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Leseprobe_Schlag_ins weiße meer der schrift

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Evelyn <strong>Schlag</strong><br />

<strong>ins</strong> <strong>weiße</strong> <strong>meer</strong> <strong>der</strong> <strong>schrift</strong><br />

GEDICHTE


<strong>ins</strong> <strong>weiße</strong> <strong>meer</strong> <strong>der</strong> <strong>schrift</strong>


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von<br />

Evelyn <strong>Schlag</strong><br />

<strong>ins</strong> <strong>weiße</strong> <strong>meer</strong> <strong>der</strong> <strong>schrift</strong>. gedichte<br />

Hollitzer Verlag, Wien 2024<br />

Umschlag: Nikola Stevanović<br />

(Foto: Frozen Sea, iStock)<br />

Satz: Daniela Seiler<br />

Hergestellt in <strong>der</strong> EU<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© HOLLITZER Verlag, Wien<br />

www.hollitzer.at<br />

ISBN 978-3-99094-195-9


Evelyn <strong>Schlag</strong><br />

<strong>ins</strong> <strong>weiße</strong> <strong>meer</strong> <strong>der</strong> <strong>schrift</strong><br />

gedichte


ein kirschenlied hat<br />

zwei bügel<br />

sprichs dahinter<br />

sprichs davor.<br />

am ohr.<br />

5


im krieg


erste<strong>ins</strong>atz<br />

ein verwundeter soldat auf einem<br />

notbett, drei männer stehen mit mir<br />

um ihn herum. einer hat ein größeres<br />

problem bei seinem gummihandschuh.<br />

mit solchen fingernägeln bleibst du<br />

stecken! rückzug! rückzug! jetzt!<br />

<strong>der</strong> zweite kamerad (im grauen<br />

mantel) ist geschickter. bei dem passt<br />

alles auf den millimeter. königsblau<br />

ist sein op-handschuh, <strong>der</strong> gummi<br />

ziemlich sicher unterfüttert – <strong>der</strong><br />

und sein handschuh sind ein an<strong>der</strong>es<br />

kaliber. welches! gute frage. rang=<br />

abzeichen braucht so einer nicht.<br />

er ist mir nicht geheuer, kapiert?<br />

<strong>der</strong> verwundete liegt auf dem<br />

rücken, nackter oberkörper, sein<br />

mund wie todesoffen. die augen<br />

sind geschlossen – o<strong>der</strong> sieht das<br />

jemand an<strong>der</strong>s? seine hand ruht<br />

(ruht ist gut) in einer nierenschale<br />

auf dem flachen bauch. sie gehört<br />

noch ihm, ist noch nicht abgetrennt.<br />

ein blutiges gemisch aus fleisch<br />

9


und knochen. reichlich ungenau,<br />

das geht jetzt aber nicht genauer.<br />

fleisch wie in „menschenfleisch“,<br />

okay? ein mann in schwarz mit grauer<br />

mähne – soll das vielleicht ein arzt<br />

sein? – dreht die gequetschte hand<br />

in form. platziert die finger so wie<br />

sie … gleich muss ich – – – WOAAAHH!<br />

woaaahh! haarscharf daneben – – –<br />

das ist ein vollbluttrickster! <strong>der</strong> hat<br />

bestimmt mehr follower als gesund<br />

ist. und jede menge weiber. klar.<br />

10


letzter auftritt<br />

die alte dame steht allein auf einer<br />

großen bühne und hält das publikum<br />

in bann. sie hat noch kein wort gesagt.<br />

nichts regt sich alles wartet. man<br />

kennt die stimme aus dem radio<br />

und von den großen rollen ihres fachs.<br />

ihr kostüm ein kühner paletot mit<br />

weitem kragen, darunter das wickelkleid<br />

einer modebewussten frau.<br />

das bühnenbild – „ein wohnblock in<br />

ruinen“ – hat keinem techniker eine<br />

schlaflose nacht bereitet. verlangt<br />

war: fenster aus den rahmen sprengen,<br />

leitungen freilegen und lianengleich<br />

zum nachbarn knüpfen o<strong>der</strong> im freien<br />

baumeln lassen. drei rippen vom heizkörper<br />

sind genug, <strong>der</strong> nikotinfarbene<br />

schaumstoff kann bleiben wo er ist,<br />

in spalten und zwischenräumen.<br />

ein paar duschkabinen dürfen sich<br />

am abgrund halten. spricht nichts<br />

dagegen. da wurden viele tropfende<br />

hemden aufgehängt und – wie nennt<br />

man das – die kleine unterwäsche.<br />

11


wie lange sie da noch stehen wird,<br />

erstarrt im schreck? alles umsonst<br />

gewesen. das stück ist abgesetzt.<br />

12


verlust<br />

je mehr ich von dir weiß liebster –<br />

deinen wein, deine nacht, o<strong>der</strong><br />

wann du eine bestimmte menge<br />

sprengstoff zu einem treffpunkt<br />

bringen sollst – desto mehr steigt<br />

meine angst vor einem hinterhalt.<br />

muss vier immer eine gerade zahl<br />

sein, ein veilchen <strong>der</strong> feind eines<br />

flie<strong>der</strong>s? lässliche farbbezeichnung,<br />

schon steigt die fehlerquote – die<br />

verluste. ich will nicht dass du ein<br />

verlust wirst! liebster … es gab heute<br />

54 auf unserer seite. alle verloren.<br />

bis wohin muss ich zählen bis es dein<br />

körper in einem <strong>weiße</strong>n sack ist?<br />

manchmal sehne ich mich nach<br />

dem vorkrieg – im „vorkrieg“ lagen<br />

wir als kleine schlachthasen im halb=<br />

schatten. das war liebe. bei vielen<br />

sogar die liebe ihres lebens. (wenn<br />

du stirbst – ist das <strong>der</strong> tod meines<br />

lebens) … sauschlechtes wetter.<br />

<strong>der</strong> laser sieht nichts mehr. dann<br />

ist <strong>der</strong> himmel fort. wenn auch dein<br />

name verschwindet gebe ich dir einen<br />

neuen und lege ihn auf deine brust.<br />

13


das haus meiner tante<br />

ich wollte unbedingt dorthin.<br />

zwei kameraden nahmen<br />

mich auf ihrem urlaub mit.<br />

wir wussten nicht was<br />

uns erwartete. das dorf war<br />

erst vor kurzem wie<strong>der</strong> frei.<br />

ihre familien – beide hatten<br />

kin<strong>der</strong> – waren seit beginn des<br />

kriegs in polen. ich hatte nur<br />

die tante. ich dachte dass sie<br />

jetzt für uns geme<strong>ins</strong>am<br />

eine tante sein könnte.<br />

ich lieh sie ihnen gerne als<br />

zeichen meines dankes. sie<br />

überlebt bei einer schwägerin.<br />

„sprich schön“ sagt sie. schön<br />

sprechen. im krieg. wir suchten.<br />

alles weg bis auf die narben<br />

eines sockels. hier stand ihr<br />

haus mit einem grünen windrad<br />

in das ich meinen finger steckte<br />

um es anzuhalten. die bank<br />

auf <strong>der</strong> die tante saß und ihr<br />

gemüse putzte … alles weg.<br />

14


wir haben hier nichts mehr zu<br />

suchen. meine tante weiß noch<br />

alle plätze und verstecke. sie<br />

sagt „ich könnte hineingehen“.<br />

15


nadiya<br />

er hatte sich heimlich entfernt<br />

am himmel war kein mond<br />

eine glanzlose nacht ohne nacht<br />

ein rätselhaftes nichts zu dem<br />

es kein gegenstück gab<br />

er suchte nach seinen eltern<br />

vielleicht war er schon verwaist<br />

hatte nichts mehr zu gewinnen<br />

gerne hätte er die kindheit mit<br />

einer jüngeren schwester geteilt<br />

sie hätten sich frisuren aus stroh<br />

gemacht und verstecken gespielt<br />

bis einer zu weinen anfing<br />

hätten im badezimmer gestritten<br />

und die handtücher angezündet<br />

er wollte sich an den blauen tag<br />

erinnern als die sonnenblumen<br />

noch auf ihre ernte warteten<br />

und nicht schwarz waren nicht<br />

verkohlten zeugen glichen!<br />

… sollte es doch nacht bleiben jetzt<br />

und alle tage! blindgänger und die<br />

ganze nicht explodierte munition!<br />

es gab nicht die geringste hoffnung.<br />

warum verlangte man kin<strong>der</strong>n das ab?<br />

16


evakuierung<br />

bis zuletzt hatte sie sich<br />

geweigert war jedesmal<br />

zurückgegangen wenn die<br />

helfer sie lockten<br />

keiner wusste ob sie noch<br />

einmal kommen würden<br />

o<strong>der</strong> ob das endgültig<br />

<strong>der</strong> letzte versuch war<br />

sie trug die katze halb<br />

über <strong>der</strong> schulter<br />

mit dem rücken zu<br />

den vordringenden<br />

was war da unter ihren<br />

füßen das mit ihr recht<br />

behalten wollte – ihre<br />

beine schwer und zu dick<br />

lange würden die pillen<br />

nicht mehr reichen dann<br />

könnte sie in <strong>der</strong> erde<br />

versinken das ganze<br />

schwere gewicht ihres<br />

lebens würde immer<br />

noch schwerer werden<br />

<strong>der</strong> boden – leichter<br />

17


egal ob er gefroren war<br />

sie hatte das gewusst<br />

aber erst jetzt fasste sie<br />

fuß in ihrer ihrer natur<br />

18


ortsangabe<br />

kein wort über unsere position!<br />

er durfte endlich telefonieren.<br />

wie geht es dir? die stimme seiner<br />

mutter klang ihm fremd – viel älter<br />

und so rauh. bist du verletzt?<br />

nur am bein. sie umarmte ihn mit<br />

einem stöhnen das einem mann<br />

gehören konnte nicht seiner weichen<br />

blumenmutter. wo bist du? fragte<br />

seine fremde mutter und vergaß<br />

zum dritten mal den namen ihres<br />

sohnes. an keinem ort, mama.<br />

19

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