause endlich
wieder eine Großveranstaltung
auf dem Programm. Erstmals fand
wieder das „ab geht die Lutzi“ statt
und lockte rund 5.000 Gäste (an
jeweils drei Tagen) in die kleine
unterfränkische Gemeinde nahe
der bekannten Kurstadt Bad
Kissingen. Und nicht wenigen fiel
sofort auf: Die durch die Corona-
Pandemie verursachte „Zwangspause“
wurde hinter den Kulissen
gut genutzt.
„Der HÖME Festival Playground gab
für uns den Anstoß, uns künftig
intensiv mit den Themen Inklusion
„NACH WIE VOR SUCHEN WIR TESTPERSONEN, DIE SICH ZUTRAUEN
DABEI ZU SEIN UND SCHWACHSTELLEN AUFDECKEN“, LÄDT CHRISTIAN
STAHL DAZU EIN, SICH AKTIV ZU BETEILIGEN.
und Barrierefreiheit auseinanderzusetzen“,
erinnert sich Festival-Chef
Christian Stahl zurück. Hinter dem
Festival Playground verbirgt sich ein
Zusammenschluss von über 120 Festivals,
die an einer nachhaltigen und
innovativen Festivalzukunft arbeiten
möchten. Die Erkenntnis der hier versammelten
Expert:innen: „Inklusion
wird auf immer mehr Festivals mitgedacht.
Doch häufig geht es dabei
lediglich um barrierearme Geländeplanung.“
Das greife zu kurz.
Seit Mitte Januar 2022 arbeiten
die „Lutzi“-Verantwortlichen daher
konkret daran, das Festival umzugestalten.
„Das Ganze ist ein langfristiger
(Lern-)Prozess. Wir hatten
zu Beginn keinerlei Erfahrungswerte.
Es bestand jedoch der dringende
Wunsch, kulturelle Teilhabe für alle
zu ermöglichen“, so Christian Stahl,
der das Ganze mit Klaus Schmitt
hauptverantwortlich koordiniert.
„Schließlich geht es darum, Menschenrechte
umzusetzen.“ Doch
wo fängt man an? Hygiene? Befestigung?
Kommunikation? Ein
riesiger Berg an Aspekten, der zu
bewältigen war und immer noch
ist. Das Team holte sich Hilfe –
mit Erfolg: In Zusammenarbeit mit
dem Landkreis Bad Kissingen, vertreten
durch die Projektmanagerin
Antje Rink und Felix Gantner vom
Regionalmanagement des Landkreises
Bad Kissingen, dem Bezirk
Unterfranken, vertreten durch
den Popularmusikbeauftragten
SEITE 33
PORTRAIT | AB GEHT DIE LUTZI
TEXT: OLE LÖDING
PORTRAIT
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LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 34
PORTRAIT | AB GEHT DIE LUTZI
Benjamin Haupt und unterstützt
durch die Initiative „barrierefrei
feiern“, wurde sich gemeinsam in
das Thema eingearbeitet, etwa via
eines Workshops mit eben jenen
Expert:innen der Initiative „barrierefrei
feiern“.
Die ersten Erkenntnisse ergaben
sich schnell: Ein inklusives
Festival bedeutet ein „normales
Miteinander“ aller Menschen. Die
Bemühungen dürfen sich nicht
nur auf eine Zielgruppe – etwa
Rollstuhlfahrer:innen – konzentrieren.
Es galt und gilt bis heute, das
„Mindset“ zu verändern und zudem
offen bei jenen nachzufragen, die
es betrifft. Scheu ist ebenso fehl
am Platz wie „übermäßiges Taktgefühl“.
Denn: „Die Kompromissbereitschaft
bei Betroffenen ist groß“,
so die Botschaft der Initiative
„barrierefrei feiern“.
Die Initiative machte von Anfang
an deutlich. Am Ende machen viele
kleine Schritte den Unterschied.
Gesagt, getan: Für das „ab geht die
Lutzi“ startete „Phase 1“. Der Aufbau
eines regionalen Netzwerks
ist bis heute in vollem Gange. Den
Anfang machte eine erste Geländebegehung
samt Begutachtung
kritischer Stellen am Gelände.
Und auch virtuell wird die Parole
der Stunde „Hinkommen, reinkommen,
klarkommen“ verfolgt. Der
Online-Auftritt wurde mittlerweile
überarbeitet. Eine eigene Seite zur
Barrierefreiheit und die Anpassung
der FAQ ist umgesetzt, ebenso
der gesamte Homepage-Auftritt in
leichter Sprache. Es versteht sich
von selbst, dass die Macher Telefonnummern
und Kontaktadressen
kommunizieren. Auch eine detaillierte
Beschreibung dessen, was
die Besucher:innen vor Ort vorfinden,
findet sich auf ihrer Seite.
Das Angebot, sich vorab beim „ab
geht die Lutzi“-Team zu melden,
um Bedarfe zu klären, war für sie
ebenfalls ein logischer Schritt.
Und was verändert sich auf dem
Festival gerade selbst? „Auf jeden
Fall nicht nur die Bodenbeläge“,
schmunzelt Klaus Schmitt. „Wichtig
ist uns – neben einer Umgestaltung
der Umgebung – dass das
gesamte Team sensibilisiert wird“,
betont Christian Stahl. Es gehe
darum, Situationen zu erkennen,
schnell unterstützen zu können
und insgesamt angemessen zu
reagieren. „Das erachten wir als unverzichtbaren
Aspekt einer sensiblen
Umgebung und gleichberechtigten
Teilhabe.“ Die Festival-Crew wurde
daher von Expert:innen in eigener
Sache geschult, um die Belange
der Besucher:innen mit Behinderung
bestmöglich verstehen und
umsetzen zu können. „Außerdem
haben wir auf dem Festival ein
Awareness-Team im Einsatz, damit
sich alle Besucher:innen sicher und
damit wohl fühlen können“, ergänzt
Klaus Schmitt.
Doch das ist bei Weitem nicht
alles. Das Team lernt permanent
dazu und baut sein Angebot
Stück für Stück aus. So können
Inhaber:innen eines Schwerbehindertenausweises
mit dem Zusatz
„B“ kostenlos eine Begleitperson
ihrer Wahl mitbringen. Zudem
machen die Festival-Macher auf
die nächstgelegene barrierefreie
Bahn-Haltestelle, etwa 800 Meter
vom Festivalgelände entfernt, aufmerksam.
Der Weg vom Bahnhof
Rottershausen bis zum Festivalgelände
ist selbstverständlich ebenfalls
barrierefrei und beschildert.
„AM LUTZI FESTIVAL IST FAST
JEDER WILLKOMMEN. WIR HABEN
KEINEN PLATZ FÜR RASSISMUS,
SEXISMUS, ABLEISMUS ODER
JEGLICHE ANDERE ART VON DIS-
KRIMINIERUNG“, SAGT KLAUS
SCHMITT.
„ZUKÜNFTIG MÖCHTEN WIR AUCH UNSEREN CAMPINGPLATZ
VOLLUMFÄNGLICH BARRIEREFREI GESTALTEN“, KÜNDIGEN DIE FESTI-
VAL-MACHER AN.
Wer diese Strecke nicht bewältigen
kann, dem werden barrierefreie Taxi-Shuttle
aus der Region ans Herz
gelegt. Direkt vor dem Festivaleingang
befinden sich außerdem
ausreichend, gekennzeichnete Behindertenparkplätze.
Fahrdienste
können nach Voranmeldung sogar
bis zum Festivalgelände einfahren.
Angebote für Blinde gibt es ebenfalls.
„Unser Awareness-Team bietet
blinden und sehbehinderten Besucher:innen
einen Abholdienst ab der
nächstgelegenen Haltestelle Bahnhaltepunkt
Rottershausen an“, erklärt
Christian Stahl. „Einfach vorab
bei uns melden. Zertifizierte Assistenz-
und Blindenführhunde sind auf
dem Lutzi Festival natürlich willkommen.“
Zusammen mit einer Expertin
von „aktiv.mit.rolli“ hat das
„Lutzi“-Team das Festivalgelände
auf Barrierefreiheit überprüft.
Stufen oder Unebenheiten wurden
auf allen Publikums- und Sozialflächen
mit mobilen Rampensystemen
und/oder Schwerlastmatten
beseitigt. Sollte jemand aufgrund
von Mobilitätseinschränkungen
vor Ort Unterstützung benötigen,
kann er oder sie sich an das
Awareness-Team wenden, ebenso,
wenn es darum geht, einen Elektrorollstuhl
aufzuladen. Für freie Sicht
gibt es ein erhöhtes Podest an der
Hauptbühne des Festivals. Ein Teil
der Theken an Essens- und Getränkeständen
wurde abgesenkt. Ein
barrierefreier Toilettencontainer
befindet sich im Infield. Auf dem
Campingplatz gibt es außerdem
eine barrierefreie Toilette (DIXI).
Darüber hinaus gibt es 50 genderneutrale
Toiletten. Wer duschen
möchte, kann dies im Backstage
barrierefrei tun.
Und was, wenn der Festival-Trubel
zu viel wird? „Auf dem Gelände
befindet sich ein reizarmer Ruhebereich,
der in besonderen Fällen, etwa
zur medizinischen Selbstversorgung
oder zum Stressabbau als Rückzugsort
genutzt werden kann“, erläutert
Christian Stahl.
„Phase 2“ zündet 2023. „Schon
im Vorfeld der ‚Lutzi‘ 2022 hat sich
gezeigt, dass wir das ein oder andere
mit kreativen Ideen und etwas
Improvisation in der Organisation
hinbekommen und 2023 umsetzen
können“, sagt Christian Stahl, der
gemeinsam mit seinem Team weit
in die Zukunft denkt. Mit Spannung
blicken sie auf die Erkenntnisse,
die sich bereits ergeben haben
und noch ergeben werden. Klar sei
aber schon jetzt: „Es gibt einige,
grundlegende Punkte, die nicht ohne
größere Investitionen zu bewältigen
sein werden.“ Dazu gehört etwa das
Programm in Gebärdensprache
übersetzen zu lassen. „Selbstverständlich
freuen wir uns dennoch
über gehörlose Besucher:innen und
versprechen, im Rahmen unserer
Möglichkeiten eine adäquate Kommunikation
zu ermöglichen.“
Die Anstrengungen in Rottershausen
haben sich herumgesprochen.
Das Festival wurde mit dem Bayerischen
Popkulturpreis 2022 in der
Kategorie „Soziale Nachhaltigkeit“
ausgezeichnet. In der Begründung
heißt es: „Nicht zuletzt stellen die
Organisator:innen ihr erworbenes
Wissen und daraus folgende Erkenntnisse
zur Barrierefreiheit auf
lokaler Ebene für weitere Vorhaben
zur Verfügung und dienen damit gewissermaßen
als Botschafter:innen
für das Thema Barrierefreiheit und
Kultur in der Region.“
SEITE 35
PORTRAIT | AB GEHT DIE LUTZI
BILDER: DAVID LEHMANN / AB GEHT DIE LUTZI
TEXT: NICOLE OPPELT
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 36
PORTRAIT | ROXY SCHULZ
DIE KUH-VOM-EIS-
SCHIEBERIN
Roxy Schulz SÄNGERIN / MARKE-
TINGMANAGERIN / KONZERTVER-
ANSTALTERIN
In den Adern von Roxanne Melody,
die von allen Roxy genannt wird,
fließt Musik. Erwachsen geworden
in der Musikbranche ist die Hamburgerin,
die u.a. das StadtMagazin
OXMOX koordiniert, heute
von A wie Anträge schreiben bis Z
wie zivilgesellschaftliches Engagement
in Vollzeit Haupt- und
Ehrenamtlerin. Wie das funktioniert?
Mit der Unterstützung zahlreicher
prominenter und nicht prominenter
Menschen, Freund:innen
und Familie, die sich regelmäßig
von Roxys Engagement anstecken
lassen.
Roxy, du bist Vorständlerin von
gleich vier Vereinen, publizierst
das Hamburger Stadtmagazin
OXMOX, organisierst Konzerte und
leistest gefühlt jeden Tag erste
Hilfe, wenn es um Themen wie
Tierschutz, Willkommenskultur am
Hamburger Hauptbahnhof, Musikworkshops
in Flüchtlingsunterkünften
oder medizinische Grundversorgung
geht. Du bist extrem
vielseitig engagiert.
KANNST DU UNS EINEN KLEINEN
EINBLICK GEBEN, WIE DICH DIE
KRISEN DER LETZTEN JAHRE
KONKRET BETROFFEN HABEN?
Erst einmal wurde unserer ganzen
Branche im Grunde die Ausübung
unseres Berufes verboten. Neben
dem Veranstaltungsmagazin
OXMOX betreiben wir auch die
Mediaagentur, ABC Media, mit der
wir Veranstaltungen wie Konzerte
organisieren. Das Veranstaltungsverbot
hat uns insofern natürlich
von beiden Seiten voll getroffen.
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: JULIA WARTMANN
Wobei es viele Jahre sehr, sehr
gut lief. Wir haben einen sicheren
Stand, den andere nicht haben.
Wenn ich zum Beispiel an Straßenmusiker
denke, die von Gig
zu Gig leben. Die haben alle bei
mir angerufen, weil man sich über
Jahrzehnte kennt. Ihnen habe ich
geholfen, Anträge zu schreiben, obwohl
ich beim ersten Antrag auch
erst überfordert war. Irgendwann
war man im Antragsflow, aber ich
hasse das. Und es kann nicht sein,
dass es so schwer ist, so etwas
auszufüllen. Vielen wurde gesagt:
„Geh doch jetzt Knöllchen schreiben."
Ich sage: „Das ist ein Künstler,
der geht ein, wenn du ihn ins Amt
setzt. Der muss Kunst machen. Der
ist wie ein Rennpferd, das du im Stall
einsperrst. Das funktioniert nicht."
Leider gab es sehr, sehr viele
Selbstmorde daraufhin in unserer
Branche, was natürlich auch
komplett verschwiegen wird, weil
den Leuten einfach die Lebensgrundlage
genommen wurde. Und
du kannst nicht eine Familie von
5.000 Euro ein Jahr lang ernähren.
Das ist Bullshit.
WIE HAST DU AUF SOLCHE ER-
FAHRUNGEN UND GESCHICHTEN
REAGIERT?
Wir haben in der Corona-Krise zum
Beispiel den Verein Alive!Kultur
gegründet, mit dem wir z.B. mit
Kiezbäcker zusammen die Obdachlosen
mit Essen versorgt haben.
Veranstalter haben Obdachlosen
von der Schanze bis Ottensen
haben außerdem Klamotten gebracht.
Sie hatten plötzlich alle
Zeit bzw. sagten: „Ich langweile
mich. Noch einen Tag länger auf der
Couch und ich kriege eine Depression.
Bitte nimm mich mit!“ Wir sind
ja alles Macherleute.
Neben deinem Engagement für
Musiker:innen während der Corona-Pandemie
setzt du dich auch
für Kinder und Jugendliche aus
Syrien und der Ukraine ein.
WELCHER DIESER KRISEN
HAT DEN MEISTEN EINFLUSS
AUF DEINE EHRENAMTLICHEN
TÄTIGKEITEN GENOMMEN?
Das erste Mal richtig betroffen war
ich, als die Flüchtlingswellen aus
Syrien am Hamburger Hauptbahnhof
kamen. Ich habe ein Kind mit
Schussverletzung gesehen oder
einen Typen, der einen offenen
Bauch hatte, weil er seine Niere
für die Überfahrt verkauft hat
und keiner ihn zugenäht hatte.
Wir durften die Menschen nicht
versorgen, haben es aber natürlich
trotzdem gemacht. Es kamen
nach und nach immer mehr Helfer
und irgendwann waren wir 300.
Mittlerweile gibt u.a. auch unsere
OXMOX-Buchhaltung Malkurse
im Flüchtlingscamp. Ich habe
einfach meinen gesamten Freundeskreis
verpflichtet. Alle, die ich
kenne, helfen mit. Wir müssen jetzt
irgendwie die Kuh vom Eis kriegen
hier.
Wir sind rund einmal die Woche
in diversen Notunterkünften.
Eigentlich müssten wir in jedem
jeden Tag sein, weil die Kinder und
Jugendlichen keinen Kita- oder
Schulplatz kriegen, so lange der
Aufenthaltsstatus der Eltern nicht
geklärt ist. In einigen Einrichtungen
gibt es schon Kitas (z.B.
Schnackenburgallee), aber in den
Einrichtungen, wo die Eltern noch
auf Klärung warten (z.B. Rahlstedt,
Harburg u.a.) bekommen die
Kinder weder einen Schul- noch
Kitaplatz und das kann Monate
dauern. Und auch in den Einrichtungen,
die sowas haben, gibt es
so gut wie keine Beschäftigung für
die Kinder und Jugendlichen und
die wenigen Helfer sind bereits
stark überlastet. Wir bringen Musiker
dorthin, die mit ihnen Musik
machen. Und im Lockdown haben
wir dann zum Beispiel Streams
organisiert, wo sogar Hugo Egon
Balder mitgemacht hat.
WELCHE POSITIVEN ASPEKTE
HAST DU TROTZ DEINER GRAVIE-
RENDEN PERSÖNLICHEN KRISEN-
ERFAHRUNGEN FÜR DICH ERFAH-
REN?
Ganz viele. Wir sind alle zusammengewachsen.
Wir sind stärker
geworden. Wir haben durch das
Helfen Menschen kennengelernt,
die wir sonst nie kennengelernt
hätten. Auch ganz tolle Musiker.
„JEDE:R MIT EINEM SAUBEREN
FÜHRUNGSZEUGNIS KANN MIR
GERNE HELFEN IN DEN CAMPS.
WIR BRAUCHEN DRINGEND
LEUTE!“ (ROXY SCHULZ)
Zum Beispiel habe ich gebloggt
und über die Vereine ganz viele
Musiker mit Behinderung kennengelernt,
die richtig genial gut sind.
Das ist kein Mitleidsthema, sondern
es sind einfach geile Musiker,
die man sehen muss. Oder Udo
Lindenberg hat uns für ein Retterbier
Etiketten gemalt. Getränkeland
hat uns dabei unterstützt. Wir
haben damit 2.000 Euro Spenden
gesammelt.
Ich dachte: „Jetzt geht das Gekloppe
um das Geld los.“ Dem war nicht
so. Alle sagten: „Nein, gib es denen,
die nichts haben.“ Alle waren sich
einig, keiner wollte was abhaben.
Wir sollten das ganze Geld den
Straßenmusiker geben. Das war
richtig schön. Oder mir fallen die
Taxifahrer ein, denen im Lockdown
alle Clubtouren weggebrochen
sind. Sie haben dann selbstverständlich
die Geflüchteten gefahren.
Das war beeindruckend. Und
man sagt zurecht: In der Not zeigt
sich der wahre Charakter.
Und generell: Auch wenn ich
schlimme Sachen gesehen habe,
macht der Einsatz auch Spaß.
WAS HAT SICH AUS DEINER SICHT
DURCH DIE HERAUSFORDERUN-
GEN UND DIE KRISEN IN DER
ARBEIT IM EHRENAMT GRUND-
SÄTZLICH VERÄNDERT?
Leider gar nicht viel. Also die Stadt
braucht im Grunde die Ehrenamtlichen,
da sie allein nicht hinterherkommt.
Ich war letzt mit 700 Kindern
aus einem Flüchtlingsheim
beim Circus Roncalli. Ich habe
dort viele Partner aus der Branche
getroffen, die sagen: „Wir wollen
auch helfen.“ Und selbst wenn sie
sagen: „Wir haben kein Geld“, sage
ich: „Dann komm mit, pack mit an“
oder sing ein Lied oder zieh dir ein
Hasenkostüm an. Das sind Mutmacher
für die Kinder.
SEITE 37
PORTRAIT | ROXY SCHULZ
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 38
PORTRAIT | DIEPOP
FREYA WOIDNOK, JOHANNES HILLE, LISSY OBERLÄNDER UND ANNA-LENA ÖHMANN (V.R.N.L.) SOWIE ANNE
BAUMBACH UND LARA MÜHLINGHAUS (NICHT IM BILD)
DEN FLOW WIEDERFINDEN – UND
NEUES ENTWICKELN
Anna-Lena Öhmann und Johannes
Hille diePOP WEIMAR
Anna-Lena Öhmann ist als Kulturmanagerin
seit 2022 Fachreferentin
für Musik bei der Kulturdirektion
Weimar tätig. Zuvor war sie
Teil des KUNSTFEST WEIMAR und
der BUGA Erfurt 2021. Seit 2018
unterstützt sie die diePOP in den
Bereichen Projektmanagement,
Öffentlichkeitsarbeit und Website
sowie Veranstaltungstechnik.
Johannes Hille gründete 2017 die
Musikinitiative diePOP und ist
neben seiner Tätigkeit im Kulturmanagement
seit Jahren als Musiker
im Studio sowie auf der Bühne
unterwegs. 2015 übernahm er die
Organisation des Saitensprung-
Festivals in Weimar. Das Jahr über
tourt er mit Bands und Künstler:innen
nicht nur durch Deutschland.
Die beiden Ehrenamtler:innen
stehen stellvertretend für ein
Kollektiv junger Erwachsener, die
in Weimar und Umgebung Auftrittsmöglichkeiten,
Wahrnehmung
und Öffentlichkeitsarbeit für lokale
Newcomeracts schaffen. Die die-
POP ist Teil des Kulturtragwerk
e.V., welcher als Träger verschiedenster
Projektinitiativen fungiert.
Dies bietet ihnen u.a. Zugang zum
Mascha in Weimar, mit welchem
sie über eigene Vereinsräume verfügen
um für Musik und Kunst eine
kulturelle Begegnungsstätte zu
eröffnen.
Für Johannes Hille war die Corona-
Krise ein extremer Einschnitt. „Man
hat ja in der Soziokultur immer zu
kämpfen, insofern hat uns das nicht
so krass überrascht“, sagt Johannes.
Anna-Lena ergänzt: „Aber es
verändert Menschen, wenn Kultur
gar nicht mehr stattfindet, Häuser
zugesperrt werden müssen und keine
Begegnungsmöglichkeiten mehr
da sind.“ In den Krisenjahren ist
beiden der „Flow abhandengekommen“,
wie sie selber sagen – aber
sie nutzten ihre Strukturen und
Räumlichkeiten und richteten eine
Ausgabestelle und einen Netzwerkpunkt
für Geflüchtete sowie eine
Abstrichstelle für Coronatests ein.
Anna-Lena: „Wir mussten von jetzt
auf gleich umplanen. Aber wir konnten
die Location weiter nutzen – was
auch nicht selbstverständlich ist.“
Ihre eigentliche Arbeit als Kooperationspartner
von local heroes
und wichtiges Netzwerkmitglied
in der Musikförderung Thüringens
mussten sie allerdings erst einmal
auf Eis legen. Johannes:
„Formate sind eingeschlafen – also
zum Beispiel die Bandcamparbeit
oder die ‚Musik durchs Land-Tour‘.“
„Diesen Flow wiederzufinden, erlebe
ich als relativ schwierig“, sagt
Anna-Lena. „So langsam wird es
wieder und wir haben wieder eine
Perspektive für dieses Jahr. Es
ging auch darum, das Profil nachzuschärfen.
Inzwischen ist schon
einiges angestoßen worden“. Wie
zum Beispiel ein Straßenfest. Die
Idee war schon vor der Krise entwickelt
worden und wurde dann zu
einer regelmäßigen Veranstaltung.
„Besonders schön ist, dass sich
die Zusammenarbeit mit der Stadt
Erfurt sehr positiv entwickelt hat“,
so Johannes. Die Landeshauptstadt
liegt schließlich nur wenige
Kilometer von der Bauhaus-Stadt
entfernt. „Sie gab uns zum Beispiel
die Möglichkeit, im Rahmen des
renommierten Krämerbrückenfestes
in Erfurt ein Bühnenprogramm für
Thüringer Nachwuchskünstler:innen
zu gestalten“.
Eine große Veränderung kam auch
dadurch ins Team, dass beide
Teammitglieder hauptamtliche
Jobs annehmen mussten, um wirtschaftlich
überleben zu können.
Johannes ist im medizinischen
Bereich und als Musiklehrer tätig
und nicht mehr mit „100 Prozent
Energie“ für das Ehrenamt da.
So geht es auch Anna-Lena, die
eine hauptamtliche Anstellung
als Kulturmanagerin hat. „Durch
den hauptamtlichen Job habe ich
inhaltlich sehr viel gelernt. Dadurch
habe ich mehr Erfahrung und mehr
Horizont bekommen“, sagt sie.
Für Johannes hat eine Festanstellung
weitere entscheidende
Vorteile: „Du kannst im Ehrenamt
entspannter sein, wenn Du ein festes
Einkommen hast“, sagt er. „Grundbedürfnisse
absichern ist natürlich
wichtig. Gleichzeitig muss man aber
auch den Spagat schaffen, sich in
seinem Hauptjob nicht so auszulaugen,
dass man keine Energie mehr
hat ehrenamtlich aktiv zu sein“.
Die Musikinitiative diePOP Weimar ist seit 2017 für die Musikförderung
in den Bereichen Rock, Pop, Jazz in Thüringen aktiv. Die
Initiative bietet Raum für Netzwerk und Austausch in der Thüringer
Musikszene und ist zugleich Initiatorin, Beraterin und Veranstalterin.
diePOP verbindet die Bereiche Networking, Jugendförderung und
Festival. Sie ist aus dem Saitensprung-Festival hervorgegangen, das
von 2002 bis 2017 in Weimar stattgefunden hat.
Weitere Infos: www.diepop.de
Deshalb hält es Johannes für
dringend, dass es mehr Angebote
für Halb- oder Dreiviertelzeit-Stellungen
gibt. Trotz aller Schwierigkeiten
sind sich Anna-Lena und
Johannes einig: Ohne ehrenamtliche
Aktivität können sie sich ihr
Leben nicht vorstellen. „Ehrenamt
ist ein kreativer Teil meines Lebens“,
sagt Johannes. Für Anna-Lena ist
die Gemeinschaft unverzichtbar:
„Ehrenamt macht für mich aus, dass
wir das als Gruppe, als Gemeinschaft,
machen, denn das Team ist
das, was am Ende das Projekt trägt“.
Und das hat diePOP auch über die
Krisenjahre gebracht.
EHRENAMT IST
EIN KREATIVER TEIL
MEINES LEBENS.
SEITE 39
PORTRAIT | DIEPOP
BILDER: ALESSANDRO DI MARTINO
TEXT: ANGELIKA BLANK
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 40
PORTRAIT | JULIA SCHWENDNER
DIE DOKU-
MENTATORIN
Julia Schwendner FOTOGRAFIN
„Ich begeistere mich für Musik,
Kultur und Menschen“, sagt Julia
Schwendner. Die 40-jährige selbstständige
Fotografin lebt in Hamburg
und ist vielfach ehrenamtlich
engagiert. Aktion Musik / local
heroes e.V. gehört dazu, clubkinder
e.V. in ihrer Wahlheimat sowie
Rap for Refugees e.V. Die Corona-
Pandemie war für sie eine Zäsur.
Aufregend, spannend und schwierig.
Das ist ihre Geschichte…
„Wir arbeiten sehr viel mit Menschen,
machen sehr viele Veranstaltungen,
ob Kultur- oder Musikveranstaltungen,
die brachen vollkommen weg“,
erinnert sich Julia Schwendner an
die Pandemie-Zeit im clubkinder
e.V. zurück. Nicht nur dort sei das
so gewesen, sondern in allen Vereinen,
in denen sie sich engagiert.
„Das war ein Schock für uns alle.“
Es gab keine Veranstaltungen
mehr, über die Spenden generiert
werden konnten. Natürlich gab
es kleine Lichter am Horizont.
Die Kulturförderung, mit all ihren
Fördergeldern und -töpfen, griff –
zumindest partiell. Eine Kardinalslösung
heraus aus der Misere war
sie jedoch nicht. Es braucht mehr.
„Ich habe kürzlich gelesen, dass die
Spendenbereitschaft in Deutschland
so groß ist wie noch nie. Aber
dass sich diese stets sehr auf
Großereignisse konzentriere.“ Die
Konsequenz liegt für sie auf der
Hand: Langfristige und kontinuierliche
Spenden für kleinere Vereine
und Initiativen würden dadurch oft
wegfallen.
DIE CORONA-PANDEMIE HAT JULIA SCHWENDNER GELEHRT: „UM
GLÜCKLICH ZU SEIN, BRAUCHST DU NICHT VIEL.“
Und es werde nicht besser. Denn
es gesellten sich weitere Krisen
hinzu. Energiepreise oder Inflation
seien hier nur exemplarisch
genannt. „Die Menschen haben
nicht mehr Geld zur Verfügung und
deshalb überlegen sie sich genau,
ob und wohin sie das Geld spenden.“
Das wirke sich langfristig auf
die beständige Arbeit in kleinen
Vereinen aus. Clubkinder e.V. ist
einer davon. Rap For Refugees ein
anderer.
Der gemeinnützige Verein wurde
2011 in Hamburg gegründet.
„Unsere Maxime war und ist, dass
wir unsere Stadt ein bisschen besser
machen wollen“, umreißt sie die
Intention. Im Fokus standen zunächst
Projekte in der Stadt, für
die Spenden gesammelt wurden.
Heute ist der Schwerpunkt anders.
„Wir wollen vor allem Menschen zum
Ehrenamt bewegen. Das bedeutet
viel Vernetzungsarbeit.“
Wo wird Hilfe benötigt? Was kann ich tun? Julia Schwendner rät,
sich an Institutionen wie etwa das AKTIVOLI-Landesnetzwerk in
Hamburg zu wenden. „Hier kannst du dich informieren, welche
Initiativen es gibt und welche zum Beispiel einen niederschwelligen
Einstieg anbieten.“ Besonders hilfreich: Einmal im Jahr bringt
die AKTIVOLI FreiwilligenBörse, immerhin die größte Plattform für
bürgerschaftliches Engagement in Norddeutschland, gemeinnützige
Organisationen und Engagementinteressierte zusammen. Dort, aber
auch online, kann zusammenfinden, was zusammenpasst. Klick‘
dich rein und finde dein Match! Info: www.aktivoli-boerse.de
Julia und ihre Mitstreiter:innen
gehen hierfür zum Beispiel an die
„Basis“. Im Rahmen von „clubkinder
Schulen“ werden Schüler:innen
schon früh ans Ehrenamt herangeführt.
Hier werden sie motiviert,
können eigene Projekte entwickeln
und starten. Vorbild bietet der
Verein genug. Ein Beispiel hierfür
ist das Projekt „clubkinder Klang-
Visite“. Mit diesem Projekt in den
Jahren 2020 und 2021 wurde für
Ablenkung und bunte Gedanken
bei Senior:innen und Gäst:innen
verschiedener Einrichtungen in
Hamburg gesorgt. Ein weiterer
positiver Nebeneffekt dieses
Projekts: Die Kulturszene wurde
unterstützt, indem Künstler:innen
eine ordentliche Gage erhielten
und zudem die Möglichkeit bekamen,
so ausgefallene Konzerte zu
kompensieren. Ermöglicht wurde
das mit Hilfe der Klaus und Lore
Rating Stiftung.
EHRENAMT HILFT BEI DER WELT-
SCHMERZBEWÄLTIGUNG, IST
SICH JULIA SICHER. ES SCHAFFT
EIN GEFÜHL DES ZURÜCKGEBENS,
WENN MAN POSITIVES BEWIRKEN
KANN.
Die Nutzer:innen der Angebote
bekommen ein Gefühl für „Ehrenamt“.
Der Verein fördert darüber
hinaus aber auch Geflüchtete und
alte Menschen, er betreibt Umwelt
& Tierschutz, und schließlich auch
Kultur und Musik. So wurden in der
Vergangenheit zum Beispiel mit
„clubkinder Klanglabor“ Auftrittsmöglichkeiten
für junge Künstler:innen
und Bands geschaffen
und in Kooperation mit hiesigen
Medien Musikpreise ausgetragen.
Julia steuerte hierzu einen wichtigen
Preis bei, der im Normalfall
viel Geld verschlingen würde: Ein
Fotoshooting, in dem professionelle
Pressefotos aufgenommen
wurden – essenziell, um sich als
musikalischer Nachwuchs zu präsentieren.
Für die integrativ interkulturelle
Initiative Rap for Refugees begleitet
sie fotografisch verschiedene
Workshops, etwa in den Bereichen
Beatboxing und Tanz. Die Initiative
veranstaltet daneben auch Festivals
und Konzerte. Auch hier ist
Julia mit ihrer Kamera unterwegs.
Ihr Talent kommt aber nicht nur
den Künstler:innen, die sie ablichtet,
zugute, sondern auch den Vereinen
bzw. Initiativen. Ihre Fotos
sind wesentlicher Bestandteil der
Pressearbeit. Sie sorgen für die
nötige Aufmerksamkeit, und bei
Ämtern und Behörden durch eine
Fülle an Anschauungsmaterial für
die notwendige Legitimation.
Corona hat das Tätigkeitsfeld der
Hamburgerin verändert, sagt sie.
„In der ersten krassen Zeit habe ich
Essen an Obdachlose ausgefahren,
die in Hotels untergebracht waren.“
Auch heute ist die Situation nicht
wie zuvor. Ihre Auftragslage als
Selbstständige ist nicht gerade
rosig. Auftraggeber, so ihr Gefühl,
sind zurückhaltender geworden.
SEITE 41
PORTRAIT | JULIA SCHWENDNER
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: NICOLE OPPELT
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 42
PORTRAIT | JULIA SCHWENDNER
Sie stoßen weniger Projekte an, geben
weniger Geld aus. Angst (auch
vor der Zukunft) spiele eine große
Rolle, davon ist Julia überzeugt.
Sie kann das nachvollziehen. „Für
mich war es während der Pandemie
am schwierigsten, Ruhe zu bewahren
und nicht in Panik und Existenzangst
zu verfallen.“
WIR MÜSSEN
DIE MENSCHEN
ZUSAMMEN-
BRINGEN.
Diese Sichtweise hat sie manifestiert.
„Ich glaube sogar, das ist auch
das, was mich immer zum Ehrenamt
hingezogen hat“, sagt sie. „Es ist
das Gefühl, der Gesellschaft ein bisschen
was zurückgeben zu können.“
Und das möchte sie künftig verstärkt
auch so konkret und direkt,
wie zu Pandemie-Zeiten, tun. „Ich
will richtig anpacken – mit direkten
Effekten!“ Für Julia ist klar:
„Der Bedarf an konkreter Unterstützung
und auch Ehrenamt ist
gestiegen.“ Sie sieht jedoch die
Politik – gerade bei der Deckung
von Grundbedürfnissen wie etwa
Hygiene – mehr in der Pflicht. Bis
es soweit ist, kann jeder selbst etwas
tun. Eigeninitiative (auch ohne
Vereinsstruktur) ist gefragt. Es
geht um nicht weniger als uns und
die kommenden Generationen.
DIE BREMER PERLE
Timo Hollmann TONTECHNIKER /
LOKALPATRIOT
Timo Hollmann ist bei Rockbands
beinahe so etwas wie eine Legende.
Roadie, Bühnengehilfe oder
Veranstaltungstechniker – der
49-jährige Bremer ist ein Alleskönner.
Seit mittlerweile rund 30
Jahren ist er in der Livebranche
tätig, als Tontechniker war er
(unter anderem) mit den Söhnen
Mannheims oder Mando Diao auf
Tournee – auch international.
Doch jenseits der „Großen“ bleibt
ihm die lokale Musikszene und
ihre Förderung außerordentlich
wichtig. 2022 gründete er mit anderen
eine Anlauf- und Beratungsstelle
für Musiker:innen – das POP
Office Bremen.
„Da sind wir natürlich auf die Straße
gegangen und haben deutlich
gemacht, dass wir irgendwo hinmüssen“,
erzählt Timo. „Daraufhin
wurde dann damals der Musikszene
e.V. gegründet.“
Die Stadt überließ ihnen Räume in
der Übersee-Stadt. Eine Notlösung,
denn mehrere Bands mussten sich
einen Raum teilen. Das bedeutete:
Nach jeder Probe abbauen, wieder
hochstecken, alles wegpacken,
damit die anderen am nächsten
Tag proben konnten. Es gab kein
öffentliches Geld für eine eigene
Halle – woraufhin die Gruppe entschied,
privat eine solche anzumieten
und sie selbst auszustatten.
Ein Allover-Netzwerk sollte es werden,
mit Übungsräumen, Studios
und Coachings.
Als die Corona-Beschränkungen
begannen, galt es umzudenken.
Die Umsetzung seiner Projekte, wie
z.B. Live In Bremen, gerieten ins
Stocken. Sie starteten „club-100“
– ein flexibles Veranstaltungsprogramm
mit Streaming- und Liveangeboten.
SEITE 43
PORTRAIT | TIMO HOLLMANN
Ihr Leben „on the road“ mit vielen
verschiedenen Projekten war
vorbei. Der anfängliche „Spirit“ des
„Wir halten zusammen“ habe sich
in ihren Augen nicht weitergetragen.
Im Gegenteil:
Sein Geld verdient Timo Hollmann
zwar mit den Großen der Musikbranche,
aber sein Herz schlägt
für seine Heimatstadt Bremen
und ihre lokalen Bands und Clubs.
Timo hatte selbst eine Band, weiß
also sehr genau, wie schwierig es
für kleine Acts ist, in der Branche
Fuß zu fassen.
Für sich selbst kann Julia dennoch
positive Schlüsse ziehen. Im
direkten Kontakt mit Armut und
Obdachlosigkeit sei sie sich ihrer
eigenen Position bewusst geworden.
Sie fühlt sich „privilegiert“.
Sie habe ein Dach über dem Kopf,
einen vollen Kühlschrank und eine
warme Dusche. Und obendrein
Freund:innen und Familie, deren
Unterstützung sie sich sicher sein
kann.
„HIER KANN ICH MICH FREI ENTFALTEN. HIER HABE ICH KEINEN
ALLTAGSSTRESS“, SAGT JULIA SCHWENDNER. ALS PROFESSIONELLE
FOTOGRAFIN STELLT SIE VEREINEN IHR TALENT ZUR VERFÜGUNG UND
DOKUMENTIERT DEREN ARBEIT FOTOGRAFISCH.
2005 war für ihn das Jahr, in dem
er begann, sich auch politisch für
die Interessen der Musiker:innen
einzusetzen. Seine eigene und
ungefähr 60 andere Bands standen
urplötzlich auf der Straße, weil ihre
Proberäume gekündigt worden
waren.
HERAUSFORDERUNGEN GEHÖREN
FÜR TIMO HOLLMANN ZUM
ALLTAG, WIE Z.B. DER GRÜNDUNG
DES BREMER POP OFFICES.
PORTRAIT
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LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 44
PORTRAIT | TIMO HOLLMANN
Die Stadt finanzierte das Projekt
mit zwei Millionen Euro für 40
Streaming-Shows.
Nach dem Ende der Coronakrise
wurde es knapp mit dem Geld. Der
Ukraine-Krieg hatte begonnen und
die Sponsoren – hauptsächlich ein
großer Energieversorger – zögerten
mit Weiterbewilligungen. „Unser
Hauptsponsor muss nun auch
sehr kämpfen“, sagt Timo. Folge:
Live In Bremen musste pausieren.
Parallel wurde die Idee des POP
Offices Bremen vorangetrieben, die
politisch gewollt ist, aber nur mit
einer Finanzierung für ein Jahr planen
kann. „Aber eigentlich müssen
wir für zwei Jahre kalkulieren.“
Wieder galt es einen neuen Weg
einzuschlagen, sich als Wirtschaftsprojekt
zu definieren
„Eigentlich sind wir ja ein Teil der
Musikbranche, insofern ja kommerziell“,
so Timo.
Seit 2022 dient das POP Office Bremen den Popkulturszenen
in Bremen als Schnittstelle für Entwicklung und Vernetzung,
bietet Kooperation und Förderung sowie Informationen über
aktuelle Förderprogramme. Darüber sorgt es für eine Stärkung
der Außendarstellung der Bremischen Musiklandschaft. Die
Zielgruppe des Netzwerks vereint einerseits Musiker:innen,
Produzent:innen, DJs, Bands und Musikschaffende, aber auch
bestehende Netzwerke, Vereine, Verbände und Institutionen.
Weitere Infos: www.popofficebremen.de
„Das erfordert aber eine andere
Kommunikation. Da werden die
wirtschaftlichen Perspektiven sehr
viel schärfer geprüft.“ Dank eines
musikaffinen Sachbearbeiters in
der Wirtschaftsbehörde des Senats
gelang es tatsächlich, Fördergelder
zu bekommen. Die Krise
brachte für Timo noch eine andere
Erkenntnis: Durch den Wegfall von
Großevents bekamen die kleinen
Bands wesentlich mehr Chancen,
aufzutreten. „Sie wurden viel mehr
gesehen. Da wurde deutlich, wie
hoch ihre Qualität ist“, so Timo.
In seiner ehrenamtlichen Tätigkeit
hat sich für Timo wenig verändert.
Er hat sich mehr auf Studioarbeit
verlegt, aber sein Engagement
für kleine Bands ist ungebrochen.
„Für mich geht es weiterhin darum,
die lokalen Bands so gut wie möglich
zu fördern“, sagt er. „Gehör
zu finden ist halt immer noch sehr
schwierig. Machen wir uns nichts
vor, wer kommt nach Udo Lindenberg,
Westernhagen, Herbert Grönemeyer,
wenn die weg sind, wer soll
das übernehmen?“ Hier Nachwuchs
zu befördern, hat Timo Hollmann
sich zur Aufgabe gemacht – trotz
immer wieder neuer Herausforderungen.
DA WURDE
DEUTLICH, WIE
HOCH IHRE
QUALITÄT IST.
TROTZ SEINES JOBS BEI INTER-
NATIONALEN TOURNEEN ENGA-
GIERT SICH TIMO HOLLMANN
INTENSIV FÜR KLEINE BREMER
BANDS.
„DURCH DIE GANZEN UNSICHERHEITEN AUF DER WELT BESINNEN SICH
DIE LEUTE LIEBER AUF MUSIK, DIE SCHON DRAUSSEN IST“, BEDAUERT
LINA BURGHAUSEN.
DIE OPTIMISTIN
Lina Burghausen MEDIEN- UND
MUSIKMANAGERIN / INITIATORIN
VON „365 FE*MALE MCS“
Lina Burghausen, vielen auch
unter dem Namen ihrer PR-Agentur
„Mona Lina“ bekannt, ist eine
taffe Frau. Künstler*innen stärken,
ihnen zu gleicher Wahrnehmung
in einer von Männern dominierten
Szene verhelfen, das ist die Passion
der Musikpromoterin, Journalistin
und DJane. Die Freiberuflerin
ist unermüdlich. Hindernisse, Krisen
– es wirkt so, als ob sie diese
mit Leichtigkeit bewältigt. Doch
die Zeiten ändern sich…
Ihr Terminkalender ist gut getaktet.
Releases, Festivals, PR-Arbeit
noch und nöcher. Dazwischen immer
wieder Luft holen, kreativ sein
(und auch müssen). Lina Burghausens
Leben ist das, was man
als „voll“ bezeichnen würde. Sie ist
Inhaberin einer Musik-PR-Agentur,
sie arbeitet für das Splash Festival
als Brandmanagerin, hat ein Labelprojekt
namens „365XX“, das erste
female Rap-Label Europas, und Ehrenamt
ist ihre Leidenschaft. Seit
2016 ist sie in die Pressearbeit von
local heroes involviert. Regelmäßig
taucht ihr Name im Zusammenhang
mit Vereinsprojekten wie den
BahnhofBeats auf.
IN ERSTER
LINIE BIN ICH
MUSIKFAN.
Und wer überregional über die
Netzwerk-Plattform liest, der kann
sicher sein, die junge Leipzigerin
hat dafür gesorgt, Themen an
unzählige Medienpartner:innen
zu tragen. Ihre 2018 ins Leben
gerufene, ehrenamtliche Blogreihe
„365 fe*male MCs“ ist obendrein
ein Meilenstein (nicht nur) in der
Szene und wurde bereits mit dem
International Music Journalism
Award ausgezeichnet. „In erster
Linie bin ich Musikfan“, sagt Lina
Burghausen bescheiden. Eine
Untertreibung. Denn sie kämpft mit
hohem persönlichem Einsatz für
eine diverse und gleichberechtigte
Welt.
Doch diese Welt wird aus den Angeln
gehoben – und das nicht nur
durch Entwicklungen, die jeglichen
feministischen Anstrengungen
zuwiderlaufen. Es sind Krisen wie
die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg,
aber auch die derzeit
herrschende Inflation, die Lina
Burghausen an die Grenzen ihres
haupt- und ehrenamtlichen Engagements
brachten und bringen.
„Es gibt viele Korrelationen. Ich
arbeite in einer Branche, die durch
die Pandemie heftig durchgeschüttelt
wurde und darauf angewiesen
wäre, dass es einen wirtschaftlichen
Aufschwung gibt. Dass die Menschen
wieder in der Lage sind, Geld
für Kultur auszugeben und dass es
einen Wunsch nach Innovation, nach
Neuigkeiten gibt.“
SEITE 45
PORTRAIT | LINA BURGHAUSEN
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: ANGELIKA BLANK
PORTRAIT
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SEITE 46
PORTRAIT | LINA BURGHAUSEN
Doch das Gegenteil sei der Fall.
„Es ist insgesamt schwieriger geworden,
überhaupt Kapazitäten für eine
ehrenamtliche Tätigkeit zu finden.
Gerade, wenn man freiberuflich tätig
ist oder in einem Bereich arbeitet, in
dem Leute tendenziell von beruflichen
Einschränkungen betroffen
waren. Hier hat man den Wegfall
zum Teil schon sehr gemerkt“, umreißt
sie den Status quo. Bemerkbar
habe sich das vor allem bei
ihrem Projekt „365 Fe*male MCs“
gemacht. Hier sei sie „sehr darauf
angewiesen“, dass es Menschen
gibt, die für diesen Blog schreiben,
illustrieren und vieles mehr. „Am
Anfang der Pandemie war es noch
leicht Unterstützung zu bekommen,
weil die Leute das als Chance gesehen
haben Referenzen in der Musikindustrie
zu sammeln.“
Die fehlenden Kapazitäten sind
jedoch nur eine Seite der Medaille.
Lina Burghausen spricht offen an,
wie es vermutlich vielen geht. Die
Psyche leidet in solchen Zeiten.
Sie bemerkt, wie vielen Menschen
in ihrer Branche die Kraft fehle,
sich „über das normale Maß
hinweg zu engagieren“. Manchmal
gehe es schlicht nur noch darum,
sich „selbst zusammenzuhalten“.
Die bittere Konsequenz:
Und noch schlimmer: Lethargie
macht sich breit. „Es ist wichtig,
dass wir aufeinander aufpassen und
uns gegenseitig den Rücken stärken“,
appelliert sie an ihre Mitmenschen.
Halt und Stabilität hätten ihr vor
allem ihre Partnerschaft und
Freund:innen gegeben, ebenso
wie „Keychange“, ein Netzwerk für
FLINTA*-Personen in der europäischen
Musikbranche, das sehr
viele Vernetzungs- und Austauschangebote
während der Pandemie
geschaffen hat. Doch auch Lina
Burghausen muss mit ihren Kräften
haushalten. Der Überlebensund
auch Kämpferinnenmodus
der Pandemiejahre, in denen sie
sich noch einmal breiter aufgestellte,
um das zu sichern, was sie
sich über Jahre aufgebaut hat, ist
vorbei. Sie hat ihre Prioritäten neu
sortiert und ihre Präsenz deutlich
zurückgeschraubt. Interviews, die
sie gibt, Veranstaltungen, die sie
besucht, all das wählt sie mit Bedacht
aus. Sie möchte den Dingen,
die sie macht, wieder vollends gerecht
werden können.
„Ich habe das große Glück mir die
Menschen, mit denen ich arbeite,
größtenteils aussuchen zu können.
Das sind sehr tolle und auch
sehr verständnisvolle Menschen.“
Gemeinsam mit ihnen kämpft
sie auch für ihr ehrenamtliches
Projekt „365 Fe*male MCs“ weiter.
„Eine der Hauptschwierigkeiten ist
schon immer gewesen, auch vor der
Pandemie, dass es für ein Projekt
wie dieses keine Fördertöpfe gibt.
Es fällt durch, da es kein Verein und
auch keine NGO, aber eben auch
nicht wirtschaftlich ist.“ Alle, die
sich hier engagieren, erhalten kein
Geld.
„Das bedeutet Investment an jeder
Front und auf der anderen Seite ist
das Risiko für alles, was wir inhaltlich
machen, 100 Prozent bei mir.“
Das Thema Kommunikation
habe sich sogar noch verschärft.
„Aktuell liegt der Workload auf den
Schultern von einigen sehr wenigen.
Es ist schwierig, alle abzuholen, zu
verpflichten, aber auch zu sagen:
Wann ist der Punkt, wo wir den
Stecker ziehen, weil es nicht mehr zu
händeln ist?“
Eine Antwort darauf hat sie bislang
nicht. Ihren Optimismus hat sie
sich (nichtsdestotrotz) bewahren
können.
Ihrer Ansicht nach werde sich das
ehrenamtliche Engagement künftig
wieder verstärkt in Richtung „Real
Life“ und weg von Online-Projekten
bewegen. In jedem Fall werde
die Musikindustrie auf ein solches
Engagement angewiesen bleiben.
„Veränderung in der Branche wird
immer zu Teilen aus einem Hobby-/
Ehrenamtskontext kommen“, stellt
sie klar. Und dafür brauche es
„Raum für Menschlichkeit“.
SEITE 47
PORTRAIT | LINA BURGHAUSEN
Mittlerweile hat sich das Blatt
gewendet. Die Bereitschaft ist geschwunden.
Der finanzielle Druck
auf die Musikbranche, in der sie
auch hauptberuflich arbeite, sei
deutlich größer geworden. Die Livebranche
habe sich bislang nicht
von der Pandemie erholen können.
Auch die Recorded-Musikbranche
habe sich gewandelt – und das
nicht zum Vorteil jener, die aktuell
Musik herausbrächten. „Ich merke
an mir selbst, dass ich faktisch gar
keine Kapazitäten mehr für Ehrenamt
habe und dass es vielen anderen, die
sich für solche Projekte engagieren,
genauso geht. Das ist schade und
führt dazu, dass viel wegbricht.“
OHNE UNTERSTÜTZUNG GEHT ES
NICHT: „ICH HABE DAS GROSSE
GLÜCK, DASS ICH IN ALLEN PRO-
JEKTEN, DIE ICH MACHE,
MIT EINEM TEAM ZUSAMMENAR-
BEITE“, SAGT LINA BURGHAUSEN.
GR E
NZ S AITEN
DER PODCAST.
Alles, was du über
Popmusikgeschichte wissen wolltest.
Wirklich alles.
Jetzt streamen!
BILDER: VANESSA SEIFERT
TEXT: NICOLE OPPELT
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SEITE 48
BUSINESS INSIGHTS | KRISE IN DER MUSIKINDUSTRIE
DIE LIVE-BRANCHE
RÜCKT ZUSAMMEN
Michael Schacke GRÜNDER UND
GESCHÄFTSFÜHRER UNDERCO-
VER GMBH / MUSIKER
Michael Schacke kennt die Musikbranche
von der Picke auf. Erste
Konzerte stellen er und sein bester
Freund Dirk Wink-Hartmann schon
in jungen Jahren auf die Beine.
„Do it yourself!“ lautete das Motto
in der niedersächsischen Provinz:
Räume anbieten, Bandfotos
knipsen, Werbematerial entwerfen,
drucken, verteilen aufhängen.
Heute ist er Vollprofi und gehört
zu den erfolgreichsten Veranstaltern
Norddeutschlands. Den Bezug
zur Basis hält er eisern – auch in
schwierigen Zeiten…
„Am direktesten betroffen waren wir
bei Undercover von der Covid-Krise,
die uns ab März 2020 – wie auch
alle anderen Kolleg:innen – vor die
Situation gestellt hat, keine Shows
mehr veranstalten zu können“, erinnert
sich Michael Schacke. Kurz
danach habe Undercover sein rund
30-köpfiges Team in Kurzarbeit
bringen können. Heute, mehr als
drei Jahre später und rund ein
Jahr nach dem Wiederanlaufen
von Veranstaltungen, beschäftige
sie das Thema noch immer. „So
etwas hat es in den über 30 Jahren,
in denen ich diese Firma leite, noch
nicht gegeben. Es war die härteste
Phase seit Jahrzehnten, die uns vor
Herausforderungen gestellt hat, die
es noch nie gab.“ Der Schock sei
bei allen riesengroß gewesen. In
dieser Situation habe jeder erst
einmal bei sich selbst schauen
müssen und versucht, nicht auf
Unsummen an Kosten sitzenzubleiben.
„Doch ob groß oder klein:
Allen in der Branche wurde schnell
klar, dass wir bei dieser Krise gleich
betroffen sind.“
ABSEITS GROSSER BÜHNEN: 2019 WURDE DAS ENGAGEMENT VON
UNDERCOVER IM CLUBBEREICH („EULE UNDERCOVER“) MIT DEM PREIS
„APPLAUS“ DER INITIATIVE MUSIK AUSGEZEICHNET.
Diese Erkenntnis, macht Michael
Schacke deutlich, hatte einen
interessanten Effekt: „Bestehende
Verträge wurden zwar nicht irrelevant,
aber doch zweitrangig, weil der
gesunde Menschenverstand durchaus
Solidarisches an die Oberfläche
gebracht hat.“ Schacke und sein
Team haben mit den betroffenen
Clubs gesprochen und Situationen
individuell ausgelotet. „Wir haben
geschaut, dass wir uns gegenseitig
nicht schaden und dass wir gemeinsam
daran interessiert sind, die
Kosten und den Druck so gering wie
möglich für alle Beteiligten zu halten.“
Die Konsequenz: Die „Lasten“
der Krise wurden auf alle Schultern
gerecht verteilt. Eine positive
Entwicklung, wie Michael Schacke
heute sagen kann.
„Es wurde deutlich, dass es doch
eine Form von Miteinander gibt,
wenn man Schwierigkeiten gemeinsam
erlebt.“ Damals sei es
natürlich anders gewesen. Ängste
und Existenzsorgen standen im
Vordergrund.
Aber das Wichtigste: Die Hoffnung
sei (aufgrund des wellenartigen
Verlaufs) nie ganz verloren gegangen.
„Mittlerweile hat es sich gut
nivelliert. In der Branche haben wir
einen guten Umgang miteinander
gefunden.“
Dem 53-Jährigen ist durchaus
bewusst, dass es nicht allen so
erging. Einige seien leider auch
„unter die Räder“ gekommen, gibt
er zu bedenken. Dass er die Dinge
so gehandhabt hat und gegenwärtig
so einordnen kann, ist sicherlich
auch seiner persönlichen
Historie geschuldet. „Ich komme
aus einem kleinen Dorf [Knesebeck
Anm.d.Red.] und habe mein Leben
lang Newcomer:innen-Arbeit, Clubkonzerte
und Artist Development
gemacht und als wertvoll erachtet“,
sagt er. Noch heute betreibe Undercover
genau das, obschon das
Unternehmen sein Geld mit völlig
anderen Dingen, nämlich großen
Kulturveranstaltungen, verdiene.
„Das ist eine Form von Leidenschaft
und auch Investment in junge
Kultur, in Clubkultur, aber auch in
Forschung und Entwicklung. Und natürlich
in Talentförderung mit allem,
was dazugehört“, beschreibt er die
Intention, unermüdliche Basisarbeit
zu leisten. Am sichtbarsten
wird diese Philosophie – Michael
Schacke nennt es „Grassroots-Arbeit“
– in der seit 2015 bestehenden
Zusammenarbeit mit dem
Braunschweiger Club „Eulenglück“.
„Hier gibt es eine feste Kooperation
namens ‚Eule Undercover‘“, erklärt
Michael Schacke.
In diesem Rahmen werden pro
Jahr zehn bis 20 Konzerte mit
bis zu 199 Besucher:innen veranstaltet.
Der Fokus liegt hier auf
Nischenkünstler:innen und Newcomer:innen,
„die in diesem kleinen
Segment eine Bühne brauchen“.
Schacke und seine Mitstreiter:innen
haben ein gutes Gespür. Denn
einstige Gäste wie "Kytes", "Liedfett",
"Chefboss" oder "Von Wegen
Lisbeth" sind heute im Line-Up
großer Festivals zu finden.
Nach der Corona bedingten
Zwangspause ist seit Sommer
2022 die Braunschweigische
Landessparkasse (BLSK) mit im
Boot. Diese hat sich die Förderung
der Subkultur in der Region auf die
Fahne geschrieben und unterstützt
seither die Konzerte mit. Generell
sind Schacke und seinem Team bei
der Zusammenarbeit mit kleinen
Clubs zwei Dinge wichtig:
Zum einen, dass die Menschen,
die dort arbeiten, anständiges
Geld verdienen. „Und zwar genauso
viel, als würden sie bei einer großen
Show arbeiten.“ Zum anderen sollen
auch die hier auftretenden Künstler:innen
ihre Gage erhalten. Denn
ihr Schaffen habe Wert! Darüber
hinaus ist Undercover auch Tourneeveranstalter
und Bookingagentur.
Und auch hier gilt: Einige unter
Vertrag stehende Künstler:innen
bewegen sich im sogenannten
„Kleinclub-Segment“. „Es ist wichtig,
dass das Teil unserer DNA ist“,
betont Michael Schacke. „Das wird
auch nicht über Bord geworfen.“
Überzeugtes Engagement, das
gemeinsame Erheben der Stimmen,
liegt ihm am Herzen – und
das nicht erst seit Corona. Umso
schöner, wenn dies Früchte trägt
und möglichst viele davon profitieren.
Das Team von Undercover
sieht sich bei all dem jedoch
nicht im Vordergrund. „Wir wirken
im Hintergrund“, stellt Michael
Schacke heraus. Das täten sie
bei Veranstaltungen und auch,
wenn es darum gehe, Position
zu beziehen, zum Beispiel durch
die Auswahl von Künstler:innen
oder Redner:innen. Die vergangenen
Jahre, so sein Fazit, hätten
Bindungen sowohl gestärkt
als auch klarer werden lassen.
Gleichzeitig hätten sie die Fragilität
der Branche zutage gefördert.
Von diesem Eindruck ausgehend
scheint es nun umso wichtiger,
das kulturelle Profil von Städten
und Regionen weiter zu entwickeln
und mitzuprägen. Michael
Schacke und sein Team sind
dabei…
SEITE 49 BUSINESS INSIGHTS | KRISE IN DER MUSIKINDUSTRIE
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: NICOLE OPPELT
PORTRAIT
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LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 50
PORTRAIT | JONAS OCHS
DER
FACKELTRÄGER
Jonas Ochs DIPLOM-PÄDAGOGE /
RAPPER
„Bambärch, bassd scho!“, ruft Jonas
Ochs dem Publikum mit voller
Kraft entgegen. Und man möchte
dem Frontmann der Bamberger
Rap-Combo „Bambägga“ aus voller
Kehle zustimmen. Zumindest im
Mikrokosmos dieser seit 18 Jahren
bestehenden Formation aus
Oberfranken scheint die Welt in
Ordnung. Doch ist sie es wirklich?
Der 38-jährige Familienvater ist
ein umtriebiger Geist und in vielen
Bereichen ehrenamtlich engagiert.
Sich immer wieder auf neue Situationen
einstellen, Krisen meistern
– das gehört für ihn im Beruf und
in seinem musikalischen Hobby
dazu. „Egal, was wir machen, ob es
die ehrenamtliche Arbeit mit Behinderten,
in der Musik, aber auch in
der Organisation von Konzerten oder
Kulturveranstaltungen ist: Das waren
riesengroße Herausforderungen, die
uns immer wieder auf den Prüfstand
gestellt haben“, blickt er auf die
vergangenen Jahre zurück. Pandemie,
Ukraine- und Klimakrise,
Inflation – alle diese Dinge haben
ihn auf verschiedenste Weise und
teils in „extremer Form“ getroffen.
Immer wieder hätten sich seine
Mitstreiter:innen und er gefragt:
„Was wollen wir? Was können wir?
Was ist möglich und wie können wir
kreativ mit den Dingen umgehen, die
wir jetzt als Hürden vor uns haben?“
Insbesondere die Corona-Krise habe
sich eingebrannt, meint er. „Sie hat
dem Kulturbereich, in dem wir viel
ehrenamtlich organisieren, komplett
den Boden unter den Füßen weggezogen.“
„ICH MÖCHTE MIT MENSCHEN IN KONTAKT TRETEN, VON IHNEN
LERNEN, MICH WEITERBILDEN. DAS IST DAS IST MEIN ANTRIEB, MEINE
ENERGIE“, SAGT JONAS OCHS.
In dieser Situation wollten sie als
kleines Kollektiv mit ihrer langjährigen
Erfahrung Vorbild sein und
„ein Stück weit als Fackelträger“
vorweg gehen, um zumindest ein
„kleines Streichholz der Hoffnung“
zu tragen und den Menschen
Mut zu machen. Jonas und seine
Freunde fackelten (im wahrsten
Sinne des Wortes) nicht lange. Sie
gingen nach draußen. „Wir haben
mit 100 Meter Abstand in abgesperrten
Ebenen Outdoor-Konzerte mit
Masken gemacht“, erzählt er. „Wir
haben versucht Streaming-Konzerte
zu spielen. Wir sind zu den Leuten
nach Hause und haben auf Balkonen
gespielt.“
Zu seinen schönsten Erfahrungen
gehört eine kleine Hip-Hop-Konzertreihe
durch Seniorenheime.
Wer jetzt denkt, diese „Welten“
passen nicht zueinander, der irrt.
„Diese Menschen waren zeitweise in
einem Hochsicherheitstrakt und hatten
überhaupt keinen Kontakt mehr
zu Kultur. Also mussten wir genau
dort hin“, erinnert sich Jonas.
Sein Instinkt gab ihm Recht. Die
Freude sei riesig und die daraus
entstandene Euphorie ansteckend
gewesen. Aus einem ersten Experiment
wurde eine ganze Tour.
Diese führte sie zu zahlreichen
Einrichtungen und ließ am Ende
sogar einen Film daraus entstehen.
Möglichkeiten finden und
diese auch ausschöpfen – das ist
in Bamberg gelungen und nach
Meinung von Jonas auch das, was
Ehrenamt ausmacht. Jonas ist
überzeugt, dass so etwas gerade
in der nicht-beruflichen Situation
besser gelingen kann als im Job.
Der Schlüssel ist „Herzblut“. Im
Ehrenamt könnten Dinge mit
„voller Liebe und Hingabe“ angegangen
werden, weil sie eine „sehr
bewusste Entscheidung“ seien.
„Diese Herangehensweise ist hundertprozentig
ehrlich!“ Diese These
trifft im Fall von Jonas und seinen
Mitstreiter:innen vollends zu.
„Krisen spornen mich extrem an. Sie
sind für mich Motivation und lassen
mich ‚out of the box‘ denken“, sagt
er.
Dieser Effekt setze gerade dann
ein, wenn um ihn herum Menschen
aufgeben. „Ich schüttele mich kurz
zwei Tage und dann bin ich Feuer
und Flamme. Krisen zwingen mich,
kreativ zu sein und aus meiner Komfortzone
herauszukommen.“
Die veränderten Rahmenbedingungen
während der Corona-Krise
haben auch ihn vor so manche
Herausforderung gestellt. Scharfe
Auflagen durch Ämter und Behörden
waren aber nur eine Seite der
Medaille. Augenscheinlicher ist für
Jonas eine andere Beobachtung –
bis heute. „Die Menschen scheinen
gefühlt gehetzter. In ihrem Alltag ist
weniger Zeit für Ehrenamt. Einige
vermitteln das Gefühl, es geht auch
ohne – auch ohne Kultur, insbesondere
Musik. Und zu guter Letzt gibt
es jene, die glauben, es geht sogar
ohne Mitmenschen.“ In seinen
Augen sei das eine fatale Entwicklung.
Gerade das Ehrenamt lebe
davon, Dinge gemeinsam zu erschaffen.
„Wenn plötzlich diese Gemeinschaft,
wie etwa in der Coronakrise,
von so viel Skepsis geprägt ist,
dann ist das eine ganz schön große
Herausforderung diesen ‚Spirit‘ am
Leben zu erhalten.“ Die bislang erlebten
Krisen empfindet er daher
als „traumatisierend und bereichernd“
zugleich. „Bereichernd, weil
sich das Mindset geändert hat und
noch mal klarer wurde, was ist mir
eigentlich im Leben wichtig?“ Traumatisierend,
weil Krisen natürlich
auch Angst machen würden. Wie
erkläre ich das meinen Kindern?
Wie wird deren Zukunft aussehen?
Aber auch, wie geht es kurzfristig
weiter? Seine größte Stütze waren
und sind seine Familie und seine
Freund:innen. Sie geben Rückhalt.
Sie bestärken und erden ihn. „Krisen
lassen dich auch klarer in deinen
Gedanken werden“, ist er überzeugt.
Man lernt, wie sehr man sich auf
sich selbst verlassen könne, wie
resilient man sei. „Wer ein Ehrenamt
ausübt, der muss eine stabile
Person sein. Es ist keine Therapie,
sondern eine Überzeugung. Und diese
hat mich über die Jahre wachsen
lassen – eine geniale Selbsterfahrung!“
Sein Blick in die Zukunft ist
optimistisch. „Gerade junge Leute
haben Bock. Sie brauchen lediglich
Ideen. Das ist unsere Aufgabe. Wir
müssen es ihnen vorleben und das,
was sie tun, auch wertschätzen.“
Kleines Budget – große Bühne?
Jonas und seine Crew sind in Bamberg für sogenannte „Pop-up-
Konzerte“ bekannt. Sie treten auf Balkonen, in Kunstwerkstätten
oder in Galerien auf. Das sei eine gute Methode, sich mit wenig
Aufwand und kaum finanziellen Mitteln langfristig eine große Bühne
zu schaffen. Als Künstler:in sei dafür nicht nur das eigene Können
ausschlaggebend. „Das Wichtigste sind Verlässlichkeit, Respekt und
Authentizität“, sagt Jonas Ochs. Er rät, die Dinge selbst in die Hand
zu nehmen und aktiv auf Lokalitäten zuzugehen. Gemeinsam kann
dann überlegt werden, wer aus dem Kollektiv was geben könne.
„Die daraus entstehende Summe ist entscheidend – nicht die Gage oder
potenzielle Einnahmen der Veranstalter:innen.“ Einmal gestartet, könne
das einen echten „Schneeballeffekt“ haben. „Denkt in kleinen Schritten
und nicht in ausverkauften Arenen.“ Der Spirit verbreite sich, ist er
sich sicher. Für „Bambägga“ zahlt sich das so entstandene Netzwerk
seit vielen Jahren aus. Und es trägt sie weiter – zum Beispiel mit
dem Goethe-Institut durch die große, weite Welt.
SEITE 51
PORTRAIT | JONAS OCHS
BILDER: DAVID LEHMANN
TEXT: NICOLE OPPELT
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SEITE 52
PORTRAIT | RESI SCHEUERMANN
EGAL WELCHES GESCHLECHT, ALTER, HERKUNFT, HAUTFARBE, RELI-
GION. RESI WILL BEI FÆMM EINFACH GLEICHBERECHTIGT ARBEITEN
UND SOMIT RÄUME ERSCHAFFEN, IN DENEN JEDE:R WILLKOMMEN IST
UND JEDE:R GESCHÄTZT WIRD.
DIE WEICHENSTELLERIN
Resi Scheuermann PROMOTERIN /
BOOKERIN / BERLINER PFLANZE
Resi kommt aus der Musikszene.
Sie ist seit Jahren Bookerin
und Promoterin im Konzertbüro
Schoneberg und leitet den
Standort Berlin. In der Agentur
arbeitet sie mit Newcomer:innen,
aber auch weltbekannten internationalen
Stars zusammen. In
der Konzertsaison (Frühjahr und
Herbst) betreut sie round about
10 Shows im Monat. Ende Februar
2020, nur zwei Wochen vor dem
ersten Lockdown, launchte sie als
Mitbegründerin die ehrenamtliche
Initiative „fæmm“.
„Fæmm ist ein feministischer Verein
in der Musikbranche mit intersektionalem
und queer feministischem Anspruch.
Wir haben uns auf die Fahne
geschrieben, dass wir FLINTA*-Personen
in der Musikbranche, die hinter,
vor und auf der Bühne arbeiten,
eine Plattform geben werden, egal
wie“, beschreibt die Wahlberlinerin
ihr Herzens-Ehrenamtsprojekt. Als
bunte, gemixte Spielwiese verstehen
Resi und ihre Kolleginnen
ihren Einsatz für die Musikbranche:
„Jede Person, die mitmacht,
kann das machen und ausprobieren,
worauf sie Bock hat.“ Sicherlich
erklärt diese Offenheit und Freiheit
den Erfolg von fæmm. Und
auch die dringende Notwendigkeit:
Einzig die Live-Branche betrachtet,
liegt der Frauenanteil auf deutschen
Festivalbühnen laut einer
Untersuchung der MaLisa-Stiftung
(2022) zur Geschlechtergerechtigkeit
in der Musikbranche weiterhin
bei weniger als 20 Prozent. Auch
die Analysen hinsichtlich Recorded
Music oder Songwriting zeichnen
kein gegenteiliges Bild.
Fæmm versteht sich zwar als ein
deutschlandweiter Verein, alle Ehrenamtlichen
kommen allerdings
aus Berlin – so wie die meisten
Netzwerke und Veranstaltungen,
die von dem Verein ins Leben
gerufen werden. Das soll sich
idealerweise ändern: Die Macherinnen
strecken ihre Fühler aus,
was sie zum Beispiel zur c/o pop
nach Köln oder zum Reeperbahnfestival
nach Hamburg brachte.
„Es war dringend Zeit, dass aus der
ursprünglichen Initiative ‚fæmm‘ ein
Verein wurde“, findet Resi, „damit
auch Leute in Köln, in Hamburg,
vielleicht in Würzburg oder keine
Ahnung in Buxtehude Lust haben,
sich uns anzuschließen. Wir sind
offen für alles, aber momentan sind
wir sehr Berlin based, gerade was
zum Beispiel unsere Bukett Sessions
angeht oder auch die Netzwerktreffen
für FLINTA*-Personen aus der
Branche.“
FLINTA* ist eine Abkürzung und steht für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche,
nichtbinäre, trans und agender Personen. Der angehängte
Asterisk dient dabei als Platzhalter, um alle nicht-binären
Geschlechtsidentitäten einzubeziehen.
Bukett Sessions, damit ist eine
feministische und empowernde
FLINTA-Veranstaltungsreihe von
fæmm und Selective Artists gemeint,
bei denen ein Slot des Line
Ups immer über fæmm verlost
wird. Die Veranstaltungen vereinen
Konzerte und Networking zwischen
Newcomer:innen und Profis.
Das gemeinnützige Potpourri ist
allerdings um einiges größer: Resi
und ihre Kolleginnen veranstalten
nicht nur diverse Sessions,
Stammtische, Panels oder Kooperationen
und Online-Präsentationen
über Instagram, sie haben
auch eine eigene Radioshow, die
von ihrer Kollegin Rike kuratiert
wird: fæmm FM. Jeden zweiten
Donnerstag läuft das Programm,
das sie fæmm.party nennen, von
14 bis 15 Uhr bei Alex Berlin. Die
Sendung setzt sich aus Playlisten
zusammen in denen die Weichenstellerinnen
FLINTA*-Artists präsentieren.
Und da ist noch so viel
mehr in der Mache.
Wenn man Resi zuhört, wie intensiv
und wichtig ihr Ehrenamt bei
fæmm mit all den verschiedenen
Projekten ist, wird einem bewusst,
was für ein Sog ein Ehrenamt auf
die Ausführenden, aber auch auf
die Menschen haben kann, die
Resis Engagement sehr gerne
annehmen. Resi empfindet ihr
Engagement als „eine Zeit, die
ich nicht als Arbeitskraft einsetze,
sondern eben in ein Ehrenamt. Was
mich beim Ehrenamt voranbringt,
sind die Leute, die sich von Herzen
bedanken und das Gute darin sehen,
so wie ich. Das bedeutet mir persönlich
sehr viel. Da geht es um Wertschätzung.“
Ein unverzichtbares Thema im Ehrenamts-
und Kulturbereich ist das
Thema Fördergeld. „Ohne Fördergelder
geht das nicht, da die Vereinsbeiträge
so gering sind, dass man da
nichts mit abdecken kann.“
Ihre Konzertreihen sind immer
noch sehr günstig.
„13 Euro für drei Bands. Das gibt es
heute nur noch mit Förderung. Da
muss man dranbleiben und das ist
nicht immer leicht.“ Resi beobachtet
auch, dass es schwerer wird in
diesen krisengebeutelten Zeiten.
Ukrainekrieg, Inflation, Klimastreik.
„Die Menschen sind mental im
Krieg“, nennt Resi das und glaubt
auch, dass das ein Grund ist,
warum die Menschen keinen Kopf
für ein Ehrenamt hätten. Und dass
auf beiden Seiten. Weniger Zeit
und Kapazität zum Ausüben und
Annehmen gleichzeitig. Dabei kann
Krise immer auch gut sein. Resi
hat festgestellt, dass die Coronazeit
nur in den ersten zwei Monaten
holprig für fæmm war. „Danach
ging es richtig ab. Die Goldenen
Zeiten von ‚fæmm‘ waren das.“
Plötzlich hatten die (Wahl-)
Berlinerinnen Zeit – ihre eigene
Arbeit in der Musikindustrie ruhte
weitestgehend. Sie dachten sich
Onlineformate aus und nahmen
Instagram damit voll in Beschlag.
So entstanden diverse digitale
Interviewformate. Eins davon war
z.B. die Video-Interview-Reihe
„Meet the Icon“ / „Meet the Artist“,
bei der Künstler:innen, aber auch
Frauen vorgestellt worden sind,
die hinter der Bühne arbeiten:
„Von der Tontechniker:in, Booker:in,
Produzent:in, Fotograf:in haben
wir versucht, einfach eine ziemlich
große Reichweite zu erschließen,
weil unser Ziel ist es, Newcomer:innen
zu fördern.“ Bei Resi war es
nämlich zu ihren Schulzeiten nicht
klar, „dass ich vor allem als Frau in
der Musikbranche tätig sein kann.“
Fæmm – und allen voran Resi –
will mit dieser Interviewreihe junge
Personen ansprechen, die durch
das Format Vorbilder im Internet
finden können, um die geschlechterbezogene
Denkweise einzelner
Berufe zu überwinden. Das Engagement
macht Mut, dass sich
mit dieser kraftvollen Stimme in
Zukunft eine Geschlechter-Parität
in der Musikindustrie feststellen
lässt.
SEITE 53
PORTRAIT | RESI SCHEUERMANN
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: ANGELA PELTNER
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 54
PORTRAIT | RIKE JUST
DAS ORGANISATIONS-
TALENT
Rike Just SELBSTÄNDIGE TOUR-
MANGAGERIN / GRÜNDERIN
"WAAL"
Mit Livegrößen wie Leoniden, Roy
Bianco & Die Abbrunzati Boys oder
Giant Rooks auf Tour gehen? Was
für viele wie ein Traum klingt, ist
für Rike Just längst Realität – mit
allen dazugehörigen Höhen und
Tiefen.
Als Tourmanagerin lebt die aus
Magdeburg stammende Rike seit
Jahren in Hamburg. Nach Lehrjahren
bei Landstreicher Booking
machte sie sich 2019 selbstständig
und und begleitete die Kieler
Band Leoniden gleich mal auf 80
Konzerte in wenigen Monaten.
Umso härter traf auch sie die Corona-Krise
– finanziell wie mental.
Doch aus der Not der erzwungenen
Arbeitspause entstand schnell
ehrenamtliches Engagement:
„UNTER SCHWIERIGSTEN BE-
DINGUNGEN, GERADE IN KRISEN-
ZEITEN, KOMMT MEINE KÄMPFER-
NATUR ZUM VORSCHEIN. DANN
SAGE ICH: JETZT ERST RECHT!“
OHNE KRISE
GÄBE ES WAAL
WOHL IN DER
FORM NICHT.
RIKE, WIE KAM ES ZU DEINEM
EHRENAMTLICHEN PROJEKT?
Als ich in der Coronakrise nicht
mehr meinem Job nachgehen
konnte, kam mir die Idee für
Frauen hinter den Bühnen in der
Musikbranche eine Plattform zu
schaffen. In wenigen Tagen habe
ich mit befreundeten Frauen ein
Team zusammengestellt und einen
passenden Namen gefunden:
Wir wollten zum einen Frauen in
der Branche und ihren Werdegang
als positive Role Models zeigen.
Zum anderen wollen wir weiblichen
Nachwuchs und Etablierte vernetzen,
damit der Weg für alle leichter
wird. Denn viele Jobs werden vor
allem durch Empfehlung vergeben
und besonders leitende Positionen
im Veranstaltungsbereich sind
nach wie vor meist männlich besetzt.
WELCHE KRISENBEDINGTEN
HERAUSFORDERUNGEN GAB
ES DABEI?
Uns war wichtig, mit den Personen
face-to-face zu sprechen, nicht
nur online oder telefonisch, damit
wir den Vibe der Person einfangen
können. Interviews und Fotoshootings
deutschlandweit mit Abstandsregelungen
und Tests umzusetzen
war eine Challenge. Dass
wir es trotzdem geschafft haben,
so viele Frauen aus dem Veranstaltungsgeschäft
zu porträtieren
und sichtbar zu machen – da bin
schon stolz darauf.
WIE HABEN KRISEN DEINE
TÄTIGKEIT IN DEN VERGANGENEN
JAHREN VERÄNDERT?
Ohne Krise gäbe es WAAL wohl
in der Form nicht. Ich hatte viel
Zeit zur Reflektion und dem Verarbeiten
von Erlebtem. Denn in
der Musikbranche tätig zu sein,
ist cool, aber erfordert hundert Prozent
Leidenschaft und ist häufig
mit ungesunden Arbeitszeiten und
viel Stress verbunden. Viele haben
während Corona deshalb auch
die Branche gewechselt und ich
bin umso dankbarer über jede, die
noch oder wieder dabei ist.
Vor der Coronakrise habe ich – wie
vermutlich viele andere – jahrelang
ohne Urlaub durchgearbeitet
und bin im Nachhinein etwas froh
über diese erzwungene Pause. Früher
dachte ich, dass ich jeden Job
annehmen müsse - mit unserem
ehrenamtlichen Projekt wollen wir
auch andere Kolleginnen besser
darauf vorbereiten und unterstützen,
die richtige Balance zu finden.
ZUSAMMEN MIT FREUNDINNEN
UND IHRER SCHWESTER HAT RIKE
ANFANG 2020 WE ARE A LOT
GEGRÜNDET.
WELCHE ÄNDERUNGEN SPÜRST
DU IN DEINEM EHRENAMT?
Seitdem wir wieder richtig auf Tour
gehen können, bleibt natürlich
weniger Zeit für WAAL. Vor allem
ist es viel schwerer, gemeinsame
Termine zu finden, weil alle wieder
viel unterwegs sind. Denn am Ende
müssen alle ihr Geld verdienen
und können sich meist nur zwischendurch
die Zeit für das Projekt
freischaufeln. Also gilt es auch
hier, die richtige Balance zu finden,
denn nachdem die Livebranche
letztes Jahr wieder richtig angelaufen
ist, nimmt die Arbeit viel
Raum ein und das Ehrenamt leidet
darunter.
WIE PLANST DU IN DER
ZUKUNFT DEIN ENGAGEMENT
EINZUSETZEN?
Aktuell planen wir Videoformate,
bei denen wir z.B. eine Tourmanagerin
einen Tag lang durch
eine Produktion begleiten. Wir
wollen noch mehr Blicke hinter
die Kulissen ermöglichen und so
mehr Frauen dafür begeistern. Bei
allem Zauber ist das Livegeschäft
ja keine Raketenwissenschaft und
wir wollen mit unnötigen, elitären
Vorurteilen aufräumen. Außerdem
würden wir gerne noch mehr Austausch
ermöglichen, z.B. durch
Vermittlung von Hospitationen.
Da gibt es tolle Formate in England
wie „Women in Music“, bei
denen Interessierte in Abläufe von
Veranstaltungen reinschnuppern
können, so genanntes „shadowing“.
Wenn wir das in Deutschland
vermitteln könnten, wäre das
ein toller Schritt, um mehr Frauen
in die Branche zu holen.
SEITE 55
PORTRAIT | RIKE JUST
BILDER: CHRISTOPH EISENMENGER
TEXT: TOM VOGELSANG
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
SEITE 56
EIN RÜCKBLICK VON CHRISTOPH EISENMENGER
DER NACHKLANG.
DAS KONZEPT. DIE
REISE. DAS FAZIT.
Christoph Eisenmenger FOTOGRAF
„Ehrenamt ist tausendmal krasser
als ein scheiß Praktikum!“ Die
Erkenntnis von Christoph Eisenmenger
nach intensiver Tour durch
Deutschland könnte prägnanter
nicht sein. Anfang 2023 hat er sich
erneut auf den Weg gemacht, um
die unterschiedlichsten Menschen
und ihre inspirierenden Geschichten
für die nun vorliegende zweite
Ausgabe des Ehrenamtsmagazins
einzufangen. Die Begegnungen
haben ihn bewegt, inspiriert und
zum Nachdenken gebracht…
Die Gelegenheit kam unverhofft.
Und um ehrlich zu sein: Kaum
einer der Beteiligten hatte so
kurz nach dem Erscheinen von
„Heldentaten“ im Jahr 2021 damit
gerechnet. So auch Christoph
Eisenmenger. Hinter den Kulissen
einer Produktion in Dessau um den
Jahreswechsel 2022/2023 herum
erfuhr er zwischen einem Shooting
mit Afrob und Mia. von der
nächsten „Mission“. „Das war echt
aufregend“, erinnert sich Christoph
an eine vor Freude strahlende Julia
Wartmann, die sich zuvor im Stillen
um die Förderung einer zweiten
Auflage bemüht hatte. „Meine
ersten Gedanken: Was machen wir
überhaupt? Welches Thema wollen
wir angehen? Und wie schaffen
wir das?“ Und obendrein: Nur gut
sechs Monate Zeit für die Entstehung
eines umfangreichen Magazins.
Das ist auch unter optimalen
Bedingungen nicht viel.
„Ehrenamt in Zeiten der Krise“
– der Entschluss im Kernteam,
welches auch diesmal unter der
Ägide von Dr. Ole Löding wissenschaftlich
begleitet wurde, war
schnell gefasst. Unsicherheiten
hätten dennoch bestanden, so der
erfahrene Fotograf. Zwar sei das
ein Thema, das viele betreffe, aber
wurde darüber nicht schon genug
geschrieben? Gibt es den einen
roten Faden? Und: Ist die Definition
von „Krise“ nicht für jeden eine
andere? Es galt, die ursprüngliche
Idee nachzujustieren und dabei
auch über den eigenen Tellerrand
zu blicken. Das bedeutete unter
anderem: Nicht – wie noch in der
ersten Ausgabe – „nur“ im direkten
Umfeld von local heroes nach
Menschen Ausschau halten, die
etwas zu erzählen haben. Und vor
allem, mindestens ein redaktionelles
„Gleichgewicht“ zwischen
den Geschlechtern herzustellen
– darin hätten die Hauptaufgaben
in den ersten Wochen bestanden,
so Christoph, dem gerade dieser
Punkt sehr wichtig war.
Die Ausgangsposition für die nun
vor allen liegende Zeit hatte sich
jedoch geändert. Das Team hatte
aus den Erfahrungen der ersten
Ausgabe gelernt. „Die Startschwierigkeiten
von damals waren weg. Wir
wussten jetzt, wie wir Prozesse über
alle Ebenen einer solchen Produktion
optimieren können. Das hat vieles
vereinfacht.“
Bereits Ende Februar 2023 fand
sich Wahl-Hamburger Christoph
alias Titus in seinem Auto und
damit auf Tour wieder. „Der Anfang
war echt holprig“, gesteht der
Freiberufler. Das in seinem Kopf
schon fertige Magazin war noch
lange nicht im Einklang mit seinen
ersten Gesprächen, die er wohlweislich
mit Personen führte, die
er bereits sehr gut kannte.
„Am Anfang wusste ich – trotz gut
konzipiertem Fragebogen – wirklich
nicht: Wo geht die Reise hin.“
Schnell kristallisierte sich für ihn
aber heraus: „Im Kern war jede
Persönlichkeit, die ich interviewt und
fotografiert habe, von den großen
Krisen betroffen. Allerdings wurden
diese unterschiedlich für sich selbst
bewertet.“
Die Konsequenzen seien daher
breit gefächert gewesen. „Viele Gesprächspartner:innen
haben Krisen
dazu bewogen, über ihr Leben und
auch Erfahrungen – insbesondere
während der Corona-Pandemie –
nachzudenken und neue Einordnungen
vorzunehmen.“ Erfahren habe er
sowohl intime als auch Dinge, die
jeden beträfen. Und noch ein Aspekt
habe ihn überrascht. „Im Vorfeld
habe ich mir natürlich Gedanken
über die Themen gemacht, die die
jeweiligen Gesprächspartner:innen
wohl anschneiden werden. Ich gestehe,
ich hatte nie Recht“, erzählt
er schmunzelnd.
„ICH HABE ERFAHREN: IM EHREN-
AMT KANN ICH – UNABHÄNGIG
VON FINANZEN UND AUSBILDUNG
– SACHEN MACHEN, DIE ICH
NOCH NIE GEMACHT HABE“, SO
DER EINDRUCK VON CHRISTOPH,
DER SICH SELBST SEIT RUND 20
JAHREN ENGAGIERT.
Auch fotografisch gestaltete sich
die Arbeit anders als im Zuge der
ersten Ausgabe mit ihren sehr
offenen, klaren und strukturierten
Bildern. Christoph macht sich im
Vorfeld viele Gedanken über sein
Gegenüber und die Darstellung.
Vielleicht zu viel, wie er zugibt.
„Am Anfang wollte ich die Menschen
möglichst einheitlich, in einem ‚cleanen‘
Umfeld portraitieren, um eine
Art Neutralität zu haben“, sagt er.
„Das hat überhaupt nicht funktioniert.“
Auf der anderen Seite wollte
er die Personen so „intim wie
möglich“ bei sich zuhause oder
im Arbeitsumfeld bzw. am Ort des
Schaffens ablichten. Dieser Gedanke
fruchtete und führte ihn letztendlich
zu den unterschiedlichsten
Locations. „Die Bilder sollen zeigen,
wie es hinter den Kulissen aussieht.
Entsprechend stark ist das persönliche,
enge Umfeld eingeblendet und
die Beleuchtung zu großen Teilen
sehr hart. Der Betrachter soll sich in
das Bild hineinversetzen können und
erkennen, dass nicht alles perfekt
ist, aber man sich trotzdem wohlfühlen
kann.“ Das sei für ihn auch ein
Grundsatz im Ehrenamt.
„Auch wenn etwas nicht perfekt ist,
birgt es dennoch Potenzial.“ Christophs
Bilder zeigen das echte
Leben: Ein bisschen verrückt und
ein bisschen improvisiert!
Fokus Sozio- und Musikkultur?
Es geht weit darüber hinaus!
Nun ist Christophs Trip zu Ende.
Doch er „schwingt“ nach. „Ausnahmslos
jedes Interview hat auch
mich zur Selbstreflexion angetrieben
und oftmals auch emotional berührt.
Es gab viel mehr Reibungspunkte
und Dinge, die im Gespräch an die
Oberfläche gekommen sind. Letztlich
hat mich diese Reise inspiriert,
selbst etwas Positives zu tun.“
Christoph war also nicht bloß
Interviewer und Fotograf. Seine
Deutschland-Tour für das Ehrenamtsmagazin
hat ihn – anders als
beim ersten Mal – selbst ein Stück
weitergebracht. Bei jedem Gespräch
habe er aufs Neue gespürt,
„dass Ehrenamt wirklich erfüllend
sein kann“.
In den Interviews sollten zunächst
Soziokultur und natürlich die Musikbranche
im Vordergrund stehen.
Zu kurz gegriffen! Denn die Menschen
entwickeln sich angesichts
von Krisen offenbar über dieses
spezielle Feld hinaus und betätigen
sich, teils bis heute, in ganz
anderen Bereichen. „Das hat uns
die Augen geöffnet“ und letztlich
nicht nur die Auswahl der Gesprächspartner:innen
beeinflusst,
sondern auch die „Macher:innen“
hinter den Magazin-Kulissen.
Von diesen neuen Perspektiven
und Tätigkeitsfeldern zu erfahren
sei sehr erfrischend und auch ein
Ansporn gewesen, sich außerhalb
der Musikbranche zu engagieren,
so Christoph. „Ich habe auf dieser
Reise so tolle, neue Sachen kennengelernt,
von denen ich vorher noch
nie gehört hatte. Das war richtig
krass!“
SEITE 57
EIN RÜCKBLICK VON CHRISTOPH EISENMENGER
BILDER: ROBIN SCHMIEDEBACH
TEXT: NICOLE OPPELT
SEITE 58
PORTRAIT
BUSINESS INSIGHTS
DEEPER KNOWLEDGE
LOCAL HEROES
IHR SPIELT DIE MUSIK.
DAS MAGAZIN
Mein Sachsen-Anhalt.
Mein LOTTO.
IMPRESSUM
IMPRESSUM
DAS VORLIEGENDE MAGAZIN ENTSTAMMT AUS DER FEDER DES
PROJEKTES „LOCAL HEROES“.
HERAUSGEBER
Aktion Musik / local heroes e.V.
Altperverstraße 23
29410 Salzwedel
T 03901 477 288
M kontakt@local-heroes.de
W www.local-heroes.de
GESCHÄFTSFÜHRERIN
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REDAKTION
Nicole Oppelt [Ltg.]
Angelika Blank
Rubi Murugesapillai
Dr. Ole Löding
Angela Peltner
Tom Vogelsang
Julia Wartmann
REDAKTIONSASSISTENZ
Christoph Eisenmenger
Jennifer Scholl
Dr. Anja Wartmann
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Madeleine Maros | iammaed.de
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JUNI 2023
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Beiträge geben nicht unbedingt
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Local heroes bedankt sich bei
allen Interviewpartner:innen und
Gastautor:innen für die offenen
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sowie bei allen Engagierten für den
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und wichtigen gemeinnützigen
Einsatz.
LOTTO
fördert.
Jeden Tag fließen rd. 19.000 Euro
von LOTTO Sachsen-Anhalt an
gemeinnützige Projekte im Land.
JUNI 2023