PIPER Reader Frühjahr 2024
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Von der Seite her werfe ich Anna einen Blick zu. Was<br />
nun, heißt das, und sie versteht mich.<br />
»Weiter unten ist noch eine Pflanzung«, erklärt sie.<br />
»Da müssen wir jetzt hin. Die Beregnungsanlage anstellen<br />
und all das.«<br />
»Willst du ... die Feuer löschen?«<br />
Lachend manövriert sie den Traktor in einem Halbkreis<br />
aus dem Hain auf die Straße. «Im Gegenteil.<br />
Feuer und Nässe schützen die Blüten. Die Beregnung<br />
ist günstiger, aber hier am Hang kann nicht gepumpt<br />
werden, deshalb gehen nur die Frostöfen. Es gab Jahre,<br />
da hat der Spätfrost ganze Ernten kaputtgemacht. Gerade<br />
hier oben am Berg kann es besonders haarig werden.<br />
Du wirst es gleich sehen. Es ist ein ausgeklügeltes<br />
System. Wir müssen mit dem Traktor die Pumpanlage<br />
in Gang setzen, die pumpt das Grundwasser in<br />
die Höhe, und die Beregnungsanlage verteilt es dann<br />
kreisförmig über die Bäume und Blüten.«<br />
In ausgeklügelten Systemen hat alles seinen Platz und<br />
seine Bestimmung. Nichts ist zu viel und nichts zu<br />
wenig. Was will sie dann mit mir?<br />
Stunden später sitze ich noch immer neben Anna in<br />
der Fahrerkabine des Traktors und schaue der Sonne<br />
dabei zu, wie sie langsam über die Berge steigt. Es war<br />
eine lange Nacht mit viel Arbeit. Reihe um Reihe sind<br />
wir die Apfelplantage immer wieder abgefahren. Die<br />
Öfen brauchten ständig frisches Holz. Die Beregnung<br />
Storm. Die Sprinkler mussten geprüft werden, die<br />
Schläuche knickfrei sein. Und all das haben wir für ein<br />
paar winzige Knospen und Blüten gemacht.<br />
Ganz am Anfang gibt Anna mir eine kratzig verfilzte<br />
Decke, die ich mir über die Beine legen kann, einen alten<br />
Arbeitsparka für die Schultern und eine dicke Mütze.<br />
»Seit 1900 ungefähr blüht das Obst immer früher«,<br />
ächzt sie ein wenig später und schließt die Schelle um<br />
einen dicken Wasserschlauch. Eine große Hilfe bin<br />
ich nicht. Aber vielleicht tut es schon gut, jemanden<br />
zu haben, mit dem man reden kann, einfach so. »Im<br />
Schnitt zwei Wochen, allein seit 1980. Und weil es<br />
DAS GEHEIMNIS<br />
EINES GUTEN<br />
APFELS LIEGT<br />
IMMER IN DER<br />
BLÜTE, UND<br />
WENN DIE HIN<br />
IST, IST NICHTS<br />
MEHR ZU<br />
MACHEN.<br />
weniger Schnee gibt, selbst in den Höhenlagen, erwärmt<br />
sich der Boden früher und lockt die Vegetation<br />
aus dem Winterschlaf. Doch der Zeitraum, in dem es<br />
zu Spätfrost kommen kann, hat sich nicht verschoben.<br />
Das kann bis in den Mai rein passieren und ganze<br />
Ernten vernichten. Dann kannst du dir den Rest<br />
des Jahres die Hände wund rackern und bist am Ende<br />
doch die Gelackmeierte. Das Geheimnis eines guten<br />
Apfels liegt immer in der Blüte, und wenn die hin ist,<br />
ist nichts mehr zu machen.« Sie richtet sich auf und<br />
begutachtet ihr Werk. Unter dem Wasserdruck bläht<br />
sich der Schlauch auf, kurz darauf ertönt ein rhythmisches<br />
Rauschen, als die Beregnungsanlage ihre Arbeit<br />
aufnimmt. Bis zu uns stieben winzige Tropfen. Sie legen<br />
sich als eisiger Film auf meine Haut.<br />
»Es ist eine Wissenschaft für sich«, sagt sie, zurück auf<br />
dem Traktor. »Jetzt müssen wir wieder hoch, gucken,<br />
dass die Öfen nicht ausgehen.« Meine Finger sind steifgefroren,<br />
trotz der Decke und des Parkas klappern meine<br />
Zähne. An Anna scheint das alles vorbeizugehen.