13.10.2023 Aufrufe

PIPER Reader Frühjahr 2024

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

48<br />

SANAM MAHLOUDJI<br />

EINFÜHRUNG<br />

Hemmungen, sie auch zu äußern Die Erzählung<br />

entstand, kurz nachdem Trump zum Präsidenten<br />

gewählt worden war. Ich hatte eine riesige Wut auf<br />

Amerika und fragte mich, was das Schlimmste war,<br />

was einer Person wie Shirin zustoßen konnte. Welches<br />

Ereignis hätte das Potenzial, sie und die Menschen<br />

um sie herum für immer zu verändern? Die<br />

übrigen Figuren entstanden dann um diesen Zwischenfall<br />

herum. Außerdem spukte da noch das<br />

Bild einer Frau mit Sonnenbrille in meinem Kopf<br />

herum, die ihre Kinder mit dem Cabrio von der<br />

Schule abholt und auf dem Rücksitz zwängt. Sie<br />

war eine Version meiner Großmutter, die vielleicht<br />

das Leben führte, das ich mir für sie gewünscht<br />

hätte. So entstand Elizabeth.<br />

Eine Zeitlang bezweifelte ich, ob ich, die ich mich<br />

nicht gerade für eine authentische Iranerin hielt,<br />

überhaupt ein Buch über Iraner schreiben konnte.<br />

Diese Unsicherheit machte mich nur noch wütender.<br />

Schließlich lag es nur am soziopolitischen<br />

und von mir unbeeinflussbaren Weltgeschehen,<br />

dass ich mich so von meiner Vergangenheit und<br />

Geschichte entfremdet hatte. 2017 zog ich mit<br />

meiner Familie nach London, und ich glaube, das<br />

verschaffte mir die nötige physische und emotionale<br />

Distanz, um dieses Buch schreiben zu können.<br />

Damals begriff ich, dass ich genau wie die Millionen<br />

von anderen Menschen bin, die tausende Kilometer<br />

und Generationen von ihrer Vergangenheit<br />

getrennt sind – und dennoch Geschichten ihrer<br />

Herkunft konstruieren. Diese Konstrukte sind<br />

wichtig. Sie sind es wert, erzählt zu werden. Eine<br />

Mischung aus historischen Tatsachen, Fantasien,<br />

einem kosmischen Gefühl, zusammengesetzt aus<br />

aufgeschnappten, halb verstandenen Geschichten –<br />

daraus setzt sich unsere Vergangenheit zusammen,<br />

und die Geschichten, die wir weitertragen. Bita<br />

ist der Typ Iranerin, als den ich mich selbst sehe.<br />

In ihr habe ich meine Angst davor, nicht authentisch<br />

genug zu sein, hinterfragt. Vielleicht habe ich<br />

durch sie sogar mit meinen Zweifeln Frieden geschlossen.<br />

Ich weiß nur, dass das Schreiben des Romans<br />

mich mir selbst nähergebracht hat. Ich kann<br />

den Iran genauso wenig in mich hineinimplementieren,<br />

wie ich die USA aus mir herausschneiden<br />

kann.<br />

Weil Die Perserinnen ein Familiendrama ist, liegt<br />

es natürlich nahe, auch über meine eigene Familie<br />

zu sprechen. Gleichzeitig will ich nicht zu viel<br />

von mir selbst in die Diskussion um dieses Buch<br />

einbringen – denn obwohl mir diese Figuren alle<br />

sehr ans Herz gewachsen sind, sind sie nicht meine<br />

echte Familie. Der Roman erzählt eine fiktive Geschichte.<br />

Wie so viele Familien, die große Umwälzungen<br />

erleben mussten, spricht auch meine nur<br />

wenig über ihre Vergangenheit. Das spezifische<br />

Leid meiner Familie lässt sich für mich nur schwer<br />

fiktionalisieren. Und obwohl auch uns die Revolution<br />

auseinandergerissen hat, bin ich selbst nicht<br />

mit einem Koffer voll faszinierender Geschichten<br />

aufgewachsen. Besonders auf die wirklich belastenden<br />

fehlt mir der Zugriff. Und doch habe ich<br />

etwas geerbt. Die Herausforderung bestand darin<br />

herauszufinden, was. Welche Geschichten will<br />

ich erzählen, weil ich so bin wie ich bin und weil<br />

ich herkomme, wo ich herkomme? Warum habe<br />

ich Heimweh nach einem Ort, an den ich mich gar<br />

nicht erinnere? Warum wäre ich bereit, so gut wie<br />

alles aufzugeben, um dorthin zurückzukehren?<br />

Diesen Text im Herbst 2022, während der größten<br />

Aufstände im Iran seit der Revolution von 1979,<br />

zu überarbeiten, war eine überaus emotionale Erfahrung,<br />

und obwohl ich keinen Roman über die<br />

Revolution geschrieben habe, kann ich ihr wohl<br />

doch nicht entkommen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!