PIPER Reader Frühjahr 2024
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SANAM MAHLOUDJI<br />
EINFÜHRUNG<br />
Hemmungen, sie auch zu äußern Die Erzählung<br />
entstand, kurz nachdem Trump zum Präsidenten<br />
gewählt worden war. Ich hatte eine riesige Wut auf<br />
Amerika und fragte mich, was das Schlimmste war,<br />
was einer Person wie Shirin zustoßen konnte. Welches<br />
Ereignis hätte das Potenzial, sie und die Menschen<br />
um sie herum für immer zu verändern? Die<br />
übrigen Figuren entstanden dann um diesen Zwischenfall<br />
herum. Außerdem spukte da noch das<br />
Bild einer Frau mit Sonnenbrille in meinem Kopf<br />
herum, die ihre Kinder mit dem Cabrio von der<br />
Schule abholt und auf dem Rücksitz zwängt. Sie<br />
war eine Version meiner Großmutter, die vielleicht<br />
das Leben führte, das ich mir für sie gewünscht<br />
hätte. So entstand Elizabeth.<br />
Eine Zeitlang bezweifelte ich, ob ich, die ich mich<br />
nicht gerade für eine authentische Iranerin hielt,<br />
überhaupt ein Buch über Iraner schreiben konnte.<br />
Diese Unsicherheit machte mich nur noch wütender.<br />
Schließlich lag es nur am soziopolitischen<br />
und von mir unbeeinflussbaren Weltgeschehen,<br />
dass ich mich so von meiner Vergangenheit und<br />
Geschichte entfremdet hatte. 2017 zog ich mit<br />
meiner Familie nach London, und ich glaube, das<br />
verschaffte mir die nötige physische und emotionale<br />
Distanz, um dieses Buch schreiben zu können.<br />
Damals begriff ich, dass ich genau wie die Millionen<br />
von anderen Menschen bin, die tausende Kilometer<br />
und Generationen von ihrer Vergangenheit<br />
getrennt sind – und dennoch Geschichten ihrer<br />
Herkunft konstruieren. Diese Konstrukte sind<br />
wichtig. Sie sind es wert, erzählt zu werden. Eine<br />
Mischung aus historischen Tatsachen, Fantasien,<br />
einem kosmischen Gefühl, zusammengesetzt aus<br />
aufgeschnappten, halb verstandenen Geschichten –<br />
daraus setzt sich unsere Vergangenheit zusammen,<br />
und die Geschichten, die wir weitertragen. Bita<br />
ist der Typ Iranerin, als den ich mich selbst sehe.<br />
In ihr habe ich meine Angst davor, nicht authentisch<br />
genug zu sein, hinterfragt. Vielleicht habe ich<br />
durch sie sogar mit meinen Zweifeln Frieden geschlossen.<br />
Ich weiß nur, dass das Schreiben des Romans<br />
mich mir selbst nähergebracht hat. Ich kann<br />
den Iran genauso wenig in mich hineinimplementieren,<br />
wie ich die USA aus mir herausschneiden<br />
kann.<br />
Weil Die Perserinnen ein Familiendrama ist, liegt<br />
es natürlich nahe, auch über meine eigene Familie<br />
zu sprechen. Gleichzeitig will ich nicht zu viel<br />
von mir selbst in die Diskussion um dieses Buch<br />
einbringen – denn obwohl mir diese Figuren alle<br />
sehr ans Herz gewachsen sind, sind sie nicht meine<br />
echte Familie. Der Roman erzählt eine fiktive Geschichte.<br />
Wie so viele Familien, die große Umwälzungen<br />
erleben mussten, spricht auch meine nur<br />
wenig über ihre Vergangenheit. Das spezifische<br />
Leid meiner Familie lässt sich für mich nur schwer<br />
fiktionalisieren. Und obwohl auch uns die Revolution<br />
auseinandergerissen hat, bin ich selbst nicht<br />
mit einem Koffer voll faszinierender Geschichten<br />
aufgewachsen. Besonders auf die wirklich belastenden<br />
fehlt mir der Zugriff. Und doch habe ich<br />
etwas geerbt. Die Herausforderung bestand darin<br />
herauszufinden, was. Welche Geschichten will<br />
ich erzählen, weil ich so bin wie ich bin und weil<br />
ich herkomme, wo ich herkomme? Warum habe<br />
ich Heimweh nach einem Ort, an den ich mich gar<br />
nicht erinnere? Warum wäre ich bereit, so gut wie<br />
alles aufzugeben, um dorthin zurückzukehren?<br />
Diesen Text im Herbst 2022, während der größten<br />
Aufstände im Iran seit der Revolution von 1979,<br />
zu überarbeiten, war eine überaus emotionale Erfahrung,<br />
und obwohl ich keinen Roman über die<br />
Revolution geschrieben habe, kann ich ihr wohl<br />
doch nicht entkommen.