Neurath, Deutschland, 5. 7. 2005
Neurath, Deutschland, 5. 7. 2005
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„Wenn du die Wildnis verdrängt hast,<br />
hast du auch die Wildheit in dir getötet.“<br />
INTERVIEW mit Kalle Lasn,<br />
Gründer der Adbusters<br />
Media Foundation<br />
18<br />
ACT: Ihr Buch, das soeben aktualisiert<br />
auf Deutsch erschien, stammt<br />
aus dem Jahr 1999. Sie kündigen<br />
darin eine Kulturrevolution an. Sind<br />
Sie sechs Jahre später immer noch<br />
so optimistisch?<br />
K. L.: Ja und Nein. Einerseits sind<br />
viele Dinge schlimmer geworden, im<br />
Umweltbereich oder bei der Bevormundung<br />
durch Medien und Konzerne.<br />
Auf der anderen Seite sind<br />
überall so viele kreative Ansätze<br />
von Widerstand zu spüren, das lässt<br />
hoffen.<br />
ACT: Es gibt heute nicht mehr viele,<br />
die von Revolution sprechen.<br />
K. L.: Ich glaube, dass Desillusionierung<br />
die Saat für eine Kulturre-<br />
volution ist. Ich kann<br />
nicht garantieren,<br />
dass die Saat aufgeht,<br />
aber ich bezweifle, dass die Ernüchterung<br />
noch steigerbar ist. Revolutionen,<br />
vor allem Kulturrevolutionen,<br />
haben so ein Momentum. Wenn man<br />
an das Apartheid-Regime in Südafrika<br />
denkt oder an die Sowjetunion:<br />
Es kann sich alles sehr schnell ändern.<br />
Ich habe mein ganzes Leben<br />
gedacht, dass mein Geburtsland<br />
Estland auf eine Art verloren ist und<br />
vielleicht irgendwann mal in ferner<br />
Zukunft unabhängig wird, aber<br />
niemals, dass ich das noch erlebe.<br />
Und dann, plötzlich, im Jahr 1989<br />
hat sich was geändert, Estland war<br />
frei, und die Geschichte hat mir eine<br />
Lehre erteilt.<br />
ACT: Sie meinen, die Revolution<br />
kommt aus der Ernüchterung – aber<br />
braucht es für radikale Veränderungen<br />
nicht eher Leid?<br />
K. L.: Natürlich, aber während die<br />
Menschen in der Dritten Welt zum<br />
Teil wirklich noch an Hunger, Kälte<br />
oder mangelnder Medizin leiden,<br />
geht es in der Ersten Welt um ein<br />
mentales Leiden. Das ist nicht weniger<br />
gefährlich oder provokativ.<br />
Wenn ein großer Teil der Bevölkerung<br />
an Depressionen leidet, an<br />
Angstattacken oder an Einsamkeit,<br />
wenn ein Teenager in der Schule<br />
zehn Menschen erschießt, wenn<br />
die Menschen einfach immer verrückter<br />
werden, dann ist das auch<br />
nicht auszuhalten. Ich denke nicht<br />
an eine Revolution wie die russische,<br />
wo Menschen auf der Straße<br />
kämpfen. Ich denke eher an einen<br />
Paradigmenwechsel, an eine globale<br />
Verschiebung in den Köpfen.<br />
Plötzlich ändern die Menschen ihr<br />
Essverhalten, singen andere Lieder,<br />
ihre Einstellung gegenüber Produkten<br />
und Konzernen ändert sich, ein<br />
„... ich war immer Außenseiter.<br />
So habe ich gelernt, zurückzukämpfen.“<br />
paar Gesetze ändern sich, das Konsumverhalten<br />
ändert sich, und schon<br />
haben wir eine Kulturrevolution. Es<br />
kann auf viele Arten geschehen.<br />
ACT: Adbusters ist sehr US-lastig.<br />
Was ist mit Europa?<br />
K. L.: Es ist der einzige Ort, der im<br />
Moment die intellektuelle, ökonomische<br />
und kulturelle Kraft hätte,<br />
gegen Amerika aufzustehen. Aber<br />
irgendwie fehlt es an Bewegung<br />
und Willenskraft, als ob Europa ein<br />
wenig zu bequem wäre.<br />
ACT: Woran könnte das liegen?<br />
K. L.: Vielleicht daran, dass sich die<br />
Menschen in Europa 2.000 Jahre<br />
lang an die Gurgel gegangen sind,<br />
und jetzt wollen sie einfach nur ihre<br />
Ruhe haben. Europa ist nicht bereit,<br />
wieder die Führung zu übernehmen.<br />
Ein anderer Grund könnte sein, dass<br />
es in Europa nicht mehr genug Na-