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Meine Lehrer in Zürich und Trogen

Mein Schulalltag vor einem halben Jahrhundert

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<strong>Me<strong>in</strong>e</strong> <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> <strong>und</strong> <strong>Trogen</strong><br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Der Autor 1<br />

E<strong>in</strong>leitung 2<br />

Die <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong><br />

Vorwort 6<br />

Schorsch I 11<br />

Bohni 18<br />

Marxer 22<br />

Roth 27<br />

Dorigo 29<br />

Egli 31<br />

Frank 34<br />

Blattfuss 37<br />

Aerni 41<br />

Oetiker 43<br />

Arm<strong>in</strong> 46<br />

Keller 51<br />

Der Monsieur 68<br />

Gemmi 72<br />

Voser 75<br />

Nachwort 86<br />

Die <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong><br />

Vorwort 88<br />

Guschti 104<br />

Schorsch II 109<br />

Aeschlimann 116<br />

Sulz 122<br />

Durisch 126


Flade 130<br />

Der Engel 135<br />

Köbi 137<br />

Zeno 140<br />

Doktor Stilfibel 147<br />

Bartli 151<br />

Pieps 157<br />

Zwischenspiel 165<br />

Tobi 183<br />

Bouton 188<br />

Kasi 196<br />

Der Progressive 206<br />

Schwarz 215<br />

Fufu 219<br />

Heihei 222<br />

Specker 229<br />

Handsch<strong>in</strong> 234<br />

Juon 240<br />

Die Drohne 254<br />

Doktor Am 262<br />

Schmuh 266<br />

Der Philosoph 271<br />

Bölleli 275<br />

Rasu 290<br />

Fässler 296<br />

Knall 305<br />

Remo 319<br />

Satan 323<br />

Der Boss 327<br />

Nachwort 339


Der Autor<br />

Ich wurde im Jahr 1953 <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> geboren. Me<strong>in</strong> Vater war e<strong>in</strong><br />

Schweizer <strong>und</strong> me<strong>in</strong>e Mutter e<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>n<strong>in</strong> - me<strong>in</strong> Vorname, der<br />

genau Hans bedeutet, weist darauf h<strong>in</strong> -, aber ich b<strong>in</strong> nach ihrer<br />

frühen Scheidung abseits von ihnen an verschiedenen Orten<br />

der Kantone <strong>Zürich</strong> <strong>und</strong> Appenzell aufgewachsen. Den<br />

Familiennamen Stump habe ich von e<strong>in</strong>em nordbadischen<br />

Urgrossvater, der irgendwann zwischen 1870 <strong>und</strong> 1885 <strong>in</strong> die<br />

Schweiz e<strong>in</strong>gewandert <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> hängen geblieben ist.<br />

1


E<strong>in</strong>leitung<br />

Ich bekenne offen, dass die Idee, e<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerungsbuch über<br />

me<strong>in</strong>e ehemaligen <strong>Lehrer</strong> zu verfassen, nicht von mir stammt.<br />

Da ist mir schon vor mehr als e<strong>in</strong>em halben Jahrh<strong>und</strong>ert der<br />

bekannte Autor Ernst Heimeran zuvorgekommen, der von 1902<br />

bis 1955 lebte <strong>und</strong> se<strong>in</strong> Büchle<strong>in</strong> "<strong>Lehrer</strong>, die wir hatten", das<br />

ziemlich populär <strong>und</strong> beliebt wurde, sogar <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em eigenen<br />

Verlag druckte. Da jedoch seitdem nach me<strong>in</strong>em Wissen im<br />

ganzen deutschen Sprachraum niemand mehr e<strong>in</strong> solches<br />

Buch verfasst hat, das den Schulalltag im Rückblick vor allem<br />

von der humoristischen Seite beleuchtet, <strong>und</strong> ich mich schon<br />

vor vielen Jahren mit dieser Idee befasst habe, f<strong>in</strong>de ich es an<br />

der Zeit, dass wieder e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> solches Buch ersche<strong>in</strong>t.<br />

Immerh<strong>in</strong> habe ich mit Ernst Heimeran geme<strong>in</strong>sam, dass wir<br />

beide e<strong>in</strong> Gymnasium besucht haben, das uns nachhaltig<br />

geprägt hat, <strong>und</strong> dass wir beide <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Epoche lebten, die<br />

unseren Schulalltag durch e<strong>in</strong>en grossen Krieg bee<strong>in</strong>flusst hat.<br />

Während Heimeran den Ersten Weltkrieg auch <strong>in</strong> München zu<br />

spüren bekam, erlebte ich den Vietnamkrieg mit - natürlich nicht<br />

so direkt <strong>und</strong> deutlich wie er, aber dieser Krieg bee<strong>in</strong>flusste<br />

damals die ganze Weltpolitik <strong>und</strong> kam uns auch deshalb so<br />

nahe, weil dieser Krieg der erste war, der über das Fernsehen<br />

praktisch frei Haus <strong>in</strong> die Wohnstuben übertragen wurde.<br />

Zudem war es auch das erste Jahrzehnt mit vielen politischen<br />

Unruhen <strong>und</strong> Strassenschlachten sowie die Epoche des<br />

Beg<strong>in</strong>ns e<strong>in</strong>er Rauschgiftwelle, die noch bis heute nicht verebbt<br />

ist. Ich erwähne das deshalb, weil diese Umwälzungen für die<br />

ältere <strong>Lehrer</strong>schaft, die noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit aufgewachsen war,<br />

als noch alles se<strong>in</strong>e Ordnung zu haben schien, e<strong>in</strong> echter<br />

Schock waren, <strong>und</strong> das hat sich auch auf unseren Schulalltag<br />

ausgewirkt.<br />

Im Gegensatz zu Ernst Heimeran habe ich nicht nur e<strong>in</strong><br />

Gymnasium besucht, sondern deren zwei, die sich vone<strong>in</strong>ander<br />

2


so unterschieden wie der Tag von der Nacht. So war es<br />

geradezu s<strong>in</strong>nbildlich, dass ich das erste, von dem ich alle<br />

<strong>Lehrer</strong> vorstelle, die ich dort hatte, dann besuchte, als die<br />

"idyllische" Vergangenheit - jedenfalls aus Schweizer Sicht - die<br />

Schule noch stark prägte, <strong>und</strong> das zweite dann, als der<br />

Vietnamkrieg <strong>und</strong> die erwähnten politischen Unruhen praktisch<br />

e<strong>in</strong> Teil der Schule waren.<br />

Obwohl die meisten heute nicht mehr unter uns weilen, halte ich<br />

es für besser, gerade jene, mit denen ich mich weniger gut<br />

verstand, nicht mit dem vollen Namen zu erwähnen, damit es<br />

ke<strong>in</strong>e diplomatischen Verwicklungen gibt. Fast alle dieser<br />

<strong>Lehrer</strong> haben K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Enkelk<strong>in</strong>der h<strong>in</strong>terlassen, die noch<br />

heute natürlich mit Adleraugen darüber wachen, dass über ihre<br />

Väter <strong>und</strong> Grossväter nichts Schlechtes geschrieben wird, aber<br />

das wäre gar nie me<strong>in</strong>e Absicht gewesen. Insgesamt kam ich<br />

mit den <strong>Lehrer</strong>n sowieso viel besser aus als mit e<strong>in</strong>em Teil der<br />

Schüler, obwohl ich abgesehen vom Turnen nie zu den Besten<br />

gehört habe.<br />

Dagegen kann ich enthüllen, dass ich diese beiden Gymnasien<br />

<strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> <strong>und</strong> im appenzellischen <strong>Trogen</strong> besucht habe. Das zu<br />

erwähnen halte ich auch deshalb für richtig, weil all jene, die<br />

mich damals kannten <strong>und</strong> noch heute leben - <strong>und</strong> nach me<strong>in</strong>em<br />

Wissen wohnen <strong>und</strong> arbeiten die meisten immer noch <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> der näheren Umgebung -, die Möglichkeit erhalten<br />

sollen, e<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerungsbuch über die <strong>Lehrer</strong> zu lesen, die zum<br />

Teil auch die ihren waren. Zudem spielt noch mit, dass mehrere<br />

<strong>Lehrer</strong> vom zweiten Block waschechte Appenzeller waren, was<br />

sie auch dann nicht verbergen konnten, wenn sie <strong>in</strong> der<br />

deutschen Hochsprache redeten. Warum das nicht zu<br />

unterschätzen war, werde ich noch zeigen.<br />

E<strong>in</strong>es soll von vornhere<strong>in</strong> klargestellt werden: Dieses Buch soll<br />

genauso wie bei Ernst Heimeran nur e<strong>in</strong>e möglichst<br />

humoristische Aufarbeitung des grössten Teils me<strong>in</strong>es<br />

3


Gymnasium-Alltags se<strong>in</strong>, ohne dass irgendjemand verletzt<br />

werden soll. Nach so vielen Jahrzehnten - <strong>und</strong> jetzt erst recht,<br />

da die meisten von uns, die noch leben, schon im offiziellen<br />

Ruhestand s<strong>in</strong>d oder kurz davor stehen - kann über fast alles<br />

sowieso nur noch geschmunzelt <strong>und</strong> zum Teil sogar gelacht<br />

werden. Das betrifft nicht nur den Schulalltag, sondern auch<br />

den Wehrdienst, über den es damals noch hiess, er tue jedem<br />

jungen Mann gut, <strong>und</strong> der <strong>in</strong>direkt auch unsere Schule<br />

bee<strong>in</strong>flusste. Heute ist es fast nicht mehr bekannt, dass es <strong>in</strong><br />

der <strong>Trogen</strong>er Schule noch bis zum Ende der Sechzigerjahre<br />

Vorschrift war, dass die Burschen e<strong>in</strong> obligatorisches Schiessen<br />

absolvierten, damit sie auf die RS, also auf die spätere<br />

Rekrutenschule, wie der Gr<strong>und</strong>wehrdienst <strong>in</strong> der Schweiz noch<br />

heute heisst, vorbereitet werden konnten. Ich habe das im Jahr<br />

1969, dem letzten Jahr, als dieses Obligatorium bestand,<br />

gerade noch miterlebt, <strong>und</strong> zwar an e<strong>in</strong>em Mittwochnachmittag,<br />

an dem wir sonst schulfrei hatten. Immerh<strong>in</strong> kann ich<br />

vermelden, dass me<strong>in</strong> allererster Schuss direkt <strong>in</strong>s Schwarze<br />

traf, aber nur dieser <strong>und</strong> nachher ke<strong>in</strong>er mehr.<br />

Nur e<strong>in</strong> Jahr später wurde dieses Obligatorium abgeschafft,<br />

aber vergessen habe ich diese erste Erfahrung mit e<strong>in</strong>em<br />

Gewehr im Alter von nicht e<strong>in</strong>mal sechzehn Jahren nie. Zudem<br />

gab es auch noch uniformierte Kadetten, die fast um die gleiche<br />

Zeit aufgehoben wurden, aber bei diesen war e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>tritt nicht<br />

obligatorisch. Das wäre sowieso die Angelegenheit me<strong>in</strong>er<br />

Eltern gewesen, weil ich noch m<strong>in</strong>derjährig war <strong>und</strong> deshalb ihr<br />

E<strong>in</strong>verständnis gebraucht hätte, aber ob ich selbst, der zwar<br />

immer gern militärisch redete - das ist noch heute e<strong>in</strong><br />

Markenzeichen von mir - <strong>und</strong> trotzdem mit allem Militärischen<br />

nicht viel anfangen konnte, damit e<strong>in</strong>verstanden gewesen wäre,<br />

wage ich noch heute zu bezweifeln.<br />

Noch bevor me<strong>in</strong>e Gymnasialzeit so richtig anlief, fanden im<br />

gleichen Monat <strong>in</strong>nerhalb von wenigen Tagen zwei<br />

Schlüsselereignisse statt, die ich gerade auch wegen me<strong>in</strong>es<br />

4


uchstäblich neuen Lebens nie vergessen habe. Kurz<br />

ausgedrückt: Der e<strong>in</strong>e g<strong>in</strong>g <strong>und</strong> der andere kam. Wer g<strong>in</strong>g oder<br />

genauer verschied, war der ehemalige B<strong>und</strong>eskanzler Konrad<br />

Adenauer, der trotz aller Kritik halt doch der wichtigste Mann<br />

beim Aufbau der neuen B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland gewesen<br />

war. Wie es e<strong>in</strong> Journalist treffend schrieb, g<strong>in</strong>g mit se<strong>in</strong>em<br />

Ableben auch die Zeit e<strong>in</strong>er gewissen <strong>in</strong>neren Beschaulichkeit<br />

zu Ende. Kurz darauf begannen gleich e<strong>in</strong>em bösen Omen die<br />

ersten schweren Unruhen auf den Strassen, die bis heute nie<br />

mehr verebbt s<strong>in</strong>d. Wer kam oder genauer geboren wurde, war<br />

der erste Sohn der damaligen Kronpr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong> Beatrix der<br />

Niederlande. Aus dem Bündel, das sie damals <strong>in</strong> den Armen<br />

hielt, ist e<strong>in</strong> stattlicher Mann von 190 Zentimetern Körpergrösse<br />

geworden, der heutige König Willem-Alexander.<br />

Damit können wir uns jetzt endgültig mehr als e<strong>in</strong> halbes<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert zurückversetzen <strong>und</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en damaligen<br />

Schulalltag e<strong>in</strong>tauchen.<br />

5


Die <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong><br />

Vorwort<br />

Ich weiss nicht mehr mit Sicherheit, bei welchem <strong>Lehrer</strong> ich<br />

me<strong>in</strong>e erste St<strong>und</strong>e hatte, aber ich er<strong>in</strong>nere mich noch an e<strong>in</strong>es<br />

gut: Es zeigte sich sogleich, dass <strong>in</strong> dieser Schule immer noch<br />

der Geist von 100 <strong>und</strong> 150 Jahren zurück wehte: Wie auf e<strong>in</strong><br />

Kommando, das jedoch niemand gegeben hatte, standen wir<br />

alle immer respektvoll auf <strong>und</strong> setzten uns erst wieder, als der<br />

Professor sich zuerst gesetzt hatte. Das war nur der Anfang von<br />

dem, was ich später noch unzählige Male tun musste: Jedes<br />

Mal, wenn jemand aufgerufen wurde, musste er auch dann<br />

aufstehen, wenn er nichts zu sagen wusste - das traf bei mir<br />

meistens zu -, <strong>und</strong> jedes Mal, wenn e<strong>in</strong> Schüler freiwillig etwas<br />

sagen wollte, musste er ebenfalls aufstehen. Das war noch e<strong>in</strong>e<br />

Sitte, die es <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em zweiten Gymnasium nicht mehr gab,<br />

<strong>und</strong> ich brauchte dort mehrere Wochen, bis ich mich<br />

umgewöhnt hatte, aber dazu komme ich später.<br />

Das zweite Merkmal, das dieses Gymnasium vom zweiten<br />

unterschied, war die Tatsache, dass es bei uns ke<strong>in</strong>e<br />

gemischten Klassen gab. Wir waren also alle nur Buben,<br />

Knaben oder Jungs - je nach Standpunkt - <strong>und</strong> konnten uns<br />

nicht e<strong>in</strong>mal annähernd vorstellen, dass wir e<strong>in</strong>mal zusammen<br />

mit Mädchen <strong>in</strong> die gleiche Klasse gehen würden. Es gab zwar<br />

nicht allzu weit von uns e<strong>in</strong> Mädchen-Gymnasium, das im alten<br />

Geist von anno dazumal noch als e<strong>in</strong>e Töchterschule<br />

bezeichnet wurde, aber wir hatten ke<strong>in</strong>en Kontakt zu ihnen.<br />

Trotzdem wussten wir natürlich vone<strong>in</strong>ander, aber wir erfuhren<br />

nie, dass damals für beide Schulen noch zwei Spezialwörter <strong>in</strong><br />

Gebrauch waren, doch immer weniger. E<strong>in</strong> paar Jahrzehnte<br />

später, als ich zeitweise als e<strong>in</strong> Taxifahrer für Beh<strong>in</strong>derte<br />

arbeitete, bekam ich e<strong>in</strong>en Kontakt zu e<strong>in</strong>er älteren Frau, die<br />

gerade diese Töchterschule besucht hatte. Von ihr erfuhr ich<br />

diese beiden Namen: Während unsere Schule „Lümmelburg“<br />

6


genannt wurde, was ich noch halbwegs hätte nachvollziehen<br />

können, wurde die Mädchenschule als „Affenkasten“<br />

bezeichnet. Auch diese Frau wusste nicht, woher dieser Name<br />

stammte, als ich sie fragte, aber ich kann es mir noch heute so<br />

erklären, dass dieses Schulhaus, das noch heute steht, von<br />

unten tatsächlich an e<strong>in</strong> solches Gehäuse er<strong>in</strong>nert, wenn man<br />

vom weltbekannten Bellevueplatz die Rämistrasse h<strong>in</strong>aufgeht.<br />

Ich war also nur von Buben, Knaben oder Jungs umgeben, was<br />

mich noch nicht störte, weil ich damals mit me<strong>in</strong>en erst<br />

dreizehne<strong>in</strong>halb Jahren zu Mädchen noch ke<strong>in</strong>en richtigen<br />

Kontakt fand. Dafür konnte sich diese Schar von fast dreissig<br />

Leuten sehen lassen: Die meisten waren Söhne von Ärzten,<br />

Rechtsanwälten, Pfarrern, Zahnärzten <strong>und</strong> Professoren aller<br />

Art, <strong>und</strong> die meisten kamen von dem, was als gutes Haus<br />

bezeichnet wurde. Die Mehrheit stammte vom rechten<br />

<strong>Zürich</strong>seeufer, das noch heute als Goldküste bezeichnet wird,<br />

die zum grössten Teil von gutbetuchten Familien bewohnt war.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs hat mir vor nicht allzu langer Zeit e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>heimischer<br />

anvertraut, dass auch sie immer mehr auf den Geldbeutel<br />

schauen müssen, weil die Häuser <strong>in</strong> ihren Geme<strong>in</strong>den von<br />

immer mehr schwerreichen Arabern, Ch<strong>in</strong>esen <strong>und</strong> Russen<br />

aufgekauft werden. E<strong>in</strong> paar wenige wohnten auf dem<br />

<strong>Zürich</strong>berg, der noch heute ebenfalls als e<strong>in</strong>e gute Adresse gilt,<br />

obwohl er verkehrstechnisch e<strong>in</strong>e schwierige Gegend ist - so ist<br />

es noch heute lebensgefährlich, wenn e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den<br />

K<strong>in</strong>dergarten oder <strong>in</strong> die Schule geht, so dass immer e<strong>in</strong>e<br />

erwachsene Person dabei se<strong>in</strong> muss -, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er wohnte <strong>in</strong><br />

We<strong>in</strong><strong>in</strong>gen im Limmattal, e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dorf <strong>in</strong> der Nähe des<br />

Greifensees <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er sogar <strong>in</strong> Stäfa <strong>in</strong> der Nähe von<br />

Rapperswil. Damit hatte dieser zwar den weitesten Schulweg,<br />

aber wegen der besseren Verkehrsverb<strong>in</strong>dungen dauerten<br />

se<strong>in</strong>e Fahrten nicht so lange wie bei dem, der <strong>in</strong> der Nähe des<br />

Greifensees wohnte <strong>und</strong> nur mit e<strong>in</strong>em Bus reisen konnte. Auch<br />

von Uetikon bei Meilen, das als e<strong>in</strong> Arbeiterdorf an der<br />

Goldküste galt - das gab es wirklich, die heute still gelegten<br />

7


Fabriken weisen darauf h<strong>in</strong> -, wurden drei unserer Klasse<br />

zugeteilt, dagegen ke<strong>in</strong>er aus Erlenbach zwischen Küsnacht<br />

<strong>und</strong> Herrliberg, dem anderen Arbeiterdorf. Es spricht jedoch für<br />

sich, dass dieses genauso wie Uetikon im Vergleich zu den<br />

reicheren Nachbargeme<strong>in</strong>den viel kle<strong>in</strong>er ist <strong>und</strong> von diesen<br />

buchstäblich e<strong>in</strong>geklemmt wird.<br />

Es fiel uns natürlich auf, dass niemand <strong>in</strong> unserer Klasse vom<br />

l<strong>in</strong>ken <strong>Zürich</strong>seeufer stammte, das noch heute als<br />

„Pfnüselküste“ (Katarrhküste) bezeichnet wird <strong>und</strong> lange als<br />

weniger fe<strong>in</strong>e Adresse galt, aber heute wegen der etwas<br />

besseren Verkehrsverb<strong>in</strong>dungen <strong>und</strong> billigeren Häuserpreise<br />

auch e<strong>in</strong>en besseren Ruf hat. Es ist jedoch anzunehmen, dass<br />

bei der E<strong>in</strong>teilung der Klassen auch auf die Geografie geschaut<br />

wurde <strong>und</strong> die Gymnasiasten vom l<strong>in</strong>ken Seeufer deshalb <strong>in</strong><br />

eigenen Klassen untergebracht wurden.<br />

Das Interessanteste an me<strong>in</strong>en Klassenkollegen war <strong>und</strong> ist<br />

sicher, dass später auffallend viele von ihnen die gleichen<br />

Berufe wie ihre Väter erlernten oder genauer studierten. Zwei<br />

von ihnen, die beide im Kreis 8 aufwuchsen, wie das Riesbach-<br />

Quartier im Süden von <strong>Zürich</strong> - <strong>und</strong> rechts des <strong>Zürich</strong>sees <strong>und</strong><br />

der Limmat, welche die Stadt <strong>in</strong> zwei Hälften teilen - noch heute<br />

heisst, <strong>und</strong> die wie ihre Väter Ärzte wurden, waren sogar so<br />

bodenständig, dass sie nach ihrem Studium nicht nur weiter <strong>in</strong><br />

diesem Stadtbezirk wohnten, sondern auch noch dort ihre<br />

eigene Praxis führten. Dabei konnte e<strong>in</strong>er von ihnen nach<br />

e<strong>in</strong>em Unfall fast se<strong>in</strong> ganzes Leben lang nur mit e<strong>in</strong>em Auge<br />

sehen, schon <strong>in</strong> unserer geme<strong>in</strong>samen Schulzeit war er<br />

e<strong>in</strong>äugig.<br />

Ich war der E<strong>in</strong>zige, der ke<strong>in</strong>e solchen Vorzüge aufweisen<br />

konnte, <strong>und</strong> konnte mich nie dazu überw<strong>in</strong>den, offen<br />

zuzugeben, dass ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>derheim auf dem Land<br />

wohnte, allerd<strong>in</strong>gs schon im letzten Jahr. Obwohl ich genauso<br />

wie viele andere am Morgen mit dem Zug zusammen mit e<strong>in</strong>em<br />

8


Teil von ihnen nach <strong>Zürich</strong> reiste <strong>und</strong> am späten Nachmittag<br />

wieder zurückfuhr, wurde ich nie danach gefragt, wie ich privat<br />

lebte - so weit reichte ihr Interesse für mich auch wieder nicht.<br />

E<strong>in</strong>es Tages wurde aber doch noch enthüllt, wo <strong>und</strong> wie ich<br />

wohnte, als e<strong>in</strong>er aus unserer Klasse mich anrufen wollte,<br />

jemand den Hörer abnahm <strong>und</strong> er den Namen «Waisenhaus<br />

…» zu hören bekam. Diesen Anruf machte er deshalb, weil<br />

me<strong>in</strong> Name auf der Liste des sogenannten Telefonalarms, den<br />

noch heute jede Klasse von der Primarschule bis h<strong>in</strong>auf zum<br />

Gymnasium führen muss, direkt unter dem se<strong>in</strong>en stand, <strong>und</strong><br />

nachher musste ich die welthistorische Botschaft an den<br />

Schüler weiterleiten, der direkt unter mir e<strong>in</strong>gereiht war. Der<br />

eigentliche Witz dieses Anrufs bestand dar<strong>in</strong>, dass es gar ke<strong>in</strong><br />

richtiges Waisenhaus war, weil die meisten noch ihre Eltern<br />

hatten, von denen sie vor allem wegen ihrer Scheidung dort<br />

untergebracht worden waren, aber es trug halt diesen offiziellen<br />

Namen, <strong>und</strong> so ist es noch bis heute geblieben.<br />

Zum Glück war dieser Schüler, der den Namen «Waisenhaus»<br />

hörte, noch so höflich <strong>und</strong> erzählte das nicht allen anderen,<br />

sondern sprach nur mich e<strong>in</strong>mal kurz darauf an. Damals hätte<br />

es mich gewaltig gestört, wenn das bekannt geworden wäre,<br />

aber heute stehe ich offen dazu, dass ich <strong>in</strong> diesem Bereich<br />

gegenüber allen anderen aus me<strong>in</strong>er Klasse sowohl <strong>in</strong> diesem<br />

als auch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em zweiten Gymnasium von vornhere<strong>in</strong><br />

benachteiligt war. Es zählte noch etwas, e<strong>in</strong>en Vater <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Mutter zu haben, <strong>und</strong> erst recht, wenn diese zu e<strong>in</strong>em<br />

sogenannten guten Haus gehörten. Das moderne System mit<br />

den Patchwork-Familien war noch unbekannt,<br />

dementsprechend hatten wir Heimk<strong>in</strong>der auch e<strong>in</strong>en nicht allzu<br />

guten Ruf. Am meisten fiel mir das <strong>in</strong>sofern auf, als wir dort<br />

oben auf dem Pfannenstiel, wo ich sieben Jahre me<strong>in</strong>er<br />

K<strong>in</strong>dheit verbrachte, für die Leute, die dort r<strong>und</strong> herum<br />

wohnten, nur die vom Heim waren, während alle anderen<br />

K<strong>in</strong>der, die bei ihren Eltern wohnten, mit ihren Vornamen<br />

bekannt waren. Immerh<strong>in</strong> haben wir alle das Vorurteil, dass<br />

9


Heimk<strong>in</strong>der statistisch gesehen eher krim<strong>in</strong>ell werden als<br />

andere, dadurch widerlegt, dass nach me<strong>in</strong>em Wissen niemand<br />

von uns später e<strong>in</strong>e solche Laufbahn e<strong>in</strong>geschlagen hat, <strong>und</strong><br />

das betrachte ich noch heute als e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Erfolg. Das lag<br />

allerd<strong>in</strong>gs an uns selbst <strong>und</strong> nicht an den Heimeltern, für die<br />

Liebe e<strong>in</strong> Wort war, das sie im besten Fall nur für ihre vier<br />

eigenen K<strong>in</strong>der kannten, die allesamt deutlich älter waren als<br />

ich, aber nicht für uns.<br />

10


Schorsch I<br />

Ich stelle diesen Herrn zuerst vor, weil er unser sogenannter<br />

Klassenlehrer war, <strong>und</strong> nenne ihn bewusst so, weil se<strong>in</strong><br />

Vorname Georg war, <strong>und</strong> zwar der erste. In der anderen Schule<br />

gab es noch e<strong>in</strong>en <strong>Lehrer</strong>, der so hiess, der sich allerd<strong>in</strong>gs<br />

Georges schrieb. Georg der Erste unterrichtete Late<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />

Griechisch oder genauer Altgriechisch, das damals noch e<strong>in</strong>en<br />

viel höheren Stellenwert hatte als heute. Das Ende der<br />

Fünfzigerjahre, als <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> das Griechisch-Obligatorium<br />

abgeschafft worden war, lag noch nicht allzu lange zurück;<br />

dementsprechend waren die Er<strong>in</strong>nerungen noch ziemlich frisch.<br />

Bei Schorsch I hatte ich Late<strong>in</strong>, das tatsächlich die erste<br />

Fremdsprache war, die ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schule lernte. E<strong>in</strong> so später<br />

E<strong>in</strong>stieg wurde im ganzen Land noch als normal empf<strong>und</strong>en,<br />

e<strong>in</strong> Französisch- <strong>und</strong> Englischunterricht schon <strong>in</strong> der<br />

Gr<strong>und</strong>schule - oder Primarschule, wie das typisch<br />

schweizerische Wort dafür lautet - wurde noch nicht e<strong>in</strong>mal<br />

ansatzweise diskutiert. Man lernte erst <strong>in</strong> der Oberstufe e<strong>in</strong>e<br />

Fremdsprache, <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> fast allen Kantonen der<br />

Deutschschweiz zuerst Französisch, das noch als viel wichtiger<br />

e<strong>in</strong>gestuft wurde als Englisch. Heute ist das nicht mehr<br />

vorstellbar <strong>und</strong> würde fast als e<strong>in</strong> Staatsverbrechen gelten,<br />

wenn das Englische erst <strong>in</strong> der vierten Klasse e<strong>in</strong>geführt würde;<br />

tatsächlich verkündete das se<strong>in</strong>erzeit der Prorektor bei se<strong>in</strong>er<br />

E<strong>in</strong>führungsrede vor H<strong>und</strong>erten von Schülern <strong>und</strong> ihren Eltern<br />

noch voller Stolz.<br />

Ich habe den ersten E<strong>in</strong>druck, den ich bekam, als ich das<br />

Zimmer betrat, <strong>in</strong> dem Schorsch I unterrichtete, bis heute nicht<br />

vergessen. Da jeder <strong>Lehrer</strong> - oder genauer Hauptlehrer, die<br />

Aushilfslehrer zählten noch nicht zum erlauchten Kreis - e<strong>in</strong><br />

eigenes Zimmer hatte, das er nach se<strong>in</strong>em eigenen Geschmack<br />

e<strong>in</strong>richten konnte, h<strong>in</strong>g ganz vorn an der Wand direkt über der<br />

Schreibtafel e<strong>in</strong>e riesige Landkarte, die das ganze Römische<br />

11


Reich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er grössten Ausdehnung unter dem Kaiser Trajan<br />

zeigte, <strong>und</strong> darüber stand <strong>in</strong> Grossbuchstaben unübersehbar:<br />

IMPERIUM ROMANUM. Das hielt ich für e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>stieg<br />

<strong>in</strong> diese Sprache, von der ich mit me<strong>in</strong>en erst dreizehne<strong>in</strong>halb<br />

Jahren abgesehen von diesen beiden Wörtern noch nichts<br />

verstand <strong>und</strong> von der ich natürlich noch nicht wissen konnte,<br />

dass sie für mich e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte später e<strong>in</strong>e ganz<br />

besondere Bedeutung haben würde. Für wie wichtig das Late<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>gestuft wurde, zeigte sich auch dar<strong>in</strong>, dass wir im ersten<br />

Jahr nicht weniger als acht Wochenst<strong>und</strong>en hatten, <strong>und</strong> im<br />

zweiten Jahr waren es immerh<strong>in</strong> noch sechs.<br />

Wie sollte Schorsch I vorgehen, um uns <strong>in</strong> die geheimnisvolle<br />

Welt des Late<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>zuführen? Als Erstes holte er etwas aus,<br />

<strong>in</strong>dem er sagte, woher das Late<strong>in</strong> überhaupt stammte, <strong>und</strong><br />

dabei hörte ich den Begriff «Indogermanisch», von dem von<br />

Island bis Bengalen die meisten Sprachfamilien abstammen<br />

sollen, aber ohne dass es dafür bis heute e<strong>in</strong>en klaren Beweis<br />

gibt, zum ersten Mal. Als er darauf fragte, welche Sprachen<br />

direkt vom Late<strong>in</strong> abstammten, streckte ich zwar sofort auf,<br />

verhaspelte mich jedoch <strong>und</strong> sagte «Bulgarisch», obwohl ich<br />

richtigerweise «Rumänisch» antworten wollte. Ich war aber<br />

nicht der E<strong>in</strong>zige, der danebengriff: Als e<strong>in</strong> anderer<br />

«Romanisch» sagte, war Schorsch I auch nicht zufrieden, so<br />

dass e<strong>in</strong> Dritter noch korrigierte: «Der Kamerad me<strong>in</strong>t<br />

Rätoromanisch.» Jawohl, Kamerad - so wurde damals <strong>in</strong> dieser<br />

fe<strong>in</strong>en Schule noch geredet. In dieser St<strong>und</strong>e konnte ich<br />

natürlich noch nicht wissen, dass ich mir e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte<br />

später vom Bulgarischen <strong>und</strong> Rumänischen, die noch heute nur<br />

von wenigen gelernt werden, zum<strong>in</strong>dest gute Gr<strong>und</strong>kenntnisse<br />

aneignen würde. Ebenso wenig konnte ich wissen, dass das<br />

Rätoromanische, das bei uns im Volksm<strong>und</strong> halt immer nur<br />

Romanisch genannt wurde, was tatsächlich wie von Schorsch I<br />

bemerkt nicht ganz korrekt war, für mich e<strong>in</strong>e ähnlich grosse<br />

Bedeutung erlangen würde wie das Late<strong>in</strong> <strong>und</strong> das<br />

Altgriechische, das ich mir nachträglich noch selbst beigebracht<br />

habe.<br />

12


Als zweiten Schritt der E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> diese Sprache tat er etwas<br />

Geschicktes: Er schrieb vorn auf der Wandtafel mehrere<br />

Wörter. Welche es waren, weiss ich nicht mehr, aber ich<br />

er<strong>in</strong>nere mich immerh<strong>in</strong> noch an zwei, die zu den wichtigsten<br />

dieser Sprache gehören:<br />

est = ist<br />

sunt = s<strong>in</strong>d<br />

Auf diese Weise war es schon jetzt möglich, e<strong>in</strong> paar Sätze zu<br />

bilden, wobei ich hier nur Beispiele aufführe, die mir jetzt<br />

e<strong>in</strong>fallen:<br />

dom<strong>in</strong>us bonus est = der Herr ist gut<br />

fem<strong>in</strong>a bona est = die Frau ist gut<br />

iugum bonum non est = das Joch ist nicht gut<br />

dom<strong>in</strong>i boni sunt = die Herren s<strong>in</strong>d gut<br />

fem<strong>in</strong>ae bonae sunt = die Frauen s<strong>in</strong>d gut<br />

iuga bona non sunt = die Joche s<strong>in</strong>d nicht gut<br />

So lernten wir schon früh, dass es im Late<strong>in</strong> genauso wie im<br />

Deutschen drei Geschlechter gibt, dass aber die Stellung der<br />

Verben <strong>und</strong> damit auch die Verne<strong>in</strong>ung ganz anders s<strong>in</strong>d, weil<br />

sie meistens am Schluss e<strong>in</strong>es Satzes stehen. Als e<strong>in</strong> Schüler<br />

Schorsch I sagte, dass diese Satzordnung e<strong>in</strong> Durche<strong>in</strong>ander<br />

sei, antwortete dieser mit se<strong>in</strong>er auffallend tiefen <strong>und</strong> sanften<br />

Stimme: "Das Gleiche würden die Römer auch über unsere<br />

Sprache sagen."<br />

Im Verlauf von nur wenigen St<strong>und</strong>en lernten wir schon so viele<br />

Wörter, dass wir bald das erste Ex, wie e<strong>in</strong>e Prüfung genannt<br />

wurde, schreiben konnten. E<strong>in</strong> solches Ex durfte <strong>in</strong> der<br />

sogenannten Probezeit, die drei Monate lang dauerte, jederzeit<br />

<strong>und</strong> ohne Vorankündigung durchgepeitscht werden, <strong>und</strong> es war<br />

<strong>in</strong>sofern noch geheimnisvoller, als jemand, der ke<strong>in</strong>e genügend<br />

13


gute Note bekam - also nicht m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e 4 erreichte -, auf<br />

se<strong>in</strong>em Blatt nur e<strong>in</strong> "u" sah, während jene, die als genügend<br />

e<strong>in</strong>gestuft wurden, nichts darauf geschrieben sahen. An dieser<br />

Stelle gilt es zu erwähnen, dass die beste Note <strong>in</strong> der Schweiz<br />

im Gegensatz zu Deutschland <strong>und</strong> Österreich nicht die 1 war,<br />

sondern die 6, während die Grenze zwischen genügend <strong>und</strong><br />

ungenügend bei der 4 lag, <strong>und</strong> so ist es noch bis heute<br />

geblieben. In vielen Bereichen hat sich die Schweiz, die immer<br />

noch von 26 verschiedenen kantonalen Schulsystemen zerteilt<br />

wird - dazu komme ich später ausführlich zu sprechen -, den<br />

umliegenden Ländern angepasst, aber gerade im Schulsystem<br />

immer noch nicht.<br />

E<strong>in</strong> Late<strong>in</strong>-Ex sah so aus, dass Schorsch I e<strong>in</strong>en kurzen <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>fachen Satz vorsagte, den wir <strong>in</strong>s Late<strong>in</strong> übersetzen<br />

mussten, <strong>und</strong> nach etwa e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>ute folgte schon der nächste<br />

Satz. Obwohl ich damals von Sprachen h<strong>in</strong>ten <strong>und</strong> vorn noch<br />

nichts begriff, schlug ich mich beachtlich; jedenfalls er<strong>in</strong>nere ich<br />

mich nicht daran, dass ich bei ihm jemals e<strong>in</strong> "u" zu sehen<br />

bekam. E<strong>in</strong> Satz ist mir dagegen noch geblieben, der nicht <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Ex geschrieben wurde, sondern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Probe-Ex, nach<br />

dem alle Schüler ihre Blätter mit ihrem direkten Nachbarn - es<br />

gab für jedes Tischchen nur je zwei Plätze - tauschen mussten<br />

<strong>und</strong> dann der e<strong>in</strong>e den Satz des anderen vorlas. Der Satz, der<br />

mir im Gedächtnis noch geblieben ist, lautet im Deutschen so:<br />

Das Joch ist den Stieren beschwerlich.<br />

Da ich nicht allzu viel studierte <strong>und</strong> mich zu sicher fühlte,<br />

schrieb ich:<br />

Iugum tauros molestos est.<br />

Gleich zwei Fehler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em so kle<strong>in</strong>en Satz, das sollte mir von<br />

da weg nie mehr passieren, jedenfalls nicht bei diesem <strong>Lehrer</strong>;<br />

dementsprechend passte ich fortan viel besser auf. Der<br />

korrekte Satz lautet so:<br />

14


Iugum tauris molestum est.<br />

E<strong>in</strong>e andere bemerkenswerte Szene, an die ich mich noch gut<br />

er<strong>in</strong>nere, spielte sich dann ab, als e<strong>in</strong> Schüler diesen e<strong>in</strong>fachen<br />

Satz übersetzen <strong>und</strong> vorn auf der Tafel schreiben musste:<br />

Die kle<strong>in</strong>en Mädchen we<strong>in</strong>en.<br />

Der Kollege, der sich nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung erst noch<br />

freiwillig gemeldet hatte, schrieb auffallend langsam, aber dafür<br />

mit umso schöneren Buchstaben diese Worte:<br />

Puellae parvae flaet.<br />

Das letzte Wort war natürlich falsch, was wir sofort sahen. Also<br />

brauchte es noch e<strong>in</strong>en, der vorn die Korrektur schrieb: flent.<br />

Der vollständige Satz lautete also:<br />

Puellae parvae flent.<br />

So wurde uns allen klar, woher das deutsche Wort "flennen"<br />

stammt, das im Gegensatz zum Late<strong>in</strong> jedoch e<strong>in</strong>en negativen<br />

Klang hat. Es bleibt nicht ohne Ironie, dass gerade diese beiden<br />

Schüler, die sich hier so <strong>in</strong>s Zeug gelegt hatten, drei Monate<br />

später nicht mehr unter uns weilten, weil sie die Probezeit nicht<br />

bestanden hatten, was ich noch heute weiss.<br />

Was mir zu Beg<strong>in</strong>n am meisten Mühe bereitete, war der Ablativ,<br />

den es formal im Deutschen nicht gibt, während mir die<br />

verschiedenen Kasusformen des Nom<strong>in</strong>ativs, Genitivs, Dativs<br />

<strong>und</strong> Akkusativs geläufiger waren. Wer zum Beispiel "der Mann,<br />

des Mannes, dem Mann, den Mann" beherrscht, kann damit<br />

schon etwas anfangen - aber mit e<strong>in</strong>em Ablativ? Was war denn<br />

nur das? Schorsch I selbst gab Abhilfe, <strong>in</strong>dem er e<strong>in</strong> Beispiel<br />

zeigte, das ich noch bis heute nicht vergessen habe. Mit e<strong>in</strong>er<br />

schon fast lieben Stimme sprach er so: "Das Dach heisst<br />

15


‘tectum’, der Ablativ von ‘Dach’ ist ‘tecto’. Das ergibt diesen<br />

Beispielsatz: Columba de tecto volat - die Taube fliegt vom<br />

Dach." Dass die Ablativ-Endung bei den Wörtern, die so wie<br />

"tectum" der ersten Dekl<strong>in</strong>ation angehören, eigentlich lang<br />

ausgesprochen werden muss, also "tectô", war für uns<br />

Anfänger noch ke<strong>in</strong> Thema.<br />

Es gelang Schorsch I tatsächlich, uns <strong>in</strong> nur wenigen Wochen<br />

so viel Late<strong>in</strong> beizubr<strong>in</strong>gen, dass wir uns schon bald halbwegs<br />

als Römer fühlen konnten. Se<strong>in</strong>e Stimme strahlte so viel Ruhe<br />

<strong>und</strong> sogar Wärme aus, dass wir gar nicht darum herumkamen,<br />

bei ihm etwas zu lernen. So wie er war konnte sich jemand<br />

se<strong>in</strong>en Grossvater <strong>und</strong> vielleicht sogar Vater vorstellen, obwohl<br />

er mit Sicherheit schon mehr als 50-jährig, wenn nicht gar<br />

schon m<strong>in</strong>destens 60-jährig war. Er liess sich durch nichts aus<br />

der Ruhe br<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> nur e<strong>in</strong>mal verlor auch er fast die<br />

Beherrschung, als e<strong>in</strong> Schüler namens Kaul zu laut schwatzte<br />

<strong>und</strong> er laut nach h<strong>in</strong>ten schrie: "Kaul, halt das Maul!" Kaum<br />

hatte er diese Worte gesagt, wurde er schon wieder witzig,<br />

<strong>in</strong>dem er h<strong>in</strong>zufügte: "Das war e<strong>in</strong> Gedicht."<br />

Überhaupt gab es bei ihm manchmal doch etwas zu lachen.<br />

Das zeigte sich am meisten dann, als e<strong>in</strong>er den berühmten Satz<br />

"Hannibal ante portas!" übersetzen musste, also den<br />

Schreckensschrei, den die Bewohner der Stadt Rom<br />

ausstiessen, als der karthagische Feldherr Hannibal im Verlauf<br />

des Zweiten Punischen Kriegs plötzlich mit se<strong>in</strong>en Truppen vor<br />

den Toren stand, es dann jedoch unterliess, e<strong>in</strong>e Eroberung zu<br />

versuchen. Pflichtbewusst wie wir alle stand der betreffende<br />

Schüler also auf <strong>und</strong> übersetzte so: "E<strong>in</strong> lebendes Wesen vor<br />

den Toren!" Natürlich platzten wir fast vor Lachen, aber der<br />

Arme konnte nichts dafür, weil er "Animal ante portas!"<br />

verstanden hatte.<br />

Da wir noch Buben, Knaben oder Jungs im Alter zwischen 13<br />

<strong>und</strong> 14 Jahren waren <strong>und</strong> die alte Schulordnung immer noch<br />

16


viel galt, war es für uns völlig <strong>und</strong>enkbar, dass wir e<strong>in</strong>mal auf<br />

irgende<strong>in</strong>e Weise rebellieren würden. Damals waren die <strong>Lehrer</strong><br />

noch halbe Herrgötter, genauso wie die Mitglieder des<br />

B<strong>und</strong>esrats, wie die schweizerische Landesregierung noch<br />

heute heisst. Gerade dieses liebenswürdige Wesen, das<br />

Schorsch I ausstrahlte, half ihm zwar <strong>in</strong> den unteren Klassen,<br />

aber nicht mehr <strong>in</strong> den höheren. E<strong>in</strong> paar Jahre später, als ich<br />

nicht mehr <strong>in</strong> dieser Schule war, hörte ich vom letzten<br />

ehemaligen Schulkollegen, zu dem ich noch Kontakt hatte,<br />

dass er Schwierigkeiten hatte, sie zu unterrichten, weil die<br />

Schüler ständig gr<strong>in</strong>sten. Das war aber auch schon <strong>in</strong> der Zeit,<br />

als die politischen Unruhen auf den Strassen allmählich auch<br />

den Schulunterricht bee<strong>in</strong>flussten, so dass die <strong>Lehrer</strong> plötzlich<br />

ke<strong>in</strong>e halben Herrgötter mehr waren.<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich noch gut an die St<strong>und</strong>e, als wir uns zum<br />

letzten Mal sahen <strong>und</strong> uns vone<strong>in</strong>ander verabschiedeten. Auch<br />

da liess er mich se<strong>in</strong> väterliches Wesen spüren, das mich ihn<br />

nie vergessen liess. Ich wusste zwar, dass er etwas ausserhalb<br />

von <strong>Zürich</strong> wohnte, aber da es noch ke<strong>in</strong> Internet <strong>und</strong> noch<br />

nicht die sozialen Netzwerke von heute gab, war es mir nicht<br />

möglich, se<strong>in</strong>en weiteren Werdegang zu verfolgen. So habe ich<br />

auch nie erfahren, <strong>in</strong> welchem Jahr er verschieden ist, <strong>und</strong> auch<br />

heute ist es im Google nicht möglich, etwas Näheres über ihn<br />

zu erfahren, wie ich das bei anderen kann.<br />

Immerh<strong>in</strong> ist er mir auch noch auf e<strong>in</strong>e andere Weise <strong>in</strong><br />

Er<strong>in</strong>nerung geblieben: E<strong>in</strong>er aus unserer Klasse trug den genau<br />

gleichen Familiennamen wie Schorsch I., so dass er nicht nur<br />

e<strong>in</strong>mal gefragt wurde, ob er se<strong>in</strong> Sohn sei, was er immer mit<br />

e<strong>in</strong>em Schmunzeln verne<strong>in</strong>te. Ab dem Jahr 1975, als wir <strong>in</strong> der<br />

Armee zusammen den ersten WK (Wiederholungskurs)<br />

absolvierten, kreuzten sich unsere Wege immer wieder, <strong>und</strong> bis<br />

zum Jahr 1989, als wir nach acht WK auch noch <strong>in</strong> zwei EK<br />

(Ergänzungskursen) dabei waren, blieben wir sogar im gleichen<br />

Zug e<strong>in</strong>geteilt. Nur <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em letzten EK im Jahr 1991 war er<br />

17


nicht mehr dabei <strong>und</strong> ich habe nie erfahren, warum er gefehlt<br />

hat. Allerd<strong>in</strong>gs sprachen wir kaum über unsere geme<strong>in</strong>same<br />

Gymi-Zeit, dafür spielte er umso mehr unser Kompaniekalb. Ich<br />

staune noch heute darüber, dass er so humorvoll war <strong>und</strong> als<br />

Rechtsanwalt sich unter gewöhnlichen Füsilieren, wie die<br />

meisten von uns es waren, so wohl fühlte; noch heute rechne<br />

ich es ihm hoch an, dass er ke<strong>in</strong> solches Klassendenken zeigte<br />

wie mancher anderer. Da er so heisst wie viele andere, die<br />

zudem genauso wie er auch noch Rechtsanwälte wurden, <strong>und</strong><br />

sich auf ke<strong>in</strong>er Aufnahme zeigt, weiss ich nicht mit Sicherheit,<br />

wo er sich heute aufhält.<br />

Bohni<br />

Warum er diesen Spitznamen bekommen hat, kann leicht<br />

erklärt werden: Er hiess nämlich Bohnenblust, aber dieser<br />

Bohni hatte es <strong>in</strong> sich. Heute ist im Internet herauszuf<strong>in</strong>den, wer<br />

er war. So weiss ich erst heute, welche wissenschaftliche<br />

Kapazität er war, dass er acht Sprachen konnte <strong>und</strong> im Jahr<br />

1967, als er me<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> wurde, eigentlich schon im Ruhestand<br />

hätte leben können. Da er aber mit viel Leidenschaft<br />

unterrichtete, konnte er es nicht lassen, <strong>und</strong> das kam auch uns<br />

<strong>in</strong> positivem S<strong>in</strong>n zugute.<br />

Was er uns unterrichtete, war Geschichte - aber nicht als e<strong>in</strong><br />

Fach, das auffallend viele Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler nicht<br />

lieben, weil ihnen die Materie zu trocken vorkommt. Wenn er<br />

von den antiken Römern <strong>und</strong> Griechen erzählte, war es so<br />

lebendig, als hätten sich all diese Ereignisse erst gerade<br />

gestern ereignet <strong>und</strong> als wäre er selbst auch dabei gewesen.<br />

Ich kann gestehen, dass ich noch heute von se<strong>in</strong>em Unterricht<br />

zehren kann. Hat jemand zum Beispiel schon von e<strong>in</strong>em<br />

Horatio Cocles, e<strong>in</strong>em Mucius Scaevola, vom Etruskerkönig<br />

Porsenna oder e<strong>in</strong>em Tarqu<strong>in</strong>ius Superbus gehört? Das waren<br />

alles historische Personen, die noch vor dem Jahr 510 vor<br />

Christus, also noch vor dem Sturz des letzten der sieben<br />

18


Könige, gelebt haben. Gerade Tarqu<strong>in</strong>ius Superbus war der<br />

letzte von ihnen <strong>und</strong> damit ke<strong>in</strong>er von uns auf den Gedanken<br />

kam, den zweiten Namen falsch auszusprechen, stellte es<br />

Bohni von vornhere<strong>in</strong> klar, <strong>in</strong>dem er sagte, dass die richtige<br />

Aussprache "Supérbus" <strong>und</strong> nicht "Súperbus" war. Nachdem er<br />

das gesagt hatte, mussten e<strong>in</strong> paar von uns gr<strong>in</strong>sen, aber ich<br />

nicht, weil ich dieses "super", das <strong>in</strong> der heutigen Zeit sogar die<br />

Grosseltern von ihren K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> Enkeln übernommen haben,<br />

noch gar nicht kannte. Auch da zeigte es sich, dass ich nur e<strong>in</strong><br />

Junge vom Land war, der von der grossen weiten Welt noch<br />

nicht so viel wusste wie die meisten anderen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Klasse,<br />

die wie oben erwähnt Söhne aus fe<strong>in</strong>en Familien waren.<br />

Immerh<strong>in</strong> leuchtete es mir auch aufgr<strong>und</strong> von Bohnis Worten<br />

noch e<strong>in</strong>, dass Rom nach Romulus benannt wurde <strong>und</strong> nicht<br />

den Namen Rem bekam, weil nun e<strong>in</strong>mal er <strong>und</strong> nicht Remus<br />

den tödlichen Zweikampf gewonnen hatte, den Remus<br />

provoziert hatte - sofern das wirklich zutraf, wie es e<strong>in</strong>er der<br />

sogenannten Sandalen-Spielfilme zeigt, die vor allem <strong>in</strong> der<br />

zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre <strong>und</strong> <strong>in</strong> der ersten Hälfte der<br />

Sechzigerjahre <strong>in</strong> Italien zu Dutzenden gedreht wurden.<br />

Als hätte Bohni geahnt, dass ich <strong>in</strong> der anderen Schule e<strong>in</strong>en<br />

Geschichtslehrer bekommen würde, der die römische<br />

Geschichte von Julius Cäsar bis zu Kaiser Commodus erzählen<br />

würde, welcher der letzte der sogenannten Adoptivkaiser war,<br />

beschränkte er sich <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahren, die ich bei ihm<br />

war, auf die römische Geschichte von Romulus <strong>und</strong> Remus bis<br />

zu Julius Cäsar <strong>und</strong> nachher auf die griechische Geschichte -<br />

aber derart gründlich, dass mir noch bis heute vieles von<br />

se<strong>in</strong>em Unterricht geblieben ist. Da die Geschichte<br />

Griechenlands spätestens dann, als es von den Römern<br />

erobert <strong>und</strong> besetzt wurde, <strong>in</strong> Bezug auf den Unterrichtsplan so<br />

gut wie fertig war, konnte er sich auch zeitlich so e<strong>in</strong>richten,<br />

dass er gerade alles rechtzeitig unterbr<strong>in</strong>gen konnte, bevor ich<br />

weiterzog.<br />

19


Was heute im Fernsehen <strong>und</strong> im YouTube mit Computer-<br />

Animationen nachgestellt wird, konnte Bohni schon damals<br />

ohne diese technischen Hilfsmittel: Die Schlachten von<br />

Marathon (490 v. Chr.) <strong>und</strong> bei den Thermopylen (480 v. Chr.)<br />

für die Griechen sowie jene bei Cannae (216 v. Chr.) <strong>und</strong> Zama<br />

(202 v. Chr.) für die Römer <strong>und</strong> andere historische Schlachten<br />

<strong>in</strong> ihrer ganzen Schlachtordnung <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelheiten so<br />

darzustellen, dass es uns allen so vorkam, als wären wir<br />

tatsächlich auch dabei gewesen. Zudem lernten wir so viel über<br />

die griechischen <strong>und</strong> römischen Philosophen, Dichter <strong>und</strong><br />

Politiker, dass ich mehrere Bücher schreiben müsste, um alles<br />

zu erwähnen. Bohni war halt wie oben erwähnt e<strong>in</strong>e Kapazität,<br />

der uns Schüler zu begeistern wusste.<br />

Neben se<strong>in</strong>em Unterricht bleiben mir noch zwei weitere<br />

Ereignisse <strong>in</strong> guter Er<strong>in</strong>nerung: Genau <strong>in</strong> der Woche, als im<br />

Nahen Osten der Sechs-Tage-Krieg im Gange war, machten<br />

wir zusammen mit ihm <strong>und</strong> unserem Klassenlehrer Schorsch I<br />

die traditionelle Schulreise, die immer zu den angenehmen<br />

Höhepunkten zählte. Offensichtlich war Bohni se<strong>in</strong> offizieller<br />

Stellvertreter, sonst wäre er nicht dabei gewesen. Genauso wie<br />

die Klasse me<strong>in</strong>er jüngeren Tochter e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte später<br />

bei den Schulreisen immer von zwei <strong>Lehrer</strong>n begleitet wurde,<br />

geschah das auch <strong>in</strong> dieser Schule, dagegen nicht im zweiten<br />

Gymnasium, <strong>in</strong> das ich e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre später e<strong>in</strong>trat; dort<br />

begleitete uns immer nur der Klassenlehrer, jedenfalls habe ich<br />

es nicht anders <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung. An diesem Tag, als wir die<br />

Schulreise machten <strong>und</strong> gerade der Sechs-Tage-Krieg wütete,<br />

stand fast die ganze westliche Welt noch h<strong>in</strong>ter Israel, <strong>und</strong> es<br />

war noch nicht sicher, wie dieser Krieg ausgehen würde. Als e<strong>in</strong><br />

Schüler Bohni fragte, was er von diesem Krieg hielt, antwortete<br />

er sichtlich bedrückt: "Das ist sehr traurig." Tatsächlich g<strong>in</strong>gen<br />

ihm solche Ereignisse nahe, aber schon kurz nach dieser<br />

Schulreise riefen mehrere Schüler <strong>in</strong> den Gängen e<strong>in</strong>ander<br />

triumphierend zu: "Jetzt s<strong>in</strong>d sie schon beim Suez-Kanal!" Der<br />

Rest dieser Geschichte ist bekannt.<br />

20


Wie gradl<strong>in</strong>ig er auch se<strong>in</strong> <strong>und</strong> deshalb auch e<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung<br />

gegen den allgeme<strong>in</strong>en Strom vertreten konnte, zeigte Bohni<br />

e<strong>in</strong> Jahr später, als im August 1968 die sowjetischen Truppen<br />

zusammen mit E<strong>in</strong>heiten aus anderen Ostblock-Staaten <strong>in</strong> die<br />

damalige Tschechoslowakei e<strong>in</strong>gefallen waren. Im Gegensatz<br />

zu allen anderen, die echte Empörung zeigten - auch unter der<br />

<strong>Lehrer</strong>schaft -, wagte er es, uns schon e<strong>in</strong>en Tag später<br />

anhand e<strong>in</strong>er Karte zu zeigen, warum die Sowjets so gehandelt<br />

hatten. Ich habe noch heute nicht vergessen, wie er für se<strong>in</strong>e<br />

Stimme erstaunlich laut sagte: "Ihr müsst eben auch die andere<br />

Seite sehen <strong>und</strong> verstehen, warum das alles geschehen ist:<br />

«Die Russen brauchen Böhmen als Pufferzone, weil sie Angst<br />

vor Westdeutschland haben.» Ich verstand nur Bahnhof, aber<br />

Jahrzehnte später erkannte ich, dass er mit diesen Worten<br />

teilweise tatsächlich Recht gehabt hatte. Er wollte nicht<br />

ausdrücken, dass er das Vorgehen der Sowjets guthiess,<br />

sondern nur sagen, dass er ihre Angst nachvollziehen konnte,<br />

schliesslich hatte er den Zweiten Weltkrieg im Gegensatz zu<br />

uns Schülern selbst miterlebt.<br />

Wie viel er über Geschichte wusste, bewies er e<strong>in</strong> paar Jahre<br />

später, als 1974 e<strong>in</strong> von ihm geschriebenes Buch mit dem Titel<br />

"Geschichte der Schweiz" erschien, <strong>in</strong> dem sogar die ersten<br />

paar Jahre des neuen Jahrzehnts noch mitberücksichtigt<br />

wurden. Da ich zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr <strong>in</strong> diese<br />

Schule g<strong>in</strong>g <strong>und</strong> es noch ke<strong>in</strong> Internet gab, konnte ich das gar<br />

nie erfahren. Erst bei me<strong>in</strong>en Recherchen für dieses Buch habe<br />

ich dieses Geheimnis entdeckt, das freilich nur für mich selbst<br />

e<strong>in</strong> solches gewesen war.<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich nicht mehr an die St<strong>und</strong>e, <strong>in</strong> der wir uns zum<br />

letzten Mal sahen, aber ich musste ziemlich genau zwanzig<br />

Jahre später schmunzeln, als ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Rechtsanwaltbüro<br />

die Sekretär<strong>in</strong> fragte, ob ich mit ihrem Vorgesetzten, der damals<br />

<strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Klasse gewesen war, kurz sprechen könne. Da er<br />

sich noch an mich er<strong>in</strong>nerte - oder auch er<strong>in</strong>nern wollte; ich<br />

21


habe später auch noch andere kennen gelernt, die vorgaben,<br />

mich nicht mehr zu kennen -, war er zu e<strong>in</strong>em solchen<br />

Gespräch bereit. Er hatte sich äusserlich natürlich stark<br />

verändert, aber ich hätte ihn immer noch erkannt. Als wir im<br />

Verlauf unseres Gesprächs, das etwa e<strong>in</strong>e Viertelst<strong>und</strong>e<br />

dauerte, auch auf Bohni zu sprechen kamen, antwortete er,<br />

dass dieser immer noch lebte <strong>und</strong> sehr oft <strong>in</strong> der<br />

Zentralbibliothek anzutreffen war. Sogar <strong>in</strong> diesem Alter von<br />

fast neunzig Jahren konnte er es nicht lassen, er blieb stets<br />

ruhelos. Erst vor kurzem, als ich ihn im Internet <strong>und</strong> damit auch<br />

die Angaben über das oben erwähnte Buch entdeckte, konnte<br />

ich lesen, dass er das stattliche Alter von fast 96 Jahren erreicht<br />

hatte, <strong>und</strong> es ist sogar e<strong>in</strong>e Aufnahme von ihm zu sehen. Ich<br />

habe ihn natürlich sofort wiedererkannt.<br />

Marxer<br />

Da dieser Mann ke<strong>in</strong>en Spitznamen trug, bleibt mir nichts<br />

anderes übrig, als ihn mit se<strong>in</strong>em Familiennamen zu nennen,<br />

aber dafür unterschlage ich se<strong>in</strong>en Vornamen. Er war e<strong>in</strong>er der<br />

jüngeren <strong>Lehrer</strong>, nur knapp über 30-jährig, aber diese<br />

mangelnde Erfahrung gegenüber den zum Teil viel älteren<br />

Kollegen machte er mit se<strong>in</strong>er Entschlossenheit <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er<br />

scharfen Stimme wett. Ich habe nie herausgef<strong>und</strong>en, ob er e<strong>in</strong><br />

Armee-Offizier war, aber wenn er e<strong>in</strong>er gewesen wäre, hätte es<br />

mich nicht überrascht.<br />

Wie zackig er war, zeigte er schon <strong>in</strong> der ersten St<strong>und</strong>e, als er<br />

jeden E<strong>in</strong>zelnen mit dem Namen aufrief. Als schliesslich e<strong>in</strong><br />

gewisser Kaul drankam - der Gleiche, dem Schorsch I e<strong>in</strong>mal<br />

zurief, er solle das Maul halten -, sagte er diesen Namen derart<br />

schief, dass e<strong>in</strong> gewisser Keller, der direkt neben mir sass <strong>und</strong><br />

erst noch <strong>in</strong> der gleichen Geme<strong>in</strong>de wie ich wohnte (deshalb<br />

kannten wir uns schon vor dem Beg<strong>in</strong>n der ersten Klasse <strong>und</strong><br />

setzten uns direkt nebene<strong>in</strong>ander), tatsächlich glaubte, er sei<br />

22


geme<strong>in</strong>t, aber er zögerte noch, sich zu offenbaren. Da Marxer<br />

darauf fragte, ob es ke<strong>in</strong>en Kaul gebe, wagte me<strong>in</strong> Kollege<br />

nebenan zu antworten: «Es sche<strong>in</strong>t so». Darauf wurde er<br />

gefragt, wie er selbst denn heisse, <strong>und</strong> erst jetzt wurde es klar,<br />

wen der Herr <strong>Lehrer</strong> mit se<strong>in</strong>em Offizierston eigentlich aufrufen<br />

wollte.<br />

Was er uns unterrichtete oder genauer zu unterrichten<br />

versuchte, war das heikle Fach Deutsch, was auch immer<br />

darunter verstanden werden kann. Dank se<strong>in</strong>er schneidigen<br />

Sprache, die ke<strong>in</strong>e Kompromisse zuliess, schaffte er es, uns<br />

<strong>in</strong>nerhalb von wenigen Wochen so viel Deutsch oder genauer<br />

so viel korrektes Schreiben beizubr<strong>in</strong>gen, dass wir nach<br />

me<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>druck schnell vorankamen. Wie rückständig ich<br />

kle<strong>in</strong>er Landjunge aus e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>derheim gegenüber den<br />

Söhnen aus fe<strong>in</strong>en Familien war, zeigte sich aber schon <strong>in</strong> der<br />

ersten St<strong>und</strong>e, die ich bis heute noch nicht vergessen habe. Als<br />

Marxer fragte, was jeden E<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong> diesem Fach am meisten<br />

<strong>in</strong>teressieren könnte, meldete sich sogleich e<strong>in</strong>er von ganz<br />

h<strong>in</strong>ten. So wie es Brauch war, stand er - der Gleiche, der bei<br />

Schorsch I das zuerst falsche Wort <strong>in</strong> "flent" korrigierte - auf <strong>und</strong><br />

sagte erstaunlich leise: "Mich würde die Grammatik<br />

<strong>in</strong>teressieren." Darauf meldete sich ganz vorn e<strong>in</strong> anderer, der<br />

ebenfalls schnell aufstand, aber nur "die Orthografie" sagte,<br />

doch immerh<strong>in</strong> lauter als der erste - <strong>und</strong> auch er gehörte<br />

ironischerweise zu denen, die später die Probezeit nicht<br />

bestanden.<br />

Grammatik? Orthografie? Was um Himmels willen waren das<br />

für Wörter? In welche gehobene <strong>und</strong> vornehme Welt war ich da<br />

nur h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geraten? Wenige M<strong>in</strong>uten später wurde ich noch<br />

kle<strong>in</strong>er, als Marxer wissen wollte, wie viele Arten von Gedichten<br />

es gebe. Die Antworten kamen von überall her wie aus Pistolen<br />

geschossen: Liebesgedichte - gut, das hätte auch ich noch<br />

gewusst -, dann auch Trauergedichte, Marschgedichte,<br />

Hochzeitsgedichte, Spottgedichte (das ich zuerst als<br />

23


«Sportgedichte» verstand) <strong>und</strong> so weiter. Nur von mir kam<br />

nichts, aber da ich auch nicht aufgerufen wurde, konnte ich<br />

wenigstens noch sitzen bleiben.<br />

Ich habe es mit diesen ersten paar Sätzen angedeutet: Wegen<br />

des schneidigen Auftretens dieses <strong>Lehrer</strong>s <strong>und</strong> me<strong>in</strong>er viel<br />

schwächeren sozialen Stellung - ich hatte ja <strong>in</strong> diesen Jahren<br />

nicht so wie die anderen e<strong>in</strong>en Vater <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Mutter, die mir<br />

helfen konnten -, bek<strong>und</strong>ete ich ausgerechnet <strong>in</strong> diesem Fach<br />

Mühe, mich richtig auszudrücken. Ich schrieb zwar me<strong>in</strong>e Ex<br />

wie schon <strong>in</strong> der Primarschule <strong>und</strong> auch <strong>in</strong> späteren Jahren fast<br />

fehlerfrei, aber die mündliche Mitbeteiligung wurde leider<br />

genauso stark bewertet, <strong>und</strong> da war ich für Marxer nicht gut<br />

genug. Das führte dazu, dass es nach e<strong>in</strong>em Monat bei e<strong>in</strong>er<br />

Zwischenbeurteilung tatsächlich hiess, ich erreiche den<br />

Gesamtdurchschnitt mit den Noten nur knapp <strong>und</strong> habe gerade<br />

im Fach Deutsch <strong>und</strong> dazu <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen, von dem ich<br />

später noch sprechen werde, besondere Schwierigkeiten.<br />

<strong>Me<strong>in</strong>e</strong> Rettung war jedoch, dass er mich trotz allem eigentlich<br />

gern mochte, <strong>und</strong> das sollte sich an jenem Tag, als ich e<strong>in</strong>en<br />

besonderen Vortrag halten musste, noch als e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er<br />

Glücksgriff erweisen. In diesen Jahren war es zwar nicht mehr<br />

üblich, e<strong>in</strong> Gedicht von mehr als zwanzig Strophen auswendig<br />

zu lernen - dabei waren vor allem Schillers Gedichte bei den<br />

<strong>Lehrer</strong>n äusserst beliebt gewesen -, aber es kam dafür umso<br />

mehr vor, dass e<strong>in</strong>er von uns e<strong>in</strong> solches Gedicht<br />

zusammengerafft <strong>in</strong> Prosaform nacherzählen musste. E<strong>in</strong>es<br />

Tages traf es also auch mich. Es g<strong>in</strong>g darum, das Gedicht «Der<br />

Zauberleuchtturm» von Eduard Mörike - jawohl, das weiss ich<br />

noch heute sehr gut - <strong>in</strong> möglichst kurzer Zeit vorzutragen.<br />

Dar<strong>in</strong> geht es um e<strong>in</strong> Schiff <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Besatzung, die sich von<br />

e<strong>in</strong>em Leuchtturm <strong>und</strong> vor allem vom lieblichen Gesang e<strong>in</strong>es<br />

Mädchens, das dort dr<strong>in</strong>nen auf Befehl e<strong>in</strong>es Zauberers sp<strong>in</strong>nt<br />

<strong>und</strong> s<strong>in</strong>gt, so lange blenden lässt, bis sie zu spät erkennt, dass<br />

ihr Schiff an e<strong>in</strong>em Riff zerschellen wird, <strong>und</strong> mit allen untergeht<br />

24


- da ist e<strong>in</strong>e Parallele zu den Sirenen im Epos «Die Odyssee»<br />

von Homer nicht zu übersehen.<br />

So unbeholfen <strong>und</strong> tolpatschig, wie ich damals noch jahrelang<br />

war - deshalb wurde ich auch immer wieder ausgelacht -, gab<br />

ich zwar me<strong>in</strong> Bestes, aber ich kam nicht sehr weit. Schon nach<br />

e<strong>in</strong>er knappen M<strong>in</strong>ute konnte ich nur noch diesen Satz<br />

h<strong>in</strong>auswürgen: "Es wehte e<strong>in</strong> heftiger Sturm … sozusagen."<br />

Darauf stockte mir der Atem <strong>und</strong> ich brachte unendlich viele<br />

Sek<strong>und</strong>en lang ke<strong>in</strong> Wort mehr hervor. Die anderen wagten es<br />

bei diesem schneidigen <strong>Lehrer</strong> zwar nicht, e<strong>in</strong> Lachen<br />

auszustossen, aber ich konnte an se<strong>in</strong>em Schmunzeln, das<br />

immer mehr <strong>in</strong> Ungeduld überg<strong>in</strong>g, deutlich erkennen, dass es<br />

höchste Zeit wurde, mit me<strong>in</strong>em Vortrag fortzufahren. Ich weiss<br />

nicht mehr genau, wie ich es dann noch schaffte, aber ich<br />

er<strong>in</strong>nere mich noch, dass ich für e<strong>in</strong>mal frech wurde <strong>und</strong><br />

nachher vieles noch mehr abkürzte, als es der Staat <strong>und</strong> die<br />

Polizei erlaubt hätten. Wie schon erwähnt kam es mir entgegen,<br />

dass er mich trotz me<strong>in</strong>er Rückständigkeit eigentlich gern<br />

mochte <strong>und</strong> ich zudem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en St<strong>und</strong>en endlich etwas besser<br />

geworden war, so dass ich am Ende der Probezeit auch im<br />

Fach Deutsch genügend war, soviel ich weiss. Es mag heute<br />

komisch sche<strong>in</strong>en, aber wir bekamen auch dann immer noch<br />

ke<strong>in</strong>e Noten, sondern erst später, genauer nach den<br />

Sommerferien. Übrigens wurde ich nachher wegen dieses<br />

e<strong>in</strong>en Satzes mit dem heftig wehenden Sturm von e<strong>in</strong>em<br />

Mitschüler, der mich jedoch immer gern mochte <strong>und</strong> es deshalb<br />

nie bös me<strong>in</strong>te, so viele Male hochgenommen, dass ich mit<br />

dem Zählen nicht mehr nachkam; dieser Satz war<br />

gewissermassen se<strong>in</strong> Markenzeichen geworden.<br />

Alles <strong>in</strong> allem war Marxer, der sich wirklich viel Mühe gab, uns<br />

etwas beizubr<strong>in</strong>gen, e<strong>in</strong> lieber Kerl, aber e<strong>in</strong>es konnte er bis auf<br />

den Tod nicht ausstehen: Wenn jemand das besondere Buch<br />

mit dem Titel «Deutsches Lesebuch» vergass, das viele<br />

Gedichte - so auch das von Mörike, über das ich e<strong>in</strong> Kurzreferat<br />

25


halten musste - <strong>und</strong> Kurzgeschichten enthielt <strong>und</strong> das jeder<br />

immer mitbr<strong>in</strong>gen musste. War das e<strong>in</strong>mal der Fall, musste der<br />

Betreffende zu Beg<strong>in</strong>n des Unterrichts aufstehen <strong>und</strong> diese<br />

Todsünde bekennen. Als e<strong>in</strong>mal jedoch gleich mehrere dieses<br />

Buch vergessen hatten <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er nach dem anderen sich<br />

schuldig bekannt hatte - aber ich selbst zum Glück nicht, weil<br />

ich es dabei hatte -, platzte ihm der Kragen, <strong>und</strong> er sprach auf<br />

Schweizerdeutsch möglichst laut: "Das ist e<strong>in</strong>e verdammte<br />

Sauerei, das dulde ich von jetzt an nicht mehr! Den nächsten<br />

von euch schicke ich sofort nach Hause, damit er dieses Buch<br />

holt - <strong>und</strong> es ist mir ganz gleich, wenn er <strong>in</strong> H<strong>in</strong>ter<strong>in</strong>dien wohnt!"<br />

Jawohl, H<strong>in</strong>ter<strong>in</strong>dien - dieses Wort habe ich bis heute nicht<br />

vergessen. Ich hatte Mühe, e<strong>in</strong> Gr<strong>in</strong>sen zu unterdrücken, <strong>und</strong><br />

b<strong>in</strong> sicher, dass es den meisten anderen auch so erg<strong>in</strong>g, aber<br />

die Lage war für e<strong>in</strong> offenes Gr<strong>in</strong>sen viel zu ernst.<br />

Nach nur e<strong>in</strong>em halben Jahr zog er für e<strong>in</strong> Jahr weg, um sich<br />

irgendwo weiterzubilden, wie es hiess, <strong>und</strong> als er nach e<strong>in</strong>em<br />

Jahr wieder zurückkam <strong>und</strong> die gleiche Klasse neu übernahm,<br />

war ich nicht mehr dabei. Wie die meisten anderen <strong>Lehrer</strong> habe<br />

ich auch ihn nie mehr wiedergesehen, aber auch nie<br />

vergessen. Als ich e<strong>in</strong>es Tages <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeitung gleich <strong>in</strong><br />

mehreren Anzeigen, wie das bei Personen des öffentlichen<br />

Lehrkörpers üblich ist, lesen musste, dass er im Alter von erst<br />

sechzig Jahren verschieden war - ob wegen e<strong>in</strong>er Krankheit<br />

oder nicht, stand nicht geschrieben <strong>und</strong> wurde auch nicht<br />

angedeutet -, fühlte ich mich echt betroffen, obwohl ich ihn fast<br />

dreissig Jahre lang nicht mehr gesehen hatte.<br />

Erst bei me<strong>in</strong>en Recherchen für dieses Buch habe ich entdeckt,<br />

dass Marxer auch viel mit Theater zu tun hatte <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er der<br />

Mitgründer e<strong>in</strong>en neuen Schultheaters war, dessen<br />

Präsidentschaft er bis zu se<strong>in</strong>em Ableben <strong>in</strong>nehatte. Da e<strong>in</strong><br />

Deutschlehrer fast naturgemäss auch <strong>in</strong> der Theaterwelt zu<br />

Hause ist, war es für mich jedoch ke<strong>in</strong>e besonders grosse<br />

Überraschung, als ich diese Zeilen las.<br />

26


Roth<br />

Da auch dieser <strong>Lehrer</strong> ke<strong>in</strong>en Spitznamen trug, nenne ich ihn<br />

bei se<strong>in</strong>em Familiennamen, aber im Gegensatz zu Marxer<br />

er<strong>in</strong>nere ich mich nicht mehr an se<strong>in</strong>en Vornamen. Er war unser<br />

Geografielehrer, der mit dem Deutschlehrer zwei D<strong>in</strong>ge<br />

geme<strong>in</strong>sam hatte: Se<strong>in</strong> Fach war das zweite, <strong>in</strong> dem ich wie<br />

oben erwähnt so viele Anfangsschwierigkeiten hatte, dass es<br />

bei der Zwischenbeurteilung hiess, ich würde den<br />

Notendurchschnitt nur knapp erreichen. Die zweite<br />

Geme<strong>in</strong>samkeit mit Marxer war, dass auch bei ihm jeder, der<br />

den grossen Atlas, den wir <strong>in</strong> der ersten St<strong>und</strong>e bekommen<br />

hatten <strong>und</strong> immer mitbr<strong>in</strong>gen mussten, es bei ihm melden<br />

musste, wenn er ihn zu Hause vergessen hatte. Allerd<strong>in</strong>gs gab<br />

es bei ihm noch e<strong>in</strong>e Nuance: Als auch ich e<strong>in</strong>mal dieses Buch<br />

vergessen hatte, stand ich genauso wie bei Marxer zu Beg<strong>in</strong>n<br />

der St<strong>und</strong>e pflicht- <strong>und</strong> schuldbewusst auf <strong>und</strong> meldete<br />

kle<strong>in</strong>laut: "Ich habe den Atlas nicht hier." Darauf bekam ich von<br />

Roth zu hören, dass es nicht genügte, das erst hier mitzuteilen,<br />

weil es Vorschrift war, ihm das vor dem Beg<strong>in</strong>n des Unterrichts<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Büro zu melden. Da ich das bis dah<strong>in</strong> nicht erfahren<br />

hatte, ja, nicht e<strong>in</strong>mal wusste, dass er e<strong>in</strong> eigenes Büro hatte<br />

<strong>und</strong> wo überhaupt sich dieses befand, konnte ich mich noch<br />

e<strong>in</strong>mal herausreden. Das kam mir dann zugute, als dieses<br />

Unglück zum zweiten, aber immerh<strong>in</strong> letzten Mal vorkam <strong>und</strong><br />

ich das erneut pflicht- <strong>und</strong> schuldbewusst meldete - <strong>und</strong><br />

diesmal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Büro.<br />

Er war zwar e<strong>in</strong> trockener Typ, aber er schaffte es trotzdem<br />

irgendwie, se<strong>in</strong>en Unterricht mehr oder weniger <strong>in</strong>teressant zu<br />

gestalten. In den ersten paar Monaten wurde der ganze<br />

amerikanische Kont<strong>in</strong>ent ausführlich behandelt, den er<br />

immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>mal bereist hatte; das bewies er mit e<strong>in</strong>em<br />

Lichtbildervortrag, wo er selbst auffallend viel gezeigt wurde.<br />

E<strong>in</strong>e besondere Methode, se<strong>in</strong>en Unterricht spannend <strong>und</strong><br />

abwechslungsreich zu gestalten, bestand dar<strong>in</strong>, dass er immer<br />

27


wieder diesen Satz sagte: "Das gibt auch wieder e<strong>in</strong>e<br />

Hühnerhaut." Abgesehen davon, dass ich mich immer wieder<br />

fragen musste, warum er gerade dies sagte, wusste ich<br />

ungebildeter Prov<strong>in</strong>zler nicht e<strong>in</strong>mal, was e<strong>in</strong>e Hühnerhaut war.<br />

So versteht es sich von selbst, dass ich die Bedeutung des<br />

parallelen Wortes "Gänsehaut", das <strong>in</strong> Deutschland <strong>und</strong><br />

Österreich üblich ist, ebenfalls nicht verstand, aber ich bekam<br />

dieses ohneh<strong>in</strong> nie zu hören.<br />

An e<strong>in</strong>e bestimmte St<strong>und</strong>e er<strong>in</strong>nere ich mich noch heute gut: Es<br />

war gerade dann, als es draussen für e<strong>in</strong>mal s<strong>in</strong>tflutartig goss.<br />

Schon kurz nach dem Beg<strong>in</strong>n stellte er uns allen die Frage:<br />

„Was me<strong>in</strong>t ihr - haben wir jetzt e<strong>in</strong> lausiges Wetter oder e<strong>in</strong><br />

lausiges Klima?“ Was e<strong>in</strong>fach klang, entwickelte sich tatsächlich<br />

zu e<strong>in</strong>er m<strong>in</strong>utenlangen Diskussion, bis wir uns nach e<strong>in</strong>em<br />

energischen E<strong>in</strong>greifen des <strong>Lehrer</strong>s darauf e<strong>in</strong>igten, dass doch<br />

eher e<strong>in</strong> lausiges Wetter als e<strong>in</strong> lausiges Klima vorherrschte.<br />

Damit war es aber noch nicht vorbei, denn Roth wollte noch<br />

wissen, wie die Mehrzahl von "Klima" <strong>in</strong> der Fachsprache<br />

genannt wird. Darauf schwiegen alle e<strong>in</strong>e ganze Weile, bis<br />

e<strong>in</strong>er - e<strong>in</strong> weiterer, der später die Probezeit nicht bestand -<br />

ganz vorn aufstand <strong>und</strong> sagte: "Ich denke, es heisst 'Klimen'."<br />

Da Roth das verne<strong>in</strong>te, stand e<strong>in</strong> zweiter auf, dessen Gesicht<br />

immer e<strong>in</strong> Lachen zu zeigen schien <strong>und</strong> der später e<strong>in</strong> Pfarrer<br />

wurde, <strong>und</strong> sagte ziemlich laut: "Klimas." Wieder verne<strong>in</strong>te Roth<br />

<strong>und</strong> da unsere Kapazitäten schon erschöpft waren, gab er<br />

schliesslich selbst die Antwort: "Das richtige Wort heisst<br />

'Klimate', mit Betonung auf dem 'a'." Das sass - fortan konnten<br />

sich alle dieses Wort merken, sogar ich, der wenig gebildete<br />

Junge vom Land, der immer wieder neben den Schuhen stand.<br />

28


Dorigo<br />

Roth war der e<strong>in</strong>zige me<strong>in</strong>er <strong>Lehrer</strong>, für den zeitweise e<strong>in</strong><br />

Stellvertreter arbeitete, weil er selbst aus irgendwelchen<br />

Gründen fehlte. Wir haben nie genau erfahren, ob er <strong>in</strong> diesen<br />

paar Wochen irgendwo anders unterrichtete oder ob er wegen<br />

e<strong>in</strong>es Wehrdienstes abwesend war. Damals mussten die<br />

Soldaten <strong>und</strong> Unteroffiziere noch bis zum 50. Lebensjahr Dienst<br />

leisten, wenn auch nur für e<strong>in</strong> paar Tage, <strong>und</strong> die ranghöchsten<br />

Offiziere werden noch heute erst im Jahr entlassen, <strong>in</strong> dem sie<br />

ihr 55. Lebensjahr vollenden. Allerd<strong>in</strong>gs kommen heute sehr<br />

viele schon vorzeitig aus irgende<strong>in</strong>em Gr<strong>und</strong> von der Armee<br />

weg; was mich selbst betrifft, wurde ich im Jahr der Vollendung<br />

des 42. Lebensjahres - also im Jahr 1995 - entlassen, weil <strong>in</strong><br />

den Neunzigerjahren die Alterslimite im Verlauf der ersten<br />

Modernisierung <strong>und</strong> Bestandreduzierung, der später noch<br />

weitere folgten, gerade auf dieses Alter heruntergesetzt worden<br />

war. Ich gehörte zu den Ersten, die davon profitieren konnten.<br />

Dieser Stellvertreter, der mehr als e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>sprang, hiess<br />

Dorigo, der noch trockener war als Roth, der es aber immerh<strong>in</strong><br />

verstand, se<strong>in</strong>en Unterricht dadurch spannend zu gestalten,<br />

dass bei uns schon fast Wetten abgeschlossen werden<br />

konnten, wann er wieder se<strong>in</strong> Markenzeichen zeigen würde:<br />

Ähnlich wie es die Kunstturner zu tun pflegen, rieb er sich<br />

immer wieder die Hände, als wären diese noch voller<br />

Magnesium. Er konnte es e<strong>in</strong>fach nicht lassen, vor allem dann,<br />

wenn er zuerst se<strong>in</strong>en oft benützten Standardsatz sagte:<br />

"Genau so ist es."<br />

Ich erwähne diesen Dorigo auch deshalb, weil er auf irgende<strong>in</strong>e<br />

Art Roths Zögl<strong>in</strong>g se<strong>in</strong> musste. Die Geografie war das e<strong>in</strong>zige<br />

Fach, bei dem ich es miterlebte, dass junge <strong>Lehrer</strong>, die gerade<br />

erst ihr Studium abgeschlossen hatten oder vielleicht noch kurz<br />

davor standen, unsere Klasse unterrichten mussten, während<br />

e<strong>in</strong>e ganze Gruppe von hochkarätigen <strong>Lehrer</strong>n <strong>und</strong> Professoren<br />

29


h<strong>in</strong>ten sass <strong>und</strong> ihn prüfte, <strong>und</strong> zu diesen gehörte eben auch<br />

Roth. E<strong>in</strong>es Tages kam am Vormittag e<strong>in</strong> blutjunger Mann dran,<br />

dem deutlich anzumerken war, dass er sehr nervös war - sicher<br />

auch deshalb, weil genauso wie <strong>in</strong> allen anderen Fächern auf<br />

Hochdeutsch unterrichtet werden musste, das für die meisten<br />

Deutschschweizer noch bis heute immer e<strong>in</strong>e Art<br />

Fremdsprache gewesen ist.<br />

Am Nachmittag unterrichtete uns wieder e<strong>in</strong>er, den wir schon<br />

kannten - eben Dorigo, der jetzt natürlich e<strong>in</strong>en<br />

Wettbewerbsvorteil hatte. Als Roth uns am nächsten Tag fragte,<br />

welcher der beiden auf uns den besseren E<strong>in</strong>druck gemacht<br />

hatte, meldete sich sofort e<strong>in</strong>er von h<strong>in</strong>ten <strong>und</strong> sagte: "Dorigo<br />

war e<strong>in</strong>deutig besser. Bei ihm konnten wir deutlich sehen, dass<br />

er schon Erfahrung hatte." Genau so war es, um wie Dorigo zu<br />

sprechen, <strong>und</strong> deshalb widersprach ke<strong>in</strong>er diesem Schüler. Wir<br />

haben nie erfahren, was aus dem anderen geworden ist, aber<br />

ich nehme an, dass er später doch noch e<strong>in</strong>e feste Anstellung<br />

bekam. Er hatte se<strong>in</strong>e Sache ja nicht wirklich schlecht gemacht,<br />

nur hatte Dorigo uns mit mehr Sicherheit <strong>und</strong> damit besser<br />

unterrichtet - <strong>und</strong> immer noch über Amerika.<br />

Was me<strong>in</strong>en eigenen Kontakt zu Dorigo betrifft, er<strong>in</strong>nere ich<br />

mich nur an zwei Szenen: Während ich an jenem Prüfungstag<br />

noch die Inkas mit den Azteken verwechselt hatte - aber<br />

immerh<strong>in</strong> hatte ich mich freiwillig gemeldet -, verbuchte ich kurz<br />

vor me<strong>in</strong>em Wechsel zur anderen Schule e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Erfolg,<br />

als er fragte, welche Teile der Welt ausserhalb von Amerika die<br />

Portugiesen ebenfalls besiedelt hatten, <strong>und</strong> dabei nur die<br />

beiden grössten Kolonien wissen wollte. Sofort streckte ich auf<br />

<strong>und</strong> sagte rassig, wobei ich für e<strong>in</strong>mal das Aufstehen vergass:<br />

"Angola <strong>und</strong> Mosambik." Damals gehörten sie tatsächlich noch<br />

zu Portugal, <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>es Namens <strong>und</strong> se<strong>in</strong>es<br />

südländischen Aussehens erstaunte es mich nicht, dass er mit<br />

dieser Antwort nicht nur deshalb zufrieden war, weil ich sie<br />

richtig gegeben hatte. Es war noch e<strong>in</strong>e ganz andere Zeit,<br />

30


obwohl die meisten neuen afrikanischen Staaten bereits<br />

ausgerufen worden waren, aber das lag erst wenige Jahre<br />

zurück. So wurde es als selbstverständlich <strong>und</strong> nicht<br />

unrechtmässig betrachtet, dass die westeuropäischen Mittel<strong>und</strong><br />

Grossmächte vor allem <strong>in</strong> Afrika immer noch Kolonien<br />

besassen.<br />

Egli<br />

Von diesem <strong>Lehrer</strong> kenne ich zwar auch noch den Vornamen,<br />

den ich aber ebenfalls geheim lasse, obwohl ich über ihn nur<br />

Gutes schreiben kann. Genauso wie Marxer <strong>und</strong> Dorigo zählte<br />

er zu den jüngeren Semestern, auch er war weniger als 40-<br />

jährig. Was dieser Mann uns unterrichtete, war Mathematik,<br />

aber nicht irgende<strong>in</strong>e, sondern e<strong>in</strong>e solche, die uns viel tiefer <strong>in</strong><br />

die Geheimnisse dieses Faches e<strong>in</strong>führte, als es allgeme<strong>in</strong><br />

üblich ist. Da ich e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte später e<strong>in</strong>e Tochter hatte,<br />

die ebenfalls das Gymnasium besuchte, kann ich das<br />

beurteilen. Wenn ich sie zum Beispiel frage, was der GGT, das<br />

KGV oder das Zwölfersystem s<strong>in</strong>d, muss sie noch heute<br />

antworten, dass sie diese drei Begriffe nicht näher kennt, weil<br />

sie das schlicht nie gelernt hat. Natürlich hat sie davon gehört,<br />

aber sie mussten es nicht richtig lernen; während ihre Klasse<br />

den GGT <strong>und</strong> das KGV nur kurz streifte, kam das<br />

Zwölfersystem überhaupt nie dran.<br />

Ich frage mich noch heute, wie Egli uns beibr<strong>in</strong>gen konnte, dass<br />

wir aus e<strong>in</strong>em Haufen von Zahlen den grössten geme<strong>in</strong>samen<br />

Teiler <strong>und</strong> das kle<strong>in</strong>ste geme<strong>in</strong>same Vielfache - so heissen der<br />

GGT <strong>und</strong> das KGV ausgeschrieben - ausrechnen konnten, <strong>und</strong><br />

wir sahen ebenfalls, dass das Zwölfersystem, mit dem die<br />

Briten jahrh<strong>und</strong>ertelang gerechnet hatten, eigentlich gar nicht<br />

so schwer ist. Es ist nichts als logisch, dass zum<strong>in</strong>dest ich<br />

heute ke<strong>in</strong>e Ahnung mehr habe, wie das Ganze ausgerechnet<br />

wird, <strong>und</strong> ich vergass schon damals nach wenigen Wochen fast<br />

alles. Trotzdem hielt ich mich erstaunlich gut; jedenfalls turnte<br />

31


ich immer um die Note 4 herum, was ja noch genügte.<br />

Da die Mathematik schon immer den besonderen Ruf hatte,<br />

e<strong>in</strong>e ziemlich trockene Materie zu se<strong>in</strong>, <strong>und</strong> dass jemand, der<br />

e<strong>in</strong>en Lösungsweg nicht "sehen" konnte, von vornhere<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e<br />

Chance hatte, gab sich Egli deutlich Mühe, uns diese trockene<br />

Materie so locker wie möglich beizubr<strong>in</strong>gen, <strong>und</strong> das gelang<br />

ihm erstaunlich gut. Dabei half ihm natürlich, dass er eigentlich<br />

immer gut gelaunt <strong>und</strong> manchmal sogar witzig war. Das war<br />

offensichtlich auch vielen anderen bekannt: Als e<strong>in</strong> weiterer<br />

Jahrgang die Maturaprüfungen bestanden hatte - <strong>in</strong><br />

Deutschland s<strong>in</strong>d es bekanntlich die Abiturprüfungen, während<br />

<strong>in</strong> Österreich <strong>und</strong> Südtirol, die sich auch nach e<strong>in</strong>em<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert politischer Trennung immer noch als e<strong>in</strong>e geistige<br />

E<strong>in</strong>heit sehen, maturiert wird -, kam auch Egli <strong>in</strong> den Genuss<br />

e<strong>in</strong>es Ulks, den sich die erfolgreichen Absolventen am Schluss<br />

der Ausbildung erlauben durften. Noch heute ist es üblich, dass<br />

die Klassen von Zimmer zu Zimmer ziehen, um sich auf<br />

irgende<strong>in</strong>e Art am Unterricht zu beteiligen, <strong>und</strong> sich dabei den<br />

e<strong>in</strong>en oder anderen Scherz erlauben dürfen.<br />

Als nun e<strong>in</strong>e Auswahl e<strong>in</strong>er solchen Klasse - es waren nur e<strong>in</strong><br />

paar wenige, also nicht alle - <strong>in</strong> unser Zimmer kam, sagte e<strong>in</strong>er<br />

von ihnen mit e<strong>in</strong>em unübersehbaren Schmunzeln <strong>und</strong> erst<br />

noch auf Hochdeutsch: "<strong>Me<strong>in</strong>e</strong> Kameraden <strong>und</strong> ich haben<br />

Herrn Egli etwas Besonderes mitgebracht." Darauf stellte er<br />

e<strong>in</strong>en erstaunlich grossen Behälter voll Wasser auf se<strong>in</strong>en<br />

Tisch - <strong>und</strong> <strong>in</strong> diesem Behälter schwamm e<strong>in</strong> Fisch. Zuerst<br />

staunten wir alle e<strong>in</strong> wenig, bis e<strong>in</strong>er von uns laut sagte: "Das<br />

isch ja en Egli!" Dies war also der Witz der Sache. Egli nahm es<br />

mit viel Humor, aber bevor diese Gruppe mitsamt dem Fisch<br />

wieder verschwand, sagte er zu dem, der die E<strong>in</strong>gangsworte<br />

gesprochen hatte: "Versprechen Sie mir, dass Sie diesen Fisch<br />

nicht ermorden, sondern wieder zum See zurückbr<strong>in</strong>gen!" Er<br />

sagte tatsächlich «ermorden», das weiss ich noch heute gut.<br />

Dieses Wort sass - jedenfalls brachte der Maturand den Fisch<br />

32


tatsächlich wieder zum See zurück, wie wir später zu hören<br />

bekamen.<br />

Auch <strong>in</strong> der zweiten Klasse war Egli unser Mathematiklehrer,<br />

<strong>in</strong>zwischen kannten wir uns alle schon ziemlich gut. Deshalb<br />

war es ohne weiteres möglich, die beiden zu erraten, die bei<br />

e<strong>in</strong>em Ex als E<strong>in</strong>zige e<strong>in</strong>en Sechser geschrieben hatten. Er<br />

brauchte nur zu sagen: "Sie sitzen gerade nebene<strong>in</strong>ander" -<br />

<strong>und</strong> schon klang es aus vielen Kehlen: "Rickl<strong>in</strong> <strong>und</strong> Bless!" Sie<br />

waren es tatsächlich, später wurde der e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> Psychiater <strong>und</strong><br />

der andere e<strong>in</strong> Zahnarzt.<br />

Auch bei ihm er<strong>in</strong>nere ich mich nicht an die St<strong>und</strong>e des<br />

Abschieds, aber nicht nur deshalb, weil die Mathematik mir als<br />

Ganzes nicht so lag. Da ich damals immer noch e<strong>in</strong> unsicherer<br />

<strong>und</strong> verschüchterter Bursche vom Land war, bekam ich zu ihm<br />

genauso wie zu den meisten anderen <strong>Lehrer</strong>n nie e<strong>in</strong>en<br />

richtigen Zugang - Schorsch I war tatsächlich die e<strong>in</strong>zige<br />

Ausnahme.<br />

Bei me<strong>in</strong>en Recherchen für dieses Buch habe ich auch über<br />

Egli etwas Besonderes entdeckt: Er unterrichtete fast vierzig<br />

Jahre lang an dieser Schule - <strong>und</strong> immer nur Mathematik, also<br />

ke<strong>in</strong> zweites Fach wie Darstellende Geometrie, die <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em<br />

zweiten Gymnasium bei den Oberrealschülern unterrichtet<br />

wurde, wie sie damals noch genannt wurden, <strong>und</strong> ke<strong>in</strong> zweites<br />

wie Schorsch I, bei dem die Schüler neben Late<strong>in</strong> auch noch<br />

Altgriechisch lernen konnten. Dafür unterrichtete Egli <strong>in</strong> allen<br />

Klassen sowohl <strong>in</strong> der Unter- als auch <strong>in</strong> der Oberstufe, also<br />

von der ersten bis zur siebten Klasse - <strong>und</strong> er galt immer als<br />

e<strong>in</strong>e Kapazität, dementsprechend hoch angesehen war er.<br />

Da er erst um die Jahrtausendwende <strong>in</strong> den Ruhestand g<strong>in</strong>g,<br />

kann leicht ausgerechnet werden, wie alt oder genauer wie jung<br />

er gewesen war, als er unsere Klasse übernommen hatte. Ich<br />

habe damals nicht schlecht geschätzt: Er zählte tatsächlich<br />

33


zwischen 30 <strong>und</strong> 40 Jahre. Allerd<strong>in</strong>gs würde ich ihn heute alle<strong>in</strong><br />

aufgr<strong>und</strong> der Aufnahme, die von ihm zu sehen ist, im<br />

Gegensatz zu Bohni nicht mehr erkennen, weil natürlich auch er<br />

<strong>in</strong> der Zwischenzeit e<strong>in</strong> wenig gealtert war. Auch er erreichte e<strong>in</strong><br />

stattliches Alter von 85 Jahren <strong>und</strong> als ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeitung e<strong>in</strong>e<br />

Todesanzeige für ihn las, fühlte ich mich immer noch etwas<br />

betroffen, obwohl ich ihn mehr als sechzig Jahre lang nicht<br />

mehr gesehen <strong>und</strong> zu ihm wie oben erwähnt nie e<strong>in</strong>en richtigen<br />

Zugang gef<strong>und</strong>en hatte. Er war eben immer gut gelaunt<br />

gewesen <strong>und</strong> hatte es verstanden, den ganzen Mathe-Stoff<br />

dementsprechend locker <strong>und</strong> teilweise sogar humorvoll zu<br />

vermitteln.<br />

Frank<br />

Das war tatsächlich se<strong>in</strong> Familienname <strong>und</strong> nicht se<strong>in</strong><br />

Vorname, den ich auch bei ihm vergessen habe. Wie alle<br />

anderen fest angestellten <strong>Lehrer</strong> unserer Klasse hatte auch er<br />

e<strong>in</strong> eigenes Unterrichtszimmer, aber bei ihm war es mehr als<br />

nur e<strong>in</strong> Zimmer. Es war e<strong>in</strong> regelrechtes Laboratorium, wenn<br />

nicht gar Forschungszentrum, das er e<strong>in</strong>gerichtet hatte, sogar<br />

mit Herbarien <strong>und</strong> Terrarien dr<strong>in</strong>. Diese Worte deuten es an:<br />

Was er uns unterrichtete, war Biologie - e<strong>in</strong> Wort, von dem ich<br />

nie zuvor etwas gehört hatte, als ich den St<strong>und</strong>enplan zum<br />

ersten Mal las. Als ich von me<strong>in</strong>en schon seit mehr als zehn<br />

Jahren geschiedenen Eltern, bei denen ich zwar nicht direkt<br />

aufgewachsen war, die aber an me<strong>in</strong>em ersten Schultag dabei<br />

waren, wissen wollte, was dieses Wort bedeutete, sagten sie<br />

irgendetwas von Pflanzen. Oh Schreck, sagte ich mir, was soll<br />

ich denn damit anfangen? Das nahm schon e<strong>in</strong>en guten Anfang<br />

<strong>und</strong> setzte sich bis zum Ende me<strong>in</strong>er Gymi-Karriere fort: Für<br />

dieses Fach konnte ich mich nie wirklich erwärmen, aber es<br />

stand von allen naturwissenschaftlichen Fächern wenigstens<br />

nicht am weitestem unten. Ich fand es zwar <strong>in</strong>teressant, aber<br />

eben nicht für mich - es lag mir ganz e<strong>in</strong>fach nicht.<br />

34


Der erste E<strong>in</strong>druck, den ich von diesem Frank erhielt, war<br />

jedoch durchaus positiv. Als wir se<strong>in</strong> Forschungszentrum zum<br />

ersten Mal betraten, stand er ganz vorn <strong>und</strong> lächelte uns warm<br />

zu - wie e<strong>in</strong> Vater, der sich echt darüber freute, dass all se<strong>in</strong>e<br />

K<strong>in</strong>der wieder zurückkehrten. Wenn ich mich richtig er<strong>in</strong>nere,<br />

sagte er uns sogar noch, wir sollten uns so gemütlich wie<br />

möglich e<strong>in</strong>richten, sobald wir uns alle h<strong>in</strong>gesetzt hatten. Diese<br />

Aufmunterung war tatsächlich nötig, weil e<strong>in</strong>er von uns sich aus<br />

Versehen h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong> Herbarium gesetzt hatte, das Frank<br />

zwischen den Reihen h<strong>in</strong>gestellt hatte oder genauer hatte<br />

h<strong>in</strong>stellen lassen, weil es ziemlich schwer war. Schon streckte<br />

er auf, noch bevor der Unterricht richtig begonnen hatte, <strong>und</strong><br />

als ihm das Wort erteilt wurde, fragte er <strong>in</strong> schon fast<br />

we<strong>in</strong>erlichem <strong>und</strong> verzweifeltem Ton: "Wie seh' ich nach vorn?<br />

Hier sehe ich nichts." Darauf musste e<strong>in</strong> anderer, der vor ihm<br />

sass, auffallend lachen - es war der Gleiche, den ich zwei<br />

Jahrzehnte später <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Rechtsanwaltsbüro wieder traf.<br />

Nachdem dieser Arme sich hatte umplatzieren dürfen, konnte<br />

der Unterricht endlich beg<strong>in</strong>nen, <strong>und</strong> ich muss gestehen, dass<br />

ich von all diesen St<strong>und</strong>en nichts, aber auch gar nichts im<br />

Gedächtnis speichern konnte, allerd<strong>in</strong>gs mit e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en<br />

Ausnahme: Als Frank fragte, wie der Fachausdruck für die<br />

Menschenk<strong>und</strong>e lautete, wusste ke<strong>in</strong>er Bescheid, nicht e<strong>in</strong>mal<br />

die Intelligentesten unter uns. Schliesslich half er uns weiter,<br />

<strong>in</strong>dem er sagte: "Es heisst nicht Menschologie, wie man me<strong>in</strong>en<br />

könnte, sondern Anthropologie - es ist halt e<strong>in</strong> griechisches<br />

Wort." Auch das sass wie das Wort "Klimate", fortan konnten<br />

sich alle - darunter sogar ich - dieses Wort merken.<br />

Als e<strong>in</strong>ziger der <strong>Lehrer</strong>, die mich damals unterrichteten, hielt er<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Schulzimmer e<strong>in</strong> Haustier, <strong>und</strong> zwar e<strong>in</strong>e Schildkröte,<br />

aber leider alle<strong>in</strong>, wie das früher üblich war. Heute wissen wir,<br />

dass es für die meisten Tiere schlecht ist, wenn sie alle<strong>in</strong><br />

gehalten werden, aber die Welt kannte es damals nicht anders<br />

oder wollte es viel mehr nicht anders kennen. Soweit ich mich<br />

35


er<strong>in</strong>nern kann, hatten wir bei ihm zwei St<strong>und</strong>en direkt<br />

h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander, so dass Frank viel mehr künstlerische<br />

Freiheiten hatte <strong>und</strong> uns dementsprechend viel mehr zeigen<br />

konnte. Als e<strong>in</strong> anderer, der später e<strong>in</strong>er der beiden Ärzte<br />

wurde, die im Kreis 8 ihre Praxis eröffneten, <strong>und</strong> ich uns <strong>in</strong> der<br />

kle<strong>in</strong>en Pause zwischen den zwei St<strong>und</strong>en über die Schildkröte<br />

beugten, sagte dieser schmunzelnd, <strong>in</strong>dem er dem Tier e<strong>in</strong> Blatt<br />

entgegenstreckte: "Schau, so e<strong>in</strong>fach ist das: Du musst ihr nur<br />

das zeigen - <strong>und</strong> schon kommt sie." So war es auch, schon<br />

kroch sie langsam heran <strong>und</strong> wir mussten gr<strong>in</strong>sen, aber wir<br />

gr<strong>in</strong>sten nicht lange. Schon kam Frank heran <strong>und</strong> tadelte uns:<br />

"Soso, wollt ihr sie plagen!" Aber es geschah nichts weiter, wir<br />

hatten ja nichts Schlimmes getan.<br />

Leider gab es bei ihm noch e<strong>in</strong>e unschöne Szene. Im Verlauf<br />

der Probezeit, die eigentlich drei Monate lang dauerte, hatten<br />

mehrere Schüler vorzeitig aufgegeben <strong>und</strong> uns verlassen,<br />

darunter auch Keller, der direkt neben mir gesessen hatte. So<br />

ergab es sich, dass die Liste der Ausgetretenen <strong>in</strong> unserer<br />

Klasse bis kurz vor dem Ende dieser Zeit auffallend lang wurde.<br />

Vorzeitig waren zwar nur vier gegangen, aber am Schluss<br />

mussten sich ihnen sieben weitere anschliessen - ich kenne<br />

noch heute all ihre Vor- <strong>und</strong> Familiennamen. Ich erwähne das<br />

deshalb, weil unsere Klasse die e<strong>in</strong>zige von vier Parallelklassen<br />

war, die so viele Abgänge zu verzeichnen hatte. Das trug<br />

entscheidend dazu bei, dass vor allem mit e<strong>in</strong>er der drei<br />

Parallelklassen e<strong>in</strong>e Fe<strong>in</strong>dschaft entstand, auf die ich später<br />

noch e<strong>in</strong>gehen werde.<br />

Als nun wieder e<strong>in</strong>mal die Absenzenliste gelesen wurde <strong>und</strong><br />

jemand zwei weitere Male "ausgetreten" rief, sagte Frank:<br />

"Ne<strong>in</strong>, sie s<strong>in</strong>d ausgetreten worden." Darauf mussten e<strong>in</strong>ige<br />

tatsächlich gr<strong>in</strong>sen <strong>und</strong> ich erkannte schon an jenem Tag, was<br />

ich später unzählige Male immer wieder neu erfahren musste:<br />

Die Mitleidlosigkeit vieler Erfolgreicher gegenüber den weniger<br />

Erfolgreichen <strong>und</strong> erst recht gegenüber den ganz Erfolglosen.<br />

36


Ich gr<strong>in</strong>ste deshalb nicht, weil ich wusste, wie schwer es war,<br />

sich im Gymnasium zu halten, <strong>und</strong> dass es nun e<strong>in</strong>mal nicht<br />

allen bestimmt war, dort zu bleiben. Leider liess es Frank nicht<br />

bei diesen Worten bewenden, sondern trat noch nach, als<br />

bekannt wurde, welche sieben am Ende der Probezeit ebenfalls<br />

gehen mussten: "Da könnt ihr eben sehen, dass ihr viel<br />

arbeiten müsst." Diese Worte empörten e<strong>in</strong>en neben mir<br />

sitzenden Schüler, der bereits wusste, dass er e<strong>in</strong>er dieser<br />

sieben war, so sehr, dass er mir sagte: "Am liebsten würde ich<br />

dem jetzt e<strong>in</strong>e schmieren." Dummerweise lautete se<strong>in</strong><br />

Familienname auch noch Sp<strong>in</strong>ner, dementsprechend wurde er<br />

auch viel gehänselt - aber das erlebte ich ja auch viele Male mit<br />

me<strong>in</strong>em Namen -, <strong>und</strong> deshalb hielt er sich immer zurück. Nach<br />

der Probezeit sah ich ihn noch im gleichen Jahr durch e<strong>in</strong>en<br />

Zufall bei e<strong>in</strong>er Ausstellung, wo er direkt auf ich zukam, aber<br />

seitdem nie mehr, so wie auch fast alle anderen nie mehr.<br />

Blattfuss<br />

Das war ke<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong>, aber er hatte als unser Hauswart trotzdem<br />

so viel E<strong>in</strong>fluss, als wäre er e<strong>in</strong>er - <strong>und</strong> auf mich hatte er es<br />

ganz besonders abgesehen, deshalb erzähle ich hier auch von<br />

ihm.<br />

Im obigen Kapitel habe ich geschrieben, dass e<strong>in</strong>er namens<br />

Sp<strong>in</strong>ner gerade wegen dieses Namens oft gehänselt wurde <strong>und</strong><br />

es mir wegen me<strong>in</strong>es Namens nicht besser erg<strong>in</strong>g. Das f<strong>in</strong>g<br />

schon <strong>in</strong> der Primarschule an, die ich e<strong>in</strong> Jahr lang <strong>in</strong> Herrliberg<br />

besuchte, wo vor sechzig Jahren noch nicht so viele Reiche wie<br />

heute wohnten. Abgesehen von den K<strong>in</strong>dern, die so wie ich <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em der beiden dort bestehenden Heime lebten <strong>und</strong> deshalb<br />

ganz unten e<strong>in</strong>gestuft wurden, weil sie nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e richtige<br />

Familie hatten, waren die meisten E<strong>in</strong>wohner e<strong>in</strong>fache Leute <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Zeit, als die meisten e<strong>in</strong>ander noch kannten, vor allem im<br />

oberen Teil dieser Geme<strong>in</strong>de, wo es weniger Häuser hatte. So<br />

37


war es auch allgeme<strong>in</strong> bekannt, dass der damalige<br />

Geme<strong>in</strong>depräsident e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>facher Mann war, der e<strong>in</strong>e Metzgerei<br />

führte; er war also ke<strong>in</strong> Studierter wie heute, da e<strong>in</strong><br />

akademisches Studium sogar für so e<strong>in</strong>fache Posten als beste<br />

Voraussetzung gilt. Welcher Geme<strong>in</strong>schaftsgeist noch wehte,<br />

zeigte sich immer dann, wenn sich e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Tragödie<br />

ereignete, die sich <strong>in</strong> ganz Herrliberg herumsprach, <strong>und</strong> wenn<br />

weiter oben, wo es viel mehr Bauernland hatte, e<strong>in</strong> Sturm auf<br />

dem Gelände e<strong>in</strong>es Bauern besonders stark gewütet hatte,<br />

halfen die Bauern e<strong>in</strong>ander, um wieder aufzuräumen. Dafür<br />

waren natürlich wir Heimk<strong>in</strong>der als Gratis-Arbeitskräfte immer<br />

willkommen, doch der Wille zur gegenseitigen Hilfeleistung war<br />

wenigstens vorhanden.<br />

Diese Verb<strong>und</strong>enheit zeigte sich auch an den Sonntagen <strong>in</strong> der<br />

reformierten <strong>und</strong> katholischen Kirche, die noch heute nur knapp<br />

200 Meter ause<strong>in</strong>anderliegen. Man zeigte sich dort nicht nur,<br />

um gesehen zu werden, sondern auch aus echtem Interesse<br />

<strong>und</strong> manchmal auch aus Sorge darüber, wie es dem e<strong>in</strong>em<br />

oder anderen erg<strong>in</strong>g. Dagegen war es bei den Gottesdiensten<br />

<strong>in</strong> der kle<strong>in</strong>en Kirche oben neben dem Weiler Wetzwil, wo es<br />

auch e<strong>in</strong>e Primarschule gab, die ich fünf Jahre lang besuchte,<br />

fast immer weniger voll, sicher auch deshalb, weil der<br />

reformierte Pfarrer nach dem Gottesdienst unten <strong>in</strong> Herrliberg<br />

immer direkt nach oben fuhr, um dort e<strong>in</strong>en weiteren<br />

abzuhalten. Allerd<strong>in</strong>gs war diese kle<strong>in</strong>e Kirche, <strong>in</strong> der es drei<br />

Glocken hatte, die wir selbst bedienen mussten, was ich jedoch<br />

immer gern tat, mehr dafür bekannt, dass dort viele Ehen<br />

geschlossen wurden, <strong>und</strong> das hat sich bis heute noch nicht<br />

geändert. Dass diese Geme<strong>in</strong>de heute ganz anders ist, zeigt<br />

sich vor allem dar<strong>in</strong>, dass fast alle Familien, die dort vor sechzig<br />

Jahren lebten, schon längst ausgezogen s<strong>in</strong>d, weil die Mieten<br />

viel zu teuer geworden s<strong>in</strong>d.<br />

Natürlich gab es auch dort nicht nur Sonnensche<strong>in</strong>, was vor<br />

allem wir Heimk<strong>in</strong>der zu spüren bekamen, die ohne den Schutz<br />

38


von Eltern aufwachsen mussten. So traf es auch mich, aber nur<br />

mit Worten, weil ich zu stark war, als dass es jemand gewagt<br />

hätte, mit mir e<strong>in</strong>e Schlägerei zu beg<strong>in</strong>nen. Me<strong>in</strong> Klump-Fuss<br />

war me<strong>in</strong> Familienname Stump - <strong>und</strong> das im wahrsten S<strong>in</strong>n des<br />

Wortes. Als ich e<strong>in</strong>mal sagte, ich sei wie e<strong>in</strong> Fels, an dem nicht<br />

zu rütteln sei, <strong>und</strong> darauf jemand mich berühren wollte, war es<br />

logisch, dass ich reagierte <strong>und</strong> mich etwas bewegte, aber ohne<br />

dass ich zuschlagen wollte. Prompt entstand deshalb der<br />

Spitzname «Gummifels» <strong>und</strong> bald darauf gesellte sich noch<br />

«Klume» dazu, das zuerst von Stump <strong>und</strong> nachher von Klump<br />

abgeleitet wurde. Fortan hiess ich also «Gummifels Klume» -<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er, der <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Klasse g<strong>in</strong>g <strong>und</strong> mich nie besonders<br />

gern mochte, nannte mich e<strong>in</strong>mal sogar «Kluumeli».<br />

Ich nahm das Ganze nicht so ernst, weil wir ja immer noch<br />

dumme Buben von 10 bis 12 Jahren waren, aber es erstaunte<br />

mich, als ich feststellte, dass «Klump-Fuss» sich zum Teil bis<br />

<strong>in</strong>s Gymnasium durchgeschmuggelt hatte, obwohl die drei, die<br />

vorher <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Klasse gegangen waren, sich jetzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Parallelklasse befanden, aber wenigstens immer noch<br />

zusammen. So lag es nahe, dass «Klump-Fuss» bald e<strong>in</strong>mal zu<br />

«Stump-Fuss» <strong>und</strong> zeitweise sogar zu «St<strong>in</strong>kfuss» mutierte, so<br />

dass e<strong>in</strong>er, der mich e<strong>in</strong> wenig lieber mochte als andere, sogar<br />

sagte: «Ich weiss wirklich nicht, wie die auf St<strong>in</strong>kfuss<br />

gekommen s<strong>in</strong>d.»<br />

Wieder zurück zu Blattfuss, um den es hier geht: Er hiess<br />

eigentlich Blattmann, aber dieser Spitzname für ihn kursierte<br />

bereits, als wir dort <strong>in</strong> die erste Klasse e<strong>in</strong>traten. In der Zeit, als<br />

ich dort <strong>in</strong> die Schule g<strong>in</strong>g, setzte er uns nach Kräften zu. Da er<br />

direkt neben dem Schulhaus wohnte, fühlte er sich gestört,<br />

wenn wir auf dem Pausenplatz nebenan <strong>in</strong> der Mittagszeit mit<br />

e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Ball Fussball spielten, <strong>und</strong> nach e<strong>in</strong>em<br />

wochenlangen Kle<strong>in</strong>krieg konnte er durchsetzen, dass wir dort<br />

bis halb zwei Uhr nachmittags nicht mehr spielen durften; also<br />

war das so kurz vor der ersten Unterrichtsst<strong>und</strong>e nur für wenige<br />

M<strong>in</strong>uten möglich.<br />

39


E<strong>in</strong>mal ergab es sich, dass e<strong>in</strong>e Fensterscheibe <strong>in</strong> die Brüche<br />

g<strong>in</strong>g, was fast logisch war, aber wir nahmen es h<strong>in</strong>, dass<br />

Blattfuss die Reparaturrechnung nachher unserer Klasse<br />

aufbrummte. Jeder legte e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Kasse<br />

<strong>und</strong> schon war die ganze Sache gegessen, wie das heute so<br />

salopp ausgedrückt wird. Zum<strong>in</strong>dest glaubten wir das, denn ab<br />

diesem Zeitpunkt warf er gerade auf uns e<strong>in</strong> besonders<br />

scharfes Auge, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>es Tages geschah es, dass wir sowohl<br />

<strong>in</strong> unserem Klassenzimmer als auch draussen herumtobten;<br />

schliesslich waren wir immer noch Buben, Knaben <strong>und</strong> Jungs<br />

von 13 bis 14 Jahren. Dabei hatte ich das Pech, dass er mich<br />

zuerst sah, <strong>und</strong> zu me<strong>in</strong>er Überraschung brummte er mir für<br />

den späten Nachmittag nach der letzten Unterrichtsst<strong>und</strong>e e<strong>in</strong>e<br />

St<strong>und</strong>e Schneeschaufeln auf. Da er das Recht dazu hatte, was<br />

auch ich wusste, nahm ich diese Strafst<strong>und</strong>e mit Galgenhumor<br />

h<strong>in</strong>, <strong>und</strong> nachher war sogar er mit mir zufrieden - es war das<br />

letzte Mal, dass wir direkt ane<strong>in</strong>andergerieten.<br />

Natürlich sprach sich diese Strafst<strong>und</strong>e <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Klasse<br />

herum, so dass es mich nicht erstaunte, als e<strong>in</strong>er am nächsten<br />

Morgen noch kurz vor der ersten Unterrichtsst<strong>und</strong>e vorn auf die<br />

Tafel schrieb: «Stump-Fuss steht mit Blattfuss auf Kriegsfuss.»<br />

Allerd<strong>in</strong>gs wurde «Stumpfuss» geschrieben; ich führe diesen<br />

Namen nur hier getrennt auf, damit es wegen der Aussprache -<br />

vor allem wegen des «pf» - ke<strong>in</strong>e Missverständnisse gibt, <strong>und</strong><br />

das gilt auch für «Klump-Fuss». Ich konnte ehrlich darüber<br />

lachen, so wie ich das auch noch heute lustig f<strong>in</strong>de.<br />

40


Aerni<br />

Wer solche Vorurteile hat <strong>und</strong> glaubt, jemanden alle<strong>in</strong> wegen<br />

se<strong>in</strong>es Äusseren sofort beurteilen zu können, lag bei diesem<br />

<strong>Lehrer</strong> richtig. Er sah zwar so wie fast alle anderen aus, aber er<br />

hatte meistens e<strong>in</strong>en so grimmigen Ausdruck <strong>und</strong> sprach mit<br />

e<strong>in</strong>er so energischen Stimme, dass jemand, der ihn nicht<br />

kannte, tatsächlich Angst empf<strong>in</strong>den musste. Dass er jedoch<br />

e<strong>in</strong> gutmütiger Kerl war, erkannten wir schon bald, <strong>und</strong> dass er<br />

zudem e<strong>in</strong> leidenschaftlicher Berggänger war, erzählte er uns<br />

zwar nicht, aber ich erfuhr das dennoch viele Jahre später über<br />

verschiedene Umwege.<br />

Was er uns unterrichtete oder genauer beizubr<strong>in</strong>gen versuchte,<br />

war das Zeichnen, <strong>und</strong> ähnlich wie Frank hatte auch er se<strong>in</strong><br />

Zimmer so umgebaut, als würde er dort wohnen. Während der<br />

erstere e<strong>in</strong> Forschungszentrum hatte, unterhielt Aerni e<strong>in</strong><br />

riesiges Künstleratelier, <strong>in</strong> dem es von Maltafeln, grossen<br />

weissen Plakaten <strong>und</strong> Farbp<strong>in</strong>seln nur so wimmelte. Ich muss<br />

gestehen, dass dies das Fach war, von dem ich am wenigsten<br />

etwas begriff, sogar noch weniger als die<br />

naturwissenschaftlichen Fächer. Dabei war ich <strong>in</strong> der Zeit des<br />

K<strong>in</strong>dergartens erstaunlich talentiert gewesen, so dass ich die 20<br />

bis 30 Zeichnungen, die ich damals anfertigte, noch bis heute<br />

aufbewahrt habe. Danach verschwand dieses Talent <strong>und</strong> ich<br />

quälte mich schon <strong>in</strong> der Primarschule mühsam durch die<br />

St<strong>und</strong>en. Ich konnte ganz e<strong>in</strong>fach nichts <strong>und</strong> hatte auch ke<strong>in</strong><br />

Interesse dafür, aber ich musste mich halt irgendwie damit<br />

abf<strong>in</strong>den, dass ich irgendetwas kritzeln musste, weil auch<br />

dieses Fach bewertet wurde.<br />

Zu me<strong>in</strong>em eigenen Erstaunen kam ich immer knapp über die<br />

R<strong>und</strong>en, turnte also auch hier immer um die Note 4 herum -<br />

natürlich auch deshalb, weil dieser Aerni genauso wie Marxer<br />

mich trotz me<strong>in</strong>es Unvermögens irgendwie gern mochte. Ich<br />

er<strong>in</strong>nere mich tatsächlich nicht mehr daran, was wir alles zu<br />

41


zeichnen hatten, aber dafür umso mehr an e<strong>in</strong>e Aussage, die er<br />

<strong>in</strong> der zweiten Klasse, als wir ihn immer noch hatten, vor der<br />

ganzen Klasse machte: "Also e<strong>in</strong>es steht fest: Zeichnen kann<br />

der Stump überhaupt nicht." Andere wären über e<strong>in</strong> solches<br />

Urteil tief betrübt gewesen, aber ich nicht. Er hatte ja Recht, ich<br />

konnte wirklich nichts. Schon <strong>in</strong> dieser Schule <strong>und</strong> später auch<br />

<strong>in</strong> der nächsten sowie noch viel später im Berufs- <strong>und</strong><br />

Privatleben musste ich immer wieder solche Schläge<br />

e<strong>in</strong>stecken, doch da ich ja nie richtig geschlagen wurde - das<br />

wäre bei me<strong>in</strong>em Körperbau auch nicht unbed<strong>in</strong>gt zu<br />

empfehlen gewesen -, konnte ich das verkraften.<br />

Aerni gehörte zu den <strong>Lehrer</strong>n, die ich später zwar nicht vergass,<br />

an die ich aber weniger dachte als zum Beispiel an Schorsch I<br />

<strong>und</strong> Bohni. Unsere Wege kreuzten sich dennoch <strong>in</strong>direkt e<strong>in</strong><br />

paar Jahrzehnte später, als er schon lange verstorben war <strong>und</strong><br />

ich zeitweise als Taxifahrer für Beh<strong>in</strong>derte arbeitete. Da ergab<br />

es sich e<strong>in</strong>es Tages, dass ich <strong>in</strong> der Universitätskl<strong>in</strong>ik, dem<br />

grössten Krankenhaus der Stadt <strong>Zürich</strong>, e<strong>in</strong>en Mann abholte,<br />

der im Rollstuhl sass <strong>und</strong> von se<strong>in</strong>er Ehefrau begleitet wurde.<br />

Als wir am Gebäude vorbeifuhren, das vierzig Jahre zuvor<br />

unser Schulhaus gewesen war - unterdessen hat es andere<br />

Funktionen, aber es wird dort dr<strong>in</strong>nen immer noch irgendetwas<br />

unterrichtet -, sagte ich zur Frau, die direkt rechts neben mir<br />

sass, wie nebenbei: "Hier b<strong>in</strong> ich vor vierzig Jahren <strong>in</strong>s Gymi<br />

gegangen." Wer es nicht weiss: Dieses Wort ist typisch<br />

schweizerisch <strong>und</strong> bedeutet Gymnasium. Darauf antwortete sie<br />

zu me<strong>in</strong>em Erstaunen: "Dann haben Sie vielleicht auch Herrn<br />

Aerni gekannt, er hat hier Zeichnen unterrichtet."<br />

Im Verlauf des Gesprächs stellte es sich heraus, dass sie die<br />

beste Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> der Tochter dieses <strong>Lehrer</strong>s war, <strong>und</strong> erst jetzt<br />

erfuhr ich auch, dass er e<strong>in</strong> begeisterter Berggänger gewesen<br />

war. Als wir ause<strong>in</strong>anderg<strong>in</strong>gen, bat ich sie, ihrer Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> die<br />

besten Grüsse auszurichten <strong>und</strong> ihr mitzuteilen, dass ich e<strong>in</strong><br />

Schüler ihres Vaters gewesen war <strong>und</strong> dass er hervorragend<br />

42


unterrichtet hatte - tatsächlich habe ich das auch damals nie<br />

bestritten. Beim nächsten Mal, als ich wieder mit diesem<br />

Ehepaar fuhr, sagte mir die Frau, dass sie me<strong>in</strong>e Worte<br />

weitergeleitet <strong>und</strong> ihre Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> sich sehr darüber gefreut habe.<br />

Oetiker<br />

Auch das Fach Religion gehörte zum Unterrichtsplan, dieser<br />

Mann - e<strong>in</strong> echter Pfarrer - war dafür genau der Richtige. Es<br />

war noch e<strong>in</strong>e Zeit, als <strong>in</strong> den Schulen <strong>in</strong>sofern mehr<br />

Religionsfreiheit herrschte als heute, als e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> für sich<br />

selbst entscheiden konnte, ob er nur biblische Geschichten<br />

behandeln oder diese mit den anderen Weltreligionen<br />

vergleichen wollte. Wenn e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> selbst auch noch an den<br />

Wahrheitsgehalt der Bibel glaubte, waren die Schüler umso<br />

besser dran, weil letztlich immer etwas hängen blieb. Schon <strong>in</strong><br />

der Primarschule hatte ich e<strong>in</strong>en solchen <strong>Lehrer</strong> gehabt, jetzt<br />

hatte ich Oetiker - <strong>und</strong> ich b<strong>in</strong> noch heute den beiden dankbar,<br />

dass sie damals dazu beitrugen, dass ich irgendwie immer an<br />

diese ewige Wahrheit geglaubt habe.<br />

Wie wir wissen, hat sich <strong>in</strong> den letzten paar Jahrzehnten vieles<br />

ereignet, das dem christlichen Glauben viel Schaden zugefügt<br />

hat. Heute darf die biblische Geschichte nicht mehr alle<strong>in</strong><br />

erzählt werden, weil die anderen Weltreligionen gleichberechtigt<br />

behandelt werden müssen, <strong>und</strong> <strong>in</strong> fast allen Schulzimmern<br />

dürfen vorn ke<strong>in</strong>e Kruzifixe mehr hängen. Wenn Eltern trotzdem<br />

darauf bestehen, dass ihre K<strong>in</strong>der christlich unterrichtet werden,<br />

heisst es schnell e<strong>in</strong>mal, dass dies die Sache der Kirche sei,<br />

aber <strong>in</strong> den Schulen nichts mehr verloren habe. Die<br />

Hauptschuld tragen nicht die immer zahlreicheren Moslems, die<br />

unter uns leben. Viele Beschwerden wegen der Kruzifixe kamen<br />

zwar von ihnen, aber wer den Gr<strong>und</strong>ste<strong>in</strong> dafür legte, waren die<br />

sogenannten Freiliberalen, zu denen auch die Freidenker<br />

gehören. Früher waren solche Umstürze <strong>und</strong>enkbar, weil diese<br />

43


alle<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Chance gehabt hätten, aber als e<strong>in</strong> Teil der<br />

Moslems aufbegehrte, die alle<strong>in</strong> ebenfalls ke<strong>in</strong>e Chance gehabt<br />

hätten, sahen sie ihre St<strong>und</strong>e endlich gekommen. Zwei völlig<br />

verschiedene Weltanschauungen, die so verschieden s<strong>in</strong>d wie<br />

der Tag <strong>und</strong> die Nacht, haben sich bei uns also gef<strong>und</strong>en, um<br />

geme<strong>in</strong>sam dem Christentum zu schaden.<br />

Als Oetiker uns unterrichtete, war dieser Umsturz noch weit<br />

entfernt. Wir lebten zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit, als der Zweite Weltkrieg<br />

noch nicht allzu lange zurücklag <strong>und</strong> deshalb die furchtbaren<br />

Er<strong>in</strong>nerungen noch frisch waren. Insgesamt stand es jedoch<br />

immer noch ausser Frage, dass die europäischen Länder <strong>und</strong><br />

erst recht die Schweiz e<strong>in</strong> festes christliches F<strong>und</strong>ament hatten,<br />

auf dem jetzt ganz e<strong>in</strong>fach wieder neu aufgebaut werden<br />

musste. Es war aber trotzdem schon e<strong>in</strong>e Zeit, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>iges<br />

umgestülpt wurde. Die ersten Studentenunruhen fast überall <strong>in</strong><br />

Westeuropa, der direkt übertragene Krieg <strong>in</strong> Vietnam <strong>und</strong> die<br />

zunehmende Verbreitung vor allem des H<strong>in</strong>duismus <strong>und</strong><br />

Buddhismus durch Promis - der Islam war damals noch fast<br />

ke<strong>in</strong> Thema - liessen viele von uns immer mehr daran zweifeln,<br />

dass der christliche Glaube wirklich der alle<strong>in</strong> selig machende<br />

se<strong>in</strong> konnte. Dementsprechend schwer hatten es die<br />

Religionslehrer, aber für Oetiker war es <strong>in</strong>sofern etwas leichter,<br />

als wir <strong>in</strong> diesen Jahren noch halbe K<strong>in</strong>der waren. Dagegen<br />

musste se<strong>in</strong> Amtskollege, den wir <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er zweiten Schule<br />

hatten, schon gegen etliche Schwierigkeiten ankämpfen, weil<br />

wir dann unruhige Pubertierende waren.<br />

Es würde zu weit führen, wenn ich hier aufzählen wollte, was<br />

wir bei ihm alles behandelten, aber ich habe von se<strong>in</strong>em<br />

Unterricht stark profitiert. Am besten er<strong>in</strong>nere ich mich noch<br />

daran, dass er schon <strong>in</strong> der ersten St<strong>und</strong>e von e<strong>in</strong>er Reise <strong>in</strong><br />

den Nahen Osten erzählte, wobei er gleich e<strong>in</strong>e Landkarte<br />

aufhängte, die er mitgebracht hatte. Ich fand es <strong>in</strong>teressant,<br />

dass er nicht dorth<strong>in</strong> geflogen war, sondern e<strong>in</strong>e sehr lange<br />

Busreise auf sich genommen hatte. Es war geradezu köstlich,<br />

44


wie er von den Schwierigkeiten erzählte, die se<strong>in</strong>e Reisegruppe<br />

bei e<strong>in</strong>er Zwischenstation <strong>in</strong> Bulgarien hatte, <strong>in</strong>dem er fragte:<br />

«Wer kann schon Bulgarisch?» So hörte ich also schon wieder<br />

von dieser Sprache, die ich bei Schorsch I aus Versehen zu<br />

den romanischen gezählt hatte <strong>und</strong> von der ich damals noch<br />

nicht wusste, dass sie mich viele Jahre später genauso wie alle<br />

anderen slawischen Sprachen <strong>in</strong>teressieren würde. Oetiker<br />

hätte genauso gut fragen können, wer schon Russisch oder<br />

Englisch könne, das damals im ganzen ehemaligen<br />

sogenannten Ostblock noch nicht so bekannt war wie heute.<br />

Als er mit se<strong>in</strong>en Reiseerlebnissen schliesslich <strong>in</strong> Israel ankam,<br />

nahm er nur wenige Wochen vor dem Sechs-Tage-Krieg die<br />

Rolle e<strong>in</strong>es Propheten e<strong>in</strong>: Als er den Jordan zwischen dem<br />

See Genezareth <strong>und</strong> dem Toten Meer als Grenze zwischen<br />

Israel <strong>und</strong> Jordanien bezeichnete, erschrak er fast darüber,<br />

aber er sagte dann den bemerkenswerten Satz: «Leider gehört<br />

dieses Gebiet eben nicht zu Israel.»<br />

Abgesehen davon, dass er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fragest<strong>und</strong>e vor allem den<br />

Begriff «Religion» ausführlich erklärte, er<strong>in</strong>nere ich mich auch<br />

noch gut daran, dass wir <strong>in</strong> diesen St<strong>und</strong>en zusammen<br />

auffallend viele Kirchenlieder sangen, was für die heutige Zeit<br />

völlig unvorstellbar ist, aber schon beim zweiten<br />

Religionslehrer, den wir <strong>in</strong> der anderen Schule hatten, taten wir<br />

das nicht. Noch <strong>in</strong> dieser Zeit, als ich se<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>en besuchte,<br />

ergab sich mit ihm e<strong>in</strong>e hübsche Geschichte: Ausgerechnet <strong>in</strong><br />

der kle<strong>in</strong>en Kirche von Wetzwil, neben der ich auf dem Land<br />

wohnte, gab er an e<strong>in</strong>em Sonntag e<strong>in</strong>en Gastauftritt, von dem<br />

ich zuvor nichts erfahren hatte, aber aus irgende<strong>in</strong>em Gr<strong>und</strong>,<br />

den ich heute nicht mehr nachvollziehen kann, g<strong>in</strong>g ich nach<br />

dem Gottesdienst zum Kirchhof, den ich von me<strong>in</strong>em Zimmer<br />

aus sehen konnte. Ich war ziemlich überrascht, als ich ihn dort<br />

traf, <strong>und</strong> überlegte mir noch kurz, ob ich ihn als Herr Pfarrer<br />

oder doch bloss als Herr Oetiker ansprechen solle. Ich<br />

entschied mich für das letztere, aber ich hatte nachher schwere<br />

Gewissensbisse. Hätte ich ihn nicht doch lieber als Herr Pfarrer<br />

45


ansprechen sollen? Tatsächlich beschäftigte mich das nachher<br />

noch mehrere Tage lang, weil e<strong>in</strong> Pfarrer für mich immer noch<br />

e<strong>in</strong>e Respektsperson war. Da er sich jedoch <strong>in</strong> der nächsten<br />

St<strong>und</strong>e - also wieder im Gymnasium - nichts anmerken liess,<br />

durfte ich mich wieder <strong>in</strong>sofern beruhigen, als ich vielleicht doch<br />

nichts Falsches gesagt hatte.<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich noch gut daran, dass ich fast so etwas wie<br />

Trauer empfand, als ich mich nach me<strong>in</strong>er letzten St<strong>und</strong>e bei<br />

ihm - nach e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahren - von ihm verabschiedete. Er war<br />

tatsächlich e<strong>in</strong>e Art gute Seele der Schule, von der es zwar<br />

immer wieder welche gibt, aber <strong>in</strong>sgesamt doch immer viel zu<br />

wenige - <strong>und</strong> wenn sie doch gelegentlich vorkommen, müssen<br />

sie gegen Schwierigkeiten ankämpfen, die weiter oben<br />

angeordnet werden.<br />

Arm<strong>in</strong><br />

Ich nenne ihn zur Tarnung bewusst so, weil er von allen<br />

<strong>Lehrer</strong>n, die ich hatte, der E<strong>in</strong>zige war, dem es gelang, bekannt<br />

zu werden - nicht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Kreis, sondern <strong>in</strong> der<br />

ganzen Schweiz, weil er e<strong>in</strong>mal im Zusammenhang mit der<br />

Wahl der Sportler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Sportler des Jahres ebenfalls e<strong>in</strong>en<br />

Preis erhielt. Ich frage mich noch heute, was er mit Sport zu tun<br />

hatte, weil er Musik unterrichtete, das auf den ersten Blick<br />

wirklich nicht damit zusammenhängt.<br />

Es ist allgeme<strong>in</strong> bekannt, dass die Musiklehrer hochmusikalisch<br />

s<strong>in</strong>d, dass die meisten von ihnen mehr als e<strong>in</strong> Instrument<br />

spielen <strong>und</strong> zum Teil auch gut s<strong>in</strong>gen können. Bei Arm<strong>in</strong> war<br />

aber noch mehr zu erkennen, allerd<strong>in</strong>gs nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en ersten<br />

St<strong>und</strong>en. Da konzentrierte er sich darauf, möglichst viele von<br />

uns für die bald stattf<strong>in</strong>dende Aufführung e<strong>in</strong>es "Te Deum"<br />

rekrutieren zu können. So musste jeder E<strong>in</strong>zelne bei ihm<br />

vortraben <strong>und</strong> während er etwas spielte, lag es an uns,<br />

möglichst laut <strong>und</strong> möglichst gut mitzus<strong>in</strong>gen. Da ich <strong>in</strong> dieser<br />

46


Zeit gerade den Stimmbruch hatte, war ich nicht zu<br />

gebrauchen, <strong>und</strong> ich kann freimütig gestehen, dass ich darüber<br />

hocherfreut war. Ich hatte schlicht ke<strong>in</strong>e Lust zu s<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> als<br />

ich später hörte, wie viele <strong>in</strong>tensive S<strong>in</strong>gst<strong>und</strong>en die mehr als<br />

zwanzig Rekrutierten über sich br<strong>in</strong>gen mussten - auch wenn<br />

es draussen fünfzig Grad heiss war, ich übertreibe jetzt<br />

natürlich e<strong>in</strong> wenig -, konnte ich mich dafür beglückwünschen,<br />

dass ich mich am Rekrutierungstag nicht besonders<br />

angestrengt hatte.<br />

Ich konnte mir damals nicht im Ger<strong>in</strong>gsten vorstellen, dass ich<br />

etliche Jahrzehnte später gleich <strong>in</strong> drei Chören, die allerd<strong>in</strong>gs<br />

den gleichen Dirigenten hatten <strong>und</strong> deshalb oft geme<strong>in</strong>sam<br />

auftraten, mit Begeisterung s<strong>in</strong>gen würde, aber das lässt sich<br />

damit erklären, dass me<strong>in</strong> f<strong>in</strong>nischer Grossvater <strong>in</strong> den<br />

Zwanziger- <strong>und</strong> Dreissigerjahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts vor<br />

allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er engeren Heimat Karelien e<strong>in</strong> ziemlich bekannter<br />

Volkssänger war, der sich zugleich selbst auf der Kantele<br />

begleitete, das e<strong>in</strong>e Art Komb<strong>in</strong>ation zwischen Cembalo <strong>und</strong><br />

Harfe ist. Leider gibt es von ihm ke<strong>in</strong>e Aufnahmen, weil er dafür<br />

zu arm <strong>und</strong> <strong>in</strong> Bezug auf ganz F<strong>in</strong>nland halt doch noch zu<br />

wenig bekannt war. Dass auch ich teilweise musikalisch b<strong>in</strong>,<br />

habe ich also sicher von ihm geerbt, auch wenn sich das erst<br />

viel später gezeigt hat, <strong>und</strong> dazu gehört auch unser<br />

geme<strong>in</strong>sames Talent zum Dichten <strong>in</strong> Reimen, aber das ist<br />

wieder e<strong>in</strong> ganz anderes Kapitel.<br />

So sehr ich Ernst Heimerans Büchle<strong>in</strong> "<strong>Lehrer</strong>, die wir hatten"<br />

schätze, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Punkt kann ich ihm nicht Recht geben: Bei<br />

uns war die Musikst<strong>und</strong>e ke<strong>in</strong>e solche, die immer erst <strong>in</strong> den<br />

letzten Nachmittagsst<strong>und</strong>en stattfand, weil sie nur als e<strong>in</strong><br />

Randfach galt - das hätte sich Arm<strong>in</strong>, der auch aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>es<br />

bekannten Namens auch e<strong>in</strong>en gewissen E<strong>in</strong>fluss hatte, sicher<br />

nicht bieten lassen. Wenn ich mich richtig er<strong>in</strong>nere, waren<br />

unsere St<strong>und</strong>enpläne sogar so e<strong>in</strong>gerichtet, dass se<strong>in</strong>e<br />

St<strong>und</strong>en fast immer kurz vor oder nach der Mittagspause<br />

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abgehalten wurden, <strong>und</strong> er verstand es, den Unterricht so zu<br />

gestalten, dass niemand <strong>in</strong> Gefahr geriet, vor lauter Langeweile<br />

e<strong>in</strong>zuschlafen.<br />

Ich hatte mich zwar für das "Te Deum" nicht rekrutieren lassen,<br />

aber ich bekam e<strong>in</strong>mal doch e<strong>in</strong>e Gelegenheit, me<strong>in</strong><br />

beschränktes Talent zu zeigen. Das war bereits <strong>in</strong> der zweiten<br />

Klasse, als wir ihn immer noch als <strong>Lehrer</strong> hatten. Jeder musste<br />

irgendetwas aufführen, <strong>in</strong>dem er entweder etwas sang oder auf<br />

e<strong>in</strong>em Instrument spielte. Am besten er<strong>in</strong>nere ich mich, wie e<strong>in</strong><br />

besonders Hochbegabter, der erst zu Beg<strong>in</strong>n des zweiten<br />

Schuljahres neu zu uns gestossen <strong>und</strong> nach se<strong>in</strong>en Worten <strong>in</strong><br />

Hamburg aufgewachsen war - aber als schweizerischer<br />

Staatsangehöriger - <strong>und</strong> deshalb von uns allen am besten<br />

Hochdeutsch sprechen konnte, e<strong>in</strong> Stück von Mozart auf dem<br />

Klavier spielte <strong>und</strong> das sehr gut konnte, was wir alle neidlos<br />

anerkannten. Deshalb erstaunte es mich nicht, als ich e<strong>in</strong> paar<br />

Jahrzehnte später im Internet entdeckte, dass aus ihm e<strong>in</strong><br />

hochkarätiger Dirigent geworden war, der mehrere bekannte<br />

Orchester leitete, <strong>und</strong> dazu auch noch als e<strong>in</strong> Theaterregisseur<br />

arbeitete. Warum er noch heute nur <strong>in</strong> Insiderkreisen, aber nicht<br />

auch <strong>in</strong> den Medien bekannt ist, kann ich mir nur so erklären,<br />

dass wohl er selbst das so will <strong>und</strong> lieber still im H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />

arbeitet. Das trifft auch auf mehrere andere Dirigenten zu, die<br />

ich persönlich kennen gelernt habe; allerd<strong>in</strong>gs dirigieren diese<br />

Chöre <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e Orchester.<br />

Auch diesmal befand ich mich im Vergleich zu den anderen<br />

hochkarätigen Mitschülern aus piekfe<strong>in</strong>en Familien im<br />

H<strong>in</strong>tertreffen, weil mir nichts e<strong>in</strong>fiel <strong>und</strong> ich auch von den Eltern<br />

ke<strong>in</strong>e Hilfe bekam wie die anderen. Schliesslich fiel mir aber<br />

doch noch etwas e<strong>in</strong>: E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e, hübsche Melodie von Mozart<br />

- e<strong>in</strong>e von H<strong>und</strong>erten, die er geschrieben hat. Diese wurde<br />

me<strong>in</strong>e Rettung, denn ich pfiff sie derart laut, aber auch derart<br />

korrekt, dass nicht nur Arm<strong>in</strong>, sondern auch alle anderen<br />

begeistert waren. Der Stump, der immer etwas im H<strong>in</strong>tertreffen<br />

lag, konnte ja doch noch etwas.<br />

48


Die beste Er<strong>in</strong>nerung habe ich an die St<strong>und</strong>en, <strong>in</strong> denen Arm<strong>in</strong><br />

das Leben der berühmtesten Komponisten erzählte. Das<br />

dauerte bei jedem m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e halbe St<strong>und</strong>e <strong>und</strong> während<br />

er erzählte, spazierte er ständig um unsere Bänke herum, als<br />

wolle er sichergehen, dass auch tatsächlich alle zuhörten. Es<br />

gab aber ke<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong>, die Ohren nicht zu spitzen, weil er<br />

diese Biografien wirklich so e<strong>in</strong>drücklich erzählte, als hätte er all<br />

diese Komponisten persönlich gekannt. Ob Bach oder Händel,<br />

ob Telemann oder Buxtehude, ob Mozart oder Beethoven, ob<br />

Haydn oder Schubert, ob Chop<strong>in</strong> oder Schumann, ob Brahms<br />

oder Liszt - alles erzählte er so meisterhaft mit so vielen<br />

E<strong>in</strong>zelheiten, dass uns gar nichts anderes übrigblieb, als mit<br />

voller Konzentration zuzuhören. Dazu trug auch bei, dass se<strong>in</strong>e<br />

Stimme nicht nur die e<strong>in</strong>es nüchternen Erzählers war, sondern<br />

auch echte Anteilnahme <strong>und</strong> Betroffenheit erkennen liess.<br />

Am meisten zeigte er das, als er Beethovens Leben erzählte,<br />

aber nicht nur wegen Beethoven, sondern auch wegen e<strong>in</strong>es<br />

jungen, hochbegabten Komponisten namens Schubert, der im<br />

Leichenzug bei der Beisetzung Beethovens mitg<strong>in</strong>g <strong>und</strong><br />

bitterlich we<strong>in</strong>te, weil es ihm nicht gelungen war, zum grossen<br />

Meister e<strong>in</strong>en persönlichen Kontakt aufzunehmen. Heute ist es<br />

fast nicht mehr vorstellbar, dass Schubert, der heute zu den<br />

bedeutendsten Komponisten aller Zeiten zählt, viele Jahre lang<br />

ke<strong>in</strong>e echte Möglichkeit bekam, se<strong>in</strong> Können zu zeigen, weil er<br />

auch e<strong>in</strong> Opfer von Intrigen durch andere Komponisten wurde,<br />

die weniger begabt waren als er, aber die viel besseren<br />

Kontakte hatten. Deshalb war Beethoven se<strong>in</strong>e letzte Hoffnung<br />

gewesen, aber als es ihm endlich gelungen war, zu ihm Kontakt<br />

aufzunehmen, <strong>und</strong> dieser schon bereit war, ihn zu empfangen,<br />

wurde er sterbenskrank, so dass er genau an dem Tag, als er<br />

hätte empfangen werden sollen, von e<strong>in</strong>em Hausdiener<br />

abgewiesen wurde. So kam es nie zu e<strong>in</strong>em persönlichen<br />

Treffen <strong>und</strong> ich sage noch heute, dass diese fehlende<br />

Unterstützung mit dazu beigetragen hat, dass Schubert nur e<strong>in</strong><br />

Jahr später starb - zwar an e<strong>in</strong>er Krankheit, die damals noch<br />

49


unheilbar war, aber sie h<strong>in</strong>g sicher auch mit se<strong>in</strong>em tragischen<br />

Leben zusammen.<br />

Ich sage zwar nicht direkt, dass Schubert me<strong>in</strong> eigentlicher<br />

Liebl<strong>in</strong>gskomponist ist, aber es steht fest, dass uns e<strong>in</strong><br />

bestimmtes Datum verb<strong>in</strong>det: Der 19. November. Dieser ist<br />

nicht nur se<strong>in</strong> Todestag, sondern auch me<strong>in</strong> Geburtstag, <strong>und</strong><br />

zwar b<strong>in</strong> ich genau 125 Jahre nach se<strong>in</strong>em Ableben, also an<br />

e<strong>in</strong>em sogenannten r<strong>und</strong>en Tag, auf die Welt gekommen. Ich<br />

b<strong>in</strong> sicher, dass dieses geme<strong>in</strong>same Datum uns verb<strong>in</strong>det, auch<br />

dank dieses <strong>Lehrer</strong>s, der gerade Schuberts Leben, das er<br />

logischerweise direkt nach dem Beethovens behandelte, so<br />

e<strong>in</strong>drücklich <strong>und</strong> spannend zu erzählen wusste. Diese geistige<br />

Verb<strong>in</strong>dung hat sicher mit dazu beigetragen, dass ich se<strong>in</strong>e<br />

„Deutsche Messe“, die er eigentlich nur als e<strong>in</strong> Nebenwerk nach<br />

den Worten des heute fast vergessenen Johann Neumann<br />

komponierte, <strong>in</strong> viele Sprachen übersetzt habe. Was für mich<br />

Schubert ist, war Beethoven für me<strong>in</strong>en Vater: Er verehrte<br />

diesen nicht nur am meisten, sondern verschied auch fast auf<br />

den Tag genau im gleichen Alter, also mit nur 57 Jahren.<br />

Im Gegensatz zu den meisten <strong>Lehrer</strong>n, die ich hatte, gehörte<br />

Arm<strong>in</strong> zu jenen, die ihren offiziellen Ruhestand nicht lange<br />

geniessen konnten. Zudem gehörte auch er genauso wie Bohni<br />

zu jenen, die es e<strong>in</strong>fach nicht lassen konnten <strong>und</strong> sich auch<br />

nach ihrer offiziellen Versetzung <strong>in</strong> den Ruhestand immer<br />

wieder für neue Projekte e<strong>in</strong>spannen liessen. Immerh<strong>in</strong> kam<br />

ihm zugute, dass er wie e<strong>in</strong>gangs erwähnt me<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger <strong>Lehrer</strong><br />

war, der auch ausserhalb se<strong>in</strong>er Schule <strong>und</strong> sogar im ganzen<br />

Land bekannt wurde; dementsprechend wurde se<strong>in</strong> Ableben <strong>in</strong><br />

den Medien vermeldet. Dass er auch als streitfreudig gegolten<br />

hat, erfuhr ich erst bei me<strong>in</strong>en Recherchen zu diesem Buch,<br />

aber da ich weiss, wie viele Intrigen gerade im Bereich der<br />

Kunst immer wieder gesponnen werden, hat es mich auch nie<br />

<strong>in</strong>teressiert, warum Arm<strong>in</strong> diesen Ruf hatte.<br />

50


Keller<br />

Das war tatsächlich se<strong>in</strong> Familienname <strong>und</strong> selbst wenn ich<br />

se<strong>in</strong>en Vornamen, den ich unterdessen vergessen habe, hier<br />

miterwähnen würde, könnte das ke<strong>in</strong>e Folgen haben, weil<br />

dieser <strong>in</strong> der Schweiz e<strong>in</strong>er der häufigsten Familiennamen ist -<br />

genauso häufig wie Brunner, Huber, Meier, Müller, Pfister oder<br />

Tobler. Auch Keller gehörte wie Marxer, Dorigo <strong>und</strong> Egli zu den<br />

jüngeren Lehrkräften, aber was ihn von allen anderen<br />

unterschied, war se<strong>in</strong> auffallend gutes Aussehen, mit dem er<br />

auch als Filmstar oder Sänger e<strong>in</strong>e Karriere hätte e<strong>in</strong>schlagen<br />

können.<br />

Was Keller uns unterrichtete, war Turnen, also e<strong>in</strong> Fach, das<br />

schon immer den Ruf hatte, weniger wichtig zu se<strong>in</strong>, obwohl<br />

auch diese Noten voll bewertet wurden. Da jedoch bei uns nicht<br />

so wie <strong>in</strong> den USA e<strong>in</strong>e Sportart auch noch aktiv betrieben<br />

werden musste - das ist auch e<strong>in</strong>e Erklärung dafür, warum das<br />

R<strong>in</strong>gen, für das sich schon immer auffallend viele Burschen<br />

entschieden haben, dort als e<strong>in</strong> Nationalsport gilt -, war es<br />

leicht, e<strong>in</strong>e genügende Note zu bekommen, sofern die St<strong>und</strong>en<br />

regelmässig besucht wurden <strong>und</strong> niemand den Unterricht<br />

bewusst störte, aber das ziemte sich sowieso nicht für Söhne<br />

aus fe<strong>in</strong>en Familien, wie es die meisten von uns waren.<br />

Wer von uns zu Beg<strong>in</strong>n geglaubt hatte, das Turnen werde e<strong>in</strong>e<br />

leichte Sache, musste schon <strong>in</strong> der ersten Woche tüchtig<br />

umdenken, denn der Lehrplan schrieb vor, dass von den drei<br />

Wochenst<strong>und</strong>en zwei für e<strong>in</strong> Konditionstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g reserviert waren<br />

<strong>und</strong> nur die dritte als e<strong>in</strong>e Spielst<strong>und</strong>e gestaltet werden konnte.<br />

Auch wer so wie ich e<strong>in</strong>e gute Kondition hatte, musste <strong>in</strong> diesen<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs manchmal leiden, <strong>und</strong> wir konnten nicht e<strong>in</strong>sehen,<br />

<strong>in</strong>wiefern dieses viele Herumhüpfen, wie wir es sahen, uns viel<br />

nützen konnte. Vor allem <strong>in</strong> den ersten paar Turnst<strong>und</strong>en zog<br />

sich der e<strong>in</strong>e oder andere e<strong>in</strong>en Muskelkater zu, aber es war<br />

wenigstens nicht so schlimm wie e<strong>in</strong> paar Jahre später <strong>in</strong> der<br />

51


RS. Es sah zeitweise makaber aus, wie die meisten von uns,<br />

die nun e<strong>in</strong>mal untra<strong>in</strong>iert waren, mit e<strong>in</strong>em schweren<br />

Muskelkater die Treppen auf- <strong>und</strong> niederstiegen, aber nur <strong>in</strong> der<br />

ersten Woche. Je länger dieser Wehrdienst dauerte, desto<br />

besser <strong>und</strong> schneller wurden wir, so dass wir <strong>in</strong> der letzten<br />

Woche schon wie Rehle<strong>in</strong> herumrannten, wie es e<strong>in</strong>er<br />

ausdrückte.<br />

Die Schulst<strong>und</strong>en mit Keller s<strong>in</strong>d mir nicht nur wegen ihm<br />

selbst, dem verh<strong>in</strong>derten Film- <strong>und</strong> S<strong>in</strong>gstar, <strong>in</strong> so guter<br />

Er<strong>in</strong>nerung geblieben, sondern auch wegen zwei bestimmten<br />

Sportereignissen, bei denen er sozusagen als unsere graue<br />

Em<strong>in</strong>enz im H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> dabei war. Jetzt muss ich e<strong>in</strong> wenig<br />

ausholen: Da wir so viele Buben, Knaben oder Jungs waren,<br />

die <strong>in</strong> den Startlöchern zu e<strong>in</strong>er akademischen Laufbahn<br />

standen - die meisten schafften es später auch tatsächlich -, lag<br />

es nahe, dass nicht alle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Klasse untergebracht<br />

werden konnten. So gab es alle<strong>in</strong> für unseren Jahrgang nicht<br />

weniger als vier Parallelklassen zu etwa je 25 Schülern, <strong>und</strong><br />

auch <strong>in</strong> den oberen Schulklassen verhielt es sich so; nur <strong>in</strong> der<br />

siebten <strong>und</strong> höchsten Klasse waren es nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung<br />

nur noch drei Klassen.<br />

Unsere vier Parallelklassen bekamen natürlich ihre eigenen<br />

Namen: So waren wir die Klasse 1a, während die anderen 1b,<br />

1c <strong>und</strong> 1d hiessen, <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Jahr später waren wir die Klassen<br />

2a, 2b, 2c <strong>und</strong> 2d. Erst ab dem Herbst der zweiten Klasse<br />

wurde etwas umgeteilt; so gab es e<strong>in</strong>e Klasse 2e - ich weiss<br />

nicht mehr, welche Spezialfächer dort unterrrichtet wurden -,<br />

<strong>und</strong> ab der dritten Klasse wurden die paar wenigen, die<br />

Altgriechisch lernen wollten, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e eigene Klasse umgeteilt.<br />

Das verhielt sich aber nicht nur <strong>in</strong> unserer Schule so, die als<br />

Literargymnasium bezeichnet wurde, sondern auch <strong>in</strong> der<br />

benachbarten Realschule, die sich von der unseren nur<br />

dadurch unterschied, dass dort von vornhere<strong>in</strong> bekannt war,<br />

dass Altgriechisch nicht auf dem Lehrplan stehen würde.<br />

52


Eigentlich waren wir nicht weniger als acht Parallelklassen <strong>und</strong><br />

da wir manchmal zum etwas grösseren Gebäude der anderen<br />

wechseln mussten, um die St<strong>und</strong>en von Roth, Dorigo, Aerni,<br />

Frank <strong>und</strong> Arm<strong>in</strong> zu besuchen, bekamen wir auch die anderen<br />

immer wieder zu Gesicht, aber es ergaben sich zu diesen fast<br />

ke<strong>in</strong>e Kontakte. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> der untersten Klasse gab es also <strong>in</strong><br />

beiden Schulen zusammengezählt je 200 Burschen, was doch<br />

e<strong>in</strong>e stattliche Zahl war.<br />

Unsere vier Parallelklassen im Literargymnasium wurden also<br />

als 1a, 1b, 1c <strong>und</strong> 1d bezeichnet. Es war für mich <strong>in</strong>teressant,<br />

dass ich ausgerechnet <strong>in</strong> der Klasse C drei Burschen kannte,<br />

mit denen ich <strong>in</strong> der Primarschule <strong>in</strong> Herrliberg e<strong>in</strong> Jahr lang die<br />

gleiche Klasse besucht hatte. Auch diese drei konnten jedoch<br />

nicht verh<strong>in</strong>dern, dass zwischen uns <strong>und</strong> dieser Klasse wie<br />

oben bei Frank angedeutet schon <strong>in</strong> den ersten paar Monaten<br />

e<strong>in</strong>e Fe<strong>in</strong>dschaft aufgebaut wurde, die sich niemand so richtig<br />

erklären konnte. Ich glaube noch heute, dass es daran lag,<br />

dass unsere Klasse wie oben erwähnt schon <strong>in</strong> der<br />

dreimonatigen Probezeit vier Schüler verlor <strong>und</strong> am Ende noch<br />

sieben weitere gehen mussten, die durch zwei Neue nach den<br />

Sommerferien, also nach dieser Probezeit, nicht e<strong>in</strong>mal<br />

halbwegs ersetzt werden konnten. Deswegen wurden wir von<br />

denen im C, die fast ke<strong>in</strong>en Abgang zu verzeichnen hatten,<br />

immer wieder hochgenommen. Das schuf unter uns 13- bis 14-<br />

Jährigen e<strong>in</strong> Klima des Hasses, das noch mehr als e<strong>in</strong> Jahr<br />

lang bestand, solange wie ich selbst <strong>in</strong> diese Schule g<strong>in</strong>g. Es<br />

kam zwar nie zu e<strong>in</strong>er Schlägerei - das ziemte sich wie oben<br />

erwähnt nicht für Söhne aus fe<strong>in</strong>en Familien -, aber die<br />

Spannungen konnten förmlich mit e<strong>in</strong>em Messer durchschnitten<br />

werden. Dagegen hatten wir mit denen vom B <strong>und</strong> vom D nie<br />

Probleme, aber unser A-C-Zwist amüsierte sie natürlich<br />

trotzdem.<br />

Diese Spannung drückte sich auch dadurch aus, dass die<br />

anderen schon bald e<strong>in</strong> knallgelbes E<strong>in</strong>heitsleibchen <strong>und</strong><br />

53


schwarze E<strong>in</strong>heitshosen kauften - also das Tenue von Borussia<br />

Dortm<strong>und</strong>, aber ohne Werbeslogans, wie sie heute bei jedem<br />

Vere<strong>in</strong> üblich s<strong>in</strong>d -, um uns zu zeigen, welchen<br />

Zusammenhaltewillen sie hatten. Wir liessen uns aber auch<br />

nicht lumpen <strong>und</strong> schafften kurz darauf ebenfalls e<strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>heitstenue an, <strong>und</strong> zwar ausgerechnet e<strong>in</strong>es des FC Basel,<br />

der <strong>in</strong> diesem Jahr 1967 zum ersten Mal Meister <strong>und</strong><br />

Pokalsieger zugleich wurde. Die meisten von uns waren zwar<br />

ke<strong>in</strong>e Fans dieses Vere<strong>in</strong>s - auch das ziemte sich nicht als<br />

Zürcher, die Mehrheit bestand aus Fans des FCZ <strong>und</strong> e<strong>in</strong> paar<br />

wenige waren Fans des Stadtrivalen Grasshoppers -, aber wir<br />

konnten mit diesem E<strong>in</strong>heitstenue die anderen wenigstens<br />

provozieren.<br />

Ich f<strong>in</strong>de es noch heute lustig, dass ich mehr als e<strong>in</strong> Jahr<br />

später, als ich diese Schule nicht mehr besuchte <strong>und</strong> me<strong>in</strong>e<br />

Ausbildung im oben erwähnten zweiten Gymnasium fortsetzte,<br />

von mehreren Schülern hochgenommen wurde, weil ich mich <strong>in</strong><br />

den Turnst<strong>und</strong>en mit diesem Basler Leibchen zeigte. Dabei<br />

hatten sie eigentlich nichts gegen Basel <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en<br />

bekanntesten Fussballvere<strong>in</strong>, sicher auch deshalb, weil diese<br />

Stadt vom Appenzellerland aus gesehen im Gegensatz zu<br />

<strong>Zürich</strong> am anderen Ende der Welt liegt. Schon wenige Monate<br />

später mussten sie mich zum<strong>in</strong>dest wegen dieses Leibchens<br />

nicht mehr hochnehmen, weil ich ja weiterwuchs <strong>und</strong> es damit<br />

bald nicht mehr tragen konnte.<br />

Die erste Gelegenheit, der verhassten Parallelklasse zu zeigen,<br />

dass wir nicht nur wegen unseres farbenfroheren Tenues<br />

besser als sie waren, bot sich auf der bekannten Sportanlage<br />

Sihlhölzli, wo jedes Jahr die traditionellen Schul-<br />

Leichtathletikwettkämpfe stattfanden. Nachdem jeder über 100<br />

Meter gelaufen war, wobei ich als Zweitbester me<strong>in</strong>er Klasse<br />

abgeschnitten hatte, fanden wegen der knappen Zeit schon die<br />

Stafettenrennen für jeden Jahrgang statt, <strong>und</strong> diese hatten es <strong>in</strong><br />

sich. Zuerst waren wir als die Jüngsten dran <strong>und</strong> noch bevor wir<br />

54


uns aufstellten, spürten wir alle, dass es buchstäblich e<strong>in</strong><br />

Rennen um Leben <strong>und</strong> Tod werden sollte.<br />

Das Rennen auf dem Rasen bestand dar<strong>in</strong>, dass auf zwei<br />

Seiten von jeder Parallelklasse je fünf oder sechs Schüler - an<br />

die genaue Zahl er<strong>in</strong>nere ich mich nicht mehr - darauf warteten,<br />

dass ihnen von e<strong>in</strong>em von der anderen Seite aus e<strong>in</strong>er Distanz<br />

von etwa fünfzig Metern e<strong>in</strong> Staffelstab übergeben wurde, <strong>und</strong><br />

sobald alle von der e<strong>in</strong>en Seite drüben waren, g<strong>in</strong>g das Ganze<br />

von vorn los, bis am Schluss jeder wieder an se<strong>in</strong>em<br />

ursprünglichen Platz stand. Die Klasse, die den Stab als erste<br />

bis zum Schluss trug, gewann natürlich, also kam es auf jeden<br />

E<strong>in</strong>zelnen an. Wir «Basler» standen der damals noch<br />

bestehenden Aschenbahnpiste - der Tartar kam im Letzigr<strong>und</strong><br />

als erstem Stadion <strong>in</strong> ganz Europa erst e<strong>in</strong> Jahr später, wie ich<br />

mich noch gut er<strong>in</strong>nere - am nächsten; neben uns warteten die<br />

vom B, dann kamen die «Borussen» vom C <strong>und</strong> ganz <strong>in</strong>nen die<br />

vom D. Vor jeder Klasse stand ihr Turnlehrer <strong>und</strong> wie sehr der<br />

unsere mir vertraute, zeigte er auch dadurch, dass er mir kurz<br />

vor dem Start noch zubl<strong>in</strong>zelte. Gerade auch deshalb hatte er<br />

mich als Startläufer ausgewählt, was sich noch als e<strong>in</strong>e kluge<br />

Wahl erweisen sollte.<br />

Sobald jemand „Achtung, fertig, los!“ gebrüllt hatte - es wurde<br />

also ke<strong>in</strong>e Pistole verwendet, wie das bei den "echten"<br />

Leichtathletik-Wettkämpfen üblich war <strong>und</strong> noch heute so ist -,<br />

konnte das Rennen um Leben <strong>und</strong> Tod beg<strong>in</strong>nen. Obwohl es<br />

mir selbst nicht so schien, sagten mir nachher verschiedene,<br />

dass gerade ich schon zu Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>en so grossen Vorsprung<br />

herausgerannt hatte, dass wir alle davon zehren konnten.<br />

Trotzdem hatten wir Angst, dass wir dieses Rennen nicht<br />

gew<strong>in</strong>nen würden. Es konnte noch so viel geschehen, so<br />

konnten wir den Stab bei e<strong>in</strong>em Wechsel verlieren oder e<strong>in</strong>er<br />

konnte noch stolpern. Wir hätten zwar e<strong>in</strong>e Niederlage gegen<br />

die vom B oder D, die beide ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heitstenues trugen wie<br />

die «Borussen» vom C <strong>und</strong> wir «Basler» vom A, noch<br />

55


h<strong>in</strong>nehmen können, aber auf ke<strong>in</strong>en Fall gegen die vom C.<br />

Unsere Angst war jedoch unbegründet, weil wir mit e<strong>in</strong>em<br />

sicheren Vorsprung gewannen, ja, unser letzter Mann konnte<br />

es sich sogar noch leisten, demonstrativ jubelnd beide Arme<br />

hochzustrecken. Unser erstes Etappenziel war also erreicht, wir<br />

hatten es denen vom C gezeigt.<br />

Die zweite Gelegenheit bot sich erst e<strong>in</strong> Jahr später, als wir zur<br />

Klasse 2a aufgestiegen waren, <strong>und</strong> zwar zwischen den<br />

Frühl<strong>in</strong>gs- <strong>und</strong> Sommerferien beim ersten schuleigenen<br />

Fussballturnier, das jedoch aus Platzgründen, wie es hiess,<br />

nicht <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> stattfand, sondern <strong>in</strong> W<strong>in</strong>terthur. Wir mussten<br />

also extra dorth<strong>in</strong> reisen, was für uns Halbwüchsige damals<br />

noch e<strong>in</strong>e halbe Weltreise war, während die oberen Klassen <strong>in</strong><br />

<strong>Zürich</strong> bleiben durften, aber wenigstens konnten wir auch so<br />

etwas für das spätere Leben lernen.<br />

Das Turnier war so organisiert, dass <strong>in</strong> der ersten <strong>und</strong> zweiten<br />

Klasse je zwei Halbf<strong>in</strong>alspiele ausgetragen wurden, worauf jede<br />

Klasse ihren eigenen Meister ausspielte, <strong>und</strong> am Schluss<br />

spielte der Sieger der ersten gegen den Sieger der zweiten<br />

Klasse. Es konnte also leicht ausgerechnet werden, dass die<br />

älteren Schüler e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Vorteil hatten, <strong>und</strong> deshalb war es<br />

umso wichtiger, den Halbf<strong>in</strong>al <strong>und</strong> F<strong>in</strong>al des eigenen Jahrgangs<br />

zu gew<strong>in</strong>nen. Es wurde auf e<strong>in</strong>em Feld gespielt, das nur etwa<br />

die Hälfte der offiziellen Fussballfelder umfasste, <strong>und</strong> die<br />

Spielzeit dauerte nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung nur etwa e<strong>in</strong>e halbe<br />

St<strong>und</strong>e, ohne dass die Seiten gewechselt wurden. Da die<br />

Felder deutlich kle<strong>in</strong>er waren, wurden auch die Mannschaften<br />

auf sechs Feldspieler <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en Tormann reduziert, <strong>und</strong> ich<br />

bekam das Vorrecht, dass ich zu den sieben unserer Auswahl<br />

gehören durfte.<br />

Der Zufall führte dazu, dass das Los uns im Halbf<strong>in</strong>al<br />

ausgerechnet die verhasste Parallelklasse vom C bescherte,<br />

während die vom D e<strong>in</strong> Freilos hatten, weil die vom B aus<br />

56


Gründen, die wir nie genau erfuhren, ke<strong>in</strong>e Mannschaft nach<br />

W<strong>in</strong>terthur geschickt hatten. Die anderen konnten also von der<br />

Seitenl<strong>in</strong>ie aus genüsslich zuschauen, wie wir uns gegenseitig<br />

zerfleischten <strong>und</strong> trotzdem erstaunlich fair spielten.<br />

Obwohl unsere Mannschaft ständig anstürmte <strong>und</strong> e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en<br />

Torerfolg nur knapp verpasste, blieb das Spiel torlos, so dass<br />

e<strong>in</strong> Elfmeterschiessen über den E<strong>in</strong>zug <strong>in</strong> den F<strong>in</strong>al<br />

entscheiden musste. Was heisst aber Elfmeterschiessen? Da<br />

das Tor nur zwischen zwei <strong>und</strong> drei Metern breit <strong>und</strong> knapp<br />

zwei Meter hoch war, wurde aus e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>eren Distanz von<br />

etwa fünf Metern geschossen, <strong>und</strong> gerade dies wurde uns zum<br />

Verhängnis. Im Gegensatz zu den offiziellen Fussballspielen<br />

musste nicht e<strong>in</strong>er nach dem anderen antreten, sondern es<br />

konnte e<strong>in</strong>er alle<strong>in</strong> alle Bälle im Tor unterbr<strong>in</strong>gen, wenn er es<br />

wollte. Das ersparte e<strong>in</strong>erseits mir als weniger sicherem<br />

Schützen - ich war schliesslich der h<strong>in</strong>terste Verteidiger <strong>und</strong><br />

ke<strong>in</strong> Stürmer -, e<strong>in</strong>en Schuss zu treten, doch andererseits<br />

nützten die vom C diese Freiheit aus, <strong>in</strong>dem sie e<strong>in</strong>en Burschen<br />

namens Rusch bestimmten, das Ganze alle<strong>in</strong> zu besorgen. Ich<br />

gestehe noch heute, dass ich diesen Typen am liebsten<br />

erschlagen hätte, weil er so sicher schoss. Unser Tormann<br />

konnte sich noch so schnell strecken, der Ball war e<strong>in</strong>fach<br />

immer schneller. Unsere Jungs hielten zwar noch dagegen,<br />

<strong>in</strong>dem sie ebenfalls jeden versenkten - aber wie lange konnte<br />

das noch gut gehen? Schon hörte ich, wie e<strong>in</strong> paar vom C, die<br />

dicht danebenstanden, diesem Rusch immer wieder <strong>in</strong><br />

höhnischem Ton zuriefen: „Komm, schiess noch e<strong>in</strong>en!“<br />

Ne<strong>in</strong>, das konnte ich nicht mehr länger ertragen. So verzog ich<br />

mich <strong>und</strong> setzte mich etwa fünfzig Meter daneben auf den<br />

Rasen, um den Weltuntergang abzuwarten. Tatsächlich hätte<br />

ich e<strong>in</strong>e Niederlage als e<strong>in</strong>en solchen empf<strong>und</strong>en, deshalb<br />

schaute ich gar nicht h<strong>in</strong>. Nach etwa zehn M<strong>in</strong>uten hörte ich,<br />

wie die Leute ause<strong>in</strong>anderg<strong>in</strong>gen, <strong>und</strong> ich wagte es tatsächlich,<br />

mich umzudrehen, aber ich fragte nicht, wer gewonnen hatte.<br />

57


Schliesslich sickerte es doch durch - WIR hatten gewonnen!<br />

Das war der re<strong>in</strong>ste Wahns<strong>in</strong>n, wie es die heutigen<br />

Sportreporter ausdrücken. Ich habe nie erfahren <strong>und</strong> auch nie<br />

danach gefragt, auf welche Weise dieser Sieg zustande<br />

gekommen war, wer zuerst verschossen hatte - ob Rusch oder<br />

e<strong>in</strong> anderer -, aber e<strong>in</strong>er musste es ja gewesen se<strong>in</strong>. Auf jeden<br />

Fall war der Weg <strong>in</strong> den F<strong>in</strong>al jetzt frei.<br />

Obwohl die vom D ke<strong>in</strong> Halbf<strong>in</strong>alspiel <strong>in</strong> den Knochen hatten<br />

wie wir, spielten wir auch jetzt überlegen <strong>und</strong> stürmten fast<br />

ununterbrochen an, während ich als h<strong>in</strong>terster Verteidiger<br />

absicherte. Die Namen unserer Mannschaft s<strong>in</strong>d es wert, hier<br />

genannt zu werden: Im Tor spielte Mart<strong>in</strong> Sommer, zu dem ich<br />

als E<strong>in</strong>zigem nach me<strong>in</strong>em Weggang von dieser Schule noch<br />

während mehr als zwei Jahren Kontakt hatte; im Mittelfeld<br />

spielten Arnold Schmid, den wir alle Noldi nannten - er war es,<br />

der mich wegen des Satzes mit dem heftig wehenden Sturm <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e mit Marxer immer wieder gern hochnahm -, <strong>und</strong><br />

Mart<strong>in</strong> Bernet, der Gleiche, den ich zwanzig Jahre später <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Rechtsanwaltsbüro wieder traf. Im Sturm schliesslich<br />

spielten Thomas R<strong>in</strong>derknecht, der den Spitznamen „Noxli“ trug<br />

<strong>und</strong> später genauso wie Bernet e<strong>in</strong> Rechtsanwalt wurde,<br />

Christian Kaul - der Gleiche, dem Schorsch I im Vorjahr<br />

zugerufen hatte, er solle das Maul halten - <strong>und</strong> Thomas<br />

Lamprecht, der mich im Vorjahr auf dem Sihlhölzli als E<strong>in</strong>ziger<br />

aus der Klasse über 100 Meter geschlagen hatte, wofür ich<br />

mich aber e<strong>in</strong> paar Wochen nach diesem Turnier noch<br />

revanchieren konnte, so dass dann ich der Schnellste war.<br />

Wir hatten also je zwei Mart<strong>in</strong> <strong>und</strong> Thomas <strong>in</strong> unseren Reihen.<br />

Obwohl ich zu Sommer noch e<strong>in</strong>en Kontakt hatte, konnte ich<br />

später auch trotz des Internets nie genau herausf<strong>in</strong>den, was<br />

aus ihm geworden ist, <strong>und</strong> das betrifft auch Schmid, Kaul <strong>und</strong><br />

Lamprecht. Dagegen erfuhr ich über „Noxli“ nicht nur, dass er<br />

genauso wie Bernet e<strong>in</strong> Rechtsanwalt wurde, sondern auch<br />

über den guten Ruf, dass er besonders bei den Gutbetuchten<br />

58


eliebt <strong>und</strong> dementsprechend begehrt war.<br />

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Immerh<strong>in</strong> gibt es doch noch etwas zum Schmunzeln, wenn ich<br />

an diesen Mart<strong>in</strong> Sommer <strong>und</strong> vor allem an die Zeit denke, <strong>in</strong><br />

der wir zue<strong>in</strong>ander noch e<strong>in</strong>en Kontakt hatten: Im August des<br />

Jahres 1969, also kurz bevor ich 16-jährig wurde, fand im<br />

bekannten Stadion Letzigr<strong>und</strong> nur e<strong>in</strong>en Kilometer von der<br />

Wohnung me<strong>in</strong>es Vaters entfernt e<strong>in</strong> Leichtathletik-<br />

Länderkampf zwischen der Schweiz <strong>und</strong> Jugoslawien statt, <strong>und</strong><br />

zwar nur für Männer, was heute alle<strong>in</strong> aus Zeitgründen nicht<br />

mehr vorstellbar ist. Da die Stadt <strong>Zürich</strong> im Bestreben,<br />

möglichst viele Jugendliche für die Leichtathletik zu begeistern,<br />

das Angebot bekanntgab, dass alle unter 16-Jährigen e<strong>in</strong>en<br />

Gratis-E<strong>in</strong>tritt bekamen, nahm ich zu Sommer telefonisch<br />

Kontakt auf <strong>und</strong> fragte ihn, ob er daran <strong>in</strong>teressiert war. Das<br />

war nicht selbstverständlich, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon<br />

seit fast e<strong>in</strong>em Jahr nicht mehr <strong>in</strong> diese Schule g<strong>in</strong>g, aber er<br />

sagte zu me<strong>in</strong>em Erstaunen zu. Als wir uns dann beim E<strong>in</strong>gang<br />

des Stadions trafen - <strong>und</strong> zwar zum letzten Mal, am zweiten<br />

Wettkampftag erschien er nicht mehr -, trug er noch kurze<br />

Haare wie bisher, <strong>und</strong> er sagte mir noch, dass er jetzt <strong>in</strong> die<br />

Klasse g<strong>in</strong>g, die Altgriechisch belegte. Das erstaunte mich<br />

weniger als das, was ich nur drei Jahre später zu hören bekam,<br />

als ich e<strong>in</strong>en ehemaligen Schulkollegen der gleichen Klasse<br />

durch e<strong>in</strong>en Zufall im Zug traf <strong>und</strong> dieser mir von ihm Folgendes<br />

erzählte: In der Zwischenzeit hatte sich Sommer die Haare<br />

tüchtig wachsen lassen <strong>und</strong> er spielte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Band, wie viele<br />

andere das auch taten, weil es geradezu Mode war. Den<br />

allerletzten Kontakt zu ihm hatte ich im März 1971, als ich ihm<br />

aus e<strong>in</strong>er Laune heraus telefonierte, doch als er mir am Schluss<br />

dieses Telefongesprächs sagte, dass er sich über me<strong>in</strong>en Anruf<br />

sehr gefreut habe, konnte ich mir sagen, dass es nicht falsch<br />

gewesen war.<br />

59


Wer diesen Länderkampf übrigens gewann, <strong>in</strong> dem beide<br />

Mannschaften ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Athleten stellten, die man auch<br />

ausserhalb ihrer eigenen Länder kannte, waren die Schweizer,<br />

aber wegen zwei Nullern durch den Vertreter im<br />

Stabhochsprung <strong>und</strong> im Staffelrennen über 4x100 Meter wegen<br />

Überschreitens der Wechselmarke nur sehr knapp. Immerh<strong>in</strong><br />

war das Stadion an beiden Tagen ziemlich voll, was heute<br />

ebenfalls nicht mehr vorstellbar ist; schliesslich konnte sich<br />

dieser Wettkampf <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise mit den noch heute<br />

durchgeführten Meet<strong>in</strong>gs unter dem Namen "Weltklasse <strong>in</strong><br />

<strong>Zürich</strong>" messen, bei denen die modernen Gladiatoren der<br />

heutigen Zeit von e<strong>in</strong>em wie <strong>in</strong> Trance schreienden <strong>und</strong><br />

rhythmisch klatschenden Publikum angepeitscht werden.<br />

Noch etwas ist mir <strong>in</strong> besonderer Er<strong>in</strong>nerung geblieben: Vor<br />

dem Beg<strong>in</strong>n dieses Wettkampfs standen plötzlich alle auf, von<br />

denen fast nur Männer zu sehen waren, <strong>und</strong> da niemand über<br />

das Mikrofon verkündet hatte, dass jetzt die beiden<br />

Nationalhymnen gespielt würden, brauchte ich e<strong>in</strong> paar<br />

Sek<strong>und</strong>en, bis ich begriffen hatte, warum jetzt alle so feierlich<br />

aufgestanden waren. Nachdem wir zuerst die Hymne der<br />

Gäste, also die jugoslawische mit den Anfangsworten „Hej,<br />

Sloveni ...!“, gehört hatten, kam die schweizerische dran - eben<br />

der sogenannte Schweizerpsalm, der erst wenige Jahre zuvor<br />

auf Beschluss des B<strong>und</strong>esrats e<strong>in</strong>geführt worden war <strong>und</strong> damit<br />

die alte Hymne mit den kriegerischen Anfangsworten „Rufst du,<br />

me<strong>in</strong> Vaterland ...“ ersetzt hatte. Beide Hymnen hörte ich an<br />

diesem Nachmittag zum ersten Mal, aber während die<br />

jugoslawische heute nur noch e<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerungsstück ist, hat der<br />

Schweizerpsalm heute die gleiche Funktion wie vor mehr als<br />

e<strong>in</strong>em halben Jahrh<strong>und</strong>ert die alte Hymne, die zwar gleich kl<strong>in</strong>gt<br />

wie die britische <strong>und</strong> auch noch heute <strong>in</strong> Liechtenste<strong>in</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />

Norwegen als sogenannte Königshymne gespielt wird, aber<br />

ihren Ursprung eigentlich <strong>in</strong> der Schweiz hat. Leider kann<br />

jedoch nicht e<strong>in</strong>deutig bewiesen werden, dass es e<strong>in</strong><br />

60


helvetischer Offizier war, der diese Melodie als Erster im<br />

lothr<strong>in</strong>gischen Metz komponiert hatte.<br />

Während nach der E<strong>in</strong>führung des Schweizerpsalms als neue<br />

Nationalhymne im Jahr 1961 noch Zehntausende am liebsten<br />

auf die Barrikaden gestiegen wären, um für die Beibehaltung<br />

der alten zu kämpfen, würden das heute genau gleich viele tun,<br />

wenn der Versuch, wieder e<strong>in</strong>e neue Hymne e<strong>in</strong>zuführen,<br />

wirklich ernsthaft gewagt würde. Wenigstens ist man sich heute<br />

dar<strong>in</strong> zu fast h<strong>und</strong>ert Prozent e<strong>in</strong>ig, dass die Melodie die<br />

gleiche bleiben muss, aber auch die Worte, die viele<br />

„Progressive“ für die heutige Zeit als zu rückständig empf<strong>in</strong>den,<br />

s<strong>in</strong>d heute offensichtlich so gut verankert, dass sie vor allem bei<br />

Fussball- <strong>und</strong> Eishockeyländerspielen m<strong>in</strong>destens vom<br />

Publikum mit voller Inbrunst gesungen werden.<br />

-----------------------------------------------------<br />

Wieder zurück zu diesem F<strong>in</strong>alspiel: Trotz des fast ständigen<br />

Ansturms unserer drei Stürmer gelang ihnen erst kurz vor<br />

Schluss e<strong>in</strong> Tor, aber nachdem dieses endlich gefallen war,<br />

umarmten sich diese so, wie sie es vom Fernsehen kannten. Es<br />

gab sogar e<strong>in</strong>e Aufnahme von diesem Torjubel, irgende<strong>in</strong>er<br />

unserer Klasse hatte im richtigen Moment abgedrückt. E<strong>in</strong> paar<br />

Tage später bekam ich diese Aufnahme zu Gesicht, aber da ich<br />

nie danach gefragt hatte, wer abgedrückt hatte <strong>und</strong> wem dieses<br />

Bild gehörte, habe ich es auch nie mehr gesehen.<br />

Im Vergleich zum F<strong>in</strong>alspiel gegen die vom D, geschweige<br />

denn zum Halbf<strong>in</strong>alspiel gegen die vom C war das zweite<br />

F<strong>in</strong>alspiel gegen die Siegermannschaft der ersten Klasse<br />

geradezu k<strong>in</strong>derleicht. Wir spielten nochmals hochüberlegen<br />

<strong>und</strong> hätten deutlicher als 2:0 gew<strong>in</strong>nen müssen, aber die<br />

„Kle<strong>in</strong>en“, die uns zum grössten Teil tatsächlich körperlich<br />

unterlegen waren, wehrten sich eben mit allen Kräften.<br />

61


Ich erzähle das alles deshalb, weil dieser Turniersieg der<br />

e<strong>in</strong>zige Sportsieg war, den ich jemals <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben feiern<br />

durfte. Nachher erreichte ich sowohl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mannschaft als<br />

auch <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelwettkämpfen immer wieder vordere Plätze -<br />

immer zwischen dem zweiten <strong>und</strong> vierten -, aber eben nie mehr<br />

e<strong>in</strong>en ersten. Gerade deshalb habe ich diesen Sieg bis heute <strong>in</strong><br />

so guter Er<strong>in</strong>nerung behalten, aber den genauen Tag weiss ich<br />

trotzdem nicht mehr. Dafür er<strong>in</strong>nere ich mich umso mehr daran,<br />

dass wir sieben nach diesem Sieg auf e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Tribüne<br />

steigen durften <strong>und</strong> ke<strong>in</strong> Ger<strong>in</strong>gerer als der Rektor, von dem ich<br />

weiter unten auch noch schreiben werde, uns e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en<br />

Pokal überreichte <strong>und</strong> allen die Hand drückte. Genauso wie<br />

beim Bild mit dem Torjubel unserer drei Stürmer habe ich nie<br />

erfahren, was aus diesem M<strong>in</strong>i-Pokal später geworden ist.<br />

Dieser Turniersieg war für mich auch deshalb e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />

Entschädigung dafür, dass wir wenige Wochen zuvor bei e<strong>in</strong>em<br />

Grümpelturnier, wie der typisch schweizerische Ausdruck lautet,<br />

schon nach der ersten R<strong>und</strong>e ausgeschieden waren, obwohl<br />

wir <strong>in</strong> beiden Gruppenspielen hochüberlegen gespielt hatten.<br />

Es nützte uns nichts, dass wir das erste Spiel 2:0 gewonnen<br />

hatten, weil wir im zweiten nicht über e<strong>in</strong> torloses<br />

Unentschieden h<strong>in</strong>auskamen - auch deshalb nicht, weil unser<br />

Chancentod, wie ich ihn noch heute nenne, e<strong>in</strong>e<br />

h<strong>und</strong>ertprozentige Chance kläglich vergab, <strong>und</strong> zwar auf die<br />

gleiche Weise wie zuvor mehrmals im Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g: Statt den Ball<br />

mit dem Kopf h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zunicken oder mit der Brust<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zudrücken, hob er bei e<strong>in</strong>er idealen Flanke unbeholfen<br />

e<strong>in</strong> Be<strong>in</strong> wie e<strong>in</strong> Scherenspr<strong>in</strong>ger im Hochsprung. Das war <strong>in</strong><br />

der Schule noch der meistverwendete Sprungstil, weil der Flop<br />

erst e<strong>in</strong> paar Monate später bei den Olympischen<br />

Sommerspielen <strong>in</strong> Mexiko richtig bekannt <strong>und</strong> populär wurde,<br />

<strong>und</strong> der Straddle-Stil, den die meisten Athlet<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Athleten<br />

sprangen, war beim harten Sand nicht zu empfehlen. Da der<br />

Sieg also ausgeblieben war, blieb uns nichts anderes übrig, als<br />

die dritte Mannschaft, die wir zuvor geschlagen hatten,<br />

62


stürmisch anzufeuern, das heisst, die anderen taten dies, weil<br />

ich selbst Unheil ahnend mich h<strong>in</strong>ter dem Tor unseres zweiten<br />

Gegners aufhielt.<br />

Da die anderen natürlich wussten, dass sie mit e<strong>in</strong>em<br />

Vorsprung von drei Toren weiterkommen würden, stürmten sie<br />

wie die Wilden an. Kurz vor Schluss gelang ihnen tatsächlich<br />

das geforderte dritte Tor <strong>und</strong> es wurde h<strong>in</strong>ter dem anderen Tor<br />

totenstill. Wir g<strong>in</strong>gen alle betrübt nach Hause, weil wir <strong>in</strong> diesen<br />

Wochen so viel zusammen tra<strong>in</strong>iert hatten <strong>und</strong> uns schon wie<br />

e<strong>in</strong>e Art Burschenschaft sahen, <strong>und</strong> diese Stimmung wurde bei<br />

mir noch schlimmer, als me<strong>in</strong> Vater, bei dem ich damals<br />

vorübergehend e<strong>in</strong> paar Monate lang wohnte, mir noch sagte,<br />

dass die anderen halt besser gewesen waren. Sicher waren sie<br />

schlauer gewesen, weil sie schliesslich e<strong>in</strong> Tor mehr als wir<br />

zustandegebracht hatten. Im Gegensatz zum Vorjahr, als wir<br />

bei unserem ersten Turnier zweimal diskussionslos 1:2 verloren<br />

hatten, weil wir tatsächlich schwächer gespielt hatten, wäre es<br />

diesmal möglich gewesen, noch weit zu kommen.<br />

Dieses frühe Ausscheiden wurmte mich tatsächlich noch<br />

monatelang - so lange, wie ich noch <strong>in</strong> diese Schule g<strong>in</strong>g -,<br />

aber me<strong>in</strong>e schlimmste Niederlage, die ich viele Jahre lang nie<br />

wirklich überw<strong>in</strong>den konnte, erlebte ich im Herbst des gleichen<br />

Jahres. Es geschah für unsere Kategorie bei e<strong>in</strong>em Fünfkampf,<br />

der aus verschiedenen Diszipl<strong>in</strong>en bestand, <strong>und</strong> zwar aus<br />

e<strong>in</strong>em 100-Meter-Lauf, dem Weitsprung, dem Weitwurf mit dem<br />

Ball, e<strong>in</strong>er nicht ganz leichten Turnübung <strong>und</strong> dem Hochsprung.<br />

Nachdem ich mich im Lauf über 100 Meter beim Kollegen aus<br />

me<strong>in</strong>er Klasse für die knappe Niederlage im Vorjahr hatte<br />

revanchieren können, wobei ich mich an die genaue Laufzeit<br />

nicht mehr er<strong>in</strong>nere, <strong>und</strong> im Weitsprung knapp unter fünf Meter<br />

geblieben war, aber damit <strong>in</strong> beiden Diszipl<strong>in</strong>en das<br />

Punktemaximum erreicht hatte, kam der Weitwurf mit dem Ball -<br />

die Diszipl<strong>in</strong>, von der ich wusste, dass sie me<strong>in</strong>e schwächste<br />

war, <strong>und</strong> genau so weit kam es auch. Es fehlten lausige drei bis<br />

63


vier Meter, um die Limite zu übertreffen, mit der ich den ganzen<br />

Wettkampf als E<strong>in</strong>ziger unserer Kategorie mit dem möglichen<br />

Maximum von 140 Punkten gewonnen hätte. Alle<strong>in</strong> die<br />

Tatsache, dass ich das noch heute so gut weiss, zeigt deutlich<br />

genug, dass mir das noch lange nahe gegangen ist.<br />

Es nützte mir nachher nichts mehr, dass ich die Turnübung<br />

ohne Probleme meisterte <strong>und</strong> am Schluss mit 135 Zentimetern<br />

im Hochsprung für das Punktemaximum <strong>in</strong> dieser Diszipl<strong>in</strong><br />

gerade noch hoch genug sprang - allerd<strong>in</strong>gs auch erst im<br />

allerletzten Versuch, nachdem ich beim Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g zuvor jedes<br />

Mal an dieser Höhe gescheitert war. Diese Höhe mag allen, die<br />

diese Zeilen lesen, e<strong>in</strong> Lächeln entlocken, aber wir waren alle<br />

untra<strong>in</strong>ierte Burschen von erst 14 bis 15 Jahren <strong>und</strong> mussten<br />

zudem mit dem damals üblichen Scheren-Stil spr<strong>in</strong>gen. Dieser<br />

war auch zu empfehlen, weil wir nur harten Sand zur Verfügung<br />

hatten; also war es direkt gut, dass der Straddle-Stil für uns zu<br />

kompliziert gewesen wäre <strong>und</strong> der Flop wie oben erwähnt noch<br />

nicht richtig bekannt war <strong>und</strong> sowieso nicht möglich gewesen<br />

wäre.<br />

Ich erreichte genauso viele Punkte wie die Höhe im<br />

Hochsprung, also 135 Punkte. Auch diese Punktzahl hätte mir<br />

zum Sieg gereicht, aber nur ex-aequo mit drei anderen aus den<br />

Parallelklassen, wie ich noch am gleichen Tag erfuhr, doch das<br />

wäre mir gleich gewesen. Ich freute mich bereits über diesen<br />

Sieg, aber es kam anders: E<strong>in</strong> paar Tage später durfte e<strong>in</strong>er,<br />

der bei diesem Wettkampf aus irgende<strong>in</strong>em Gr<strong>und</strong> gefehlt<br />

hatte, diesen unter der Aufsicht e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen <strong>Lehrer</strong>s<br />

nachholen, weil jeder e<strong>in</strong>zelne Schüler dieses Programm<br />

absolvieren musste, wie es hiess. Ich empfand das deshalb als<br />

unfair, weil der entscheidende Tag nun e<strong>in</strong>mal der Wettkampf<br />

selbst ist, <strong>und</strong> wer dann verletzt, krank oder gesperrt fehlt, hat<br />

ganz e<strong>in</strong>fach Pech gehabt. So war es schon immer <strong>und</strong> so ist<br />

es noch heute - <strong>und</strong> wer weiss, was die beiden alle<strong>in</strong> auf dem<br />

Sportplatz gemauschelt hatten. So konnte dieser das<br />

64


grosszügige Entgegenkommen der Schule ausnützen, er<br />

brachte es auf 137 Punkte <strong>und</strong> übertraf somit unsere<br />

Vierergruppe um lausige zwei Punkte. Der e<strong>in</strong>zige kle<strong>in</strong>e Trost<br />

bestand dar<strong>in</strong>, dass es e<strong>in</strong>er aus unserer Klasse war, mit dem<br />

ich mich immer gut verstanden hatte, aber ich sage trotzdem<br />

noch heute, dass dieser Sieg mir damals gestohlen wurde.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs hätte ich die Rangliste sowieso nicht mehr lesen<br />

können, weil diese erst nach den Herbstferien auf dem<br />

allgeme<strong>in</strong> zugänglichen Anschlagbrett aufgehängt wurde <strong>und</strong><br />

ich dann aus Gründen, auf die ich weiter unten noch e<strong>in</strong>gehen<br />

werde, nicht mehr <strong>in</strong> diese Schule g<strong>in</strong>g.<br />

E<strong>in</strong>er der drei anderen, die mit mir ex-aequo den zweiten Platz<br />

belegten, hätte es eigentlich noch leichter gehabt als ich, den<br />

Wettkampf mit dem Maximum von 140 Punkten zu gew<strong>in</strong>nen,<br />

aber er scheiterte ausgerechnet bei der Turnübung, wie es<br />

hiess. Er gehörte zur Klasse D <strong>und</strong> wurde später e<strong>in</strong> sehr<br />

bekannter Fussballer, der es sogar bis <strong>in</strong> die<br />

Nationalmannschaft brachte, <strong>und</strong> arbeitete später noch viele<br />

Jahre lang als Tra<strong>in</strong>er. Er hatte beim Turnier <strong>in</strong> W<strong>in</strong>terthur<br />

genauso gefehlt wie e<strong>in</strong>er aus dem gleichen Vere<strong>in</strong>, der zur<br />

Klasse C gehörte, ebenfalls <strong>in</strong> der Nationalmannschaft spielte<br />

<strong>und</strong> später e<strong>in</strong> Arzt wurde. Wären diese beiden dabei gewesen,<br />

hätten wir dieses Turnier vielleicht gar nicht gew<strong>in</strong>nen können,<br />

vor allem wegen des Burschen vom D nicht. Das hatte er e<strong>in</strong><br />

Jahr zuvor bei e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en schul<strong>in</strong>ternen Handball-Turnier<br />

gezeigt, weil er im Gegensatz zu den meisten von uns<br />

hochaufgeschossen war <strong>und</strong> nur e<strong>in</strong> wenig hochspr<strong>in</strong>gen<br />

musste, um e<strong>in</strong> weiteres Tor zu erzielen.<br />

Es war mir schon damals klar, dass Niederlagen im Sport<br />

genauso dazugehören wie Siege <strong>und</strong> diese dementsprechend<br />

h<strong>in</strong>genommen werden müssen, aber wenn e<strong>in</strong> Sieg von derart<br />

historischen Dimensionen so knapp verpasst wird, kann e<strong>in</strong>en<br />

das e<strong>in</strong> ganzes Leben lang belasten, vor allem wenn e<strong>in</strong><br />

Olympiasieg, der immer noch als das grösste gilt, oder im<br />

65


Fussball e<strong>in</strong> Weltmeistertitel knapp verpasst wurden. Das<br />

haben unzählige Sportler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Sportler seitdem deutlich<br />

genug bewiesen, ja, e<strong>in</strong>e solche Niederlage kann sogar solche<br />

belasten, die gar nicht dabei waren. So hörte ich e<strong>in</strong>mal von<br />

e<strong>in</strong>em Bekannten aus Ungarn, dass die Niederlage im WM-<br />

F<strong>in</strong>al von 1954 gegen die deutsche Fussball-<br />

Nationalmannschaft noch heute im Land nicht ganz<br />

überw<strong>und</strong>en ist, aber auch <strong>in</strong> den Niederlanden schmerzt von<br />

den bisher drei WM-F<strong>in</strong>alniederlagen <strong>in</strong> den Jahren 1974, 1978<br />

<strong>und</strong> 2010 vor allem die erste gegen die Deutschen noch heute<br />

am stärksten.<br />

Da dieser Sieg also auch für mich so wichtig gewesen wäre,<br />

konnte ich über den zweiten Platz ke<strong>in</strong>e echte Freude<br />

empf<strong>in</strong>den, als ich e<strong>in</strong> paar Tage später e<strong>in</strong>e Art Silbermedaille<br />

bekam, während der Sieger e<strong>in</strong>e Art Goldmedaille<br />

entgegennehmen durfte. Ich schreibe bewusst so, weil ke<strong>in</strong><br />

echtes Silber zu sehen war <strong>und</strong> auch die Medaille des Kollegen<br />

nicht mit e<strong>in</strong>er m<strong>in</strong>destens 14-karätigen Goldlegierung<br />

überzogen war, wie das schon immer üblich war. Gerade<br />

deshalb konnte ich nie verstehen, dass jemand ausflippt oder<br />

sogar - etwas bös ausgedrückt - fast e<strong>in</strong>en Orgasmus<br />

bekommt, wenn e<strong>in</strong>e Medaille <strong>und</strong> vor allem e<strong>in</strong>e sogenannte<br />

goldene umgehängt wird. Mir selbst bedeutete diese Medaille<br />

wenig bis nichts; dementsprechend passte ich weniger gut auf<br />

sie auf, als wenn es e<strong>in</strong>e mit Gold überzogene gewesen wäre.<br />

Ich bekam mit me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung halt doch Recht, denn wäre<br />

es e<strong>in</strong>e echte Silbermedaille gewesen, hätte sie e<strong>in</strong> Leben lang<br />

gehalten. Ich bewahrte sie zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schachtel auf, aber die<br />

vielen Umzüge <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben nahmen sie halt doch derart<br />

h<strong>in</strong>, dass sie immer hässlicher wurde, bis ich sie schliesslich<br />

irgendwann auf den Müll warf.<br />

Wer diese Zeilen liest, kann erkennen, wie wichtig der Sport<br />

damals <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben war, am meisten der Fussball <strong>und</strong> die<br />

Leichtathletik, für die ich sogar Rekordlisten führte, die ich<br />

66


immer wieder erneuern musste, <strong>und</strong> zwar für die Schweizer<br />

Rekorde, Europarekorde <strong>und</strong> Weltrekorde. Da es noch ke<strong>in</strong><br />

Internet gab, mit dem heute die neusten Listen immer auf dem<br />

neusten Stand angeschaut <strong>und</strong> ausgedruckt werden können,<br />

musste ich immer wieder <strong>in</strong> Zeitungen nachschauen oder die<br />

Nachrichten hören, um zu erfahren, ob es für mich wieder<br />

Arbeit gab.<br />

Wie oben erwähnt war Keller bei all diesen Ereignissen als<br />

unsere graue Em<strong>in</strong>enz im H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> dabei, nur bei den<br />

beiden privat organisierten Grümpelturnieren fehlte er. Ich halte<br />

ihn nicht nur deshalb noch heute <strong>in</strong> so guter Er<strong>in</strong>nerung,<br />

sondern auch deshalb, weil er e<strong>in</strong>er der wenigen <strong>Lehrer</strong> war,<br />

die immer viel von mir hielten <strong>und</strong> an me<strong>in</strong>e Fähigkeiten<br />

glaubten. Auch über ihn habe ich leider nie erfahren, was aus<br />

ihm geworden ist.<br />

Genauso wie bei Aerni gibt es auch hier noch etwas<br />

Besonderes zu berichten - <strong>und</strong> wieder betrifft es e<strong>in</strong>e Fahrt, die<br />

ich mit e<strong>in</strong>er beh<strong>in</strong>derten Person machte, die wiederum von<br />

e<strong>in</strong>er anderen Frau begleitet wurde, <strong>und</strong> auch diese beiden<br />

holte ich <strong>in</strong> der Universitätskl<strong>in</strong>ik ab. Da ich sie mehrmals fuhr<br />

<strong>und</strong> die Begleitperson genauso redefreudig war wie ich, ergab<br />

es sich bald e<strong>in</strong>mal, dass wir zue<strong>in</strong>ander e<strong>in</strong>en guten Kontakt<br />

bekamen. Als wir an unserer ehemaligen Schule vorbeifuhren,<br />

sagte ich auch zu ihr, dass ich dort vierzig Jahre zuvor e<strong>in</strong><br />

Schüler gewesen war.<br />

„Genau wie me<strong>in</strong> Vater“, entgegnete sie dann zu me<strong>in</strong>er<br />

Überraschung. Es stellte sich heraus, dass sie die Tochter<br />

e<strong>in</strong>es Schülers der Klasse C war, <strong>und</strong> als ich ihr vom kle<strong>in</strong>en<br />

Krieg zwischen dem A <strong>und</strong> C erzählte <strong>und</strong> sie mit ihrem Vater<br />

darüber sprach, erzählte sie mir bei der nächsten Fahrt, dass<br />

auch ihr Vater sich daran er<strong>in</strong>nerte, aber nicht mehr wusste,<br />

welches die Ursache für diese Streitereien gewesen war.<br />

Immerh<strong>in</strong> tauschten wir zwei „alt“ gewordenen Männer über<br />

67


diese Frau noch Grüsse aus, aber es ist nie zu e<strong>in</strong>er<br />

persönlichen Begegnung gekommen, auch deshalb nicht, weil<br />

ich nicht alle vom C persönlich gekannt hatte, so auch diesen<br />

nicht, <strong>und</strong> auch er hatte mich nicht gekannt. Kurz darauf<br />

wechselte se<strong>in</strong>e Tochter den Arbeitsplatz, um sich<br />

weiterzubilden, wie sie mir noch anvertraut hatte, <strong>und</strong> ich habe<br />

sie nie mehr gesehen. So ist es naheliegend, dass auch ihr<br />

Vater <strong>und</strong> ich seitdem nie mehr vone<strong>in</strong>ander gehört haben.<br />

Der Monsieur<br />

Nach so viel Sport wird es jetzt wieder ernsthafter <strong>und</strong> ich kehre<br />

zu dem zurück, was im Leben wirklich zählt, sicher viel mehr als<br />

e<strong>in</strong>e Medaille, mit der damals sowieso noch fast nichts zu<br />

verdienen war, auch mit Werbeverträgen nicht - <strong>und</strong> wenn<br />

jemand e<strong>in</strong>en solchen hatte, durfte er oder sie an den<br />

Olympischen Spielen nicht mehr teilnehmen, die für fast alle<br />

Sportler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Sportler immer noch das Wichtigste <strong>in</strong> ihrem<br />

Leben waren <strong>und</strong> noch heute s<strong>in</strong>d. Erst <strong>in</strong> der zweiten Hälfte<br />

der Achtzigerjahre änderte sich das <strong>in</strong>sofern, als von jetzt an<br />

auch Profis teilnehmen durften, <strong>und</strong> das hatte auch e<strong>in</strong>e<br />

gewisse Konsequenz, weil auch im antiken Griechenland viele<br />

Olympiasieger Berufssportler waren, die tatsächlich davon<br />

leben konnten. Das ganze Theater um den sogenannten<br />

Amateurstatus, das auch dazu führte, dass zahlreiche<br />

Sportler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Sportler zu Unrecht disqualifiziert wurden -<br />

als bekanntestes Beispiel der US-amerikanische Mehrkämpfer<br />

Jim Thorpe, der im Jahr 1912 im Fünf- <strong>und</strong> im Zehnkampf<br />

Ergebnisse erzielte, mit denen er noch jahrzehntelang zu den<br />

Weltbesten gehört hätte -, wäre gar nicht nötig gewesen.<br />

Coubert<strong>in</strong> <strong>und</strong> Konsorten kannten sich also <strong>in</strong> der antiken<br />

griechischen Welt doch nicht so gut aus, wie sie immer<br />

vorgaben.<br />

Der Titel deutet es an: Was dieser Herr uns unterrichtete oder<br />

68


genauer beizubr<strong>in</strong>gen versuchte, war Französisch, <strong>und</strong> zwar<br />

erst ab dem Beg<strong>in</strong>n der zweiten Klasse, was heute völlig<br />

unvorstellbar wäre. Es galt noch als normal, dass die Kantone<br />

zum Teil krass verschiedene Unterrichtssysteme kannten, die<br />

auch dazu führten, dass <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>en Kantonen <strong>in</strong> den<br />

Gymnasien zuerst Late<strong>in</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong> den anderen zuerst<br />

Französisch unterrichtet wurden <strong>und</strong> Englisch <strong>in</strong> der zweiten<br />

Klasse oder wie bei uns sogar erst <strong>in</strong> der vierten e<strong>in</strong>geführt<br />

wurde.<br />

Da dieser <strong>Lehrer</strong> e<strong>in</strong>en deutschen Familiennamen trug, der<br />

jedoch <strong>in</strong> der französischsprachigen Westschweiz häufig<br />

vorkommt, was wir damals noch nicht wussten, dachten wir vor<br />

der ersten St<strong>und</strong>e, dass wir es ähnlich wie bei Schorsch I mit<br />

jemandem zu tun bekommen würden, der e<strong>in</strong>e Fremdsprache<br />

unterrichtete, die für ihn selbst auch e<strong>in</strong>e solche war. Es stellte<br />

sich jedoch schon bei se<strong>in</strong>en ersten Worten heraus, dass<br />

Französisch wohl se<strong>in</strong>e Muttersprache war - oder se<strong>in</strong>e<br />

bestbeherrschte, wie es heute heisst - <strong>und</strong> damit gegenüber<br />

anderen <strong>Lehrer</strong>n e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Wettbewerbsvorteil hatte. Ich<br />

glaube aber noch heute, dass er e<strong>in</strong> sogenannter Bil<strong>in</strong>gue war,<br />

also zweisprachig aufgewachsen war, denn er sprach beide<br />

Sprachen fliessend <strong>und</strong> ohne jegliche Unsicherheit, aber se<strong>in</strong><br />

französischer Akzent war nicht zu überhören, wenn er Deutsch<br />

oder auch Schweizerdeutsch sprach.<br />

Wenn ich me<strong>in</strong>en späteren Werdegang nochmals Revue<br />

passieren lasse, kann ich mir heute selbst fast nicht mehr<br />

vorstellen, dass ich <strong>in</strong> diesem Fach zu Beg<strong>in</strong>n überhaupt nichts<br />

begriff <strong>und</strong> sogar noch schlechter war als im Late<strong>in</strong>, mit dem ich<br />

<strong>in</strong> den ersten paar Wochen ebenfalls Probleme gehabt hatte.<br />

Ich befand mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ähnlichen Lage wie se<strong>in</strong>erzeit der noch<br />

heute weltberühmte Naturforscher Alexander von Humboldt, der<br />

auch trotz der guten Erziehung <strong>und</strong> Geduld se<strong>in</strong>es Hauslehrers<br />

Christian Kunth jahrelang von dieser Sprache nichts begriff, so<br />

dass er bald e<strong>in</strong>mal als e<strong>in</strong> hoffnungsloser Fall galt. Es dauerte<br />

69


e<strong>in</strong>e ganze Weile, bis ihm der Knopf aufg<strong>in</strong>g <strong>und</strong> er später bei<br />

se<strong>in</strong>er Amerikareise so gut Französisch konnte, dass er sich mit<br />

se<strong>in</strong>em Gefährten <strong>und</strong> geistigen Zwill<strong>in</strong>gsbruder Aimé Bonpland<br />

fünf Jahre lang nur <strong>in</strong> dieser Sprache unterhielt, bevor er wieder<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Heimatstadt Berl<strong>in</strong> zurückkehrte. Es musste auch<br />

Französisch se<strong>in</strong>, weil Bonpland ke<strong>in</strong> Deutsch verstand <strong>und</strong><br />

beide nur bruchstückhaft Englisch sprachen, das damals noch<br />

nicht die heutige Weltbedeutung hatte, aber immerh<strong>in</strong> sprachen<br />

beide auch sehr gut Spanisch, was <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika<br />

lebensnotwendig war. Ich weiss das alles so gut, weil ich e<strong>in</strong>e<br />

besondere Biografie über Humboldt gelesen habe, <strong>in</strong> der auf<br />

romanhafte <strong>und</strong> lebendige Weise geschildert wird, was er dort<br />

alles erlebt hat, <strong>und</strong> zu me<strong>in</strong>em Glück habe ich dieses Buch<br />

nicht so wie andere wegen mehrerer Umzüge verloren.<br />

Noch heute er<strong>in</strong>nere ich mich gut an die Szene, als ich vom<br />

Monsieur dazu aufgefordert wurde, vorn auf die Wandtafel<br />

Worte zu schreiben, die er mir diktierte: Quel est, quelle est -<br />

e<strong>in</strong>e dieser beiden Varianten hätte ich schreiben sollen, aber<br />

ich schrieb nur „quelles“ <strong>und</strong> wusste dann nicht mehr weiter,<br />

also ähnlich wie e<strong>in</strong> Jahr zuvor bei Marxer. Ich war e<strong>in</strong><br />

hoffnungsloser Fall, so dass ich mich bald wieder setzen durfte,<br />

aber an diesem Tag sagte er noch nichts. Wenige Tage oder<br />

Wochen später - so genau weiss ich es auch wieder nicht -<br />

konnte er es nach e<strong>in</strong>er ähnlichen Szene, bei der ich<br />

wenigstens nicht vorn etwas hätte schreiben sollen, nicht mehr<br />

lassen, vor der ganzen Klasse diese unvergesslichen Worte zu<br />

sagen: „Wir wissen ja alle, dass Stump nichts weiss.“<br />

Diese Worte hätten e<strong>in</strong>en anderen treffen <strong>und</strong> verletzen<br />

können, aber nicht mich. Er hatte ja Recht, ich wusste<br />

tatsächlich nichts - oder genauer noch nichts. Ja, wenn der<br />

Monsieur <strong>und</strong> alle anderen <strong>in</strong> dieser Klasse, aber auch ich<br />

selbst nur hätten voraussehen können, dass ich e<strong>in</strong> paar Jahre<br />

später ähnlich wie se<strong>in</strong>erzeit Humboldt fliessend Französisch<br />

sprechen <strong>und</strong> sogar Gedichte - wenn auch sehr e<strong>in</strong>fache - <strong>in</strong><br />

70


dieser Sprache schreiben <strong>und</strong> sogar Übersetzungen von<br />

Büchern <strong>in</strong>s Deusche machen würde! Zudem gehört<br />

Französisch heute zu den fünf Sprachen, die ich als me<strong>in</strong>e<br />

persönlichen klassischen bezeichne, weil ich sie fliessend<br />

spreche <strong>und</strong> schreibe <strong>und</strong> sogar schon <strong>in</strong> allen diesen<br />

Sprachen geträumt habe, was immer als e<strong>in</strong> Kennzeichen für<br />

gute Kenntnisse e<strong>in</strong>er Sprache gilt, <strong>und</strong> zwar auf Englisch,<br />

Französisch, Italienisch, Spanisch <strong>und</strong> Portugiesisch. Dazu<br />

kommen noch fünfzehn weitere Sprachen, die ich zwar weniger<br />

gut beherrsche, mit denen ich aber ebenfalls viel anfangen<br />

kann - <strong>und</strong> es s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>eswegs nur romanische <strong>und</strong><br />

germanische Sprachen, die für die Deutschsprachigen, wie ich<br />

es auch b<strong>in</strong>, am leichtesten zu lernen s<strong>in</strong>d.<br />

<strong>Me<strong>in</strong>e</strong> Unbeholfenheit <strong>in</strong> diesem Fach kam sicher auch daher,<br />

dass ich im Gegensatz zu allen anderen nicht aus e<strong>in</strong>em<br />

sogenannten geordneten Elternhaus kam <strong>und</strong> niemanden hatte,<br />

der mir irgendwie helfen konnte oder wollte. Me<strong>in</strong> Vater, bei<br />

dem ich <strong>in</strong> dieser Zeit wenige Monate wohnte, versuchte es<br />

zwar e<strong>in</strong>mal mit mir, aber auch er musste bald e<strong>in</strong>sehen, dass<br />

es mit mir nichts wurde. Immerh<strong>in</strong> gelang es mir, mich im<br />

Verlauf der nächsten paar Monate wenigstens e<strong>in</strong> bisschen zu<br />

verbessern, so dass auch der Monsieur nicht darum herumkam,<br />

das vor der ganzen Klasse e<strong>in</strong>zugestehen. Es sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e<br />

Ironie des Schicksals zu se<strong>in</strong>, dass ich ausgerechnet bei<br />

diesem Fach nicht mehr weiss, welche Note ich bekam - die<br />

Zeugnisse aus dieser Zeit habe ich schon längst irgendwann<br />

verloren -, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mehr als<br />

e<strong>in</strong>e 4 erreicht habe. Dazu gehört auch, dass ich mich<br />

überhaupt nicht mehr daran er<strong>in</strong>nere, wie die Ex bei ihm<br />

gestaltet wurden.<br />

Kurz bevor sich unsere Wege trennten, gab es noch e<strong>in</strong>e<br />

Geschichte zum Schmunzeln: So wie jeder andere, der e<strong>in</strong><br />

Buch oder auch nur e<strong>in</strong> Büchle<strong>in</strong> verfasst hat, warb e<strong>in</strong>es Tages<br />

auch der Monsieur für sich, als er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es<br />

71


Grammatikbüchle<strong>in</strong> vorstellte. Natürlich liess auch ich es mir<br />

nicht nehmen, e<strong>in</strong> solches zu kaufen, <strong>und</strong> es schien auf den<br />

ersten Blick auch gut geraten zu se<strong>in</strong>. Im Gegensatz zum<br />

anderen Büchle<strong>in</strong> mit dem Titel „Est-ce ‚a‘ ou ‚de‘?“, das er uns<br />

selbst empfohlen hatte <strong>und</strong> ich noch heute aufbewahre, habe<br />

ich das se<strong>in</strong>e nie durchgearbeitet, was eigentlich zu bedauern<br />

ist, aber es war beim ersten H<strong>in</strong>schauen auch e<strong>in</strong> wenig<br />

kompliziert geraten. Heute, da ich mehr Zeit hätte, kann ich es<br />

nicht mehr, weil ich wie so manches andere Buch oder Büchle<strong>in</strong><br />

ausgerechnet auch das se<strong>in</strong>e irgendwann verloren habe, <strong>und</strong><br />

da auch se<strong>in</strong>e Spur sich irgendwo verloren hat, kann ich auch<br />

ke<strong>in</strong>es mehr nachbestellen.<br />

Gemmi<br />

Ich verschreibe mich hier nicht, das war tatsächlich der<br />

Familienname dieses <strong>Lehrer</strong>s. Ich konnte ihn mir auch deshalb<br />

gut merken, weil es <strong>in</strong> der Primarschule, die ich <strong>in</strong> Herrliberg<br />

besucht hatte, e<strong>in</strong>en <strong>Lehrer</strong> namens Gimmi gegeben hatte -<br />

also mit e<strong>in</strong>em „i“ zur Unterscheidung - <strong>und</strong> weil dieser Name<br />

im Schweizerdeutschen die Abkürzung für e<strong>in</strong> Gymnasium ist.<br />

Gemmi gehörte zu den wenigen <strong>Lehrer</strong>n, mit denen ich nie so<br />

richtig warm wurde, aber das lag nicht an ihm, sondern an mir<br />

selbst, doch am meisten an dem, was er uns ab dem Beg<strong>in</strong>n<br />

der zweiten Klasse unterrichtete, nämlich Physik. Bis zu diesem<br />

Zeitpunkt hatte ich von diesem Fach noch fast nichts gehört <strong>und</strong><br />

so ist es klar, dass ich auch nicht wusste, was es da zu<br />

unterrichten gab. Zudem liess auch Gemmis Gesichtsausdruck<br />

h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>er auffallend dicken Brille darauf schliessen, dass mit<br />

ihm nicht zu spassen war - es sei denn, e<strong>in</strong> Schüler war so gut,<br />

dass er elegant darüber h<strong>in</strong>wegspr<strong>in</strong>gen konnte. Schon die<br />

ersten Worte, die jene e<strong>in</strong>es zackigen Offiziers se<strong>in</strong> konnten,<br />

zeigten mir, dass fortan e<strong>in</strong> neuer W<strong>in</strong>d wehte: „Von jetzt an<br />

werden wir bis zum Herbst Physik betreiben, danach e<strong>in</strong> halbes<br />

72


Jahr lang Chemie!“ Potztausend! Der Mann wusste genau, was<br />

er wollte.<br />

Eigentlich s<strong>in</strong>d die Physik <strong>und</strong> die Chemie genauso wie die<br />

Biologie <strong>und</strong> alle Aspekte der Mathematik hoch<strong>in</strong>teressante<br />

Fächer, was ich aber erst viele Jahre später entdeckte, doch <strong>in</strong><br />

diesem Alter mit erst vierzehne<strong>in</strong>halb Jahren konnte ich damit<br />

überhaupt nichts anfangen. Ich verstand nicht nur Bahnhof,<br />

sondern es ödete mich zeitweise sogar an, <strong>und</strong> ich musste<br />

gegen das E<strong>in</strong>schlafen ankämpfen. So liegt es nahe, dass ich<br />

nichts mitbekam, <strong>und</strong> zu diesem Kapitel gehört auch, dass die<br />

Physik sowohl <strong>in</strong> der ersten als auch <strong>in</strong> der zweiten Schule das<br />

e<strong>in</strong>zige Fach war, <strong>in</strong> dem ich immer nur e<strong>in</strong>e ungenügende<br />

Note schrieb, also nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e 4 schaffte, wirklich ke<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>ziges Mal. Ich war vor allem hier <strong>in</strong> alfabetischer Reihenfolge<br />

alles zusammen, was ich nicht nur <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Schuljahren,<br />

sondern auch später im Berufsleben <strong>und</strong> zudem <strong>in</strong> der Armee<br />

immer wieder zu hören bekam, wobei nicht immer ich geme<strong>in</strong>t<br />

war: E<strong>in</strong>e Flasche, e<strong>in</strong> Habasch, e<strong>in</strong>e Niete, e<strong>in</strong>e Null, e<strong>in</strong>e<br />

Nuss, e<strong>in</strong>e Pflaume <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Pflock.<br />

Immerh<strong>in</strong> er<strong>in</strong>nere ich mich aus Gemmis Unterrichtsst<strong>und</strong>en an<br />

e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Wort: Vektor. Das alle<strong>in</strong> genügte natürlich nicht, um<br />

bald irgendetwas zu erwirtschaften, <strong>und</strong> auch der <strong>Lehrer</strong> merkte<br />

bald, dass ich e<strong>in</strong> hoffungsloser Fall war. Zu me<strong>in</strong>em Glück<br />

habe ich schon fast alles vergessen, was mit ihm ablief, aber<br />

nicht die e<strong>in</strong>e Szene, als er mich dazu aufforderte, vorn an der<br />

Wandtafel etwas zu erklären, obwohl er genau wissen konnte,<br />

wie die Geschichte enden würde. So stand ich dort genauso<br />

hilflos wie beim „quelles“ <strong>in</strong> der Französisch-St<strong>und</strong>e <strong>und</strong> als<br />

Gemmi nach nur wenigen Sek<strong>und</strong>en sah, dass er aus mir nichts<br />

herausholen konnte, sagte er vor der ganzen Klasse mit<br />

sichtlichem Genuss: „Du weisst ja wirklich gar nichts.“ Dann<br />

durfte ich mich wieder setzen, aber wenn jetzt jemand glaubte,<br />

ich wäre zu Tode betrübt, täuschte er sich genauso wie beim<br />

Monsieur noch e<strong>in</strong>mal. Auch Gemmi hatte ja Recht, ich wusste<br />

tatsächlich nichts.<br />

73


Ich erzähle diese Geschichte auch deshalb, weil dieses Fach<br />

entscheidend dazu beitrug, dass ich <strong>in</strong> dieser Schule wegen der<br />

sogenannten M<strong>in</strong>usnoten nicht weiter bleiben konnte <strong>und</strong> sie im<br />

Herbst des gleichen Jahres verlassen musste. In fast jeder<br />

Schule war es etwas anders, aber bei uns verhielt es sich so,<br />

dass jemand im Zeugnis höchstens e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb M<strong>in</strong>uspunkte<br />

haben durfte. Das konnten e<strong>in</strong>e 3 <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e 3,5 zusammen se<strong>in</strong>,<br />

aber auch drei 3,5 waren erlaubt, doch mehr nicht. Zudem<br />

musste auch der Notendurchschnitt aus allen Fächern<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e 4 ergeben, aber das war mit nur e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb<br />

M<strong>in</strong>uspunkten ja leicht zu schaffen.<br />

Anders verhielt es sich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em zweiten Gymnasium: Dort<br />

waren bis zu drei M<strong>in</strong>uspunkte erlaubt, aber auch dort musste<br />

der Notendurchschnitt m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e 4 ergeben. Als e<strong>in</strong>e<br />

me<strong>in</strong>er zwei Töchter e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte später das<br />

Gymnasium besuchte, verhielt es sich ganz anders. Der<br />

Notendurchschnitt zählte nicht, dafür musste jeder e<strong>in</strong>zelne<br />

M<strong>in</strong>uspunkt durch e<strong>in</strong>en entsprechenden Pluspunkt<br />

wettgemacht werden, doch nicht nur mit e<strong>in</strong>er Note, sondern<br />

gar mit zwei Noten. Wenn jemand also e<strong>in</strong>e 3,5 hatte, musste<br />

er oder sie diese durch zwei 4,5 wettmachen, <strong>und</strong> noch<br />

schwerer war es, wenn jemand e<strong>in</strong>e 3 hatte, weil diese dann<br />

durch zwei 5 korrigiert werden musste. Zum Glück hatte sie e<strong>in</strong><br />

helleres Köpfchen <strong>und</strong> war beim Lernen auch viel fleissiger als<br />

ich, deshalb schaffte sie die Maturaprüfungen ohne grosse<br />

Schwierigkeiten - allerd<strong>in</strong>gs ohne das nicht leichte Late<strong>in</strong>.<br />

Da ich mich mit Gemmi nicht gut verstand <strong>und</strong> es auch mit<br />

besseren Noten nicht leicht gehabt hätte, an ihn näher<br />

heranzukommen - das erkannte ich daran, wie er mit den<br />

anderen umg<strong>in</strong>g, die teilweise richtige Genies waren -, liegt es<br />

nahe, dass ich mich nicht e<strong>in</strong>mal mehr an die St<strong>und</strong>e des<br />

Abschieds er<strong>in</strong>nere. E<strong>in</strong>es Tages verschwand auch er genauso<br />

wie alle anderen <strong>Lehrer</strong> dieser Schule aus me<strong>in</strong>em Leben, aber<br />

er ist für mich immer der Geheimnisvollste geblieben.<br />

74


Voser<br />

Mit diesem <strong>Lehrer</strong> schliesse ich den ersten Teil dieses Buches<br />

ab. Es hat e<strong>in</strong>e gewisse Logik, dass ich von ihm als Letztem<br />

schreibe, obwohl unsere Klasse ihn schon <strong>in</strong> der ersten Klasse<br />

bekam, also noch vor dem Monsieur <strong>und</strong> Gemmi. Das lag<br />

e<strong>in</strong>erseits daran, dass er der Rektor unserer Schule war, <strong>und</strong><br />

andererseits auch daran, dass ich neben Schorsch I eigentlich<br />

nur mit ihm e<strong>in</strong>e richtige Abschiedsszene erlebte, die ich nie<br />

vergessen habe.<br />

Er kam <strong>in</strong> der ersten Klasse nach den Herbstferien als<br />

Nachfolger Marxers zu uns. Da wir schon zu diesem Zeitpunkt<br />

wussten, dass er nur e<strong>in</strong> Jahr lang bleiben würde, bis Marxer<br />

wieder zurückkehren <strong>und</strong> das Kommando neu übernehmen<br />

würde, stellten wir uns vor, dass wir diese paar Monate e<strong>in</strong>fach<br />

irgendwie abspulen <strong>und</strong> nur darauf schauen mussten, dass es<br />

gute Noten hagelte. Diese Überlegungen wurden durch Voser<br />

schon bald durchkreuzt, nicht nur weil er genauso streng war<br />

wie se<strong>in</strong> Vorgänger, sondern auch durch die Art, mit der er uns<br />

unterrichtete. Ich kann ehrlich bekennen, dass von den nicht<br />

weniger als sieben Deutschlehrern, die ich im Verlauf me<strong>in</strong>er<br />

langen <strong>und</strong> steilen Gymi-Karriere hatte - also e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>samer<br />

Rekord, weiter unten werde ich noch näher darauf e<strong>in</strong>gehen -,<br />

ke<strong>in</strong> anderer mit so viel Herzblut unterrichtete. Er verstand es<br />

meisterhaft, uns immer wieder neu zu begeistern, <strong>und</strong> so<br />

erstaunte es mich nicht, dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeitung nach se<strong>in</strong>er<br />

Versetzung <strong>in</strong> den Ruhestand im Jahr 1984 geschrieben stand,<br />

dass er e<strong>in</strong> begeisternder <strong>und</strong> selbst auch begeisterter<br />

Deutschlehrer gewesen war. Ansonsten wurde nicht darüber<br />

berichtet, wenn e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> pensioniert wurde, aber als Rektor<br />

e<strong>in</strong>er bekannten Kantonsschule, wie diese Schule offiziell<br />

genannt wurde, war er halt jemand.<br />

Se<strong>in</strong>e lebendige Art, uns zu unterrichten, änderte jedoch nichts<br />

daran, dass ich mit dem Fach Deutsch weiter Mühe hatte. Ich<br />

75


war jetzt zwar etwas besser <strong>und</strong> auch stilsicherer als bei<br />

Marxer, aber ich befand mich <strong>in</strong> vielen Szenen immer noch im<br />

H<strong>in</strong>tertreffen, vor allem wenn ich sah, mit welcher Leichtigkeit<br />

die meisten anderen der Klasse sich ausdrücken konnten.<br />

Immerh<strong>in</strong> schrieb ich nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung nie e<strong>in</strong>e<br />

ungenügende Note - auch deshalb nie, weil ich fast nie<br />

Grammatikfehler beg<strong>in</strong>g -, aber eben auch nie e<strong>in</strong>e besonders<br />

gute, sondern turnte immer zwischen e<strong>in</strong>er 4 <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er 4,5<br />

herum. Auch für Voser wurde ich bald e<strong>in</strong> Fall mit wenig<br />

Hoffnung, um es noch fre<strong>und</strong>lich auszudrücken, vor allem auch<br />

weil er als Rektor ja darüber im Bild war, dass ich auch mit<br />

anderen Fächern Mühe hatte <strong>und</strong> mit den anderen Schülern,<br />

von denen die meisten Genies <strong>und</strong> sicher auch noch viel<br />

fleissiger waren als ich, schon lange nicht mehr mitkam.<br />

Genauso wie Gemmi <strong>und</strong> e<strong>in</strong> paar andere hätte ich Voser bald<br />

abhaken können, wenn sich gerade mit ihm nicht zwei<br />

besondere Ereignisse abgespielt hätten, die ich nicht für<br />

möglich gehalten hatte. Das erste geschah an jenem Tag, als<br />

wir wegen des oben beschriebenen Fussballturniers extra nach<br />

W<strong>in</strong>terthur hatten fahren müssen. Ich er<strong>in</strong>nere mich nicht mehr<br />

genau, wie es dazu kam, aber plötzlich standen wir zwei uns<br />

gegenüber <strong>und</strong> führten e<strong>in</strong> erstaunlich langes Gespräch. Als ich<br />

ihn fragte, ob dieses Turnier tatsächlich zum ersten Mal <strong>in</strong><br />

dieser Stadt durchgeführt wurde, wie ich gehört hatte, bejahte<br />

er das überaus fre<strong>und</strong>lich. Für e<strong>in</strong>mal schien er zu vergessen,<br />

dass ich ke<strong>in</strong> besonders guter Schüler war <strong>und</strong> deshalb nicht<br />

allzu stark an den Sport denken sollte, wie e<strong>in</strong>er aus unserer<br />

Klasse mir das nicht nur e<strong>in</strong>mal sagte. Am Schluss hatte ich mit<br />

Voser noch e<strong>in</strong>mal zu tun, als er unserer siegreichen<br />

Mannschaft wie oben bei Keller erwähnt den M<strong>in</strong>i-Pokal<br />

überreichte <strong>und</strong> jedem von uns die Hand drückte.<br />

Das zweite erstaunliche Ereignis mit ihm spielte sich <strong>in</strong> der<br />

letzten Woche vor den Herbstferien ab, als ich bereits wusste,<br />

dass ich nachher nicht mehr dabei se<strong>in</strong> würde. Er war es, der<br />

76


dem Klassenkollegen <strong>und</strong> mir nach dem Leichtathletik-<br />

Wettkampf, von dem ich weiter oben erzählt habe, die beiden<br />

Medaillen überreichte. Ich weiss noch gut, dass es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

St<strong>und</strong>e beim Monsieur war. Trotz se<strong>in</strong>er Stellung klopfte Voser<br />

noch an die Tür <strong>und</strong> kaum war er e<strong>in</strong>getreten, g<strong>in</strong>g er zum<br />

anderen, der direkt h<strong>in</strong>ter mir sass, <strong>und</strong> übergab ihm die<br />

sogenannte Goldmedaille. Da ich immer noch darüber verärgert<br />

war, dass mir der Sieg gestohlen worden war, schaute ich nicht<br />

nach h<strong>in</strong>ten <strong>und</strong> tat so, als g<strong>in</strong>ge mich das Ganze nichts an.<br />

Dann kam er jedoch zu mir <strong>und</strong> sagte nochmals überaus<br />

fre<strong>und</strong>lich wie damals am Tag des Turniers: „Es freut mich,<br />

dass ich dir noch etwas mitgeben kann.“ Noch bevor er aus<br />

e<strong>in</strong>er Schachtel die sogenannte Silbermedaille hervorkramte,<br />

fragte mich me<strong>in</strong> Nebenmann, welcher der Gleiche war, der<br />

se<strong>in</strong>erzeit beim Grümpelturnier die 100-prozentige Chance zum<br />

Sieg <strong>und</strong> damit auch zum Weiterkommen so kläglich vergeben<br />

hatte: „Gaasch öppe wägg?“ («Gehst du etwa weg?»). Diese<br />

Frage musste ich leider leise bejahen.<br />

--------------------------------------------------------------------------<br />

Viele Jahre später wurde aus unserem Chancentod - eben aus<br />

diesem Sitznachbarn - e<strong>in</strong> nicht ganz unbekannter Schriftsteller,<br />

zu dem mir sogar e<strong>in</strong> neuer Kontakt gelang, der jedoch bald<br />

wieder versandete, als es sich herausstellte, dass unsere<br />

politischen Ansichten viel zu verschieden waren. Es war sicher<br />

ke<strong>in</strong> Zufall, dass er, e<strong>in</strong> Arbeitersohn aus Uetikon,<br />

ausgerechnet <strong>in</strong> den Achtzigerjahren mehrere Jahre lang <strong>in</strong><br />

Nicaragua lebte, das damals e<strong>in</strong> Eldorado für die Roten war<br />

<strong>und</strong> auch tatsächlich berechtigte <strong>und</strong> notwendige soziale<br />

Reformen e<strong>in</strong>geleitet hatte, das jedoch auf der Seite der<br />

kubanischen Castro-Diktatur <strong>und</strong> der übrigen kommunistischen<br />

Staatenwelt stand. Das bewiesen die regierenden Sand<strong>in</strong>isten<br />

am deutlichsten auch damit, dass sie zusammen mit Kuba nicht<br />

nur die Olympischen Sommerspiele von 1984 <strong>in</strong> Los Angeles<br />

boykottierten, sondern auch noch die von 1988 <strong>in</strong> Seoul,<br />

77


obwohl die «Brüder» aus dem europäischen Ostblock <strong>und</strong> aus<br />

Ch<strong>in</strong>a <strong>in</strong> Südkorea teilnahmen. Alle<strong>in</strong> diese Parte<strong>in</strong>ahme für<br />

den damals noch lebenden nordkoreanischen Gewaltherrscher<br />

Kim der Erste, wie ich den ersten der drei Kims nenne, zeigte<br />

mir deutlich genug, wie es wirklich lief.<br />

Ich bekenne noch heute offen, dass me<strong>in</strong> Weltbild bis zur<br />

sogenannten Wende im Jahr 1989, der zwei Jahre später auch<br />

das Ende der Gulag-Sowjetunion folgte, e<strong>in</strong>fach gestrickt war,<br />

was mir auch immer wieder vorgeworfen wurde, weil ich<br />

zwischen Weiss <strong>und</strong> Schwarz ke<strong>in</strong>e Grauzonen sah. Nicht nur<br />

die Gulag-Sowjetunion, die neben dem Baltikum auch noch<br />

halb Europa besetzt hielt <strong>und</strong> <strong>in</strong> der mehr Menschen ums<br />

Leben gekommen waren als <strong>in</strong> den zwölf Jahren der Nazi-<br />

Diktatur, zählte für mich zum Fe<strong>in</strong>dbild, sondern auch ihre<br />

engsten Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> vor allem diese drei: Die DDR, die nur<br />

durch Mauer <strong>und</strong> Stacheldraht am Leben gehalten wurde, <strong>und</strong><br />

Nordkorea, von wo aus der Koreakrieg vom Zaun gerissen<br />

worden war, sowie die kubanische Castro-Diktatur, die Truppen<br />

nach Angola schickte, die sich dort ke<strong>in</strong>eswegs so heldenhaft<br />

gegen die südafrikanischen Truppen schlugen, wie das noch<br />

heute behauptet wird, sondern marodierten <strong>und</strong> brandschatzten<br />

<strong>und</strong> mehr als 10'000 Menschen massakrierten, ohne dass dies<br />

<strong>in</strong> der UNO jemals zur Sprache kam. Zudem hatte es mit den<br />

Südafrikanern gar ke<strong>in</strong>e direkte Konfrontation gegeben, weil der<br />

damals amtierende Premierm<strong>in</strong>ister es für besser hielt, die<br />

eigenen Truppen, die zuerst die westfre<strong>und</strong>liche UNITA im<br />

Süden gegen die kommunistischen MPLA-Truppen unterstützt<br />

hatten, aus taktischen Gründen zurückzuziehen. Dagegen<br />

fühlte ich gegen die anderen Vasallenstaaten <strong>und</strong> Verbündeten<br />

der Gulag-Sowjetunion ke<strong>in</strong>e so tiefe Verachtung <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>en<br />

solchen Hass wie gegen diese drei.<br />

Auf der anderen Seite waren die Fe<strong>in</strong>de der kommunistischen<br />

Staatenwelt automatisch me<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>e - <strong>und</strong> ich bekenne<br />

offen, dass ich am 11. September 1973, als ich vom Putsch <strong>in</strong><br />

78


Chile hörte, zuerst e<strong>in</strong>e tiefe Befriedigung spürte. Wenige<br />

Wochen zuvor hatte ich bei me<strong>in</strong>em ersten Besuch im noch<br />

geteilten Berl<strong>in</strong> auch bei den durch Zufall gerade abgehaltenen<br />

kommunistischen Weltjugendspielen im Ostteil vorbeigeschaut<br />

<strong>und</strong> dabei nur 200 Meter h<strong>in</strong>ter der Mauer e<strong>in</strong>en riesigen<br />

Bücherstand der regierenden «Unidad Popular» gesehen, der<br />

mir deutlich genug gezeigt hatte, auf welcher Seite Chile an<br />

diesem Tag gestanden hatte. Da zudem auf riesigen Plakaten<br />

«Fre<strong>und</strong>schaft - es lebe die DDR!» <strong>und</strong> ähnliches auch für die<br />

Gulag-Sowjetunion stand <strong>und</strong> diese <strong>in</strong> der ganzen Welt gezeigt<br />

wurden, lag es nahe, dass antikommunistische Kreise, die<br />

genauso wie die chilenischen Militärs dann auf die andere Seite<br />

h<strong>in</strong> übertrieben, sich denken konnten, dass dieses Land nach<br />

Kuba zum zweiten roten Brückenkopf ausgebaut werden sollte -<br />

<strong>und</strong> nicht zugunsten der Armen, sondern genauso wie <strong>in</strong> den<br />

anderen kommunistischen Staaten zugunsten e<strong>in</strong>es Clans, wie<br />

es noch heute <strong>in</strong> Nordkorea die Kims, auf Kuba die Castros <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong> Nicaragua seit vielen Jahren eben auch noch die Ortegas<br />

s<strong>in</strong>d, die sich seit der Jahrtausendwende von Demokraten<br />

ebenfalls zu e<strong>in</strong>er Diktatoren-Familie verändert haben.<br />

Das Gleiche schrieb ich auch über Nicaragua, das nach dem<br />

Sturz der Somoza-Diktatur im Jahr 1979, der auch mich gefreut<br />

hatte, zu e<strong>in</strong>em weiteren roten Stützpunkt ausgebaut wurde -<br />

<strong>und</strong> im Gegensatz zu Chile klappte es diesmal. Da dabei<br />

ungeniert Partei für die kommunistische Staatenwelt ergriffen<br />

wurde <strong>und</strong> nicht weniger als e<strong>in</strong>e Million Männer <strong>und</strong> Frauen,<br />

also fast e<strong>in</strong> Viertel der damaligen Bevölkerung, mit roten<br />

Halstüchern bis an die Zähne bewaffnet wurden, so dass die<br />

direkten Nachbarländer Costa Rica, Honduras <strong>und</strong> El Salvador<br />

echte Angst vor e<strong>in</strong>em Angriff bekamen, durfte <strong>und</strong> musste das<br />

ganz e<strong>in</strong>fach kritisiert werden, <strong>und</strong> genau das habe ich getan.<br />

Immerh<strong>in</strong> habe ich den Sand<strong>in</strong>isten immer zugutegehalten,<br />

dass sie im Gegensatz zu ihren Genossen auf Kuba, wo seit<br />

der Machtübername der Castro-Brüder im Jahr 1959 noch bis<br />

heute (!), im Jahr 2023, ke<strong>in</strong>e freien Wahlen abgehalten worden<br />

79


s<strong>in</strong>d, ohne dass dies bei den «Progressiven» jemals e<strong>in</strong> Thema<br />

war - von Nordkorea muss da schon gar nicht mehr geredet<br />

werden -, solche Wahlen zuliessen <strong>und</strong> sogar Wahlniederlagen<br />

anerkannten <strong>und</strong> ihre Macht vorübergehend abgaben. Der<br />

Sozialismus kann also auch auf diese Weise e<strong>in</strong>geführt <strong>und</strong><br />

aufgebaut werden, aber das haben die kubanischen Genossen<br />

noch bis heute nicht begriffen - <strong>und</strong> es versteht sich von selbst,<br />

dass dies nicht nur für die L<strong>in</strong>ken <strong>und</strong> L<strong>in</strong>ksextremen, sondern<br />

auch für erstaunlich viele bürgerlich Ges<strong>in</strong>nte nie e<strong>in</strong> Thema<br />

war. Der «Máximo Líder», also der grösste Führer - e<strong>in</strong> Titel,<br />

den sich nicht e<strong>in</strong>mal Hitler gegeben hat -, stand eben über<br />

allem, <strong>und</strong> erst nach se<strong>in</strong>em Abtreten aus dem Rampenlicht<br />

war es möglich, schwache Reformen e<strong>in</strong>zuleiten, deren erste<br />

Versuche <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Bittschrift er vor der geladenen<br />

Weltpresse voller Hohn noch als WC-Papier bezeichnet hatte.<br />

E<strong>in</strong>em solchen Diktator jubelten Millionen nicht nur auf Kuba zu<br />

- allerd<strong>in</strong>gs H<strong>und</strong>erttausende auch zwangsweise, wenn sie zum<br />

Hören se<strong>in</strong>er st<strong>und</strong>enlangen Reden verpflichtet wurden -,<br />

sondern auch erstaunlich viele <strong>in</strong> der Schweiz!<br />

Da ich gerade auch diesen Bereich der Weltpolitik <strong>in</strong> zwei<br />

me<strong>in</strong>er Bücher näher verarbeitet <strong>und</strong> ihm das dünnere Buch<br />

zum Lesen geschickt hatte, konnte er sich natürlich leicht<br />

ausmalen, dass ich - <strong>in</strong> alfabetischer Reihenfolge - auf der Seite<br />

der sogenannten Faschisten, Feudalisten, Imperialisten,<br />

Konterrevolutionäre, Neonazis, Reaktionäre, Revanchisten <strong>und</strong><br />

Revisionisten <strong>und</strong> was auch immer stand; dementsprechend fiel<br />

auch se<strong>in</strong> Urteil aus. Da ich selbst zur Hälfte aus e<strong>in</strong>em Land<br />

stamme, das se<strong>in</strong>erzeit von der Armee der Gulag-Sowjetunion<br />

angegriffen wurde - daran änderte auch nicht die <strong>in</strong> den<br />

kommunistischen <strong>und</strong> sozialistischen Ländern verbreitete Lüge,<br />

dass <strong>in</strong> Wirklichkeit die F<strong>in</strong>nen zuerst angegriffen hätten -, <strong>und</strong><br />

zugleich Kontakte zu Esten hatte, die wegen der sowjetischen<br />

Besetzung hatten fliehen müssen, musste es auch unserem<br />

Chancentod klar se<strong>in</strong>, dass wir nicht die gleiche<br />

Weltanschauung teilen konnten. Hier öffneten sich zwischen<br />

80


uns ideologische Abgründe, obwohl ich mich <strong>in</strong> vielen<br />

Bereichen immer mit den Sozialdemokraten verb<strong>und</strong>en fühlte,<br />

weil sie sich neben dem damals noch existierenden Landesr<strong>in</strong>g,<br />

der besonders im Kanton <strong>Zürich</strong> stark war, als e<strong>in</strong>zige Partei,<br />

die im Gegensatz zu den l<strong>in</strong>ken Splitterparteien e<strong>in</strong>en gewissen<br />

E<strong>in</strong>fluss hatte, für die unteren Klassen e<strong>in</strong>setzten. Trotzdem<br />

fühlte ich mich <strong>in</strong> den l<strong>in</strong>ken Kreisen nie so richtig wohl, weil<br />

nicht nur viel von Klassenkampf die Rede war - das kann ich<br />

noch nachvollziehen -, sondern auch viel Klassenhass zu<br />

spüren war, <strong>und</strong> das hat mich immer abgestossen. Politische<br />

Probleme lassen sich mit Hass, der oft auch noch mit geistigen<br />

<strong>und</strong> kulturellen M<strong>in</strong>derwertigkeitskomplexen verb<strong>und</strong>en ist, nun<br />

e<strong>in</strong>mal nicht lösen. Zudem hat es mich immer gestört, dass bei<br />

den Parteiversammlungen nicht nur der Kommunisten, sondern<br />

auch der Sozialdemokraten sowohl <strong>in</strong> Deutschland als auch <strong>in</strong><br />

der Schweiz sogar noch heute die «Internationale» mit der<br />

erhobenen rechten Faust gesungen wird. Mit diesem Lied auf<br />

den Lippen wurden vom roten Mob noch viel mehr Menschen<br />

umgebracht als von den Nazis, was immer wieder<br />

unterschlagen wird, weil die Gulag-Sowjetunion <strong>und</strong> die<br />

Genossen <strong>in</strong> den übrigen osteuropäischen Ländern zu den<br />

«Siegern» des Zweiten Weltkriegs gehörten, <strong>und</strong> auch hier ist<br />

die Geschichte von den Siegern geschrieben worden.<br />

Als ich ihm das oben erwähnte Buch zum Lesen schickte,<br />

wusste ich noch nicht, dass auch er zu denen gehört hatte, die<br />

se<strong>in</strong>erzeit nach Nicaragua gereist oder genauer gepilgert<br />

waren, um beim Aufbau e<strong>in</strong>es sozialistischen «Paradieses»<br />

mitzuhelfen, aber nachdem ich das über das Internet<br />

herausgef<strong>und</strong>en hatte, war es für mich klar, warum er mich bei<br />

den literarischen Kreisen, zu denen er Kontakt hatte, nicht<br />

weiterempfahl, <strong>und</strong> zudem s<strong>in</strong>d diese schon immer zum<br />

grössten Teil l<strong>in</strong>ks gerichtet gewesen. Dabei spielte sicher auch<br />

noch mit, dass es bis heute nur selten vorgekommen ist, dass<br />

e<strong>in</strong>e schreibende Person sich für e<strong>in</strong>e andere schreibende<br />

Person <strong>in</strong>s Zeug legt, um es e<strong>in</strong>mal auf diese Art auszudrücken.<br />

81


Dabei hätte ich ihm gar nie <strong>in</strong> die Quere kommen können, weil<br />

er ganz anders schreibt als ich <strong>und</strong> unsere Themen viel zu<br />

verschieden s<strong>in</strong>d. Übrigens war er es, den ich drei Jahre nach<br />

me<strong>in</strong>er letzten Begegnung mit Mart<strong>in</strong> Sommer durch e<strong>in</strong>en<br />

Zufall im Zug traf <strong>und</strong> der mir von der bemerkenswerten<br />

äusseren Veränderung des anderen erzählte - <strong>und</strong> auch ihn<br />

habe ich an diesem Abend im Dezember 1972 zum letzten Mal<br />

persönlich gesehen; ich schreibe «persönlich» deshalb, weil er<br />

im Facebook immer wieder mit e<strong>in</strong>em Filmchen ersche<strong>in</strong>t. Mit<br />

Nicaragua, dem zweiten sozialistischen «Paradies» <strong>in</strong><br />

Late<strong>in</strong>amerika neben Kuba, wo er se<strong>in</strong>e Frau kennen gelernt<br />

hat, fühlt er sich heute zwar immer noch eng verb<strong>und</strong>en, aber<br />

es bleibt nicht ohne Ironie, dass für ihn dort e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>reiseverbot<br />

verhängt worden ist, weil er es gewagt hat, etwas gegen die<br />

Ortega-Diktatur zu schreiben. Auch bei ihm gilt das alte<br />

Sprichwort: Die Revolution frisst auch ihre eigenen K<strong>in</strong>der.<br />

Den sprichwörtlichen virtuellen Vogel schoss er jedoch ab, als<br />

er noch am Tag des russischen Angriffs auf die Ukra<strong>in</strong>e am 24.<br />

Februar 2022 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Facebook-Kanal die weltbekannte<br />

Aufnahme des neostal<strong>in</strong>istischen Jahrh<strong>und</strong>ert-Verbrechers<br />

Put<strong>in</strong> sehen liess, den neben mir noch viele andere <strong>in</strong><br />

Anlehnung an e<strong>in</strong>en anderen Massenmörder im letzten<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert Putler nennen. Zwar löschte er diese Aufnahme,<br />

auf der sich dieser mit e<strong>in</strong>em nackten Oberkörper ablichten<br />

liess, zusammen mit anderen im Facebook noch am gleichen<br />

Tag, als dieser Angriff bekannt wurde, aber der Schaden war<br />

trotzdem bereits angrichtet, was auch diese Zeilen zeigen, <strong>und</strong><br />

dabei war er ke<strong>in</strong>eswegs der E<strong>in</strong>zige im Westen. Ich b<strong>in</strong> sicher,<br />

dass dieser Diktator ohne diesen Krieg, den grössten <strong>und</strong><br />

schlimmsten <strong>in</strong> Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, bei vielen<br />

westlichen Intellektuellen oder auch nur Pseudo-Inellektuellen -<br />

<strong>und</strong> ke<strong>in</strong>eswegs nur unter den L<strong>in</strong>ken, sondern noch mehr<br />

unter den Rechtsgerichteten - immer noch e<strong>in</strong>e gute Presse<br />

hätte. Demensprechend haben sich auffallend viele jahrelang<br />

provokativ als Put<strong>in</strong>-Versteher bezeichnet <strong>und</strong> das Märchen<br />

82


verbreitet, dass er die Halb<strong>in</strong>sel Krim im Jahr 2014 habe<br />

annektieren müssen, weil die dort lebenden Russen, die<br />

ke<strong>in</strong>eswegs die überwiegende Mehrheit stellten, wie das noch<br />

heute behauptet wird, vor allem nach dem angeblichen Maidan-<br />

Putsch von Kiew gefährdet gewesen seien, <strong>und</strong> das gleiche<br />

Märchen wurde von den gleichen Leuten über den<br />

sogenannten Donbass verbreitet, wo krim<strong>in</strong>elle<br />

Separatistene<strong>in</strong>heiten mit Putlers Unterstützung schon vor dem<br />

Februar 2022 mehr als 15'000 E<strong>in</strong>wohner massakriert haben.<br />

Der schlechte Witz des Ganzen ist, dass der russische Diktator<br />

gar nichts mit Sozialismus zu tun hat, sondern der Kopf e<strong>in</strong>er<br />

gut organisierten kleptokratischen Oligarchen-Verbrecherbande<br />

ist, die <strong>in</strong> Mafiamanier ganz Russland ausbeutet, <strong>und</strong> dabei<br />

genauso wie se<strong>in</strong>e engsten Lakaien immer wieder mit dem<br />

E<strong>in</strong>satz von Atomwaffen droht, was seit dem Zweiten Weltkrieg<br />

so nie vorgekommen ist. Es zeigt sich zwar das erstaunliche<br />

Phänomen, dass heute die e<strong>in</strong>st pazifistischen Grünen <strong>und</strong><br />

viele L<strong>in</strong>ke zu den vehementesten Befürwortern von<br />

Waffenlieferungen an die Ukra<strong>in</strong>e gehören, während die<br />

Rechten folgerichtig mehr auf der Seite Russlands stehen -<br />

genauso wie Nicaragua <strong>und</strong> Kuba, die beiden Liebl<strong>in</strong>gsstaaten<br />

dieses Schriftstellers <strong>und</strong> e<strong>in</strong>stigen Schulkollegen, die es<br />

sche<strong>in</strong>bar immer noch nicht mitbekommen haben, dass<br />

Russland schon längst ke<strong>in</strong> sozialistisches Paradies mehr ist,<br />

doch die Hauptsache ist, dass es erneut gegen die<br />

«imperialistischen» USA geht. Da passt es gut zusammen,<br />

dass die Schurkenstaaten Ch<strong>in</strong>a, Nordkorea <strong>und</strong> der Iran, die<br />

von ähnlichen skrupellosen Verbrecherbanden regiert <strong>und</strong><br />

unterdrückt werden <strong>und</strong> folgerichtig auch die engsten<br />

Verbündeten Russlands s<strong>in</strong>d, hier ebenfalls mitspielen.<br />

Ich warte immer noch auf e<strong>in</strong>e deutliche Stellungnahme<br />

unseres Chancentods, wie er heute zu all dem steht; das<br />

Löschen e<strong>in</strong>er von ihm ebenfalls «geteilten» Aufnahme reicht<br />

nicht aus. In dieser Beziehung ist se<strong>in</strong> Busenfre<strong>und</strong>, der vom<br />

83


gleichen Dorf stammt <strong>und</strong> im Jahr 1967 ebenfalls <strong>in</strong> unsere<br />

Klasse g<strong>in</strong>g, aber die Probezeit nicht bestand <strong>und</strong> später<br />

trotzdem noch e<strong>in</strong> Jurist wurde, viel ehrlicher <strong>und</strong> vor allem<br />

nicht so feige, weil auf se<strong>in</strong>em Facebook-Konto e<strong>in</strong>e<br />

ukra<strong>in</strong>ische Flagge abgebildet ist <strong>und</strong> er auch schon deutlich<br />

gegen diesen Krieg geschrieben hat. Auch unser Chancentod<br />

bestätigt die Worte me<strong>in</strong>es Vaters, der mir schon vor e<strong>in</strong> paar<br />

Jahrzehnten sagte: «Fast alle Schriftsteller <strong>und</strong> anderen<br />

Künstler s<strong>in</strong>d l<strong>in</strong>ks, das zeigt sich deutlich <strong>in</strong> ihren Werken.» Ich<br />

ergänze diese Worte dadurch, dass sie dementsprechend<br />

genauso wie die oben erwähnten Politiker e<strong>in</strong>seitig verblendet<br />

<strong>und</strong> nicht fähig <strong>und</strong> willens s<strong>in</strong>d, die Verbrechen auf der<br />

eigenen Seite zu sehen. Ich könnte hier e<strong>in</strong>e ganze Reihe von<br />

bekannten Schreibenden aufzählen, von denen e<strong>in</strong> paar noch<br />

heute leben - allerd<strong>in</strong>gs haben sie ihr Pulver bereits<br />

verschossen <strong>und</strong> warten buchstäblich nur noch auf ihr Ableben,<br />

so bös das auch kl<strong>in</strong>gen mag.<br />

Es gab <strong>und</strong> gibt nur wenige erfreuliche Ausnahmen, so auch<br />

den heute fast vergessenen sogenannten Arbeiterschriftsteller<br />

Erw<strong>in</strong> Heimann, der im Jahr 1975 im Fernsehen die<br />

unerschrockenen Worte sagte, es könne <strong>in</strong> Europa ke<strong>in</strong>e<br />

wirkliche Freiheit geben, solange die baltischen Staaten immer<br />

noch von der Sowjetunion besetzt seien. Das war unter den<br />

L<strong>in</strong>ken, von denen auch viele gemässigte Sozialdemokraten<br />

sowjetfre<strong>und</strong>lich waren, e<strong>in</strong> schwerer Tabubruch;<br />

dementsprechend wurde er nachher von verschiedenen Seiten<br />

geschnitten. Was die heutige Zeit betrifft, formuliere ich es<br />

deutsch <strong>und</strong> deutlich: Wer auch immer auf Putlers Seite stand<br />

<strong>und</strong> immer noch steht <strong>und</strong> zu se<strong>in</strong>en Gunsten etwas sagte <strong>und</strong><br />

schrieb, hat sich am Ukra<strong>in</strong>e-Krieg mitschuldig gemacht.<br />

-------------------------------------------------------------------------<br />

Wieder zurück zu Voser, um den es <strong>in</strong> diesem Kapitel<br />

hauptsächlich geht: Sobald er mir die sogenannte<br />

84


Silbermedaille überreicht hatte <strong>und</strong> wieder h<strong>in</strong>ausgegangen<br />

war, regte sich der Monsieur fürchterlich auf, <strong>in</strong>dem er sagte:<br />

„Du hättest wenigstens noch aufstehen können, um zu danken -<br />

er hat das getan <strong>und</strong> ist sogar <strong>in</strong> den Gang h<strong>in</strong>ausgetreten.“<br />

Dieser Er war eben der andere, dem der Sieg auf die oben<br />

beschriebene nicht ganz saubere Art geschenkt worden war;<br />

also hatte er auch allen Gr<strong>und</strong> zum Aufstehen gehabt, aber<br />

nicht ich. In dieser Beziehung war ich eben konsequent; zudem<br />

war es schon die letzte Woche, also konnte es mir gleich se<strong>in</strong>,<br />

dass der Monsieur sich so aufregte. Deshalb entgegnete ich<br />

nichts <strong>und</strong> schwieg eisern.<br />

Dass ich Voser <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e manchmal sehr forsche Art nicht<br />

vergessen hatte, erkannte ich e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte später an mir<br />

selbst, als ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em me<strong>in</strong>er Bücher die Geschichte e<strong>in</strong>es<br />

Liebespärchens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gymnasium erzählte, wobei ich zum<br />

Teil auch selbst Erlebtes mite<strong>in</strong>flocht. Da diese Geschichte<br />

auch e<strong>in</strong>en Rektor brauchte, grub ich Voser aus me<strong>in</strong>en<br />

Er<strong>in</strong>nerungen aus <strong>und</strong> gab ihm sogar den gleichen Namen. Ich<br />

stellte ihn zwar nicht schlecht dar, aber auch nicht besonders<br />

gut, doch wer ihn gekannt hat <strong>und</strong> dieses Buch liest, kann<br />

ähnliche Züge feststellen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch<br />

nicht, dass Voser nicht nur e<strong>in</strong> enger Bekannter me<strong>in</strong>es Stamm-<br />

Primarlehrers, sondern auch e<strong>in</strong>e Art Busenfre<strong>und</strong> von ihm war.<br />

Das erfuhr ich erst, als ich wieder e<strong>in</strong>mal diesen ehemaligen<br />

<strong>Lehrer</strong> aus me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit traf, der me<strong>in</strong> Leben stark geprägt<br />

hatte, <strong>und</strong> mit ihm über Voser sprach. Allerd<strong>in</strong>gs erstaunten<br />

mich diese Worte nicht weiter, weil ich wusste, dass auch er an<br />

der sogenannten Goldküste wohnte, wo unter den sogenannten<br />

Reichen <strong>und</strong> Schönen jeder fast jeden kannte.<br />

Wie weit das gehen kann, erlebte ich kurz nach der<br />

Jahrtausendwende, als ich ihn e<strong>in</strong>mal sogar besuchen konnte.<br />

Nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich Mühe hatte, e<strong>in</strong>en<br />

geeigneten Parkplatz zu f<strong>in</strong>den, entgegnete er ziemlich<br />

gelassen: «Mach dir ke<strong>in</strong>e Sorgen! Diese Strasse gehört mir,<br />

85


ich habe sie für e<strong>in</strong>e Million gekauft.» Potztausend! Bis zu<br />

diesem Tag hatte ich noch nicht gewusst, dass es <strong>in</strong> diesem<br />

Land sogar möglich ist, nicht nur e<strong>in</strong> Haus, sondern auch e<strong>in</strong>e<br />

Strasse für sich selbst zu kaufen, aber später habe ich noch<br />

von anderen ähnlichen Beispielen gehört <strong>und</strong> gelesen. Ich<br />

wusste zwar, dass me<strong>in</strong> Stamm-Primarlehrer aus e<strong>in</strong>er<br />

vermögenden Familie stammte, aber e<strong>in</strong>e ganze Strasse zu<br />

kaufen hatte ich bei ihm nicht für möglich gehalten. Ich<br />

missgönnte ihm das jedoch nicht, zudem hatte er bald nach<br />

diesem Besuch e<strong>in</strong>en schweren Schicksalsschlag zu verkraften.<br />

Heute wird se<strong>in</strong> Haus - natürlich hatte er e<strong>in</strong>es, wenn er schon<br />

e<strong>in</strong>e Strasse besass - von e<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>er drei Söhne bewohnt.<br />

Nochmals zurück zu Voser: Auch er lebte erstaunlich lange,<br />

sogar noch länger als Bohni. Er erreichte das stattliche Alter<br />

von 98 Jahren, <strong>und</strong> nach se<strong>in</strong>em Ableben war das Echo <strong>in</strong> den<br />

Medien <strong>und</strong> vor allem <strong>in</strong> den Zeitungen noch e<strong>in</strong>mal laut, aber<br />

nicht mehr so laut wie nach se<strong>in</strong>er Versetzung <strong>in</strong> den<br />

Ruhestand, den auch er mehr als dreissig Jahre lang hatte<br />

geniessen können.<br />

Nachwort<br />

Da me<strong>in</strong>e Noten im Verlauf der zweiten Klasse wie oben<br />

angedeutet <strong>in</strong> zwei Dritteln der Fächer so schlecht geworden<br />

waren, dass ich mich hier nicht mehr halten konnte, wurde<br />

lange beratschlagt, was mit mir weiter geschehen solle. Ich galt<br />

ja trotzdem noch als begabt; also hielt man es für gut, dass ich<br />

das Gymnasium an e<strong>in</strong>em anderen Ort fortsetzte. Schliesslich<br />

wurde man fündig <strong>und</strong> transportierte mich <strong>in</strong> den für mich weit<br />

entfernten Halbkanton Appenzell-Ausserrhoden, genauer nach<br />

<strong>Trogen</strong>. Da dort im Gegensatz zum Literargymnasium<br />

<strong>Zürich</strong>berg bis zu drei M<strong>in</strong>uspunkte erlaubt waren, rechneten<br />

die dafür zuständigen Leute mit mir immer noch etwas aus.<br />

Warum gerade dieses Dorf <strong>in</strong> den appenzellischen Hügeln<br />

ausgewählt wurde, hatte e<strong>in</strong>en ganz bestimmten Gr<strong>und</strong>, der mit<br />

86


der Scheidung me<strong>in</strong>er Eltern <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>en mit der<br />

Suche nach e<strong>in</strong>em neuen Wohnort für mich zusammenh<strong>in</strong>g.<br />

Weiter unten werde ich darauf noch etwas näher e<strong>in</strong>gehen.<br />

Zuerst konnte ich mich mit diesem Transport nicht so richtig<br />

anfre<strong>und</strong>en, aber als ich dort bei e<strong>in</strong>em Schnupperbesuch zu<br />

hören bekam, dass viel Sport getrieben wurde - schliesslich war<br />

mir das immer noch wichtig - <strong>und</strong> dass es gemischte<br />

Schulklassen, also mit Mädchen gab, für die ich mich jetzt<br />

allmählich zu <strong>in</strong>teressieren begann, erhellte sich me<strong>in</strong> Gemüt<br />

wieder. Ich kann nicht sagen, dass ich mich wirklich darüber<br />

freute, <strong>Zürich</strong> zu verlassen, aber ich war nun e<strong>in</strong>mal als Schüler<br />

nicht gut genug gewesen <strong>und</strong> musste diese neue<br />

Herausforderung <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben annehmen.<br />

87


Die <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong><br />

Vorwort<br />

Noch bevor ich <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> mit nicht ganz fünfzehn Jahren<br />

me<strong>in</strong>en ersten Schultag erlebte, bekam ich deutlich genug zu<br />

sehen, dass auch <strong>in</strong> Bezug auf die Unterkunft e<strong>in</strong> ganz neues<br />

Leben vor mir stand. Ich wohnte fortan <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Pension, wie es<br />

viele andere auch gab. In diesen lebten im Schnitt m<strong>in</strong>destens<br />

zehn Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler, <strong>und</strong> die meisten wurden von<br />

<strong>Lehrer</strong>n <strong>und</strong> ihren Ehefrauen betrieben, die damit e<strong>in</strong>en nicht<br />

kle<strong>in</strong>en Zustupf zu ihrem <strong>Lehrer</strong>gehalt verdienten. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

mussten sie auch Knochenarbeiten verrichten, um alle ges<strong>und</strong><br />

zu ernähren, <strong>und</strong> das galt natürlich vor allem für die Ehefrauen.<br />

Daneben gab es direkt zwischen zwei Schulhäusern vor allem<br />

für solche, die zwar <strong>in</strong> den beiden appenzellischen<br />

Halbkantonen wohnten, aber nicht an jedem Abend nach<br />

Hause fahren konnten, auch e<strong>in</strong> sogenanntes Knabenkonvikt,<br />

das von e<strong>in</strong>em <strong>Lehrer</strong> geleitet wurde, <strong>und</strong> mitten im Dorf gut<br />

sichtbar vom Dorfplatz auch e<strong>in</strong> sogenanntes Mädchenkonvikt.<br />

Schon diese beiden Namen sagen deutlich genug aus, dass<br />

diese beiden Gebäude nur von Knaben <strong>und</strong> Mädchen bewohnt<br />

wurden, <strong>und</strong> wenn ich mich richtig er<strong>in</strong>nere, waren bei den<br />

e<strong>in</strong>en Damenbesuche <strong>und</strong> bei den anderen Herrenbesuche<br />

strengstens verboten.<br />

Die Pension, die ich selbst zusammen mit mehr als zehn<br />

anderen zu bewohnen begann, gehörte e<strong>in</strong>er alle<strong>in</strong>stehenden<br />

Frau, die damals zwischen 50 <strong>und</strong> 60 Jahre zählte. An ihrer<br />

Sprache oder genauer an ihrem Akzent war zu erkennen, dass<br />

sie zwar e<strong>in</strong>e Schweizer<strong>in</strong> war, aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Land<br />

aufgewachsen war. Erst viel später erfuhr ich von ihr selbst,<br />

dass sie lange Zeit <strong>in</strong> Dresden gewohnt <strong>und</strong> im Februar 1945<br />

nur mit viel Glück die britisch-amerikanische Bombennacht<br />

überlebt hatte, aber davon werde ich weiter unten noch mehr<br />

erzählen. Da wir also mehr als zehn waren, zu denen auch<br />

88


nicht weniger als fünf Maturanden gehörten, wie die<br />

Abiturienten <strong>in</strong> der Schweiz genannt werden, gab es für diese<br />

Frau natürlich ungeheuer viel zu tun, <strong>und</strong> ich frage mich noch<br />

heute, wie sie es schaffte, uns Tag für Tag e<strong>in</strong> Frühstück, e<strong>in</strong><br />

Mittagessen <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Abendbrot aufzutischen, ohne dass<br />

irgendjemand Hunger haben musste, <strong>und</strong> dazu kam auch noch<br />

das ständige Waschen nicht nur des Bettzeugs, sondern<br />

teilweise auch unserer Kleider. Allerd<strong>in</strong>gs bekam sie für das<br />

Bügeln <strong>und</strong> Putzen des Hauses noch die Hilfe zweier<br />

taubstummer Frauen, von denen ich weiter unten auch noch<br />

mehr schreiben werde.<br />

Wegen der grossen Anzahl Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler - es<br />

waren aber nur zwei Mädchen dabei, die zwei bis drei Jahre<br />

älter waren als ich, wie ich noch heute weiss - ergab es sich,<br />

dass ich zuerst e<strong>in</strong> ganzes Jahr lang e<strong>in</strong> Zimmer mit e<strong>in</strong>em<br />

anderen teilen musste. In den ersten paar Monaten kam ich mit<br />

ihm zwar recht gut aus, aber dann gab es allmählich<br />

Spannungen, so dass ich im Herbst des nächsten Jahres<br />

heilfroh war, dass er <strong>in</strong> e<strong>in</strong> anderes Zimmer umzog, das gerade<br />

frei geworden war. Allerd<strong>in</strong>gs blieb er auch dort nur e<strong>in</strong> halbes<br />

Jahr lang, dann verliess er die Schule <strong>und</strong> damit auch die<br />

Pension, <strong>und</strong> ich habe seitdem nie mehr etwas von ihm gehört.<br />

Gerade dieses System mit den Pensionen war e<strong>in</strong> erstaunliches<br />

Phänomen <strong>und</strong> für <strong>Trogen</strong> charakteristisch. Von den damals<br />

etwa 430 Lernenden <strong>in</strong> dieser Schule stammte nur knapp die<br />

Hälfte von den beiden appenzellischen Halbkantonen; der Rest<br />

stammte von anderen Kantonen <strong>und</strong> nicht wenige von anderen<br />

Ländern, ja, sogar von anderen Kont<strong>in</strong>enten, das heisst, sie<br />

waren dort als Auslandschweizer aufgewachsen. Es gab sogar<br />

Familien, die gleich zwei K<strong>in</strong>der hierherschickten, aber mehr als<br />

drei auf e<strong>in</strong>mal kam dann doch nicht vor, weil das Schulgeld für<br />

die Ausserkantonalen so hoch war, dass es ohne Stipendien<br />

nicht gegangen wäre. Manchmal fragte ich mich schon, wie<br />

Eltern, die zum Beispiel im Kanton Bern wohnten, auf die Idee<br />

89


kamen, ihre K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Schule am anderen Ende des<br />

Landes zu schicken, als gäbe es dort ke<strong>in</strong>e eigenen<br />

Gymnasien. Das lag aber auch daran, dass es e<strong>in</strong>e schon seit<br />

Jahrzehnten währende Tradition gab, die sich dar<strong>in</strong> zeigte,<br />

dass viele Eltern <strong>und</strong> Grosseltern schon hier <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> studiert<br />

hatten, <strong>und</strong> daneben hatten auch mehrere <strong>Lehrer</strong> hier ihre<br />

Maturaprüfungen abgelegt <strong>und</strong> bestanden. Zudem wurden hier<br />

auch Fre<strong>und</strong>schaften geschlossen, die später zu Ehen wurden,<br />

so auch zwischen den Eltern e<strong>in</strong>es Mädchens, das die gleiche<br />

Klasse wie ich besuchte <strong>und</strong> von dem ich weiter unten auch<br />

noch etwas erzählen werde.<br />

Wie weit diese Tradition gehen konnte, erlebte ich mit e<strong>in</strong>em<br />

Schüler namens Baumgartner aus Basel, der <strong>in</strong> unserer<br />

Pension wohnte. Da se<strong>in</strong> Vater diese Schule <strong>in</strong> den<br />

Vierzigerjahren besucht hatte, fühlte er sich se<strong>in</strong> Leben lang mit<br />

ihr eng verb<strong>und</strong>en; daran änderte sich auch nichts, dass er sie<br />

ohne e<strong>in</strong>en Abschluss verlassen hatte. Wäre es anders<br />

gewesen, hätte er es mir sicher gesagt, als wir darüber<br />

sprachen, denn ich habe es bis heute noch nie erlebt, dass<br />

jemand mir e<strong>in</strong>en Abschluss unterschlug, wenn e<strong>in</strong>er<br />

vorhanden war. Das machte aber nichts, weil er kurz darauf<br />

zusammen mit se<strong>in</strong>er Schwester gleich vier grosse<br />

Liegenschaften erbte, <strong>und</strong> mit dem Vermögen, das die vielen<br />

Mieter<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Mieter während Jahrzehnten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Kassen<br />

spülten - auch «nur» mit zwei, weil se<strong>in</strong>e Schwester auch noch<br />

zwei bekommen hatte -, konnte er e<strong>in</strong> lockeres Leben führen<br />

<strong>und</strong> immer wieder <strong>in</strong> der Welt herumreisen. So lernte er auf<br />

e<strong>in</strong>er dieser Reisen auf Tahiti e<strong>in</strong>e Frau kennen, die er heiratete<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> die Schweiz brachte. Aus dieser Ehe g<strong>in</strong>gen vier K<strong>in</strong>der<br />

hervor: Zuerst e<strong>in</strong>e Tochter, die e<strong>in</strong> Jahr älter war als ich <strong>und</strong><br />

von der ich auch noch den Vornamen weiss; dann der erste<br />

Sohn, eben dieser Schüler <strong>in</strong> unserer Pension; dann der zweite<br />

Sohn <strong>und</strong> am Schluss noch e<strong>in</strong>e Tochter. Neben ihren<br />

offiziellen Taufnamen trugen alle vier auch noch tahitianische<br />

Namen, die bei ihnen zu Hause zur Umgangssprache gehörten,<br />

90


<strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> der gleichen Reihenfolge wie oben: Roti, Terangi,<br />

Moana <strong>und</strong> Tevai; dabei wurde Moana immer wie «Muana»<br />

ausgesprochen. Allerd<strong>in</strong>gs wuchsen sie neben Baseldeutsch<br />

<strong>und</strong> Französisch, das ihre Mutter mitgebracht hatte, nicht auch<br />

noch mit Tahitianisch auf; jedenfalls habe ich das nie gehört,<br />

als ich sie zweimal besuchen durfte.<br />

Dass sehr viel Geld ke<strong>in</strong>e Garantie für e<strong>in</strong>e erfolgreiche<br />

Schulkarriere ist, zeigte sich gerade bei diesem Terangi: Noch<br />

bevor er <strong>in</strong> unsere Pension kam, fiel er bei der ersten<br />

Aufnahmeprüfung für die Sek<strong>und</strong>arschule durch <strong>und</strong> bei der<br />

zweiten nach e<strong>in</strong>em Jahr gleich noch e<strong>in</strong>mal, also wurde noch<br />

e<strong>in</strong> Jahr angehängt. Schliesslich bestand er diese Prüfung nach<br />

zwei Jahren Vorbereitungszeit <strong>in</strong> der Primarschule beim dritten<br />

Versuch, aber ich frage mich noch heute, warum ihm noch e<strong>in</strong><br />

solcher gewährt wurde, weil der «Normaltarif» <strong>in</strong> der Schweiz<br />

immer <strong>und</strong> überall - also nicht nur <strong>in</strong> den Schulen <strong>und</strong><br />

Universitäten, sondern auch <strong>in</strong> der Lehrl<strong>in</strong>gsbranche - nur aus<br />

zwei Versuchen bestand. Sicher hatte se<strong>in</strong> Vater mit e<strong>in</strong> paar<br />

Zusatznoten gewedelt, aber auch ich profitierte davon, weil ich<br />

nach me<strong>in</strong>er <strong>Trogen</strong>er Zeit gleich zweimal mehrere Tage lang<br />

bei dieser Familie wohnen durfte. Nachher zerschlug sich<br />

dieser Kontakt wieder <strong>und</strong> ich habe bis heute nie mit Sicherheit<br />

erfahren, was aus ihnen allen geworden ist. Da der Name<br />

Baumgartner auch <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem offiziellen Vornamen,<br />

den Terangi trug, nicht selten ist, hat mir auch das Internet nur<br />

teilweise helfen können.<br />

Von den Auslandschweizern, die <strong>in</strong> anderen Ländern <strong>und</strong> sogar<br />

<strong>in</strong> anderen Kont<strong>in</strong>enten aufgewachsen waren, habe ich elf noch<br />

<strong>in</strong> besonderer Er<strong>in</strong>nerung: Bei den Mädchen e<strong>in</strong>es aus<br />

S<strong>in</strong>gapur, das ich allerd<strong>in</strong>gs nie näher kennen lernte, <strong>und</strong> bei<br />

den Burschen zwei aus Norditalien, e<strong>in</strong>en aus Portugal, zwei<br />

Brüder aus Barcelona, e<strong>in</strong>en aus Peru <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en aus Chile, der<br />

genau <strong>in</strong> der Zeit der Wahl Salvador Allendes zum neuen<br />

Präsidenten e<strong>in</strong> paar Monate lang bei uns war, sowie e<strong>in</strong>en, der<br />

91


se<strong>in</strong>e ersten Lebensjahre <strong>in</strong> Brasilien <strong>und</strong> Costa Rica verbracht<br />

hatte - weiter unten gehe ich auf diesen, mit dem ich<br />

überwiegend Probleme hatte, noch etwas näher e<strong>in</strong> -, <strong>und</strong><br />

zuletzt noch zwei, die von den USA stammten, wovon der e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong> Denver, also im B<strong>und</strong>esstaat Colorado aufgewachsen war,<br />

wie er mir e<strong>in</strong>mal sagte. Beiden war geme<strong>in</strong>sam, dass sie zu<br />

me<strong>in</strong>em Erstaunen Schweizerdeutsch ohne den typischen Ami-<br />

Akzent sprachen, der vor allem am Buchstaben R sofort<br />

erkannt werden kann. Während der e<strong>in</strong>e, zu dem ich e<strong>in</strong>en<br />

guten Kontakt bekam, e<strong>in</strong>es Tages von den Sommerferien nicht<br />

mehr zurückkehrte, sondern <strong>in</strong> den USA blieb, geschah mit dem<br />

Burschen aus Denver das Gegenteil: Er blieb hier hängen <strong>und</strong><br />

beendete auch die Schule nicht, <strong>und</strong> viele Jahre später brachte<br />

ich ihm sogar Briefe, als ich zeitweise als Briefträger arbeitete<br />

<strong>und</strong> er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Stadtbezirk wohnte, der direkt h<strong>in</strong>ter dem<br />

Hauptbahnhof liegt <strong>und</strong> noch heute zu den ärmsten Bezirken<br />

oder genauer Quartieren zählt, wie diese <strong>in</strong> der Schweiz auch<br />

heissen.<br />

Während die fünf ausserkont<strong>in</strong>entalen Burschen e<strong>in</strong><br />

akzentfreies Schweizerdeutsch sprachen - der e<strong>in</strong>zelne<br />

regionale Dialekt spielte nur e<strong>in</strong>e Nebenrolle, es war sowieso<br />

bei allen «Ausländern» e<strong>in</strong>e Mischung -, erlebte ich wenige<br />

Jahre später das genaue Gegenteil, als ich die RS absolvierte.<br />

Dort hatten wir zwei Auslandschweizer, von denen ich noch<br />

heute wenigstens die Familiennamen kenne <strong>und</strong> die <strong>in</strong> Kanada<br />

<strong>und</strong> Brasilien aufgewachsen <strong>und</strong> nur deshalb zum Wehrdienst<br />

e<strong>in</strong>berufen worden waren, weil sie hier irgende<strong>in</strong>e Ausbildung<br />

absolvierten, die ansche<strong>in</strong>end als besser galt als <strong>in</strong> ihren<br />

eigentlichen Heimatländern. Beiden war geme<strong>in</strong>sam, dass sie<br />

Schweizerdeutsch fast nicht sprechen konnten, aber<br />

wenigstens alles verstanden, sonst wären sie gar nicht<br />

aufgeboten worden. Der eigentliche Witz war, dass beide zu<br />

den eifrigsten Soldaten gehörten <strong>und</strong> nach ihren eigenen<br />

Worten im Gegensatz zu den meisten von uns alles gern taten -<br />

auch sie waren «Kampfsäue», wie unser Spezialausdruck dafür<br />

92


lautete. Sie bestätigten ebenfalls, was schon seit Jahrzehnten<br />

nicht gr<strong>und</strong>los gesagt wird: Die besten Patrioten s<strong>in</strong>d jene, die<br />

gar nicht <strong>in</strong> diesem Land wohnen <strong>und</strong> damit die ständigen<br />

politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Kämpfe um das nackte<br />

Überleben hier nicht direkt miterleben. Wer zudem vermögend<br />

ist <strong>und</strong> erst noch e<strong>in</strong>e gute Ges<strong>und</strong>heit hat, ist sogar noch<br />

patriotischer, <strong>und</strong> das betrifft sowohl die Auslandschweizer als<br />

auch jene, die hier leben.<br />

Das Gleiche kann natürlich auch von allen anderen Nationen<br />

gesagt <strong>und</strong> geschrieben werden - mit viel Geld <strong>und</strong> zudem mit<br />

guter Ges<strong>und</strong>heit ist es nun e<strong>in</strong>mal leichter, patriotisch zu se<strong>in</strong>,<br />

als wenn das erstere <strong>und</strong> noch schlimmer gleich beides nicht<br />

vorhanden ist. Das hat nichts mit e<strong>in</strong>em Neid der Besitzlosen zu<br />

tun, wie das von denen, die mehr als die grosse Mehrheit der<br />

Leute zusammen besitzen, immer wieder behauptet wird,<br />

sondern ist e<strong>in</strong>e nüchterne Feststellung von Tatsachen. Wenn<br />

zum Beispiel fast das ganze Ufer r<strong>und</strong> um den <strong>Zürich</strong>see sich <strong>in</strong><br />

Privatbesitz bef<strong>in</strong>det <strong>und</strong> dem e<strong>in</strong>fachen Fussvolk gerade noch<br />

die Seebäder zur Verfügung stehen, darf dieses System<br />

wirklich h<strong>in</strong>terfragt werden. Es ist geistig schwach, dass<br />

genauso wie die Faschisten-Keule, die Nazi-Keule <strong>und</strong> die<br />

Rassismus-Keule auch immer wieder die Besitzlosen-Keule<br />

ausgepackt wird, wie ich die letztgenannte nenne. So tat das<br />

bei mir auch e<strong>in</strong>e Frau, die zwar auf dem <strong>Zürich</strong>berg wohnte,<br />

aber längst nicht so viel Geld hatte, wie sie immer tat. Als ich ihr<br />

e<strong>in</strong>mal sagte, dass man nicht unbed<strong>in</strong>gt auf dem <strong>Zürich</strong>berg<br />

wohnen müsse, um glücklich zu se<strong>in</strong>, packte auch sie diese<br />

langweilige Keule aus. Ich hatte nie etwas dagegen, wenn<br />

jemand mehr besass als andere, aber ich erwartete immer<br />

Anstand <strong>und</strong> Respekt. Wenn jemand das mir gegenüber nicht<br />

tat, öffnete ich eben den M<strong>und</strong> - <strong>und</strong> nicht nur zum Essen,<br />

Tr<strong>in</strong>ken, Sprechen <strong>und</strong> S<strong>in</strong>gen.<br />

Wieder zurück zu <strong>Trogen</strong>: Das System mit zahlreichen<br />

Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schülern von ausserhalb der beiden<br />

93


appenzellischen Halbkantone <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>en auch mit<br />

den vielen Pensionen hielt sich jahrzehntelang <strong>und</strong> machte<br />

dieses Dorf fast zu e<strong>in</strong>er Insel von Glückseligen, <strong>und</strong> tatsächlich<br />

fühlten sich viele wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Grossfamilie. Es kam zwar immer<br />

wieder vor, dass der e<strong>in</strong>e oder andere aus verschiedenen<br />

Gründen die Pension wechselte, aber <strong>in</strong>sgesamt herrschte e<strong>in</strong>e<br />

erstaunliche Harmonie über alle Pensionen h<strong>in</strong>weg. Weiter<br />

unten werde ich noch erzählen, wie sich dieser e<strong>in</strong>zigartige<br />

Geist unter uns zeigte, wenn unsere schulischen<br />

Grossreignisse stattfanden.<br />

Was mir noch heute e<strong>in</strong>e besondere Freude bereitet, ist das<br />

Fehlen von Mobb<strong>in</strong>g <strong>und</strong> von Bandenbildungen, wie das heute<br />

von vielen anderen Schulen berichtet wird, <strong>und</strong> auch das Kiffen<br />

<strong>und</strong> erst recht das Schlucken <strong>und</strong> Spritzen von Drogen hatten<br />

ke<strong>in</strong>e Chance. Wenn es jemand doch getan hätte, wäre das<br />

schnell bekannt geworden, <strong>und</strong> dazu gehörte auch, dass es<br />

bald nicht nur die ganze Schule, sondern auch das ganze Dorf<br />

wusste, wenn sich wieder e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Liebespärchen gebildet<br />

hatte. Dementsprechend wurde auch viel getrascht <strong>und</strong><br />

geklatscht, aber nie bösartig; jedenfalls habe ich selbst nie<br />

etwas <strong>in</strong> dieser Richtung gehört.<br />

Schon kurze Zeit nach me<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong> änderte<br />

sich dieses System <strong>in</strong>sofern, als bewusst damit begonnen<br />

wurde, die Kantonsschule immer mehr zu appenzellisieren, wie<br />

es hiess. Das drückte sich dar<strong>in</strong> aus, dass das Schulgeld für die<br />

Ausserkantonalen, das ohneh<strong>in</strong> schon hoch war, <strong>in</strong> mehreren<br />

Etappen noch höher h<strong>in</strong>aufgeschraubt wurde, so dass immer<br />

mehr Eltern von auswärts kapitulierten <strong>und</strong> sogar die besonders<br />

Gutbetuchten zuerst nicht mehr zwei K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> am Ende gar<br />

ke<strong>in</strong>es mehr h<strong>in</strong>schickten. Dies war der entscheidende Gr<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> nicht die Tatsache, dass die Verkehrsverb<strong>in</strong>dungen mit<br />

<strong>Trogen</strong> immer besser wurden, wie das <strong>in</strong> den heutigen<br />

Schulchroniken von solchen behauptet wird, die damals gar<br />

nicht selbst dabei waren. Es konnte im W<strong>in</strong>ter noch so viel<br />

94


schneien - <strong>und</strong> vor e<strong>in</strong> paar Jahrzehnten gab es tatsächlich<br />

noch viel mehr Schnee, wie es allgeme<strong>in</strong> bekannt ist -, wir<br />

fanden immer e<strong>in</strong>en Weg, um nach <strong>Zürich</strong> <strong>und</strong> zu den anderen<br />

Wohnorten zu gelangen, <strong>und</strong> zudem fehlte unter der Woche<br />

auch an den freien Nachmittagen sowieso die Zeit, um von dort<br />

oben für mehr als e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>ost<strong>und</strong>e im nahe gelegenen<br />

St.Gallen wegzufahren. Neben der <strong>Trogen</strong>er Bahn gab es<br />

schon vor e<strong>in</strong>em halben Jahrh<strong>und</strong>ert so gute Busverb<strong>in</strong>dungen,<br />

dass jedes e<strong>in</strong>zelne appenzellische Dorf sowohl von St. Gallen<br />

als auch von <strong>Trogen</strong> oder vom benachbarten Speicher aus <strong>in</strong><br />

kurzer Zeit erreicht werden konnte.<br />

Die heutige offizielle Behauptung wegen der immer mehr<br />

ausbleibenden Schülerzahlen von ausserhalb des Kantons<br />

Appenzell kann auch dadurch widerlegt werden, dass alle<strong>in</strong> der<br />

ges<strong>und</strong>e Menschenverstand dafür spricht, dass e<strong>in</strong>e während<br />

Jahrzehnten währende Tradition, die ich oben erwähnt habe,<br />

durch bessere Verkehrsverb<strong>in</strong>dungen nicht plötzlich<br />

aufgegeben, sondern im Gegenteil noch ausgebaut wird.<br />

Zudem verdienten die Kantonsschule <strong>und</strong> damit auch der<br />

Kanton gerade durch diese vielen Auswärtigen, die nicht hier<br />

wohnten, auch mit diesem System bereits e<strong>in</strong>e schöne Stange<br />

Geld. Es lag tatsächlich an der massiven Erhöhung des<br />

Schulgeldes, von der auch ich hörte, als ich schon nicht mehr <strong>in</strong><br />

<strong>Trogen</strong> wohnte.<br />

Gerade diese Appenzellisierung, wie sie ungeniert auch so<br />

genannt wurde, führte zugleich dazu, dass e<strong>in</strong>e Pension nach<br />

der anderen schliessen musste, <strong>und</strong> dazu trug natürlich auch<br />

bei, dass die <strong>Lehrer</strong>, die mit ihren Ehefrauen e<strong>in</strong>e Pension<br />

hielten, mit der Zeit e<strong>in</strong>er nach dem anderen <strong>in</strong> den Ruhestand<br />

g<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> dann wieder mehr Zeit für sich selbst haben wollten.<br />

Heute ist diese Schule zwar zum grössten Teil von<br />

ausserkantonalen „Fremdl<strong>in</strong>gen“ gere<strong>in</strong>igt, aber dieser<br />

e<strong>in</strong>zigartige Geist, den ich noch selbst miterleben konnte, ist<br />

heute nicht mehr da.<br />

95


Allerd<strong>in</strong>gs ist auch dies zu erwähnen: Unsere Kantonsschule<br />

war im Vergeich zu den meisten anderen zwar e<strong>in</strong>zigartig, aber<br />

immer noch nur e<strong>in</strong>e von H<strong>und</strong>erten anderen ähnlichen<br />

Schulen. Gerade diese E<strong>in</strong>zigartigkeit liess viele von uns dazu<br />

neigen, uns als etwas ganz Besonderes zu fühlen, <strong>und</strong> das<br />

wiederum verleitete nicht nur viele Schüler, sondern auch e<strong>in</strong>en<br />

Teil der <strong>Lehrer</strong>schaft dazu, allzu viel Stolz zu zeigen. <strong>Trogen</strong><br />

war <strong>Trogen</strong>, aber mehr nicht. Eigentlich ist dieses Dorf viel<br />

mehr als die Kantonsschule durch das zuoberst auf dem Hügel<br />

gelegene <strong>in</strong>ternationale K<strong>in</strong>derdorf Pestalozzi bekannt<br />

geworden, zu dem wir auch Kontakte hatten. So konnte ich das<br />

«Jukola», also das Haus der F<strong>in</strong>nen, e<strong>in</strong>mal sogar besuchen,<br />

nachdem ich mich telefonisch bei ihnen angemeldet hatte, <strong>und</strong><br />

zudem besuchten e<strong>in</strong> paar E<strong>in</strong>wohner des K<strong>in</strong>derdorfes unsere<br />

Schule. Dabei bestanden e<strong>in</strong> Koreaner, den ich persönlich<br />

kennen lernte - so weiss ich noch, dass er mir e<strong>in</strong>mal sagte, er<br />

wolle Ökonomie studieren -, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Tibeter<strong>in</strong> sogar die<br />

Maturaprüfungen; von beiden kenne ich immer noch den vollen<br />

Namen. Gerade weil dieses K<strong>in</strong>derdorf viel bekannter war,<br />

wurde ich immer wieder gefragt, ob ich dort oben wohne, wenn<br />

ich bei me<strong>in</strong>en Besuchen <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> verschiedenen Leuten<br />

erzählte, dass ich jetzt <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> zur Schule g<strong>in</strong>g; viele wussten<br />

nicht e<strong>in</strong>mal, dass es dort auch e<strong>in</strong>e Kantonsschule gab.<br />

Dieser geradezu grossfamiliäre Geist, der tatsächlich e<strong>in</strong>e Art<br />

Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelte, zeigte sich auch<br />

dar<strong>in</strong>, dass sich viele im Sommer immer wieder ganz unten im<br />

Tal trafen, wo es e<strong>in</strong> Schwimmbad gab <strong>und</strong> zum Teil sogar <strong>in</strong><br />

Gruppen e<strong>in</strong>e Prüfung vorbereitet wurde. Noch mehr war dieser<br />

Geist jedoch zu spüren, wenn man im gleichen Zimmer, <strong>in</strong> dem<br />

sonst Musik unterrichtet wurde, manchmal e<strong>in</strong>en Film zeigte,<br />

<strong>und</strong> zwar nicht irgende<strong>in</strong>en, sondern e<strong>in</strong>en weltbekannten. Erst<br />

dann zeigte es sich so richtig, wie viel uns verband, weil von<br />

den Auswärtigen fast die Hälfte regelmässig dabei war, also<br />

immerh<strong>in</strong> fast h<strong>und</strong>ert Leute. Natürlich waren wir damit<br />

e<strong>in</strong>gepfercht wie die viel zitierten Sard<strong>in</strong>en, aber gerade das<br />

96


gefiel uns, weil wir uns dann noch viel mehr als an den<br />

Schülerabenden wie e<strong>in</strong>e grosse Familie fühlen konnten - <strong>und</strong><br />

wenn doch nicht, dann wenigstens wie e<strong>in</strong>e grosse Sippschaft.<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich noch heute gut an die vier Filme, die vorn auf<br />

e<strong>in</strong>er grossen Le<strong>in</strong>wand mit Hilfe e<strong>in</strong>es Apparats gezeigt<br />

wurden, der an die Stummfilmzeiten er<strong>in</strong>nerte. Der erste wurde<br />

an e<strong>in</strong>em tiefverschneiten Abend im Januar 1970 aufgeführt,<br />

als für e<strong>in</strong>mal so viel Schnee gefallen war, dass es tatsächlich<br />

schwierig bis fast unmöglich war, von <strong>Trogen</strong> wegzukommen.<br />

Dieser Film war "High Noon" aus dem Jahr 1952 mit Gary<br />

Cooper <strong>und</strong> Grace Kelly als bekanntesten Darstellern.<br />

Der zweite Film, der im Sommer des gleichen Jahres gezeigt<br />

wurde, war die seltsame Geschichte "Blow-up" aus dem Jahr<br />

1966, aber alle<strong>in</strong> der Auftritt von Vanessa Redgrave ist es noch<br />

heute wert, diesen an sich bedeutungslosen Film anzuschauen.<br />

Obwohl diese Frau wegen ihrer extrem anti-israelischen <strong>und</strong><br />

damit auch extrem pro-paläst<strong>in</strong>ensischen Haltung <strong>und</strong> vor allem<br />

wegen ihrer Propaganda für die terroristische IRA, die damals<br />

nicht nur <strong>in</strong> Nordirland, sondern auch im Rest von<br />

Grossbritannien viele Morde beg<strong>in</strong>g, für mich schon damals<br />

fragwürdig war, habe ich sie immer gern gesehen, weil gerade<br />

auch sie den Frauentyp verkörperte, der mir immer gefiel:<br />

Gross gewachsen <strong>und</strong> gut gebaut, e<strong>in</strong>e matronenhafte<br />

Ersche<strong>in</strong>ung, die sowohl strenge Gouvernanten als auch<br />

liebevolle Familienmütter gleich gut spielen konnte. Am besten<br />

<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung habe ich sie jedoch <strong>in</strong> der Rolle der schottischen<br />

König<strong>in</strong> Maria Stuart, weil dieser Film gerade zu Beg<strong>in</strong>n der<br />

Siebzigerjahre <strong>in</strong> den K<strong>in</strong>os zu laufen begann <strong>und</strong> noch heute<br />

zu ihren grössten Erfolgen zählt.<br />

Der dritte Film, der ebenfalls im Jahr 1970 zwischen den<br />

Sommer- <strong>und</strong> Herbstferien gezeigt wurde, war der italienische<br />

Spielfilm "La Strada" aus dem Jahr 1954 mit Anthony Qu<strong>in</strong>n<br />

<strong>und</strong> Richard Basehart als bekannten Gastschauspielern sowie<br />

97


Giulietta Mas<strong>in</strong>a, der Ehefrau des Regisseurs Federico Fell<strong>in</strong>i.<br />

Der vierte Film schliesslich kam erst im nächsten Jahr dran; es<br />

war "Alexis Sorbas" wieder mit Anthony Qu<strong>in</strong>n <strong>und</strong> zusätzlich<br />

mit Alan Bates <strong>und</strong> Irene Papas, die ich auch immer gern<br />

gesehen habe, <strong>in</strong> den Hauptrollen. Gerade für solche<br />

Ereignisse hatte ich damals wie heute immer e<strong>in</strong> besonders<br />

gutes Gedächtnis. Natürlich wäre es nicht schlecht gewesen,<br />

wenn ich dieses auf alle Schulfächer hätte übertragen können,<br />

aber diese Filme gehörten für mich zum Bereich der Kunst, <strong>und</strong><br />

dar<strong>in</strong> b<strong>in</strong> ich schon immer gut gewesen, obwohl ich auch dort<br />

nie zur ersten Garde gehört habe.<br />

Es gab nicht weniger als drei schuleigene Sportvere<strong>in</strong>e, denen<br />

zur Zeit me<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>tritts nur aktive Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler<br />

angehören durften, obwohl alle drei nur wenige Mitglieder<br />

zählten: E<strong>in</strong>en Skiclub <strong>Trogen</strong> (SCT), e<strong>in</strong>en Kantonsschul-<br />

Turnvere<strong>in</strong> (KTV) <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en Fussballclub <strong>Trogen</strong> (FCT), von<br />

dem ich weiter unten auch noch etwas ausführlicher sprechen<br />

werde. Daneben existierte e<strong>in</strong> Vere<strong>in</strong>, der e<strong>in</strong>e Art Geheimb<strong>und</strong><br />

war, wenn nicht sogar e<strong>in</strong>e Blutsbruderschaft verkörperte. Er<br />

nannte sich «Comitia <strong>Trogen</strong>sis», dem nach me<strong>in</strong>em Wissen<br />

nur Burschen angehörten <strong>und</strong> dem jemand nur beitreten<br />

konnte, wenn er gefragt wurde. Trotz me<strong>in</strong>er vielen guten<br />

Kontakte, die sich nach etwa e<strong>in</strong>em Jahr bildeten, wurde ich<br />

selbst nie gefragt, obwohl e<strong>in</strong>er von ihnen, mit dem ich auch<br />

noch gut auskam, <strong>in</strong> unserer Pension wohnte. Diese<br />

selbsternannten Elite-Leute machten aber auch nie e<strong>in</strong>en Hehl<br />

daraus, was sie trieben, weil sie das <strong>in</strong> den alljährlichen<br />

Schulberichten erwähnten: Sie lasen überwiegend zusammen<br />

Literaturwerke, schauten sich Filme an <strong>und</strong> unternahmen<br />

geme<strong>in</strong>same Ausflüge. Die Schlussformel lautete unter jedem<br />

Jahresbericht: Vivat, crescat, floreat! - Es soll leben, wachsen<br />

<strong>und</strong> blühen!<br />

Und noch etwas, bevor ich auf die e<strong>in</strong>zelnen <strong>Lehrer</strong> näher<br />

98


e<strong>in</strong>gehe: Es kursierten zahlreiche Spitznamen, doch nicht nur<br />

für die <strong>Lehrer</strong>, sondern auch für die Schüler, aber<br />

erstaunlicherweise nur für Burschen; jedenfalls habe ich nie<br />

solche für Mädchen gehört. Wer unter den Schülern e<strong>in</strong>en<br />

solchen Spitznamen bekam, durfte sich glücklich schätzen, weil<br />

das auch als e<strong>in</strong>e Ehre betrachtet wurde. So liegt es nahe, dass<br />

ich nie e<strong>in</strong>en bekam - ich war e<strong>in</strong>fach nur der Stump. Viele<br />

Spitznamen stammten von der Comitia, aber längst nicht alle,<br />

<strong>und</strong> ich habe nie genau erfahren, wer woher e<strong>in</strong>en solchen<br />

Namen bekommen hatte.<br />

Der erste Spitzname, den ich hörte, war Ali <strong>und</strong> gehörte e<strong>in</strong>em,<br />

der <strong>in</strong> unserer Pension wohnte. Deshalb lernte ich ihn näher<br />

kennen <strong>und</strong> verstand sofort, warum er so genannt wurde, weil<br />

er wie der damalige Box-Weltmeister, der seitdem als e<strong>in</strong>er der<br />

grössten Sportler aller Zeiten gilt, e<strong>in</strong>e ähnlich grosse <strong>und</strong> laute<br />

Röhre führte. Es g<strong>in</strong>g uns zeitweise auf die Nerven, dass er uns<br />

alle spüren liess, um wie viel besser als wir er sich sah, <strong>und</strong><br />

dabei machte er auch vor den vier anderen Maturanden nicht<br />

halt. Dazu kam auch noch, dass er sich mit e<strong>in</strong>em bei uns<br />

wohnenden französischsprachigen Schweizer immer auffallend<br />

laut <strong>in</strong> dessen Muttersprache unterhielt - aber gekonnt, wie ich<br />

zugeben muss. Später wurde er standesgemäss genauso wie<br />

«Noxli» von me<strong>in</strong>er ersten Schule e<strong>in</strong> Rechtsanwalt für<br />

Gutbetuchte <strong>und</strong> als Zugabe für e<strong>in</strong> paar Jahre auch noch e<strong>in</strong><br />

Zunftmeister <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong>, für Nichte<strong>in</strong>geweihte der Präsident e<strong>in</strong>er<br />

Zunft. Allerd<strong>in</strong>gs muss ich betonen, dass ich mit ihm, der vier<br />

Jahre älter <strong>und</strong> dementsprechend auch vier Klassen höher<br />

e<strong>in</strong>gereiht war als ich, <strong>in</strong>sgesamt gut ausgekommen b<strong>in</strong>. Zudem<br />

überliess er mir bei se<strong>in</strong>em Wegzug e<strong>in</strong> Griechisch-Lehrbuch<br />

des noch heute bekannten Autoren Adolf Kägi, von dem ich<br />

damals noch nicht wissen konnte, dass es mir e<strong>in</strong> paar<br />

Jahrzehnte später nützliche Dienste erweisen würde.<br />

Neben Ali gab es noch e<strong>in</strong>en Schüler, der immer wieder<br />

genannt wurde, weil er es verstand, sich gut <strong>in</strong> Szene zu<br />

99


setzen, <strong>und</strong> deshalb ke<strong>in</strong>en Spitznamen brauchte. Er hiess<br />

offziell Guy <strong>und</strong> trug daneben auch noch e<strong>in</strong>en adlig kl<strong>in</strong>genden<br />

Namen, jedenfalls hatte dieser e<strong>in</strong> «von» davor. Da er e<strong>in</strong> gut<br />

aussehender Mädchenschwarm <strong>und</strong> zudem e<strong>in</strong><br />

hoch<strong>in</strong>telligenter Schüler war, der die Maturaprüfungen im Jahr<br />

1970 fast wie im Schlaf bestand, war immer wieder von ihm die<br />

Rede, aber auch se<strong>in</strong>e Röhre war immer wieder unüberhörbar.<br />

Da er drei Jahre älter <strong>und</strong> damit auch drei Klassen höher<br />

e<strong>in</strong>gereiht war als ich, lernte ich ihn nie persönlich kennen,<br />

doch als unser schuleigener Superstar - der erste <strong>und</strong> auch<br />

e<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er <strong>Trogen</strong>er Zeit - lief er auch mir immer wieder<br />

über den Weg. Warum ich ihn hier überhaupt nenne, hat e<strong>in</strong>en<br />

bestimmten Gr<strong>und</strong>, auf den ich weiter unten noch näher<br />

e<strong>in</strong>gehen werde. Trotz se<strong>in</strong>es Kultstatus <strong>und</strong> trotz des Internets,<br />

das heute so vieles aus der Versenkung enthüllt - so hat es<br />

auch mir bei me<strong>in</strong>en Recherchen für dieses Buch geholfen -,<br />

habe ich nie herausgef<strong>und</strong>en, was später aus ihm geworden ist;<br />

er ist genauso wie die meisten anderen irgendwo im Nirgendwo<br />

verschw<strong>und</strong>en.<br />

E<strong>in</strong>er mit dem Vornamen Kilian wurde «Killer» genannt, aber<br />

als e<strong>in</strong> anderer, der dem Komponisten Schubert auffallend glich<br />

<strong>und</strong> deshalb logischerweise diesen Spitznamen bekam, ihn<br />

e<strong>in</strong>mal auch noch «Mörder» nannte, merkte auch er selbst,<br />

dass er damit zu weit gegangen war, aber wir konnten trotzdem<br />

noch darüber lachen. Weitere Spitznamen waren diese: Beno,<br />

Cidro, Lupo (weil er Luigi hiess), Schorschi, Seppli (aber er<br />

hatte e<strong>in</strong>en ganz anderen Vornamen), Siesta, Wüdi (weil er<br />

Wüthrich hiess, allerd<strong>in</strong>gs nannte nur ich ihn so) <strong>und</strong> T<strong>in</strong>o. Beim<br />

Letztgenannten musste man immer ganz genau h<strong>in</strong>hören, um<br />

nicht "D<strong>in</strong>o" zu verstehen, <strong>und</strong> folgerichtig wurde er oft mit<br />

jemandem verwechselt, der tatsächlich Tilo hiess. All diese<br />

kannte ich persönlich - <strong>und</strong> ich weiss noch heute von allen<br />

sowohl den Vor- als auch den Familiennamen.<br />

E<strong>in</strong> besonders gross gewachsener athletischer Bursche <strong>in</strong><br />

100


me<strong>in</strong>em Alter wurde Max Long genannt, während e<strong>in</strong>er namens<br />

Roth, der wie e<strong>in</strong> feuriger Südländer aussah, folgerichtig Rosso<br />

- eben «rot» im Italienischen - gerufen wurde; auch von diesen<br />

beiden kenne ich noch heute die Vor- <strong>und</strong> Familiennamen.<br />

Warum e<strong>in</strong>er der beiden oben erwähnten Barcelona-Schweizer<br />

immer «Chile» genannt wurde, so dass er leicht mit dem<br />

verwechselt werden konnte, der tatsächlich <strong>in</strong> diesem Land<br />

aufgewachsen war, war genauso rätselhaft wie diese beiden<br />

Brüder selbst. Weiter gab es gleich zwei mit dem Spitznamen<br />

Jogi, wobei ich von dem e<strong>in</strong>en im Gegensatz zu Beno weder<br />

den Vor- noch den Familiennamen jemals erfahren habe.<br />

Dagegen g<strong>in</strong>g der andere als kle<strong>in</strong>er Gegensatz dazu als<br />

E<strong>in</strong>ziger von allen Erwähnten gleich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Klasse, so dass<br />

ich ihn von allen natürlich am besten kannte. E<strong>in</strong>er der<br />

Busenfre<strong>und</strong>e dieses Jogi trug den Spitznamen Bubu <strong>und</strong> zwei<br />

Schüler, deren Vor- <strong>und</strong> Familiennamen ich heute ebenfalls<br />

noch kenne, wurden Balu <strong>und</strong> Chlotz genannt, weil auch diese<br />

zwei gross gewachsene robuste Kerle waren, ja, der<br />

Erstgenannte war sogar e<strong>in</strong> Kleiderschrank. Ob diese beiden,<br />

die zu den populärsten Schülern zählten, folgerichtig auch zur<br />

Comitia gehörten, habe ich nie erfahren, <strong>und</strong> wenn ich gefragt<br />

hätte, wäre wegen der «Omertà», also wegen des<br />

«Schweigegelübdes», das diesen Vere<strong>in</strong> umgab, auch ke<strong>in</strong>e<br />

klare Antwort bekommen.<br />

Ich erwähne diese Vere<strong>in</strong>igung auch jetzt wieder, weil der<br />

Geheimnisvollste von allen, mit dem ich höchstwahrsche<strong>in</strong>lich<br />

mehrmals zu tun hatte, von dem ich aber nie erfahren habe,<br />

wer er <strong>in</strong> Wirklichkeit war, den Spitznamen Tell trug, den die<br />

Comitia ihm gegeben hatte. Von diesem Tell erzählte der<br />

Kollege, der <strong>in</strong> der gleichen Pension wie ich wohnte, <strong>in</strong><br />

späteren Jahren, als wir beide nicht mehr <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> lebten,<br />

immer wieder, dass er wisse, wer ich sei, ja, er liess sogar<br />

Grüsse ausrichten. Ich habe auch deshalb nie herausgef<strong>und</strong>en,<br />

wer er wirklich war, weil diese Sache mir nicht so wichtig war,<br />

dass ich ihn fragte, wie der andere wirklich hiess - <strong>und</strong> hätte ich<br />

101


ihn doch e<strong>in</strong>mal gefragt, hätte er mir den Namen vielleicht nicht<br />

verraten, weil es bei ihnen wie oben angedeutet e<strong>in</strong> ähnliches<br />

Schweigegelübde gab wie bei den Logenbrüdern aller Facetten.<br />

Zudem hätte ich auch bei e<strong>in</strong>em Brechen dieses Gelübdes mit<br />

se<strong>in</strong>em Namen vielleicht nichts anfangen können, weil auch ich<br />

nicht alle 430 Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler mit ihrem vollen<br />

Namen kannte. Gerade deshalb erstaunt es mich noch heute,<br />

dass der Bursche, der die Jahresberichte verfasste, immer<br />

se<strong>in</strong>en wirklichen Namen angab, aber wohl weil er dazu<br />

verpflichtet war, weil auch alle anderen, die dort etwas<br />

schrieben, ihre Namen angeben mussten. Allerd<strong>in</strong>gs schrieb er<br />

auch noch dann, als er diese Schule längst nicht mehr<br />

besuchte.<br />

Dagegen weiss ich über e<strong>in</strong>en weiteren mit dem Spitznamen<br />

Teddy, der h<strong>in</strong>ten <strong>und</strong> vorn nichts mit e<strong>in</strong>er Teddy-Frisur zu tun<br />

hatte - diese wurde erst später Mode <strong>und</strong> löste dabei die langen<br />

Haare der Beatles-Generation ab -, sondern genauso wie e<strong>in</strong><br />

paar andere lange Haare trug, dass dieser sicher nicht dabei<br />

war. Da ich zu ihm gerade dann, als wir e<strong>in</strong>e Art Schülerzeitung<br />

planten, e<strong>in</strong>en direkten Kontakt bekam, hätte ich das bald<br />

herausgef<strong>und</strong>en. Die Herkunft des Namens war zwar e<strong>in</strong><br />

Geheimnis, aber nicht das, was dieser Teddy tat: Solange ich <strong>in</strong><br />

<strong>Trogen</strong> die Schule besuchte, war er bei jedem Musik-Festival -<br />

sowohl nach den Fussball-Turnieren als auch an den<br />

Schülerabenden, wenn manchmal noch Bands von aussen<br />

auftraten, oder an sonstigen eigenen Abend-Festivals - der<br />

Leadsänger e<strong>in</strong>er Musikgruppe, die sich meistens aus vier oder<br />

fünf Burschen zusammensetzte, die diese Schule ebenfalls<br />

besuchten. Es war Teddy gleich, dass er den Ruf hatte, nicht<br />

richtig s<strong>in</strong>gen zu können. Er sang immer munter drauflos, wobei<br />

se<strong>in</strong>e Stimme so kräftig war, dass wir ihn auch ohne Mikrofon<br />

gut genug gehört hätten. Es erg<strong>in</strong>g ihm nicht so wie e<strong>in</strong>em<br />

anderen, der ebenfalls <strong>in</strong> unserer Pension wohnte <strong>und</strong> es an<br />

e<strong>in</strong>em Schülerabend auch e<strong>in</strong>mal versuchte, obwohl er selbst<br />

wohl auch wusste, dass er e<strong>in</strong>e schwächere Stimme als Teddy<br />

102


hatte - <strong>und</strong> danach war er ganze drei Tage lang heiser. Teddy<br />

konnte also doch s<strong>in</strong>gen, weil er se<strong>in</strong>e Stimme so gut<br />

e<strong>in</strong>zusetzen wusste, dass er nie heiser wurde, denn wäre das<br />

e<strong>in</strong>mal doch geschehen, hätte sich das schon am nächsten Tag<br />

<strong>in</strong> der ganzen Schule herumgesprochen.<br />

Zu Teddy ist auch noch dies zu schreiben: Es gab <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong><br />

nach me<strong>in</strong>em Wissen m<strong>in</strong>destens zwei grosse Restaurants -<br />

davon e<strong>in</strong>es direkt beim Dorfplatz, wo an den<br />

Landsgeme<strong>in</strong>detagen fast nur Leute aus der erlauchten<br />

Gesellschaft Zugang hatten, so zeigte sich dort auch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong><br />

gerade frisch gewählter B<strong>und</strong>esrat - <strong>und</strong> m<strong>in</strong>destens drei Cafés.<br />

Zwei von ihnen wurden von den Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schülern<br />

e<strong>in</strong>deutig am meisten besucht, dort trafen wir uns immer wieder<br />

<strong>und</strong> konnten über dieses <strong>und</strong> jenes klatschen <strong>und</strong> tratschen.<br />

Das e<strong>in</strong>e, das direkt an der Hauptstrasse im Zentrum lag, hiess<br />

"Café Oberson", nachdem es zuerst noch den Titel "Café Frei"<br />

getragen hatte, während das andere nicht allzu weit davon<br />

entfernt etwas versteckt lag <strong>und</strong> von e<strong>in</strong>er Frau betrieben<br />

wurde, von der ich nur noch den Rufnamen Loni <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung<br />

habe. Als wir über diese mögliche Schülerzeitung diskutierten,<br />

war das bei Loni, die bei allen so beliebt war, dass sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

der beiden Maturazeitschriften, von denen ich noch sprechen<br />

werde, besonders erwähnt wurde, <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong> Vers für ihr Café<br />

die Werbetrommel rührte: "Bei Loni e<strong>in</strong> Bier - das rat' ich Dir!"<br />

Was jetzt diesen Teddy betrifft, er<strong>in</strong>nere ich mich noch heute<br />

mit e<strong>in</strong>em breiten Schmunzeln daran, als er diesen halbwegs<br />

gereimten Vers sagte, nachdem e<strong>in</strong>er von uns <strong>in</strong> die R<strong>und</strong>e<br />

gefragt hatte, was wir überhaupt <strong>in</strong> der geplanten<br />

Schülerzeitung schreiben sollten: «Willst du machen e<strong>in</strong>e<br />

Sensation, dann geh’ um Mitternacht zur Bahnstation - vorbei<br />

am Café Oberson.» Kaum hatte er diese Worte gesprochen,<br />

schüttelten wir uns alle vor Lachen, <strong>und</strong> wir brauchten fast e<strong>in</strong>e<br />

M<strong>in</strong>ute, bis wir uns wieder erholten. Ja, ich erlebte dort oben <strong>in</strong><br />

<strong>Trogen</strong> tatsächlich auch lustige Seiten, <strong>und</strong> dieses kle<strong>in</strong>e<br />

Ereignis gehörte zu ihnen.<br />

103


Guschti<br />

Es gibt gleich drei gute Gründe, warum ich diesen <strong>Lehrer</strong> zuerst<br />

vorstelle: Erstens hatte ich mit ihm als Erstem zu tun, zweitens<br />

war er von Anfang bis fast zum Schluss me<strong>in</strong>es <strong>Trogen</strong>er<br />

Dase<strong>in</strong>s me<strong>in</strong> sogenannter Klassenlehrer <strong>und</strong> drittens war er<br />

neben e<strong>in</strong>em anderen der E<strong>in</strong>zige, den ich <strong>in</strong> all me<strong>in</strong>en<br />

viere<strong>in</strong>halb Jahren als <strong>Lehrer</strong> hatte. Das war auch deshalb<br />

möglich, weil hier nicht so scharf zwischen e<strong>in</strong>er Unterstufe,<br />

also bis zum Ende der dritten Klasse, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Oberstufe<br />

unterschieden wurde. Es gab hier also <strong>Lehrer</strong>, die <strong>in</strong> allen<br />

Stufen <strong>und</strong> erst noch <strong>in</strong> verschiedenen Fächern unterrichteten -<br />

zwar auch <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong>, aber es waren nur wenige wie etwa<br />

Schorsch I, der wie oben erwähnt neben Late<strong>in</strong> auch<br />

Altgriechisch unterrichtete, oder wie Gemmi, der das Gleiche für<br />

Physik <strong>und</strong> Chemie tat, <strong>und</strong> besonders für das Altgriechische<br />

gab es halt immer nur wenige Lehrkräfte.<br />

Als ich Guschti nach den Herbstferien zum ersten Mal<br />

begegnete, sah ich bestätigt, was ich bei me<strong>in</strong>em<br />

Schnupperbesuch gehört hatte: Es gab tatsächlich auch sehr<br />

viele Mädchen vor, neben <strong>und</strong> h<strong>in</strong>ter mir, was ich bis dah<strong>in</strong> so<br />

noch nie erlebt hatte. Wir mussten uns zu Dutzenden im<br />

Zimmer versammeln, <strong>in</strong> dem Musik unterrichtet wurde, wie wir<br />

wenige Tage darauf erlebten; dort sollte uns mitgeteilt werden,<br />

<strong>in</strong> welcher Klasse jeder <strong>und</strong> jede E<strong>in</strong>zelne e<strong>in</strong>geteilt worden<br />

war. Wenn ich mich noch richtig er<strong>in</strong>nere, war das eigentlich<br />

leicht, weil wir alle Zweitklässler waren <strong>und</strong> es <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> auf<br />

dieser Stufe nur zwei Klassen gab - die Gimmeler, also die<br />

Gymnasiasten, <strong>und</strong> die Sek-Schüler, wie die Sek<strong>und</strong>arschüler<br />

genannt wurden, <strong>und</strong> es wussten ja schon alle vorher, welche<br />

Klasse sie besuchen würden. Da das Zimmer gerammelt voll<br />

war, wurde Guschti, der den ganzen Laden organisieren sollte,<br />

offensichtlich immer nervöser, <strong>und</strong> se<strong>in</strong> Assistent, e<strong>in</strong> anderer<br />

<strong>Lehrer</strong>, liess sich von ihm noch anstecken.<br />

104


Schliesslich schaute Guschti auf mich <strong>und</strong> fragte ziemlich<br />

forsch, wer denn ich sei. So unsicher <strong>und</strong> teilweise auch<br />

tolpatschig, wie ich damals noch war, antwortete ich nach<br />

e<strong>in</strong>igem Zögern: „Ich heisse Juha Stump <strong>und</strong> fange jetzt an.“<br />

Dieser Satz wurde immerh<strong>in</strong> so legendär, dass ich wegen<br />

diesem noch jahrelang hochgenommen wurde, vor allem von<br />

«Wüdi», mit dem ich mich aber immer gut verstand <strong>und</strong> der es<br />

deshalb nie bös me<strong>in</strong>te. Auch Guschti nahm sich auffallend viel<br />

Zeit, um mir zu antworten, <strong>und</strong> als es ihm endlich gelang, sich<br />

wieder zu sammeln, hörte ich diese Worte: „Ah, das isch dää.“<br />

("Ah, das ist dieser.") Offensichtlich wusste er also, mit wem er<br />

es zu tun bekommen würde; schliesslich war ich se<strong>in</strong>er Klasse<br />

zugeteilt worden <strong>und</strong> er hatte die neue Liste sicher schon<br />

gelesen.<br />

Im Verlauf der weiteren Klassenzuteilungen fiel mir bald auf,<br />

dass er <strong>Zürich</strong>deutsch sprach, also gleich wie ich, aber ich<br />

erfuhr erst viel später, dass er nur e<strong>in</strong>er von mehreren <strong>Lehrer</strong>n<br />

aus anderen Kantonen war, ohne die der ganze Betrieb nicht<br />

hätte laufen können. Die meisten stammten aus dem Kanton<br />

<strong>Zürich</strong>, aber nicht alle von ihnen kehrten nach der Versetzung<br />

<strong>in</strong> den Ruhestand dorth<strong>in</strong> zurück, sondern blieben <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong><br />

buchstäblich hängen.<br />

Was er unterrichtete, waren <strong>in</strong> der Unterstufe Arithmetik <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />

der Oberstufe Biologie <strong>und</strong> Turnen. Wie sehr sich das<br />

appenzellische Unterrichtssytem von dem <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> unterschied,<br />

zeigte sich schon <strong>in</strong> der Unterscheidung zwischen der Unter<strong>und</strong><br />

Oberstufe, weil die erstere eigentlich schon nach der<br />

zweiten Klasse endete <strong>und</strong> nicht erst nach der dritten. Dazu<br />

gehörte auch das Fach Arithmetik, das <strong>in</strong> der dritten durch die<br />

Algebra ersetzt wurde, das dann zusammen mit der Geometrie<br />

nur noch e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> unterrichtete. Geometrie hatten wir <strong>in</strong> der<br />

zweiten Klasse zwar auch, aber dafür war wiederum e<strong>in</strong><br />

anderer <strong>Lehrer</strong> zuständig, den ich auch bald vorstellen werde.<br />

Da ich Guschti <strong>in</strong> der zweiten Klasse nur <strong>in</strong> der Arithmetik hatte,<br />

105


konnte ich mir wegen me<strong>in</strong>er Prägung von <strong>Zürich</strong> her noch nicht<br />

so richtig vorstellen, dass e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> mehrere Fächer<br />

unterrichtete. Deshalb staunte ich nicht schlecht, als ich an<br />

e<strong>in</strong>em späten Nachmittag <strong>in</strong> der Turnst<strong>und</strong>e e<strong>in</strong>en <strong>Lehrer</strong> im<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsanzug erblickte, den ich schon am Vormittag gehabt<br />

hatte, weil er uns dann Geografie unterrichtet hatte, aber das<br />

war nicht Guschti.<br />

Während es von der Arithmetik, mit der ich natürlich immer<br />

noch viel Mühe hatte, <strong>und</strong> vom Turnen mit Guschti nichts<br />

Besonderes zu berichten gibt - abgesehen davon, dass er<br />

e<strong>in</strong>mal erstaunlich unwirsch reagierte, als mehrere Schüler<br />

nach den Sommerferien mit etwas längeren Haaren e<strong>in</strong>rückten,<br />

wie es damals Mode war -, tritt die Biologie, die er uns ab der<br />

dritten Klasse unterrichtete, umso mehr <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong>,<br />

obwohl mir nur noch die beiden Wörter Endodermis <strong>und</strong><br />

Epidermis geblieben s<strong>in</strong>d. Es erstaunt mich noch heute, dass<br />

ich zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> den ersten paar Jahren noch mit Noten um die<br />

4 herum mithalten konnte, obwohl er viel trockener <strong>und</strong> zum<br />

Teil auch viel langweiliger unterrichtete als se<strong>in</strong>erzeit Frank <strong>in</strong><br />

<strong>Zürich</strong>. Was ihn von se<strong>in</strong>em Vorgänger jedoch am meisten<br />

unterschied, war se<strong>in</strong> Schulzimmer, das viel kle<strong>in</strong>er war <strong>und</strong><br />

damit nicht auch wie e<strong>in</strong> Forschungszentrum e<strong>in</strong>gerichtet<br />

werden konnte.<br />

Es gab jedoch e<strong>in</strong>e bemerkenswerte Ausnahme: So wie Roth<br />

immer von e<strong>in</strong>er Hühnerhaut sprach <strong>und</strong> Dorigo sich immer<br />

wieder die Hände rieb, während er „genau so ist es!“ sagte,<br />

hatte auch Guschti e<strong>in</strong>en eigenen Spruch, der se<strong>in</strong><br />

Markenzeichen war. Wir hörten schon fast nicht mehr darauf,<br />

wenn er immer wieder den Vietnamkrieg zitierte, der <strong>in</strong> den<br />

Sechzigerjahren <strong>und</strong> <strong>in</strong> der ersten Hälfte der Siebzigerjahre<br />

e<strong>in</strong>es der beherrschenden Themen <strong>in</strong> der Weltpolitik war, <strong>und</strong><br />

dabei immer wieder die Amis alle<strong>in</strong> beschuldigte. Dass auch die<br />

andere Seite aus Nordvietnamesen, Vietkong <strong>und</strong> gut getarnten<br />

nordkoreanischen Hilfstruppen sowie mit Militär<strong>in</strong>struktoren aus<br />

106


der Gulag-Sowjetunion <strong>und</strong> der DDR, dem treusten<br />

Vasallenstaat der Sowjets, nicht weniger lieb war, leuchtete ihm<br />

nicht e<strong>in</strong>, aber auch er schwamm damit im weltweit gesteuerten<br />

Medienstrom, der schon damals ziemlich e<strong>in</strong>seitig <strong>in</strong>formieren<br />

konnte. Sobald er aber weiterg<strong>in</strong>g <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Szenario ausmalte,<br />

das e<strong>in</strong>en möglichen Weltuntergang voraussagte, spitzten wir<br />

wieder amüsiert die Ohren, weil wir wussten, was am Schluss<br />

folgte. So sagte ich zu e<strong>in</strong>em direkt neben mir sitzenden<br />

Burschen, der gerade neu <strong>in</strong> unsere Klasse e<strong>in</strong>getreten war<br />

<strong>und</strong> dieses Referat noch nie gehört hatte, leise diese Worte:<br />

„Achtung, jetzt kommt er wieder mit dem Ch<strong>in</strong>esen!“ Und<br />

prompt kam Guschtis Schluss-Standardsatz: „ ... dann liegt die<br />

ganze Welt <strong>in</strong> Trümmern <strong>und</strong> es hängt nur noch e<strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>ese an<br />

e<strong>in</strong>em Baum.“ Heute wären solche Worte nicht mehr erlaubt,<br />

weil das als versteckter Rassismus gewertet würde, aber wir<br />

lebten halt noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Zeit.<br />

Am besten <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung ist mir aus dem Jahr 1970 die<br />

Schulreise mit ihm geblieben, die er als unser Klassenlehrer mit<br />

uns machte, aber im Gegensatz zur Schule <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> musste<br />

uns nur e<strong>in</strong>er begleiten, <strong>und</strong> das war eben er. Diese Reise<br />

führte uns auf die andere Seite des Bodensees, genauer bis<br />

nach Meersburg, wo wir das Schloss besuchten, <strong>in</strong> dem die<br />

bekannte Dichter<strong>in</strong> Annette von Droste-Hülshoff gewohnt <strong>und</strong><br />

geschrieben hatte, <strong>und</strong> später <strong>in</strong> Unteruhld<strong>in</strong>gen noch alte<br />

Pfahlbauten besichtigten <strong>und</strong> zugleich dort e<strong>in</strong>kehrten, <strong>und</strong> am<br />

Schluss blieben wir auch noch e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong> Konstanz hängen.<br />

Eigentlich lernte ich Guschti erst auf dieser Reise, die wir<br />

mehrere St<strong>und</strong>en auf verschiedenen Schiffen verbrachten,<br />

etwas näher kennen, <strong>und</strong> ich entdeckte dabei, dass auch er<br />

nicht ohne Humor war. Das war umso bemerkenswerter, als er<br />

den Ruf hatte, ziemlich streng zu se<strong>in</strong>, doch nicht wegen se<strong>in</strong>es<br />

Unterrichts, sondern mehr wegen se<strong>in</strong>es zweiten Berufs, den er<br />

irgendwie auch noch ausüben konnte: Er war zugleich e<strong>in</strong><br />

Richter, wie es immer hiess, so dass es unter uns Schülern<br />

üblich war, uns gegenseitig zu empfehlen, sich mit ihm lieber<br />

107


nicht anzulegen. Damals konnte ich noch nicht genau<br />

nachprüfen, ob das stimmte, aber heute kann im Internet auch<br />

über ihn e<strong>in</strong>iges herausgef<strong>und</strong>en werden. So arbeitete er<br />

tatsächlich beim kantonalen Verwaltungsgericht - <strong>und</strong> das erst<br />

noch als „Fremdl<strong>in</strong>g“ aus e<strong>in</strong>em anderen Kanton -; also konnte<br />

angenommen werden, dass er e<strong>in</strong>e Art Richter war, ja, vielleicht<br />

sogar e<strong>in</strong> echter.<br />

E<strong>in</strong> anderes besonderes Ereignis hat sich mir ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>geprägt, aber das lag nicht an Guschti, sondern an den paar<br />

Maturanden oder Abiturienten, die nach den bestandenen<br />

Prüfungen auch uns e<strong>in</strong>en Besuch abstatteten. Diese Burschen<br />

brachten es tatsächlich fertig, e<strong>in</strong> lebendes Huhn mitzubr<strong>in</strong>gen,<br />

das schon nach wenigen Sek<strong>und</strong>en nervös <strong>und</strong> ängstlich zu<br />

gackern begann <strong>und</strong> dann wild herumrannte. Schliesslich<br />

gelang es e<strong>in</strong>em, das Tier wieder e<strong>in</strong>zufangen, <strong>und</strong> noch bevor<br />

die Gruppe wieder gegangen war, stellte es sich heraus, dass<br />

grosse Teile des Zimmers voll von Hühnerdreck waren <strong>und</strong><br />

jene, die e<strong>in</strong>e gute Nase hatten - zu diesen zählte ich jedoch<br />

nie -, sogar etwas riechen konnten. Sonst schätzte ich es, dass<br />

Guschti oft viel zu lieb war, aber diesmal hätte er etwas sagen<br />

sollen, zumal er auch noch e<strong>in</strong> Richter war. Es war ihm zwar<br />

deutlich anzumerken, dass er im wahrsten S<strong>in</strong>n des Wortes<br />

st<strong>in</strong>ksauer war, aber er schwieg auch diesmal. Immerh<strong>in</strong> hatte<br />

diese Geschichte auch e<strong>in</strong>e Moral: Nicht alle, welche die<br />

Matura- oder Abiturprüfungen bestehen, s<strong>in</strong>d auch <strong>in</strong> anderen<br />

Bereichen <strong>in</strong>telligent. Dass dieses Huhn vor lauter Schreck tot<br />

hätte umfallen können, war über ihr Verständnis gegangen.<br />

Noch bevor er <strong>in</strong> den Ruhestand trat, bekam ich etwas zum<br />

Schmunzeln, als ich Guschti e<strong>in</strong>mal durch e<strong>in</strong>en re<strong>in</strong>en Zufall<br />

auch im Fernsehen sah. In der noch heute laufenden Sendung<br />

«Club», die jeden Dienstagabend im Schweizer Fernsehen<br />

läuft, wurde über e<strong>in</strong> Thema diskutiert, <strong>in</strong> dem ansche<strong>in</strong>end<br />

auch er etwas zu sagen hatte. Ich wurde aber e<strong>in</strong> wenig<br />

enttäuscht: Als er endlich e<strong>in</strong>mal zu Wort kam, sprach er so<br />

108


leise <strong>und</strong> energielos, dass ich ihn fast nicht mehr erkannte. Was<br />

war nur aus unserem Guschti geworden, e<strong>in</strong>em Richter <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>em Turnlehrer, der gerade <strong>in</strong> den Turnst<strong>und</strong>en manchmal<br />

e<strong>in</strong>en Schüler laut zusammenstauchen konnte, wie ich<br />

mehrmals hatte sehen können?<br />

Er gehörte zu den wenigen <strong>Lehrer</strong>n, die nach se<strong>in</strong>er Schulzeit<br />

nicht <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> blieben, sondern <strong>in</strong> ihre Heimatkantone<br />

zurückkehrten. Im Gegensatz zu manchem anderen erreichte er<br />

die 80-Jahr-Grenze zwar nicht mehr, aber er konnte wenigstens<br />

noch den Ruhestand viele Jahre lang geniessen, was leider<br />

nicht allen vergönnt war wie zum Beispiel Marxer, me<strong>in</strong>em<br />

ersten Deutschlehrer, <strong>und</strong> e<strong>in</strong> paar anderen, die ich auch noch<br />

vorstellen werde.<br />

Schorsch II<br />

Jetzt kommt er, dieser Schorsch II, von dem ich schon<br />

geschrieben habe, als ich se<strong>in</strong>en Namensvetter von <strong>Zürich</strong><br />

vorstellte. Allerd<strong>in</strong>gs hatten diese beiden nur den Vornamen<br />

geme<strong>in</strong>sam <strong>und</strong> sogar diese wurden verschieden geschrieben:<br />

Der erste hiess Georg <strong>und</strong> der zweite Georges.<br />

Was Schorsch II unterrichtete, waren Zeichnen <strong>und</strong> Kalligrafie,<br />

also schöneres Schreiben, das ich aber nicht belegte, obwohl<br />

mir das e<strong>in</strong> anderer Schüler dr<strong>in</strong>gend empfahl, weil ich damals<br />

auch nach me<strong>in</strong>er eigenen Beurteilung aus heutiger Sicht e<strong>in</strong>e<br />

nur schwer zu lesende Schrift hatte <strong>und</strong> auch e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> sich<br />

darüber beschwerte - ich komme später noch darauf zurück. Es<br />

war erstaunlich, dass er mit Aerni, me<strong>in</strong>em ersten<br />

Zeichnungslehrer <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong>, gleich zwei Merkmale geme<strong>in</strong>sam<br />

hatte: E<strong>in</strong>erseits sah es auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Unterrichtsraum, der<br />

aus mehreren Maltafeln, vielen weissen Plakaten <strong>und</strong><br />

Farbp<strong>in</strong>seln bestand, wie e<strong>in</strong> riesiges Künstleratelier aus, <strong>und</strong><br />

andererseits hatte er e<strong>in</strong>en ähnlichen grimmigen<br />

Gesichtsausdruck wie der andere.<br />

109


Im Gegensatz zu Aerni, der von me<strong>in</strong>en Zeichnungskünsten<br />

zwar wenig bis nichts hielt, der mich aber trotzdem irgendwie<br />

gern mochte, hatte ich mit Schorsch II <strong>in</strong> der ersten Woche viel<br />

Mühe. Ich weiss nicht mehr, wie <strong>und</strong> warum es dazu kam, dass<br />

er mich vor der ganzen Klasse bös <strong>und</strong> laut anschnauzte, aber<br />

das blieb <strong>in</strong> den viere<strong>in</strong>halb Jahren, die ich bei ihm war - also<br />

genau gleich lang wie bei Guschti -, der e<strong>in</strong>zige Zwischenfall.<br />

Nachher fanden wir uns schon bald, wohl auch deshalb, weil wir<br />

beide Künstlertypen waren; jedenfalls bezeichnete mich e<strong>in</strong>e<br />

Schulkolleg<strong>in</strong> aus me<strong>in</strong>er Klasse, von der ich auch noch<br />

sprechen werde, als solchen. Ich me<strong>in</strong>e es ehrlich, wenn ich<br />

bekenne, dass ich mit der Zeit an Schorsch II Spass bekam <strong>und</strong><br />

die St<strong>und</strong>en bei ihm gern besuchte, obwohl ich im Zeichnen<br />

immer noch e<strong>in</strong>e Niete war, wenn auch e<strong>in</strong> bisschen besser als<br />

bei Aerni. Das ist auch für mich selbst umso erstaunlicher, als<br />

ich zu ihm <strong>in</strong> all diesen Jahren nie e<strong>in</strong>en richtigen persönlichen<br />

Kontakt bekam, aber das traf ja auf fast alle anderen auch zu.<br />

Wir waren schliesslich da, um zu lernen, <strong>und</strong> nicht um neue<br />

Fre<strong>und</strong>schaften zu schliessen, schon gar nicht mit den <strong>Lehrer</strong>n.<br />

Die Hauptsache war, dass ich auch <strong>in</strong> diesem Fach immer<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e 4 bekam, <strong>und</strong> darauf kam es letztlich an.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs trugen auch diese nicht allzu starken Noten im<br />

Zeichnen dazu bei, dass der Notendurchschnitt immer knapp<br />

über dieser magischen Grenze blieb.<br />

Dass Schorsch II sich tatsächlich auch selbst als e<strong>in</strong>en<br />

Künstlertypen sah, zeigte er dar<strong>in</strong>, dass er es als E<strong>in</strong>ziger aus<br />

der <strong>Lehrer</strong>schaft wagte, se<strong>in</strong>e Haare e<strong>in</strong> wenig länger zu<br />

tragen. Ich erwähne das deshalb, weil das damals nicht<br />

selbstverständlich war. Die von den Beatles e<strong>in</strong>geführte<br />

Langhaarmode - gerade deshalb wurden solche Männer lange<br />

als „Beatles“ bezeichnet - hatte zwar auch <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> E<strong>in</strong>zug<br />

gehalten, aber nur wenige Schüler wagten es, sich so zu<br />

zeigen, <strong>und</strong> zudem waren es nur solche, die gute Noten<br />

schrieben. Das hatte se<strong>in</strong>en bestimmten Gr<strong>und</strong>: Als hätten sie<br />

e<strong>in</strong>en Pakt geschlossen, gab es gleich drei <strong>Lehrer</strong>, die e<strong>in</strong>en<br />

110


aufgeteilten Arbeitsbereich hatten: Der erste nahm sich die<br />

Langhaarigen vor, der zweite konzentrierte sich auf die<br />

Bartträger <strong>und</strong> der dritte pöbelte manchmal gern gegen<br />

Rauchende, von denen es aber erstaunlich wenige gab.<br />

Schliesslich hatten sie alle noch die „guten“ alten Zeiten<br />

miterlebt <strong>und</strong> hielten noch viel von Zucht <strong>und</strong> Ordnung.<br />

Während der Kritiker der Langhaarigen sich noch etwas<br />

zurückhielt, hörte ich den zweiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e diese giftigen<br />

Worte sagen: „Wenn du jetzt schon e<strong>in</strong>en Bart trägst, könntest<br />

du auch bessere Noten schreiben!“ Dagegen weiss ich das vom<br />

Rauchen nur vom Hörensagen.<br />

Ich weiss noch heute, wer diese drei <strong>Lehrer</strong> waren, aber ich<br />

behalte das für mich, weil es e<strong>in</strong> weniger schönes <strong>Trogen</strong>er<br />

Kapitel war <strong>und</strong> ich mit ihnen ansonsten gut auskam - auch<br />

deshalb, weil ich zwar nie zu den hellsten Schülern gehörte,<br />

aber nie lange Haare trug, die sowieso nie richtig wuchsen, nie<br />

e<strong>in</strong>en Bart hatte <strong>und</strong> vor allem auch nie rauchte. Zudem gab es<br />

bei mir auch ke<strong>in</strong>e Frauen- oder genauer Mädchengeschichten,<br />

an denen man mich hätte aufhängen können, aber ich bekenne<br />

noch heute offen, dass ich diesen Preis gern bezahlt hätte.<br />

Da ich also im Zeichnen nach wie vor ke<strong>in</strong> Leuchtturm war, traf<br />

es sich gut, dass die St<strong>und</strong>en nicht nur dar<strong>in</strong> bestanden,<br />

sondern auch aus e<strong>in</strong>em Geschichtsteil. Ähnlich wie es Arm<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>Zürich</strong> mit den Komponisten getan hatte, tat Schorsch II das<br />

Gleiche mit den berühmtesten Malern: Ob Michelangelo oder<br />

Da V<strong>in</strong>ci, ob Rembrandt oder Rubens, ob Botticelli oder Dürer,<br />

ob Rafael oder Tizian, ob Van Gogh oder Gaugu<strong>in</strong>, ob Cézanne<br />

oder Matisse, ob Klee oder Picasso, den er von allen am<br />

meisten schätzte - stets erzählte er mit so viel Begeisterung von<br />

ihrem Leben, als hätte er sie alle persönlich gekannt. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

nahm er sich dafür nicht so viel Zeit wie Arm<strong>in</strong>, der bei jedem<br />

E<strong>in</strong>zelnen m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e halbe St<strong>und</strong>e gebraucht hatte <strong>und</strong><br />

zudem immer herumspaziert war, <strong>und</strong> als zweiter Unterschied<br />

blieb er immer vorn an se<strong>in</strong>em riesigen Pult sitzen.<br />

111


Während mir vom Zeichnen selbst so gut wie nichts <strong>in</strong><br />

Er<strong>in</strong>nerung geblieben ist, so dass ich auch deshalb mehr an die<br />

Maler-Biografien denke, muss ich noch heute umso mehr jedes<br />

Mal schmunzeln, wenn ich daran denke, dass e<strong>in</strong><br />

Klassenkollege ihn monatelang immer als Herrn Doktor<br />

ansprach, obwohl gerade er im Gegensatz zu vielen anderen<br />

<strong>Lehrer</strong>n ke<strong>in</strong>en solchen Titel trug, bis ihm e<strong>in</strong>es Tages der<br />

Kragen platze <strong>und</strong> er laut nach h<strong>in</strong>ten rief: "Wenn du zu mir<br />

noch e<strong>in</strong>mal Doktor sagst, lange ich dir e<strong>in</strong>e!" Dabei me<strong>in</strong>te es<br />

der Kollege nicht ironisch oder gar bös, sondern er tat es mehr<br />

aus Verlegenheit. Wer konnte schon mit bloss fünfzehn Jahren<br />

überall durchblicken? Ich konnte das ja auch nicht. Zudem<br />

bekam dieser Schüler auffallend spät se<strong>in</strong>en Stimmbruch, so<br />

dass wir lange noch zusätzlich etwas zu gr<strong>in</strong>sen hatten.<br />

Übrigens gehörte dieser Schüler, der zufälligerweise auch noch<br />

am genau gleichen Tag wie ich zur Welt gekommen war, neben<br />

zwei anderen <strong>in</strong> der gleichen Klasse zu denen, die ich e<strong>in</strong>mal<br />

zu Hause besuchen durfte. Dabei lebte se<strong>in</strong>e Familie<br />

tatsächlich nicht schlecht, weil sie im Nachbarort Teufen zwar<br />

e<strong>in</strong>e eigene Wohnung hatten, aber ansonsten fast jedes<br />

Wochenende <strong>in</strong> ihrem Häuschen mit direktem Anschluss an<br />

den Bodensee verbrachten. Bei dieser Gelegenheit konnte ich<br />

nicht nur e<strong>in</strong>mal dort übernachten, sondern am nächsten Tag<br />

auch noch e<strong>in</strong>e Bootsfahrt auf dem Bodensee erleben, <strong>und</strong><br />

zwar im wahrsten S<strong>in</strong>n des Wortes: Ich erlebte selbst mit, wie<br />

schnell e<strong>in</strong> Boot fast kippen kann, wenn das Wetter auf diesem<br />

grossen See, der auf der anderen Seite von den Deutschen<br />

gerade auch deshalb immer noch als Schwäbisches Meer<br />

bezeichnet wird, plötzlich umschlägt <strong>und</strong> wie gefährlich es dann<br />

werden kann.<br />

Wieder zurück zu Schorsch II: Zum Schmunzeln war auch se<strong>in</strong><br />

Standardspruch, ja, im Gegensatz zu Guschti mit se<strong>in</strong>em<br />

Ch<strong>in</strong>esen hatte er sogar zwei auf Lager. Den e<strong>in</strong>en sagte er<br />

immer wieder mit vollem Ernst, aber nicht immer mit den<br />

112


gleichen Worten: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott - bei mir ist’s<br />

wie beim lieben Gott.“ Immerh<strong>in</strong> wurde dieser Satz so legendär,<br />

dass er im Herbst 1970 von den beiden Maturaklassen, die ihre<br />

Prüfungen abgeschlossen hatten, <strong>in</strong> ihrer Maturazeitschrift<br />

„Monumentum“, die mehr e<strong>in</strong>e Rolle als e<strong>in</strong>e Zeitschrift war,<br />

besonders erwähnt wurde. Was er sagte, me<strong>in</strong>te er aber auch<br />

so: Wenn er sah, dass jemand sich wirklich ernsthaft bemühte,<br />

auch wenn er oder sie nur schlecht zeichnen konnte, war er<br />

eher bereit, mit guten Ratschlägen zu helfen, als bei jemandem,<br />

dem es deutlich anzumerken war, dass er oder sie die<br />

Zeichenst<strong>und</strong>en <strong>in</strong>teresselos nur absitzen wollte. Was mich<br />

selbst betrifft, befand ich mich immer irgendwo <strong>in</strong> der Mitte.<br />

Der zweite Standardspruch von Schorsch II war dieser, den er<br />

immer gern sagte, wenn vom Thema Spicken die Rede war:<br />

„Der beste Weg zum Spicken ist dieser: Schreib e<strong>in</strong>en Spick,<br />

lerne ihn auswendig <strong>und</strong> wirf ihn dann fort! Ke<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> kann dir<br />

nachher nachweisen, dass du das Ex mit Hilfe e<strong>in</strong>es Spicks<br />

geschrieben hast.“ So e<strong>in</strong>fach konnte es manchmal se<strong>in</strong> - <strong>und</strong><br />

auch dieser Satz wurde so legendär, dass er im Herbst 1971,<br />

also e<strong>in</strong> Jahr nach dem Ersche<strong>in</strong>en des „Monumentum“, von<br />

den beiden nachfolgenden Maturaklassen im Heftle<strong>in</strong> „Spick“,<br />

das die <strong>Lehrer</strong> auf e<strong>in</strong>e ähnlich humoristische Weise etwas<br />

hochnahm, besonders herausgestrichen wurde.<br />

Dass er nicht nur mit se<strong>in</strong>en etwas längeren Haaren zu den<br />

jungen Leuten, wie wir es waren, e<strong>in</strong>en besseren Zugang hatte<br />

als die meisten anderen <strong>Lehrer</strong>, zeigte sich auch im Sommer<br />

1970, als die damalige Maturandenklasse des Gymnasiums<br />

den Wunsch äusserte, e<strong>in</strong>e ganze Woche <strong>in</strong> London zu<br />

verbr<strong>in</strong>gen. In London - welch e<strong>in</strong> Sakrileg! Wo käme man denn<br />

nur h<strong>in</strong>, wenn e<strong>in</strong>e so lange Reise bewilligt würde? Da es den<br />

heutigen Verb<strong>in</strong>dungstunnel unter dem Ärmelkanal noch nicht<br />

gab, hätte die Klasse also h<strong>in</strong>fliegen müssen, <strong>und</strong> das<br />

überforderte den <strong>Lehrer</strong>konvent offensichtlich, vor allem den<br />

noch amtierenden Rektor, der am lautesten dagegen wetterte,<br />

113


wie später zu hören war. Es gab jedoch e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen <strong>Lehrer</strong>,<br />

der sich entschieden für diesen Schülerwunsch e<strong>in</strong>setzte <strong>und</strong><br />

es dabei auch riskierte, das zu verlieren, was heute allgeme<strong>in</strong><br />

als „Gesicht“ bezeichnet wird: Es war eben Schorsch II. Die<br />

Klasse verdankte ihm diesen E<strong>in</strong>satz damit, dass sie diese<br />

Geschichte im „Monumentum“, das ich oben erwähnt habe,<br />

besonders erzählte.<br />

Wenn ich daran denke, dass me<strong>in</strong>e jüngere Tochter ihre<br />

Maturareise vor wenigen Jahren mit der ganzen Klasse nach<br />

Kroatien machte <strong>und</strong> sie e<strong>in</strong>e ganze Woche alle<strong>in</strong> <strong>und</strong> ohne<br />

Aufsicht e<strong>in</strong>er Lehrperson dort blieben - nur e<strong>in</strong>er von ihnen war<br />

pro forma als e<strong>in</strong>e Art Klassenchef bestimmt worden -, zeigt mir<br />

das, wie viel Zeit seitdem verstrichen ist. Allerd<strong>in</strong>gs stellte es<br />

sich nachträglich noch heraus, dass der <strong>Lehrer</strong>konvent mit<br />

dieser Weigerung teilweise doch Recht gehabt hatte, weil sich<br />

gerade <strong>in</strong> diesen Tagen, als das «Monumentum» erschien,<br />

seitens der beiden Matura-Klassen - neben den Gymnasiasten<br />

waren es auch die sogenannten Oberrealschüler, die ke<strong>in</strong><br />

Late<strong>in</strong>, aber dafür mehr Mathematik hatten - noch etwas<br />

ereignete, auf das ich weiter unten noch näher e<strong>in</strong>gehen werde.<br />

Da dieser Wunsch, e<strong>in</strong>e Reise nach London zu unternehmen,<br />

also abgeschmettert wurde, musste e<strong>in</strong>e neue Lösung her, <strong>und</strong><br />

so entschied sich diese Klasse für e<strong>in</strong> Zeltlager auf dem Gäbris,<br />

unserem nahe gelegenen Hausberg. Immerh<strong>in</strong> liegt dieser aber<br />

etwas mehr als 1‘000 Meter hoch, was uns vor e<strong>in</strong> paar<br />

Jahrzehnten, als es noch viel mehr Schnee hatte, die<br />

Möglichkeit zum Skifahren gab, <strong>und</strong> das wurde durch e<strong>in</strong>en<br />

kle<strong>in</strong>en Skilift noch etwas erleichtert. Deshalb wurden bei uns<br />

fast jedes Jahr - also nicht jedes - sogar Schüler-Skirennen<br />

durchgeführt, an denen ich mich jedoch nicht beteiligte, weil die<br />

Abfahrt mir viel zu schnell war <strong>und</strong> ich für den Slalom zu wenig<br />

elegant fuhr, <strong>und</strong> andere Diszipl<strong>in</strong>en gab es nicht. Was diese<br />

Klasse betrifft, blieb sie nicht die ganze Woche alle<strong>in</strong>, sondern<br />

bekam jeden Tag e<strong>in</strong>en kurzen Besuch durch den gleichen<br />

114


<strong>Lehrer</strong>, der bestätigen sollte, dass alles <strong>in</strong> geordneten Bahnen<br />

verlief: Es war ke<strong>in</strong> Ger<strong>in</strong>gerer als Guschti.<br />

Nach me<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong> verg<strong>in</strong>gen nicht e<strong>in</strong>mal zehn<br />

Jahre, bis ich im Herbst des Jahres 1981 von Schorsch II<br />

wieder etwas hörte, aber auf traurige Weise: Im Kulturteil des<br />

„Tages-Anzeiger“, der nach der schweizweiten<br />

Boulevardzeitung „Blick“ - mit dem deutschen „Bild“ <strong>und</strong> der<br />

österreichischen „Kronenzeitung“ vergleichbar - noch heute die<br />

meistgelesene Tageszeitung des Landes ist, war tatsächlich<br />

von ihm die Rede. Als ich se<strong>in</strong>en Namen las, wurde ich<br />

natürlich neugierig, doch ich musste lesen, dass er schon e<strong>in</strong><br />

Jahr zuvor gestorben war, <strong>und</strong> zwar als Erster me<strong>in</strong>er <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>Zürich</strong> <strong>und</strong> <strong>Trogen</strong> mit nur 63 Jahren, also noch vor der<br />

offiziellen Versetzung <strong>in</strong> den Ruhestand. Erst jetzt erfuhr ich,<br />

dass er zwei Söhne hatte, die ebenfalls Maler waren, <strong>und</strong> im<br />

Gegensatz zu ihm offensichtlich sogar professionell. Die Mutter<br />

dieser beiden war e<strong>in</strong>e <strong>Lehrer</strong><strong>in</strong>, von der ich natürlich gehört<br />

hatte, als ich noch <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> gewesen war, aber nach me<strong>in</strong>em<br />

Wissen unterrichtete sie nur <strong>in</strong> der Primarschule; jedenfalls<br />

habe ich nie davon gehört, dass sie auch <strong>in</strong> der Kantonsschule<br />

unterrichtete. Die Nachricht von se<strong>in</strong>em Ableben traf mich sogar<br />

jetzt, e<strong>in</strong> ganzes Jahr später, auch deshalb, weil me<strong>in</strong> Vater im<br />

gleichen Jahr wenige Monate zuvor gestorben war <strong>und</strong> ich das<br />

immer noch nicht überw<strong>und</strong>en hatte.<br />

115


Aeschlimann<br />

Das war tatsächlich se<strong>in</strong> Familienname. Den Vornamen habe<br />

ich auch bei ihm vergessen; also muss ich wieder e<strong>in</strong>en<br />

solchen Titel wählen, weil auch er nichts Besonderes vorweist,<br />

der e<strong>in</strong>en Spitznamen geradezu aufdrängt. Genauso wie Dorigo<br />

<strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> gehörte er zu den Aushilfslehrern, die ihr Studium erst<br />

kurz zuvor abgeschlossen hatten; dementsprechend war auch<br />

dieser <strong>Lehrer</strong> noch ziemlich jung, nach me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung<br />

knapp unter dreissig.<br />

Wir hätten uns nie kennen gelernt, wenn der Stammlehrer für<br />

dieses Fach ab der zweiten Hälfte der zweiten Klasse mit dem<br />

E<strong>in</strong>verständnis der Schule nicht e<strong>in</strong>en halbjährigen Urlaub<br />

genommen hätte, damit er sich <strong>in</strong> dieser Zeit <strong>in</strong> aller Ruhe der<br />

Vollendung e<strong>in</strong>es Buches über die Geschichte des Kantons<br />

Appenzell widmen konnte. Dieses Buch hatte er zusammen mit<br />

e<strong>in</strong>em Co-Autor schon vorher begonnen, aber jetzt, bei den<br />

Fe<strong>in</strong>korrekturen, brauchte er e<strong>in</strong>e besonders ruhige Zeit. Weiter<br />

unten werde ich diesen Herrn, der später wieder zur Schule <strong>und</strong><br />

damit auch zu me<strong>in</strong>er Klasse zurückkehrte, ebenfalls vorstellen.<br />

Was dieser junge <strong>Lehrer</strong> als Stellvertreter des Stammlehrers<br />

unterrichtete, war Late<strong>in</strong>, das <strong>in</strong> dieser Zeit noch e<strong>in</strong>en<br />

bedeutend höheren Stellenwert hatte als heute. Wir hatten zwar<br />

nicht mehr acht St<strong>und</strong>en pro Woche wie damals <strong>in</strong> der ersten<br />

Klasse, aber immer noch genügend, um bei diesem<br />

Aeschlimann ebenfalls buchstäblich zu wohnen. Gerade bei<br />

ihm zeigte es sich am deutlichsten, welche Vor- <strong>und</strong> Nachteile<br />

e<strong>in</strong> Kantonswechsel mit sich br<strong>in</strong>gen konnte. Während ich im<br />

Französischen <strong>und</strong> Englischen noch e<strong>in</strong>iges aufzuholen hatte -<br />

ich komme weiter unten noch darauf zu sprechen -, hatte ich im<br />

Late<strong>in</strong> den Vorteil, dass ich e<strong>in</strong> halbes Jahr voraus war. Hier <strong>in</strong><br />

<strong>Trogen</strong> wurde diese Schlüsselsprache erst ab der zweiten<br />

Hälfte der ersten Klasse unterrichtet, Französisch jedoch schon<br />

ab dem Beg<strong>in</strong>n der ersten. Englisch kam erst ab dem Beg<strong>in</strong>n<br />

116


der zweiten Klasse dazu, aber das ist wieder e<strong>in</strong> anderes<br />

Kapitel.<br />

Wie sehr ich gegenüber den anderen <strong>in</strong> dieser Klasse im Vorteil<br />

war, zeigte sich schon <strong>in</strong> den ersten St<strong>und</strong>en. Ich konnte<br />

richtiggehend locker durchmarschieren, aber als e<strong>in</strong> bestimmter<br />

Satz kam, wurden auch mir Grenzen aufgezeigt. Da dieser für<br />

mich geradezu historische Ausmasse annahm, habe ich ihn bis<br />

heute nicht vergessen:<br />

Niemand weiss, wo die Menschen nach dem Tod wohnen.<br />

Da ich me<strong>in</strong>er Sache sicher war <strong>und</strong> niemand anders sich<br />

meldete, streckte ich die rechte Hand <strong>in</strong> die Höhe - Schnippen<br />

konnte ich nie <strong>und</strong> ich kann es auch heute noch nicht -, <strong>und</strong><br />

nachdem Aeschlimann mir das Wort mit e<strong>in</strong>em Kopfnicken<br />

erteilt hatte, übersetzte ich schnell <strong>und</strong> flott:<br />

Nemo scit ubi hom<strong>in</strong>es post mortem habitant.<br />

Das g<strong>in</strong>g so schnell, dass nach dem letzten Wort e<strong>in</strong> paar<br />

andere erstaunt ihre Köpfe nach mir zudrehten, als würden sie<br />

sich dies sagen: Potztausend, der kann etwas!<br />

Schon kam <strong>in</strong> mir so etwas wie Stolz auf, doch da hörte ich aus<br />

dem M<strong>und</strong> des <strong>Lehrer</strong>s e<strong>in</strong> „Falsch!“ Warum falsch? Ich war so<br />

kühn, ihn das direkt zu fragen. Es war deshalb falsch, weil bei<br />

„habitant“ <strong>in</strong> der letzten Silbe e<strong>in</strong> „e“, das e<strong>in</strong>en Konjunktiv<br />

anzeigte, anstelle von „a“ hätte stehen müssen; also hätte es<br />

korrekt geheissen:<br />

Nemo scit ubi hom<strong>in</strong>es post mortem habitent.<br />

Ich hatte zuvor bei Schorsch I zwar ansatzweise gelernt, dass<br />

der Konjunktiv nach allen Konjunktionen oder<br />

Verb<strong>in</strong>dungswörtern, die e<strong>in</strong>e Hoffnung, e<strong>in</strong>en Wunsch oder<br />

117


e<strong>in</strong>en Zweifel anzeigen, zum Zug kommt, aber ich hatte mir<br />

noch nicht so richtig e<strong>in</strong>geprägt, dass er auch <strong>in</strong> Sätzen<br />

e<strong>in</strong>gesetzt werden muss, wenn ke<strong>in</strong>e solche Konjunktion<br />

davorsteht. Um solche Fe<strong>in</strong>heiten zu kennen, brauchte es<br />

schon e<strong>in</strong> paar Kenntnisse mehr, <strong>und</strong> so weit waren wir noch<br />

nicht. Immerh<strong>in</strong> hatte ich durch diesen e<strong>in</strong>en Satz schon sehr<br />

viel über die ganz andere Denkweise des Late<strong>in</strong>s kennen<br />

gelernt. Diese Denkweise unterscheidet sich nicht nur vom<br />

Deutschen, was auch logisch ist, sondern auch von den<br />

heutigen romanischen Sprachen, was ich damals aber noch<br />

nicht wissen konnte, weil ich bis dah<strong>in</strong> nur gerade Französisch<br />

im Anfangsstadium gehabt hatte.<br />

Dass <strong>in</strong> den heutigen romanischen Sprachen <strong>in</strong> solchen Sätzen<br />

ke<strong>in</strong> Konjunktiv mehr steht, zeigen diese Beispiele des gleichen<br />

obigen Satzes:<br />

Französisch: Personne ne sait où les hommes habitent après la<br />

mort.<br />

Italienisch: Nessuno sa dove gli uom<strong>in</strong>i abitano dopo la morte.<br />

Friaulisch: Nissun nol sa dulè i oms stan di cjase daspò la<br />

muart.<br />

Vallader: Ingün sa <strong>in</strong>gio ils crastians habiteschan davo la mort.<br />

Puter: Üngün so <strong>in</strong>ua ils crastiauns habiteschan zievi la mort.<br />

Surmeirisch: Nign so noua igls carstgangs stattan siva la mort.<br />

Surselvisch: Neg<strong>in</strong> sa nua ils carstgauns habiteschan suenter<br />

la mort.<br />

Nordsardisch: Nemos ischit <strong>in</strong>ue sos òm<strong>in</strong>es istant a pustis de<br />

sa morte.<br />

Südsardisch: Nemus skit <strong>in</strong>noi is òm<strong>in</strong>is istant a pustis de sa<br />

morti.<br />

Balearisch: N<strong>in</strong>gú sap on ets homos viuen després de sa mort.<br />

Katalanisch: N<strong>in</strong>gú sap on els homes viuen després de la mort.<br />

Spanisch: N<strong>in</strong>guién sabe donde los hombres habitan después<br />

de la muerte.<br />

Portugiesisch: N<strong>in</strong>guém sabe onde os homens moram depois<br />

da morte.<br />

118


Es ist nicht erstaunlich, dass die beiden sardischen Varianten<br />

dem Late<strong>in</strong> am nächsten stehen, weil sie <strong>in</strong> vielen Bereichen<br />

der Muttersprache noch näher geblieben s<strong>in</strong>d als das<br />

Italienische <strong>und</strong> Rumänische, die diesen Ruf haben. Das<br />

Vallader („Waláder“ ausgesprochen) ist die offizielle<br />

Bezeichnung für das Unterengad<strong>in</strong>ische, das sich ziemlich stark<br />

vom Puter („Putér“), also dem Oberengad<strong>in</strong>ischen,<br />

unterscheidet, wie auch der obige Beispielsatz zeigt. Das<br />

Surmeirische wird <strong>in</strong> Mittelbünden mit dem bekannten Skiort<br />

Savogn<strong>in</strong> als Zentrum gesprochen, aber <strong>in</strong> jedem Dorf mit e<strong>in</strong>er<br />

anderen Variante, was auch für alle anderen rätoromanischen<br />

Sprachen sowie das Sardische gilt. Das Surselvische wird im<br />

Bündner Oberland westlich von Ilanz bis zum Oberalppass <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong> den entsprechenden Seitentälern gesprochen.<br />

Das „nol“ im Friaulischen setzt sich aus „no“ <strong>und</strong> „al“ (er)<br />

zusammen; diese Sprache ist die e<strong>in</strong>zige romanische, <strong>in</strong> der bei<br />

e<strong>in</strong>em verne<strong>in</strong>ten Satz das Personalpronomen der beiden<br />

dritten Personen h<strong>in</strong>ter „no“ noch e<strong>in</strong>mal verwendet wird,<br />

unbhängig davon, ob ganz vorn auch e<strong>in</strong> Personalpronomen<br />

oder e<strong>in</strong> Substantiv steht.<br />

Ich hatte diesen Satz also nicht ganz korrekt übersetzt, aber nur<br />

im klassischen Late<strong>in</strong>. Da die heutigen romanischen Sprachen<br />

nicht von dieser Sprache, sondern vom Vulgärlate<strong>in</strong><br />

abstammen, hatte ich ihn aber trotzdem richtig übersetzt, ohne<br />

dass ich das wusste, <strong>und</strong> ich nehme an, dass auch<br />

Aeschlimann das nicht wusste. Die Übersetzung wäre im<br />

Vulgärlate<strong>in</strong> also korrekt gewesen. Vulgärlate<strong>in</strong>? Bis zu diesem<br />

Zeitpunkt hatte ich noch nie davon gehört, <strong>und</strong> auch unter der<br />

<strong>Lehrer</strong>schaft <strong>und</strong> selbst <strong>in</strong> den Universitäten war das Wissen<br />

über diese Sprache noch sehr ger<strong>in</strong>g. Erst <strong>in</strong> den letzten paar<br />

Jahrzehnten hat e<strong>in</strong>e systematische Erforschung dieser<br />

anderen late<strong>in</strong>ischen Sprache richtig e<strong>in</strong>gesetzt. Welche andere<br />

late<strong>in</strong>ische Sprache? Eben die Volkssprache, die im<br />

grammatikalischen Bereich gegenüber der gehobenen<br />

119


Schriftsprache, die wir <strong>in</strong> den Schulen lernen, viele<br />

Vere<strong>in</strong>fachungen aufwies, so auch im Bereich des Konjunktivs.<br />

Dabei war dieses Vulgärlate<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>eswegs nur die Sprache des<br />

e<strong>in</strong>fachen Volkes, wie „vulgär“ andeutet, sondern wurde auch <strong>in</strong><br />

den vornehmen Kreisen <strong>und</strong> selbst im Senat <strong>in</strong> Rom verwendet.<br />

Schliesslich mussten die Untergebenen die Befehle der Herren<br />

<strong>und</strong> Hausdamen verstehen können, <strong>und</strong> auch im Heer hätten<br />

die Soldaten mit Wörtern aus der gehobenen Sprache fast<br />

nichts anfangen können. Zudem war das Vulgärlate<strong>in</strong> auch die<br />

Verb<strong>in</strong>dungssprache zwischen den Angehörigen anderer<br />

Völker, zum Beispiel zwischen den Kelten <strong>und</strong> Germanen, von<br />

denen auffallend viele als Legionäre im römischen Heer<br />

dienten. Aus dieser Volkssprache oder genauer aus den<br />

unterschiedlichen Dialekten des Vulgärlate<strong>in</strong>s, die schon vor<br />

2'000 Jahren bestanden, haben sich später die heutigen<br />

romanischen Sprachen entwickelt.<br />

Ohne me<strong>in</strong> Wissen hatte ich also doch korrekt übersetzt - <strong>und</strong><br />

zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht e<strong>in</strong>mal ahnen, dass diese<br />

Sprache mir e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte später auch aufgr<strong>und</strong> me<strong>in</strong>er<br />

guten Kenntnisse der meisten romanischen Sprachen derart<br />

ans Herz wachsen würde, dass ich mich gerade mit dem<br />

Vulgärlate<strong>in</strong> <strong>in</strong>tensiv befassen <strong>und</strong> dafür sogar e<strong>in</strong><br />

Sprachlehrbuch schreiben würde. Vorerst war ich immer noch<br />

e<strong>in</strong> erst 15-jähriger Schüler, der wegen mangelndem eigenem<br />

Wissen halt für wahr halten musste, was e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> vorn sagte -<br />

<strong>und</strong> damals waren die <strong>Lehrer</strong> wie oben erwähnt genauso wie<br />

die Pfarrer <strong>und</strong> hochstehenden Politiker <strong>und</strong> am meisten die<br />

B<strong>und</strong>esräte immer noch halbe Herrgötter.<br />

Immerh<strong>in</strong> verfügte auch Aeschlimann über e<strong>in</strong>e ges<strong>und</strong>e Prise<br />

Humor, was er gleich zweimal zeigte. Genauso wie bei<br />

Schorsch II kam auch bei ihm e<strong>in</strong>mal das Thema Spicken zur<br />

Sprache <strong>und</strong> ich er<strong>in</strong>nere mich noch heute mit e<strong>in</strong>em<br />

Schmunzeln an diese Worte: „Von mir aus könnt ihr spicken,<br />

soviel ihr wollt - aber lasst euch bloss nie erwischen!“ E<strong>in</strong><br />

120


anderes Mal fragte er, wie e<strong>in</strong> bestimmtes Verb zu konjugieren<br />

sei. “Mit ‚to do‘!“, rief darauf jemand von h<strong>in</strong>ten nach vorn.<br />

Damals steckten wir im Englischen noch im Anfangsstadium,<br />

aber dieses Universalverb, das <strong>in</strong> dieser Sprache mehr als alle<br />

anderen vorkommt, war für uns bereits e<strong>in</strong> Begriff. Viele andere<br />

<strong>Lehrer</strong> hätten sich über e<strong>in</strong>e solche unerhörte E<strong>in</strong>mischung<br />

aufgeregt, aber er nicht, <strong>und</strong> erst recht nicht, weil schon<br />

mehrere gr<strong>in</strong>sten. So zog er bloss die Augenbrauen hoch <strong>und</strong><br />

setzte den Unterricht fort, als wäre nichts geschehen.<br />

Am Ende der zweiten Klasse, die ich auch im Late<strong>in</strong> mit e<strong>in</strong>er<br />

guten Note abschloss - aber auch nicht mit mehr als e<strong>in</strong>er 5 -,<br />

zog Aeschlimann wieder von dieser Schule weg, wie es<br />

abgemacht war. Er hatte bloss als Stellvertreter für jenen<br />

gearbeitet, der e<strong>in</strong> Buch schrieb, <strong>und</strong> setzte jetzt se<strong>in</strong>en<br />

Lebensweg anderswo fort. Er zeigte sich zwar <strong>in</strong> dieser Schule<br />

nicht mehr, aber ich sah ihn etwa e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre später<br />

trotzdem noch e<strong>in</strong>mal - auf e<strong>in</strong>e Weise, die mir noch heute<br />

komisch vorkommt: Als ich an e<strong>in</strong>em Sonntagabend von <strong>Zürich</strong><br />

nach <strong>Trogen</strong> zurückfuhr, ergab es sich, dass ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Zugabteil direkt gegenüber e<strong>in</strong>em Schüler aus der gleichen<br />

Klasse zu sitzen kam. Das war deshalb seltsam, weil er aus<br />

e<strong>in</strong>em so gutbetuchten Elternhaus stammte, dass er sonst<br />

immer mit e<strong>in</strong>em Generalabonnement der ersten Klasse fuhr.<br />

So war es für mich e<strong>in</strong> Rätsel, dass er für e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der zweiten<br />

Klasse sass, die eigentlich nie von solchen Elite-Leuten, wie er<br />

es offensichtlich war, benützt wurde.<br />

Noch bevor der Zug anlief, klopfte jemand von draussen an die<br />

Fensterscheibe. Offensichtlich galt dieses Klopfen nicht mir,<br />

weil ich niemanden erwartete <strong>und</strong> auch niemand mich von<br />

draussen sehen konnte, aber der Schulkollege kurbelte<br />

sogleich das Fenster herunter, um mit dem zu sprechen, der<br />

geklopft hatte. Da ich mir nichts weiter dachte, nahm ich mir<br />

nicht die Zeit, um den Mann draussen, der mit ihm sprach <strong>und</strong><br />

sich noch <strong>in</strong> Begleitung e<strong>in</strong>er jungen Frau befand, etwas<br />

121


genauer anzuschauen, <strong>und</strong> auch dieser schien mich nicht zu<br />

kennen, aber er konnte mich ja nicht richtig sehen.<br />

Nachdem das Gespräch beendet war <strong>und</strong> der Schulkollege das<br />

Fenster wieder h<strong>in</strong>aufgekurbelt hatte, sagte er wie beiläufig:<br />

„Das war e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong>, der auch e<strong>in</strong>mal bei uns unterrichtet hat.“<br />

Als ich ihn fragte, wie er hiess, antwortete er bloss:<br />

„Aeschlimann.“ Jetzt ärgerte ich mich e<strong>in</strong> wenig, dass ich nicht<br />

genauer h<strong>in</strong>geschaut hatte, aber ich konnte ja nicht wissen,<br />

dass diese beiden sich so gut kannten, weil er <strong>in</strong> diesem halben<br />

Jahr mit Aeschlimann unsere Schule noch nicht besucht hatte.<br />

Ob dieser mich überhaupt noch erkannt hätte oder hätte<br />

erkennen wollen? Ich erlebte es später ja immer wieder, dass<br />

Leute von früher mich bewusst nicht mehr kennen wollten. So<br />

ist diese Frage immer unbeantwortet geblieben, auch von ihm<br />

habe ich seitdem nie mehr etwas gehört oder gelesen.<br />

Sulz<br />

Warum dieser <strong>Lehrer</strong> allgeme<strong>in</strong> so genannt wurde, ist für uns<br />

immer e<strong>in</strong> Rätsel geblieben, weil se<strong>in</strong> eigentlicher<br />

Familienname Widmer war. Es gab nichts, das darauf<br />

schliessen konnte, dass es logisch war, se<strong>in</strong>en Spitznamen von<br />

diesem mit Fleisch vermischten <strong>und</strong> Gelée überzogenen<br />

Gericht abzuleiten, das auch als Sülze bezeichnet wird, <strong>und</strong><br />

auch das, was er sagte, war nie e<strong>in</strong> Gesülze, wie der moderne<br />

Ausdruck für etwas lautet, das als negativ gesehen wird. Das<br />

zweite Missverständnis bestand noch dar<strong>in</strong>, dass an mehreren<br />

Stellen im Internet geschrieben steht, dass er von St.Gallen<br />

stammte <strong>und</strong> dort nicht nur geboren, sondern auch<br />

aufgewachsen war. Da wir im oben erwähnten K<strong>in</strong>derheim auch<br />

e<strong>in</strong>e Hausangestellte aus Appenzell-Ausserrhoden <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />

aus dem Thurgau hatten, konnte ich mir zwei Dialekte aus der<br />

Ostschweiz schon vor me<strong>in</strong>er <strong>Trogen</strong>er Zeit gut e<strong>in</strong>prägen, aber<br />

ich gebe zu, dass ich bis dah<strong>in</strong> den besonders<br />

122


charakteristischen Dialekt der Stadt St.Gallen, der wegen se<strong>in</strong>er<br />

E<strong>in</strong>zigartigkeit mit dem der Stadt Basel verglichen werden kann,<br />

nie zu hören bekam. Deshalb schliesse ich nicht aus, dass er<br />

ihn noch sprach, als ich dort als Schüler begann, aber es kam<br />

mir immer wieder so vor, als würde ich auch e<strong>in</strong> wenig<br />

Appenzellisch heraushören.<br />

Es war <strong>und</strong> ist für mich aus diesem Gr<strong>und</strong> offensichtlich, dass<br />

Sulz e<strong>in</strong>en Mischdialekt sprach, <strong>und</strong> zwar mit dem<br />

ausserrhodischen Dialekt vermischt, der sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> paar<br />

Punkten vom <strong>in</strong>nerrhodischen unterscheidet - weiter unten<br />

werde ich auf diese Unterschiede noch näher e<strong>in</strong>gehen. Wie ich<br />

es ganz oben angedeutet habe, gab es <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> e<strong>in</strong> paar<br />

<strong>Lehrer</strong>, die ihren Appenzeller Dialekt nicht e<strong>in</strong>mal dann<br />

verbergen konnten, wenn sie Hochdeutsch sprachen, was e<strong>in</strong>e<br />

ziemlich lustige Komb<strong>in</strong>ation ergab. Zudem hatte unsere zweite<br />

Klasse ihn, der offiziell "nur" e<strong>in</strong> Sek<strong>und</strong>arlehrer war, gleich <strong>in</strong><br />

zwei Fächern, <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> Biologie <strong>und</strong> Geometrie, das wie<br />

oben bei Guschti erwähnt noch getrennt von der Arithmetik<br />

unterrichtet wurde. So bekamen wir noch viel mehr<br />

Gelegenheit, se<strong>in</strong> stark sanktgallisch <strong>und</strong> appenzellisch<br />

gefärbtes Hochdeutsch zu hören.<br />

Am meisten zeigte sich dieser Mischdialekt dann, wenn er<br />

immer wieder von den vier Neuen sprach, die im Herbst neu <strong>in</strong><br />

diese Schule e<strong>in</strong>getreten waren - e<strong>in</strong>er dieser vier war ich. Es<br />

lief fast wie e<strong>in</strong> Ritual ab, wenn er wieder diese Neuen<br />

erwähnte, als hätte er etwas Persönliches gegen sie. So war<br />

se<strong>in</strong> meistgehörter Satz dieser: „Auch die Neuen werden sich<br />

bald daran gewöhnen.“ Ja, das mussten sie wohl, weil ihnen<br />

nichts anderes übrigblieb.<br />

Noch an etwas anderes musste ich mich gewöhnen: Wie ich es<br />

ganz oben erwähnt habe, gab es <strong>in</strong> dieser Schule den Brauch<br />

nicht oder genauer nicht mehr, dass jemand immer aufstehen<br />

musste, wenn e<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong> oder e<strong>in</strong> Schüler etwas sagen<br />

123


wollte oder dazu aufgefordert wurde. Ich scherze nicht, wenn<br />

ich sage, dass ich ganze zwei Monate brauchte, bis ich mich<br />

umgestellt hatte, <strong>und</strong> bis ich umgepolt war, hatten die anderen<br />

immer etwas zu gr<strong>in</strong>sen. Schliesslich machte Sulz selbst<br />

diesem e<strong>in</strong> Ende, <strong>in</strong>dem er mich zwar nicht bös, aber doch<br />

noch entschlossen genug anschnauzte: „Jetzt bleib endlich mal<br />

hocken!“. Das sass, fortan blieb ich immer eisern sitzen.<br />

Während mir von den Geometrie-St<strong>und</strong>en bei ihm nichts mehr<br />

<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung geblieben ist, hat sich vom Biologie-Unterricht<br />

immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e hübsche Geschichte gehalten. Als er e<strong>in</strong>mal das<br />

Thema Blut behandelte, sagte er fast genüsslich etwa diese<br />

Worte: „Beim Blut gibt es ke<strong>in</strong>e Grenzen, da kann sogar e<strong>in</strong><br />

Hüne plötzlich umkippen.“ Tatsächlich verfügte auch er über<br />

e<strong>in</strong>e ges<strong>und</strong>e Prise Humor <strong>und</strong> wenn er sah, dass jemand sich<br />

wirklich bemühte, war er oder sie bei ihm ke<strong>in</strong>eswegs von<br />

vornhere<strong>in</strong> abgeschrieben, sogar ich als e<strong>in</strong>er der vier neuen<br />

Schüler. Ansonsten habe ich se<strong>in</strong>en Unterricht als <strong>in</strong>sgesamt<br />

trocken <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung, aber das lag sicher auch an den beiden<br />

Fächern, die er unterrichtete <strong>und</strong> die <strong>in</strong> dieser Beziehung nun<br />

e<strong>in</strong>mal wenig Spielraum liessen.<br />

E<strong>in</strong>e andere besonders hübsche Geschichte spielte sich ab, als<br />

während e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e plötzlich zwei kle<strong>in</strong>e Buben von draussen<br />

an die Fensterscheibe klopften. Da se<strong>in</strong> Zimmer sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Stockwerk befand, das an e<strong>in</strong>en Keller er<strong>in</strong>nerte, <strong>und</strong> damit<br />

e<strong>in</strong>en guten Blick von draussen nach dr<strong>in</strong>nen zuliess, war das<br />

möglich. Viele andere hätten sich über e<strong>in</strong>e solche Störung<br />

empört, aber nicht Sulz, <strong>und</strong> dazu trug sicher auch bei, dass<br />

mehrere Schüler gr<strong>in</strong>sten. Nach der St<strong>und</strong>e wurde es mir klar,<br />

warum Sulz diese Szene so grosszügig hatte durchgehen<br />

lassen: Offensichtlich war e<strong>in</strong>er dieser zwei Buben se<strong>in</strong> Sohn,<br />

immerh<strong>in</strong> spazierte er nachher Hand <strong>in</strong> Hand mit ihm davon.<br />

Genauso wie bei Aeschlimann endete me<strong>in</strong> Gastspiel auch bei<br />

ihm nach e<strong>in</strong>em halben Jahr, aber im Gegensatz zu diesem<br />

124


lieb Sulz eisern <strong>in</strong> der Kantonsschule <strong>Trogen</strong>. Se<strong>in</strong>e tiefe<br />

Verb<strong>und</strong>enheit mit dieser Schule zeigte er auch dar<strong>in</strong>, dass er<br />

sich <strong>in</strong> der Mitte der Achtzigerjahre sogar zum Prorektor wählen<br />

liess <strong>und</strong> dieses Amt bis kurz vor der Versetzung <strong>in</strong> den<br />

Ruhestand ausübte. Da wir zwei <strong>in</strong> diesen wenigen Monaten<br />

ke<strong>in</strong>en persönlichen Kontakt aufgebaut hatten - er wegen<br />

Interesselosigkeit <strong>und</strong> ich, weil ich mit me<strong>in</strong>en fünfzehn Jahren<br />

dafür noch zu jung war <strong>und</strong> ganz andere Probleme hatte -,<br />

endete nicht nur unser geme<strong>in</strong>samer Schulunterricht, sondern<br />

auch unser Begrüssungskontakt. Tatsächlich gehörte Sulz zu<br />

den wenigen <strong>Lehrer</strong>n, die mich nach dem Ende der<br />

geme<strong>in</strong>samen Zeit nie mehr grüssten <strong>und</strong> so taten, als kannten<br />

sie mich nicht, aber ich liess mich auch nicht lumpen <strong>und</strong><br />

handelte bei all diesen auf die gleiche Weise.<br />

Ich lernte erst e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte später e<strong>in</strong>e andere<br />

menschliche Seite von Sulz kennen: Als die Zeit gekommen<br />

war, dass e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> nach dem anderen sich für immer<br />

verabschieden musste, übernahm er manchmal die traurige<br />

Aufgabe, für sie e<strong>in</strong>en entsprechenden Nachruf zu verfassen.<br />

Zudem erfuhr ich erst jetzt, was <strong>in</strong> der Schule nie so richtig<br />

durchgedrungen war: Er war e<strong>in</strong> hervorragender Kenner des<br />

ganzen Alpste<strong>in</strong>-Gebirges mit dem Säntis als höchstem Berg,<br />

der genauso wie der Speer, der nordwestlich vom Walensee<br />

liegt <strong>und</strong> aus re<strong>in</strong> touristischer Sicht e<strong>in</strong>e Art Zwill<strong>in</strong>gsberg ist,<br />

sogar noch vom Norden der Stadt <strong>Zürich</strong> aus gesehen werden<br />

kann. Das weiss ich deshalb so gut, weil ich dort viele Jahre<br />

lang gewohnt habe, genauer im Bezirk Schwamend<strong>in</strong>gen - oder<br />

Quartier, wie das typisch schweizerische Wort dafür lautet.<br />

125


Durisch<br />

Der Familienname deutet es an: Dieser Mann stammte vom<br />

Kanton Graubünden; dementsprechend sprach er auch, wenn<br />

auch schon e<strong>in</strong> wenig mit dem Appenzellischen vermischt, aber<br />

das war nach so vielen Jahren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Kanton auch<br />

normal. Das erlebte ich auch an mir selbst, der bei me<strong>in</strong>en<br />

Besuchen <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> immer wieder zu hören bekam, dass ich<br />

schon halbwegs Appenzellisch sprach, <strong>und</strong> auch bei vielen<br />

anderen habe ich das bis heute so erlebt. Die vielen<br />

Wanderbewegungen alle<strong>in</strong> <strong>in</strong>nerhalb der deutschsprachigen<br />

Schweiz haben es auf natürliche Weise mit sich gebracht, dass<br />

die meisten mit der Zeit wenigstens teilweise den örtlichen<br />

Dialekt annahmen. Bei mir selbst hat es sich zusätzlich<br />

ergeben, dass ich nicht nur die oben erwähnten fünf<br />

klassischen Fremdsprachen spreche, sondern neben dem<br />

angeborenen <strong>Zürich</strong>deutschen auch noch fünf weitere<br />

schweizerische Dialekte, die ich als klassisch bezeichne, <strong>und</strong><br />

zwar die sogenannten genormten, die als Vermischung von<br />

mehreren regionalen Dialekten <strong>in</strong> den Medien zu hören s<strong>in</strong>d:<br />

Appenzellerdeutsch, Berndeutsch, Walliserdeutsch,<br />

Bündnerdeutsch <strong>und</strong> sogar das nicht leicht auszusprechende<br />

Baseldeutsche oder genauer Stadtbaseldeutsche - das<br />

letztgenannte allerd<strong>in</strong>gs mit Mühe, wie ich zugeben muss.<br />

Die erste Begegnung mit Durisch war freilich von viel Nervosität<br />

geprägt. Weiter oben habe ich bei Guschti geschrieben, dass<br />

dieser bei der E<strong>in</strong>teilung der Klassen sehr nervös war <strong>und</strong> e<strong>in</strong><br />

anderer <strong>Lehrer</strong> sich von ihm noch anstecken liess - das war<br />

eben er. Me<strong>in</strong> zweiter E<strong>in</strong>druck von ihm war, dass er genauso<br />

wie Keller <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> wie e<strong>in</strong> Film- oder S<strong>in</strong>gstar aussah <strong>und</strong><br />

damit genauso wie dieser auch <strong>in</strong> diesem Bereich hätte Erfolg<br />

haben können. Was er unterrichtete, war genauso wie Arm<strong>in</strong><br />

Musik <strong>und</strong> Gesang, also war er gewissermassen se<strong>in</strong><br />

Nachfolger. Allerd<strong>in</strong>gs hatte se<strong>in</strong> Unterricht e<strong>in</strong>en ganz anderen<br />

Charakter, wohl auch deshalb, weil er ke<strong>in</strong>en so grossen Saal<br />

126


zur Verfügung hatte wie se<strong>in</strong> Vorgänger, sondern mit e<strong>in</strong>em<br />

Nebengebäude <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em erstaunlich kle<strong>in</strong>en Zimmer Vorlieb<br />

nehmen musste. Es war das gleiche, <strong>in</strong> dem er wenige Tage<br />

zuvor zusammen mit Guschti die E<strong>in</strong>teilung der neuen Klassen<br />

vorgenommen hatte <strong>und</strong> später die vier oben erwähnten<br />

Spielfilme gezeigt wurden. Dieses kle<strong>in</strong>e Zimmer - gemessen<br />

an dem, was Durisch unterrichtete - trug aber sehr dazu bei,<br />

dass die St<strong>und</strong>en bei ihm e<strong>in</strong>e geradezu familiäre Atmosphäre<br />

hatten; dementsprechend besuchte ich se<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>en gern <strong>und</strong><br />

zudem lag mir dieses Fach.<br />

Da es galt, bis zum Abschluss des Schuljahres im nächsten<br />

Frühl<strong>in</strong>g - der allgeme<strong>in</strong>e Schulbeg<strong>in</strong>n im Herbst wurde <strong>in</strong> der<br />

ganzen Schweiz erst etwa zwanzig Jahre später nach e<strong>in</strong>er<br />

entsprechenden b<strong>und</strong>esweiten Volksabstimmung def<strong>in</strong>itiv<br />

e<strong>in</strong>geführt - das bekannte Kirchenlied „Du me<strong>in</strong>e Seele, s<strong>in</strong>ge!“<br />

von Paul Gerhardt e<strong>in</strong>zuüben, konzentrierte sich Durisch schon<br />

früh darauf, die entsprechenden Stimmen e<strong>in</strong>zuteilen. Obwohl<br />

ich mich im oberen Stockwerk eigentlich immer etwas wohler<br />

fühlte <strong>und</strong> <strong>in</strong> den ersten paar St<strong>und</strong>en bereits als Tenor sang,<br />

musste ich auf se<strong>in</strong> Geheiss h<strong>in</strong> zu den Bässen wechseln, weil<br />

es von diesen zu wenige hatte <strong>und</strong> er entdeckte, dass ich gut<br />

genug h<strong>in</strong>unterkam. Es herrscht ja das erstaunliche Phänomen<br />

vor, dass die meisten Burschen <strong>in</strong> den Teenagerjahren besser<br />

Tenor als Bass s<strong>in</strong>gen können, während es später im<br />

Erwachsenenalter umgekehrt ist. Es ist allgeme<strong>in</strong> bekannt, dass<br />

so gut wie alle Chöre angesichts der Frauenheere viel zu wenig<br />

Sänger haben, aber Tenöre müssen im Vergleich zu den<br />

Bässen noch zusätzlich händer<strong>in</strong>gend gesucht werden. Bis<br />

heute habe ich es nur e<strong>in</strong>mal erlebt - <strong>und</strong> gar nicht vor langer<br />

Zeit -, dass für e<strong>in</strong> grosses Konzert e<strong>in</strong> Mangel an Bässen<br />

herrschte <strong>und</strong> die Tenöre gleich zwei Fussballmannschaften<br />

hätten aufstellen können, aber auch deshalb, weil bei ihnen<br />

mehrere sogenannte Frauen-Tenöre mitmischten, die es <strong>in</strong> fast<br />

jedem modernen Chor gibt, <strong>und</strong> zwar sowohl bei den<br />

klassischen als auch <strong>in</strong> den Gospel-Chören.<br />

127


Es kam uns zugute, dass Durisch gleich drei Musikst<strong>und</strong>en pro<br />

Woche zur Verfügung hatte <strong>und</strong> damit die e<strong>in</strong>e dazu verwenden<br />

konnte, nur mit den Burschen zu proben, während <strong>in</strong> der<br />

anderen die Mädchen drankamen. Erst kurz vor dem Ende der<br />

Schulklasse probten wir zusammen <strong>und</strong> es konnte schon beim<br />

ersten Mal gehört werden, dass alles gut genug sass. In der<br />

dritten Musikst<strong>und</strong>e wurden wir zusammen unterrichtet - <strong>und</strong><br />

diese hatte e<strong>in</strong>en ganz anderen Charakter. Da unsere Klasse<br />

zwischen zwanzig <strong>und</strong> dreissig Köpfe zählte, g<strong>in</strong>g der Plan<br />

dieses <strong>Lehrer</strong>s w<strong>und</strong>erbar auf. Dieser bestand dar<strong>in</strong>, dass <strong>in</strong><br />

jeder Woche jemand von uns über e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Musikepoche oder e<strong>in</strong>en bestimmten Musikstil e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en<br />

Vortrag halten sollte, über den nachher e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Diskussion<br />

geführt werden konnte. Das war für mich auch deshalb<br />

<strong>in</strong>teressant, weil ich bis zu diesem Zeitpunkt trotz der St<strong>und</strong>en<br />

bei Arm<strong>in</strong>, der allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> Spezialist für klassische Musik war,<br />

vor allem über die modernen Musikstile so gut wie nichts<br />

wusste.<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich noch gut daran, dass e<strong>in</strong>er zuerst e<strong>in</strong>en<br />

Vortrag über Jazz hielt <strong>und</strong> nachher e<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong> über Soul<br />

referierte. Soul - was war denn nur das? Ich hatte zwar schon<br />

von Ray Charles gehört, der noch heute als der bekannteste<br />

Vertreter gilt, aber noch nichts von Soul. Deshalb fragte ich<br />

dieses Mädchen, warum dieser Musikstil Solo genannt wurde.<br />

Solo? Da musste sie herzhaft lachen - es war der Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es<br />

guten Kontaktes, der im Verlauf me<strong>in</strong>er ganzen Schulzeit <strong>in</strong><br />

<strong>Trogen</strong> anhielt, aber ohne, dass sich etwas Festes ergab.<br />

Daran änderte sich auch nichts nach dem e<strong>in</strong>zigen Besuch bei<br />

ihr zu Hause, woh<strong>in</strong> sie e<strong>in</strong>e ganze Gruppe von<br />

Klassenkollegen e<strong>in</strong>geladen hatte, wo ich jedoch nur ihre<br />

Mutter, aber nicht ihren Vater persönlich kennen lernte. Wir<br />

verstanden uns ganz e<strong>in</strong>fach gut, was sicher dazu beitrug, dass<br />

ich mir ihren Geburtstag merken <strong>und</strong> ihr e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte<br />

später manchmal per E-Mail gratulieren konnte. Sie zeigte sich<br />

zwar jedes Mal gerührt, aber es ist trotzdem nie zu e<strong>in</strong>er<br />

persönlichen Begegnung gekommen.<br />

128


Als Durisch mich fragte, worüber denn ich e<strong>in</strong>en Vortrag halten<br />

wolle, musste ich ähnlich wie wenige Monate zuvor bei Arm<strong>in</strong><br />

improvisieren. So sprach ich davon, dass me<strong>in</strong> Thema die<br />

Musik des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts sei, ohne dass ich daran dachte,<br />

dass diese ziemlich breitgefächert war. Ich me<strong>in</strong>te damit aber<br />

vor allem die erste Hälfte, die von den Klassikern wie<br />

Beethoven <strong>und</strong> Joseph Haydn <strong>und</strong> von den Romantikern wie<br />

Schubert, Mendelssohn <strong>und</strong> Schumann geprägt war, aber ohne<br />

dass ich selbst das so richtig wusste. Trotzdem gelang es mir,<br />

e<strong>in</strong> Menü zusammenzustellen, mit dem alle zufrieden se<strong>in</strong><br />

konnten.<br />

Schliesslich kam im Frühl<strong>in</strong>g der ganz grosse Tag, an dem wir<br />

zum Abschluss dieses Schuljahres <strong>in</strong> der reformierten Kirche<br />

von <strong>Trogen</strong>, <strong>in</strong> der immer alle wichtigen Anlässe stattfanden<br />

<strong>und</strong> auch die Maturazeugnisse <strong>und</strong> Handelsdiplome feierlich<br />

überreicht wurden - <strong>und</strong> das ist auch noch heute so -, dieses<br />

Kirchenlied zusammen sangen, aber nur drei von zehn<br />

Strophen. Wir waren e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>drückliche Streitmacht Gottes mit<br />

mehreren Dutzend Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schülern aus allen ersten<br />

<strong>und</strong> zweiten Klassen zusammen; Durisch hatte es tatsächlich<br />

geschafft, aus uns e<strong>in</strong>en schlagkräftigen vierstimmigen Chor zu<br />

formen.<br />

Leider hatte ich auch diesen <strong>Lehrer</strong> nach den Frühl<strong>in</strong>gsferien<br />

nicht mehr - <strong>und</strong> ich me<strong>in</strong>e dieses „leider“ wörtlich, weil ich<br />

se<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>en immer gern besucht hatte <strong>und</strong> zudem locker<br />

durchmarschiert war, was das Kapitel Note betrifft. Dazu<br />

gehörte auch, dass er mich im Gegensatz zu Sulz auch später<br />

immer grüsste, wenn unsere Wege sich kreuzten, <strong>und</strong> dann<br />

grüsste ich natürlich zurück. Wenigstens gab es drei Jahre<br />

später noch e<strong>in</strong>e Geschichte zum Schmunzeln, als <strong>in</strong> der<br />

gleichen Kirche wieder der Abschluss e<strong>in</strong>es Schuljahres<br />

gefeiert wurde. Als e<strong>in</strong> Kollege, der immer für e<strong>in</strong>en lockeren<br />

Spruch gut war, sich zusammen mit mir <strong>in</strong> der Galerie oben auf<br />

dem Geländer abstützte <strong>und</strong> Durisch mit e<strong>in</strong>em anderen Chor<br />

129


se<strong>in</strong>en Auftritt h<strong>in</strong>legte, sagte dieser leise: „Durisch ist e<strong>in</strong><br />

echter Bündner - h<strong>und</strong>ert Schüler, h<strong>und</strong>ert Stimmen.“ Das<br />

stimmte zwar e<strong>in</strong>deutig nicht, aber ich musste mich trotzdem<br />

zusammenreissen, um nicht laut zu lachen.<br />

Im Gegensatz zu den meisten <strong>Lehrer</strong>kollegen blieb er nach der<br />

Versetzung <strong>in</strong> den Ruhestand nicht <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong>, sondern zog<br />

zusammen mit se<strong>in</strong>er Ehefrau, die dort ebenfalls unterrichtet<br />

hatte - allerd<strong>in</strong>gs erst nach me<strong>in</strong>er <strong>Trogen</strong>er Zeit, sonst hätte<br />

auch ich mit Sicherheit erfahren, dass sie dort war -, wieder <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>en Heimatkanton zurück. Allerd<strong>in</strong>gs blieb auch er e<strong>in</strong><br />

Mitglied des KVT, also des Kantonsschulvere<strong>in</strong>s <strong>Trogen</strong>, der<br />

ausgedeutscht so heisst <strong>und</strong> dem so gut wie alle aktuellen <strong>und</strong><br />

ehemaligen <strong>Lehrer</strong> angehörten <strong>und</strong> immer noch angehören,<br />

<strong>und</strong> dazu gesellen sich auch viele ehemalige Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong><br />

Schüler.<br />

Flade<br />

Jetzt kommt er, der erste waschechte Appenzeller <strong>Lehrer</strong>, der<br />

zudem auch noch e<strong>in</strong>en waschechten Appenzeller<br />

Familiennamen trug. Noch heute kann wie schon seit<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten an diesen sofort erkannt werden, ob jemand e<strong>in</strong><br />

Appenzeller oder e<strong>in</strong>e Appenzeller<strong>in</strong> ist oder zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong><br />

diesem hügeligen Kanton <strong>in</strong> den Voralpen Wurzeln hat. Dabei<br />

gibt es noch Nuancen, weil auch zwischen diesen beiden<br />

Halbkantonen, die sich ebenfalls seit Jahrh<strong>und</strong>erten vor allem<br />

durch die Religion vone<strong>in</strong>ander unterscheiden, deutliche<br />

Unterschiede bestehen.<br />

Typische Ausserrhoder Namen, die dort häufig vorkommen,<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> alfabetischer Reihenfolge diese - <strong>und</strong> es ist e<strong>in</strong>e riesige<br />

Anzahl: Alder, Bänziger, Bruderer, Ehrenzeller, Eisenhut,<br />

Eugster, Frischknecht, Knellwolf, Künzler, Kürste<strong>in</strong>er, Niederer,<br />

Preisig, Rechste<strong>in</strong>er, Riederer, Schläpfer, Schlegel,<br />

Sonderegger, Sturzenegger, Zellweger <strong>und</strong> Zuberbühler sowie<br />

130


noch e<strong>in</strong> paar andere, aber diese s<strong>in</strong>d die häufigsten. Typische<br />

Innerrhoder Namen s<strong>in</strong>d diese: Broger, Fässler, Inauen,<br />

Kölbener, Koller, Manser, Weishaupt <strong>und</strong> Zeller. Grob geschätzt<br />

tragen neun von zehn Appenzellern e<strong>in</strong>en dieser Namen. Es<br />

verhält sich also ähnlich wie <strong>in</strong> Korea, <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> beiden<br />

Landesteilen; dort heissen die meisten Chun, Lee, Kim <strong>und</strong><br />

Park oder Pak (letzteres vor allem im Norden), wobei diese<br />

Namen im Gegensatz zu den meisten europäischen Sprachen -<br />

zu den wenigen Ausnahmen zählen das Ungarische <strong>und</strong> vor<br />

allem bei Titeln auch noch das Lettische - ganz vorn stehen.<br />

Noch krasser ist es <strong>in</strong> Vietnam, von dem wir <strong>in</strong> diesen Jahren<br />

wegen des noch wütenden Kriegs viel sprachen: Dort trägt fast<br />

die Hälfte sowohl im Norden als auch im Süden den<br />

Familiennamen Nguyen, wobei dieser ebenfalls vorn steht.<br />

Im Gegensatz zu anderen <strong>Trogen</strong>er <strong>Lehrer</strong>n er<strong>in</strong>nere ich mich<br />

auch noch an den Vornamen dieses Mannes, gerade deshalb<br />

verrate ich nur den Familiennamen Frischknecht. Da dieser<br />

Name wie erwähnt im Ausserrhodischen zu den häufigsten<br />

gehört, war die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit gross, dass ich es nicht nur<br />

mit e<strong>in</strong>em zu tun haben würde, <strong>und</strong> genau so ist es gekommen.<br />

Der erste war dieser; der zweite war der Pfarrer, bei dem ich<br />

konfirmiert wurde - eigentlich bei den Falschen, weil ich offiziell<br />

e<strong>in</strong> Lutheraner war, aber es hat <strong>in</strong> der Ostschweiz noch bis<br />

heute halt nur <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> e<strong>in</strong>e lutherische Kirche gegeben -, <strong>und</strong><br />

der dritte war e<strong>in</strong> Schüler, der mir deshalb <strong>in</strong> unangenehmer<br />

Er<strong>in</strong>nerung geblieben ist, weil er mir auf e<strong>in</strong>e Weise, die ihm<br />

vielleicht nicht e<strong>in</strong>mal bewusst war, kurz vor dem E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong>s<br />

Paradies e<strong>in</strong> Mädchen ausspannte, von dem ich wochenlang<br />

glaubte, es könne me<strong>in</strong>e allererste Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> werden.<br />

Warum dieser Frischknecht den Spitznamen Flade bekommen<br />

hat, lag an ihm selbst. Noch bevor ich nach <strong>Trogen</strong> versetzt<br />

wurde, soll er dieses Wort auffallend häufig verwendet haben,<br />

<strong>in</strong>dem er sagte: „Jetz chonsch dänn a Flade-n-öber.“ («Jetzt<br />

bekommst du dann e<strong>in</strong>e Ohrfeige.»). Ich kannte damals zwar<br />

131


noch nicht alle Nuancen der Ostschweizer Dialekte, aber ich<br />

wusste trotzdem bereits, dass Flade im Ausserrhodischen nicht<br />

nur e<strong>in</strong> Kuchen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Wähe bedeutete, sondern eben auch<br />

e<strong>in</strong>e Ohrfeige. Als ich selbst dort oben begann, sagte er dieses<br />

Wort aber schon nicht mehr; jedenfalls habe ich es nie aus<br />

se<strong>in</strong>em M<strong>und</strong> gehört. Der Spitzname, den er sich selbst zu<br />

verdanken hatte, war ihm jedoch geblieben.<br />

Die Art se<strong>in</strong>es Unterrichts widersprach völlig diesem komischen<br />

Namen, weil er den Lehrstoff auf e<strong>in</strong>e so flotte Art vortrug, dass<br />

sie mir noch bis heute <strong>in</strong> angenehmer Er<strong>in</strong>nerung geblieben ist.<br />

Was er unterrichtete, war vor allem <strong>in</strong> den beiden untersten<br />

Klassen Deutsch <strong>und</strong> Geschichte, also zählte auch er zu den<br />

sogenannten echten Sek<strong>und</strong>arlehrern. Bei ihm hatte unsere<br />

Klasse nur Geschichte, was sich für mich schon bald als e<strong>in</strong><br />

Glücksfall erwies, weil er den von Bohni vermittelten Stoff<br />

teilweise wiederholte. Wir hatten bei Flade also ebenfalls<br />

römische Geschichte, allerd<strong>in</strong>gs mit dem kle<strong>in</strong>en Unterschied,<br />

dass er sich vor allem auf die Epoche zwischen Julius Cäsar<br />

<strong>und</strong> Kaiser Augustus konzentrierte. Schon glaubte ich, von<br />

Anfang an locker durchmarschieren zu können, aber nach dem<br />

ersten Ex musste ich mir von ihm vor der ganzen Klasse sagen<br />

lassen, dass es mit mir <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em anderen der vier Neuen, die<br />

Sulz immer wieder so genüsslich erwähnte, noch nicht so<br />

klappte, wie es klappen sollte, während der dritte - der oben<br />

erwähnte Auslandschweizer, der <strong>in</strong> Denver aufgewachsen war -<br />

bös tauchte, aber wenigstens rettete der vierte noch halbwegs<br />

unsere Ehre.<br />

Gerade was diesen betrifft, der ab der dritten Klasse die<br />

Oberrealschule besuchte, von der ich auch noch sprechen<br />

werde, er<strong>in</strong>nere ich mich bis heute nicht daran, dass ich jemals<br />

e<strong>in</strong>en verklemmteren Menschen getroffen habe als diesen<br />

gleichaltrigen Schüler. So zeigte er sich als E<strong>in</strong>ziger immer mit<br />

e<strong>in</strong>em Anzug <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Krawatte <strong>und</strong> merkte nicht e<strong>in</strong>mal, dass<br />

alle ihn komisch anschauten, <strong>und</strong> nur <strong>in</strong> den Turnst<strong>und</strong>en sah<br />

132


man ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsanzug. Er schrieb zwar überall so<br />

gute Noten, dass alle <strong>Lehrer</strong> an ihm ihre helle Freude haben<br />

konnten, aber er blieb stets verschlossen <strong>und</strong> liess niemanden<br />

an sich heran. Es gelang mir nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal, mit ihm e<strong>in</strong><br />

Gespräch zu führen, als es sich ergab, dass wir im Zug von<br />

<strong>Zürich</strong> nach St.Gallen durch e<strong>in</strong>en Zufall <strong>in</strong> der gleichen<br />

Abteilung sassen, <strong>und</strong> erst jetzt öffnete er sich e<strong>in</strong> wenig <strong>und</strong><br />

zeigte mir, dass er im Gr<strong>und</strong> eigentlich sehr für Gespräche<br />

zugänglich war, aber eben auch davon abh<strong>in</strong>g, dass jemand<br />

zuerst zu ihm Kontakt aufnahm.<br />

Noch bevor ich bei Flade me<strong>in</strong> erstes Ex schrieb, das nach<br />

se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nicht gut verlief, obwohl es ke<strong>in</strong>e ungenügende<br />

Note war, erlebte ich etwas, das se<strong>in</strong> eigentliches<br />

Markenzeichen war: Ähnlich wie Durisch bezog er uns <strong>in</strong> der<br />

Beziehung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Unterricht mit e<strong>in</strong>, als <strong>in</strong> jeder Woche<br />

jemand e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Vortrag von etwa e<strong>in</strong>er Viertelst<strong>und</strong>e<br />

halten durfte, <strong>und</strong> nachher wurde darüber diskutiert. Das betraf<br />

immer gerade aktuelle weltpolitische Themen, aber er wollte im<br />

Gegensatz zu Durisch nur Freiwillige, <strong>und</strong> da wir alle noch<br />

ziemlich unerfahrene 14- bis 15-jährige Teenager waren, g<strong>in</strong>g<br />

der Vorrat der Freiwilligen bald e<strong>in</strong>mal zur Neige. Auch ich<br />

meldete mich nicht, aber nur weil ich mich noch viel zu unsicher<br />

fühlte. Heute müsste man mich nur e<strong>in</strong>mal bitten <strong>und</strong> ich wäre<br />

sofort dabei, aber es ist seitdem ja auch mehr als e<strong>in</strong> halbes<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert vergangen.<br />

Im Zusammenhang mit der Weltpolitik weiss ich noch heute gut,<br />

dass wir nur e<strong>in</strong>en Tag nach den Präsidentschaftswahlen von<br />

1968 <strong>in</strong> den USA heiss darüber diskutierten, ob der<br />

Republikaner Nixon oder der Demokrat Humphrey der bessere<br />

<strong>und</strong> geeignetere Kandidat war. Dabei fiel mir auf, dass niemand<br />

sich deutlich zu Nixon bekannte, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er sagte ungeniert: „Ich<br />

war für Humphrey, weil er mehr für die Neger gewesen wäre.“<br />

Damals war es noch erlaubt, solche Wörter zu verwenden, aber<br />

heute wäre das e<strong>in</strong> politischer Fall, obwohl das moderne Wort<br />

133


„Schwarze“ im Gr<strong>und</strong> das Gleiche aussagt - aber eben, es<br />

kommt auch auf die Nuance an, wie es geme<strong>in</strong>t ist. Was mich<br />

betrifft, beteiligte ich mich nicht an dieser Diskussion, weil ich<br />

schon damals e<strong>in</strong>en sicheren Inst<strong>in</strong>kt hatte. Wer waren denn<br />

wir, dass wir uns anmassen, über politische Vorgänge <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

anderen Land, ja, sogar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Kont<strong>in</strong>ent zu<br />

sprechen, die wir nicht wirklich kannten? Schliesslich beendete<br />

Flade selbst diese Diskussion, <strong>in</strong>dem er entschieden sagte:<br />

„Also ich hätte me<strong>in</strong>e Stimme ebenfalls Humphrey gegeben.“<br />

Wenn ich daran denke, dass diese beiden Herren schon seit<br />

Jahrzehnten nicht mehr unter uns weilen, kommt mir diese<br />

ganze Geschichte noch heute seltsam vor, aber damals g<strong>in</strong>g es<br />

für uns buchstäblich noch um Leben <strong>und</strong> Tod.<br />

Ab dem zweiten Ex lief es mir <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en St<strong>und</strong>en wie<br />

geschmiert, so dass ich von diesem Zeitpunkt an tatsächlich<br />

wie geplant locker durchmarschieren konnte. Auch Flade hatte<br />

ich nach den Frühl<strong>in</strong>gsferien nicht mehr, was ich bei ihm<br />

genauso wie bei Durisch sehr bedauerte, aber auch er gehörte<br />

zu denen, die mich nachher noch kannten, so dass auch er <strong>in</strong><br />

den Genuss kam, von mir noch gegrüsst zu werden, soweit wir<br />

uns überhaupt noch sahen. Es verhielt sich ja nicht so, dass wir<br />

immer im gleichen Gebäude waren, weil es gleich drei<br />

verschiedene Schulhäuser gab. Das führte <strong>in</strong> den Pausen<br />

immer zu regelrechten Völkerwanderungen, wenn die<br />

verschiedenen Klassen ihre Zimmer wechseln mussten.<br />

Sowohl am Vormittag als auch am Nachmittag gab es zudem je<br />

e<strong>in</strong>e grössere Pause von e<strong>in</strong>er Viertelst<strong>und</strong>e, die auch unsere<br />

<strong>Lehrer</strong>schaft dazu benützte, um sich <strong>in</strong> ihrem erstaunlich, wenn<br />

nicht gar verschämt kle<strong>in</strong>en <strong>Lehrer</strong>zimmer, das direkt über dem<br />

von Sulz lag <strong>und</strong> unter Androhung der Todesstrafe für die<br />

Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler nur von ihnen selbst betreten werden<br />

durfte, über dieses <strong>und</strong> jenes zu klatschen <strong>und</strong> zu tratschen …<br />

<strong>und</strong> auch um über die e<strong>in</strong>en oder anderen abzulästern, wie der<br />

heutige saloppe Ausdruck unter den Jungen lautet. Da Flade<br />

134


stets den Ruf hatte, gern <strong>und</strong> viel zu plaudern, ist anzunehmen,<br />

dass er auch <strong>in</strong> diesen Pausen fleissig mitwirkte - <strong>und</strong> dann<br />

natürlich immer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em unverkennbaren Appenzeller Dialekt.<br />

Der Engel<br />

Nomen est omen, lautet e<strong>in</strong> uraltes late<strong>in</strong>isches Sprichwort.<br />

Dass dies manchmal wirklich zutreffen kann, zeigte sich bei<br />

diesem <strong>Lehrer</strong>, der offiziell Engler hiess. Er hatte es aber auch<br />

etwas leichter, sich als lieber <strong>Lehrer</strong> zu geben, weil er uns<br />

Religion unterrichtete - <strong>und</strong> im gleichen Zimmer wie Durisch.<br />

Das war für uns e<strong>in</strong>e gewisse Garantie dafür, dass es nicht<br />

allzu gefährlich werden konnte, <strong>und</strong> zudem genügte es, e<strong>in</strong>fach<br />

die St<strong>und</strong>en zu besuchen, um die notwendige 4 zu bekommen,<br />

ja, wenn ich mich noch richtig er<strong>in</strong>nere, gab er mir sogar<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e 5.<br />

Im Vergleich zu Oetiker <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> unterschieden sich Englers<br />

St<strong>und</strong>en dadurch, dass wir ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Lied zusammen<br />

sangen <strong>und</strong> zudem nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges<br />

tiefschürfendes Thema behandelten, sondern meistens<br />

e<strong>in</strong>fache Geschichten mit e<strong>in</strong>em frommen Inhalt lasen, aber oft<br />

las er selbst etwas vor, weil er das offensichtlich gern tat. Dabei<br />

kam e<strong>in</strong>mal auch e<strong>in</strong>e Kurzgeschichte von Erich Kästner dran,<br />

der damals noch lebte <strong>und</strong> dessen humorvollen Bücher ich<br />

immer gern gelesen habe, die jedoch mit Religion wenig bis<br />

nichts zu tun haben. Es war mir immer e<strong>in</strong> Rätsel, wie Engler<br />

gerade auf diesen Autor gekommen war.<br />

Angesichts der oft harten St<strong>und</strong>en <strong>in</strong> anderen Fächern -<br />

jedenfalls für mich - war es jedes Mal e<strong>in</strong>e Wohltat, zu Engler<br />

zu gehen, weil er tatsächlich viel Wärme ausstrahlte <strong>und</strong> es ihm<br />

deutlich anzumerken war, dass wir ihm viel bedeuteten. Zu<br />

dieser Wärme gehörte auch, dass er manchmal von se<strong>in</strong>er<br />

eigenen Familie erzählte, <strong>und</strong> ich weiss noch gut, dass er<br />

135


gerade dann, als e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong>e Ehefrau das Hauptthema war,<br />

mit der anderen Hand an se<strong>in</strong>em Eher<strong>in</strong>g rieb, als wolle er<br />

damit zusätzlich zeigen, wie glücklich er selbst war.<br />

Se<strong>in</strong>e Warmherzigkeit zeigte er auch dann, als ich e<strong>in</strong>es Tages<br />

krank wurde, <strong>und</strong> zwar erst im Verlauf des Tages, sonst wäre<br />

ich gar nicht erst <strong>in</strong> die Schule gegangen. Engler merkte als<br />

Erster sofort, dass etwas mit mir nicht stimmte, <strong>und</strong> so fragte er<br />

fast rührend: „Juha, bist du krank?“ Nachdem ich das bejaht<br />

hatte, durfte ich nach Hause, das heisst <strong>in</strong> unsere Pension<br />

zurück - se<strong>in</strong>e Bestätigung für me<strong>in</strong>e Krankheit war nur noch<br />

e<strong>in</strong>e Formsache. Immerh<strong>in</strong> er<strong>in</strong>nere ich mich noch mit e<strong>in</strong>em<br />

Schmunzeln daran, dass e<strong>in</strong> Klassenkollege, mit dem ich mich<br />

immer gut verstand - e<strong>in</strong>er der beiden, die wie <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>leitung<br />

oben erwähnt den Spitznamen «Jogi» trugen - mir nach me<strong>in</strong>er<br />

Rückkehr sagte, es sei eigentlich gegen me<strong>in</strong>e Ehre, krank zu<br />

werden, was auch immer er mit diesen Worten ausdrücken<br />

wollte.<br />

Leider endete auch dieser Kontakt zu e<strong>in</strong>em <strong>Lehrer</strong>, mit dem<br />

ich immer gut auskam, am Ende der zweiten Klasse nach nur<br />

e<strong>in</strong>em halben Jahr, weil das Fach Religion <strong>in</strong> der dritten Klasse<br />

nicht mehr unterrichtet wurde <strong>und</strong> erst wieder <strong>in</strong> der vierten<br />

kam. Wir hätten uns aber auch dann nicht mehr gesehen, wenn<br />

dieses Fach weiter geblieben wäre, weil es nach den<br />

Frühl<strong>in</strong>gsferien hiess, er sei nicht nur von der Schule<br />

weggegangen, sondern auch noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en anderen Kanton<br />

gezogen - <strong>in</strong> welchen, haben wir nie erfahren. So habe ich nie<br />

mehr etwas von ihm gehört oder gelesen, aber auch deshalb<br />

nicht, weil ich se<strong>in</strong>en Vornamen vergessen habe, so dass auch<br />

das Internet mir heute nicht helfen kann. Obwohl ich ihn nur e<strong>in</strong><br />

paar Monate lang hatte, ist er mir immer <strong>in</strong> guter Er<strong>in</strong>nerung<br />

geblieben - Engel s<strong>in</strong>d halt nicht so leicht zu vergessen.<br />

136


Köbi<br />

Nach Durisch war dieser der zweite <strong>Lehrer</strong> aus dem Kanton<br />

Graubünden, aber wie dieser war auch ihm anzumerken, dass<br />

er schon e<strong>in</strong> wenig vom Appenzellischen bee<strong>in</strong>flusst worden<br />

war, <strong>und</strong> zudem trug auch er e<strong>in</strong>en Familiennamen, der als<br />

appenzellisch gilt. Es war ke<strong>in</strong>er von denen, die ich oben<br />

aufgeführt habe, aber ich lernte kurz nach me<strong>in</strong>er <strong>Trogen</strong>er Zeit<br />

jemanden kennen, der genau gleich hiess <strong>und</strong> e<strong>in</strong> echter<br />

Appenzeller war. Nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung gehörte dieser<br />

<strong>Lehrer</strong> zu den Grösstgewachsenen; allerd<strong>in</strong>gs waren wir alle<br />

noch nicht ganz ausgewachsen, so dass es natürlich war, dass<br />

er uns so gross vorkam. Er war es, den ich wie oben bei<br />

Guschti erwähnt zuerst am Vormittag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e sah <strong>und</strong><br />

am Nachmittag noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Turnhalle erblickte, <strong>und</strong> dann<br />

im Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsanzug.<br />

Er unterrichtete neben Turnen also noch e<strong>in</strong> Fach, <strong>und</strong> zwar<br />

Geografie <strong>und</strong> obendre<strong>in</strong> Deutsch <strong>in</strong> der Unterstufe, aber <strong>in</strong><br />

diesem Fach hatten wir ihn nicht. Auch er gehörte zur Gruppe<br />

der sogenannten echten Sek<strong>und</strong>arlehrer, aber auch er<br />

profitierte davon, dass hier im Appenzellischen eben vieles<br />

anders lief als <strong>in</strong> anderen Kantonen. Deshalb störte sich auch<br />

bei ihm niemand daran, dass e<strong>in</strong> solcher die "Elite" der<br />

Gymnasiasten <strong>und</strong> Oberrealschüler unterrichten durfte. Ich<br />

erwähne das deshalb, weil es tatsächlich auch <strong>in</strong> dieser Schule<br />

solche gab, die sich so verhielten, als seien sie die Elite der<br />

Nation, wie ich das oben bereits abgedeutet habe. Unsere<br />

Klasse hatte ausser e<strong>in</strong>em zwar ke<strong>in</strong>e solchen Grossmäuler,<br />

aber umso deutlicher waren die anderen zu hören, vor allem <strong>in</strong><br />

den obersten Klassen, aber nur Burschen <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e Mädchen.<br />

Ich gehe hier auch deshalb auf dieses Thema e<strong>in</strong>, weil Köbi<br />

den Ruf hatte, beim Unterrichten ziemlich unbeholfen zu se<strong>in</strong>,<br />

so dass er von vielen nicht wirklich ernst genommen wurde.<br />

Diese Unbeholfenheit zeigte sich auch dar<strong>in</strong>, dass er uns Sätze<br />

137


wie diese schreiben liess: "Der Ort, wo das Wasser aus der<br />

Erde spr<strong>in</strong>gt, heisst Quelle." Er hatte es wohl gut geme<strong>in</strong>t, aber<br />

nicht daran gedacht, dass wir das schon <strong>in</strong> der Primarschule<br />

gelernt hatten. An weitere E<strong>in</strong>zelheiten er<strong>in</strong>nere ich mich nicht<br />

mehr, weder <strong>in</strong> der Geografie noch im Turnen. Es war für mich<br />

mehr e<strong>in</strong> Abspulen der vorgeschriebenen St<strong>und</strong>en <strong>und</strong> solange<br />

ich auch bei ihm genügende Noten schrieb, konnte auch ich<br />

selbst zufrieden se<strong>in</strong>. Oft fragte ich mich, warum die<br />

Maturanden Köbi im "Monumentum" als e<strong>in</strong>en Unterbelichteten<br />

dargestellt hatten, dessen Markenzeichen es war, immer wieder<br />

so zu drohen: "Susch tätscht's!" ("Sonst gibt es Hiebe!"). Ich<br />

habe solche Worte von Köbi nie gehört; er konnte gar nie bös<br />

se<strong>in</strong>, im Gegenteil, ich habe gerade bei ihm immer e<strong>in</strong>e Wärme<br />

gespürt, die die meisten anderen <strong>Lehrer</strong> nie ausstrahlten. An<br />

e<strong>in</strong> besonderes Wort von ihm er<strong>in</strong>nere ich mich aber noch<br />

heute: Stöpsel. Ob es jemandem gut lief oder nicht, er<br />

wiederholte diesen Satz fast ritualmässig: «Bisch en Stöpsel.»<br />

Es blieb jedoch immer unklar, was genau er damit me<strong>in</strong>te.<br />

Ich habe ihn weniger wegen se<strong>in</strong>er Schulst<strong>und</strong>en <strong>in</strong> so guter<br />

Er<strong>in</strong>nerung, sondern wegen e<strong>in</strong>es Schülers der<br />

Sek<strong>und</strong>arschule, die wie oben erwähnt bis zur Mitte der dritten<br />

Klasse teilweise die gleichen <strong>Lehrer</strong> wie die Gymnasiasten<br />

hatten, so auch im Fach Geografie. Da dieser Schüler dafür<br />

bekannt war, dass er e<strong>in</strong> glühender Anhänger des<br />

Fussballvere<strong>in</strong>s Brühl St.Gallen war, wurde er von Köbi<br />

deswegen immer hochgenommen, <strong>in</strong>dem er ihn zu fragen<br />

pflegte: "Und was me<strong>in</strong>t denn der Brühler dazu?" Er hatte aber<br />

noch e<strong>in</strong> Merkmal: Er war auffallend dick geraten, aber da wir<br />

alle wussten, dass dies wegen e<strong>in</strong>es Hormonfehlers kam <strong>und</strong><br />

nicht weil er e<strong>in</strong> Vielfrass war, wurde er deswegen nie<br />

gehänselt; jedenfalls habe ich selbst nie so etwas <strong>in</strong> dieser<br />

Richtung gehört. Auch das gehörte zu dem, was ich oben<br />

beschrieben habe: Wir waren alle wie e<strong>in</strong>e Grossfamilie, so<br />

dass Mobb<strong>in</strong>g <strong>und</strong> ähnliches ke<strong>in</strong>e Chance hatten. Ausserdem<br />

war dieser Schüler ziemlich gross - sogar noch e<strong>in</strong> wenig<br />

138


grösser als ich -, so dass se<strong>in</strong> Gewicht viel besser verteilt war<br />

als bei kle<strong>in</strong>eren Leuten, <strong>und</strong> nebenbei hatte er auch noch e<strong>in</strong><br />

so geschliffenes <strong>und</strong> schlagfertiges M<strong>und</strong>werk, dass es besser<br />

war, sich mit ihm nicht anzulegen. In dieser Beziehung war<br />

auch er e<strong>in</strong> typischer Appenzeller, denen ja schon seit<br />

Jahrzehnten nachgesagt wird, dass sie so s<strong>in</strong>d, <strong>und</strong> zudem war<br />

auch er e<strong>in</strong> echter <strong>Trogen</strong>er wie viele andere, die diese Schule<br />

besuchten.<br />

Was den FC Brühl St.Gallen betrifft, stand dieser Schüler mit<br />

dieser Verehrung ke<strong>in</strong>eswegs alle<strong>in</strong> da, weil dieser Vere<strong>in</strong><br />

erstaunlich viele Anhänger hatte, sogar noch mehr als der<br />

Stadtrivale FC St.Gallen, zum<strong>in</strong>dest bei uns <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong>. Da diese<br />

beiden Vere<strong>in</strong>e vor e<strong>in</strong>em halben Jahrh<strong>und</strong>ert noch meistens <strong>in</strong><br />

der gleichen Liga spielten - <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> der zweitobersten, die<br />

damals noch als Nationalliga B bezeichnet wurde <strong>und</strong> heute<br />

Challenge League heisst -, kam es immer wieder zu<br />

Stadtrivalenderbies, die auch bei uns oben heiss diskutiert<br />

wurden. Das war nicht selbstverständlich, weil der Kanton<br />

St.Gallen wegen der geografischen Lage, die beide Appenzeller<br />

Halbkantone umschliesst, nicht nur beliebt war, <strong>und</strong> zudem war<br />

die Stadt St.Gallen selbst noch viel mehr als heute das<br />

eigentliche kulturelle Zentrum der äusseren Ostschweiz. Heute<br />

kann es höchstens noch im Schweizer Cup - oder<br />

Pokalwettbewerb, wie das <strong>in</strong> Deutschland heisst - zu e<strong>in</strong>em<br />

solchen Derby kommen, weil der FC St.Gallen <strong>in</strong> der obersten<br />

Liga, die damals noch als Nationalliga A bezeichnet wurde <strong>und</strong><br />

heute Super League heisst, e<strong>in</strong> Dauergast geworden ist,<br />

während Brühl immer weiter <strong>in</strong> der Versenkung verschw<strong>und</strong>en<br />

ist. E<strong>in</strong> Vergleich mit dem FC Bayern München <strong>und</strong> den 1860er<br />

Löwen ist gar nicht so abwegig, es gibt auffallende Parallelen.<br />

Immerh<strong>in</strong> bleibt der kle<strong>in</strong>e Trost, dass Brühl St.Gallen vor allem<br />

deshalb noch nicht ganz aus den Schlagzeilen verschw<strong>und</strong>en<br />

ist, weil die Handballer<strong>in</strong>nen dieses Vere<strong>in</strong>s, der nicht nur im<br />

Bereich Fussball vertreten ist, schon seit vielen Jahren zu den<br />

besten <strong>und</strong> erfolgreichsten Schweizer Teams gehören.<br />

139


Leider hatten wir auch Köbi ab der zweiten Hälfte der dritten<br />

Klasse nicht mehr. Während wir im Turnen Guschti bekamen,<br />

hatten wir es von diesem Zeitpunkt an <strong>in</strong> der Geografie mit<br />

e<strong>in</strong>em ganz besonderen <strong>Lehrer</strong> zu tun, den ich auch bald<br />

vorstellen werde.<br />

Zeno<br />

Das war tatsächlich se<strong>in</strong> Vorname, so aussergewöhnlich dieser<br />

auch war, aber dafür trug er als Gegensatz e<strong>in</strong>en der häufig<br />

vorkommenden Familiennamen, die ich oben bei Keller erwähnt<br />

habe. Gerade wegen dieses Vornamens hiess es von ihm, er<br />

sei e<strong>in</strong> Walliser, obwohl dieser Name vom Altgriechischen<br />

stammt <strong>und</strong> später vom Late<strong>in</strong> übernommen wurde, <strong>und</strong> obwohl<br />

Zeno h<strong>in</strong>ten <strong>und</strong> vorn ke<strong>in</strong> Wallissertiitsch sprach. Das weiss<br />

ich auch deshalb so gut, weil ich im Verlauf me<strong>in</strong>er Ferienjobs<br />

auch e<strong>in</strong>mal mit e<strong>in</strong>em echten Oberwalliser zu tun hatte, den<br />

ich zu Beg<strong>in</strong>n unseres Kontaktes fast nicht verstand. Im Verlauf<br />

der nächsten paar Tage gewöhnte ich mich aber so gut an<br />

diesen sonderbaren Bergdialekt, dass ich von den anderen<br />

Kollegen, die mit ihm nicht so direkt zu tun hatten, sogar als<br />

Übersetzer e<strong>in</strong>gespannt wurde.<br />

Er gehörte zu den wenigen <strong>Lehrer</strong>n, die ich gleich <strong>in</strong> zwei<br />

Fächern hatte, <strong>und</strong> zwar im Englischen <strong>und</strong> Französischen -<br />

<strong>und</strong> auch er unterrichtete nur bis zur zweiten Hälfte der dritten<br />

Klasse. Ich habe an ihn auch deshalb e<strong>in</strong>e besondere<br />

Er<strong>in</strong>nerung, weil me<strong>in</strong> erstes halbes Jahr bei ihm dar<strong>in</strong> bestand,<br />

dass ich mich <strong>in</strong> beiden Fächern <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en St<strong>und</strong>en zwar<br />

zeigen, aber mit dem E<strong>in</strong>verständnis der <strong>Lehrer</strong>schaft nicht am<br />

Unterricht beteiligen musste. Das lag daran, dass ich wegen<br />

me<strong>in</strong>es Wechsels von <strong>Zürich</strong> wie erwähnt im Englischen e<strong>in</strong>en<br />

Stoffrückstand von e<strong>in</strong>em halben Jahr <strong>und</strong> im Französischen<br />

sogar von e<strong>in</strong>em ganzen Jahr hatte. Deshalb wurde dieser<br />

seltsame Kompromiss geschlossen, allerd<strong>in</strong>gs mit der Auflage<br />

verb<strong>und</strong>en, dass ich den versäumten Stoff <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em halben Jahr<br />

140


mit Privatst<strong>und</strong>en aufholen musste.<br />

Während das im Französischen e<strong>in</strong>es der beiden Mädchen<br />

besorgte, die mit mir die gleiche Pension bewohnten, war im<br />

Englischen Zeno persönlich dafür zuständig. Das tat er gleich <strong>in</strong><br />

mehreren St<strong>und</strong>en pro Woche, natürlich verdiente er dafür<br />

genauso wie me<strong>in</strong>e Französisch-<strong>Lehrer</strong><strong>in</strong> <strong>in</strong> der Pension e<strong>in</strong>en<br />

kle<strong>in</strong>en Zustupf. Neben mir hatte es noch zwei andere Schüler<br />

<strong>in</strong> der gleichen Lage. Während der e<strong>in</strong>e etwas schwächer war<br />

als ich, war der andere unser Klassenprimus, aber das hatte<br />

auch e<strong>in</strong>e gewisse Logik: Da er aus e<strong>in</strong>er vermögenden Familie<br />

stammte <strong>und</strong> im Tess<strong>in</strong> aufgewachsen war, sprach er auch<br />

fliessend Italienisch <strong>und</strong> konnte es sich leisten, Englisch so<br />

nebenbei als vierte Fremdsprache zu belegen. Er war zwar e<strong>in</strong>e<br />

Klasse über mir, aber ich erfuhr trotzdem, dass er e<strong>in</strong><br />

Gymnasiast war <strong>und</strong> deshalb auch Late<strong>in</strong> hatte. Ich er<strong>in</strong>nere<br />

mich auch deshalb so gut an ihn, weil er e<strong>in</strong>e attraktive<br />

Schwester hatte, die ebenfalls diese Schule besuchte <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Klasse unter mir war. Wir hatten immer e<strong>in</strong>en guten Kontakt<br />

<strong>und</strong> ich bekenne offen, dass sie mir ziemlich gut gefiel - aber<br />

eben, auch mit ihr ergab sich nie etwas. Da ich später <strong>in</strong> der<br />

Armee noch mit e<strong>in</strong>em zu tun hatte, der den gleichen<br />

Familiennamen trug <strong>und</strong> mit dem ich besonders gut auskam,<br />

liegt es nahe, dass ich diesen Schüler nie mehr vergessen<br />

habe.<br />

Gerade deshalb, weil ich mich im ersten halben Jahr bei Zeno<br />

nicht direkt am Unterricht beteiligen musste, konnte ich mich<br />

viel besser als anderswo darauf konzentrieren, mir viele<br />

E<strong>in</strong>zelheiten zu merken. Es war wirklich köstlich, von h<strong>in</strong>ten zu<br />

hören, was sich vorn so alles abspielte. So habe ich vom<br />

Französischen am besten noch e<strong>in</strong>e Szene <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung, als<br />

e<strong>in</strong> Schüler sich entscheiden musste, ob e<strong>in</strong>e männliche oder<br />

weibliche Endung e<strong>in</strong>gesetzt werden musste. Den genauen<br />

Satz weiss ich nicht mehr, aber er lautete etwa so:<br />

Ich habe das Mädchen gesehen, ich habe sie gesehen.<br />

141


Die Übersetzung: J'ai vu la jeune-fille, je l'ai vue.<br />

Als Zeno den Schüler fragte, wie die Endung bei ihm aussah,<br />

antwortete er: "Vu ohne e". Und schon hörten wir ihn von vorn<br />

laut brüllen: "Ne<strong>in</strong>, es muss auch noch e<strong>in</strong> 'e' stehen, das<br />

bezieht sich auf das schöne Vieh!" Da mussten e<strong>in</strong> paar wirklich<br />

lachen <strong>und</strong> das war für e<strong>in</strong>mal auch erlaubt, aber e<strong>in</strong> Mädchen<br />

zeigte deutlich se<strong>in</strong>en Missmut, <strong>in</strong>dem es laut "Hou!" sagte.<br />

E<strong>in</strong> anderes Mal g<strong>in</strong>g es darum, den Ausruf «Was für e<strong>in</strong><br />

schönes Paar!» - damit war e<strong>in</strong> frisch verheiratetes Pärchen<br />

geme<strong>in</strong>t - richtig zu übersetzen. Die Schwierigkeit bestand<br />

dar<strong>in</strong>, dass es für «Paar» zwei verschiedene Varianten gibt: E<strong>in</strong><br />

Paire wird nur für Körperteile <strong>und</strong> Esswaren verwendet,<br />

während bei den Menschen e<strong>in</strong> Couple zum Zug kommt, also<br />

gleich wie im Englischen «pair» <strong>und</strong> «couple». Die Lösung<br />

entsprach Zenos Stil, als er sagte: «Es s<strong>in</strong>d ja ke<strong>in</strong>e Würste, die<br />

aus der Kirche treten; also heisst es ‘quel beau couple!’»<br />

Auch im Englischen gab es e<strong>in</strong> paar köstliche Szenen, von<br />

denen ich diese beiden noch am besten speichern konnte. Als<br />

es e<strong>in</strong>mal darum g<strong>in</strong>g, den Unterschied zwischen "must" <strong>und</strong><br />

"must not" zu erklären, sollte e<strong>in</strong> Schüler diesen Satz<br />

übersetzen:<br />

Am Sonntag müssen wir nicht zur Schule gehen.<br />

Se<strong>in</strong>e Übersetzung lautete so: "On S<strong>und</strong>ay we must not go to<br />

school." Was darauf folgte, war typisch Zeno, als er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

gespielten fast we<strong>in</strong>erlichen Satz sagte: "Das ist aber traurig -<br />

die Schüler we<strong>in</strong>en alle Krokodilstränen, weil sie nicht zur<br />

Schule gehen dürfen." Darauf forderte er e<strong>in</strong>en anderen<br />

Schüler auf, den Satz richtig zu übersetzen, was dieser denn<br />

auch tat: "On S<strong>und</strong>ay we need not go to school."<br />

Die andere lustige Szene ereignete sich dann, als e<strong>in</strong> Schüler<br />

142


e<strong>in</strong>e kurze Geschichte mit e<strong>in</strong>em Papagei vorlesen musste, der<br />

aus Versehen getötet worden war. Dabei kam dieser Satz vor:<br />

"That is awful, he knew English and German." («Das ist<br />

furchtbar, er konnte Englisch <strong>und</strong> Deutsch.») Da er "awful" als<br />

"efuul" aussprach, konnte sich Zeno wieder e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Szene<br />

setzen, <strong>in</strong>dem er mit e<strong>in</strong>em Anflug von Lächeln sagte: "Ja, das<br />

isch würkli en Fuule." ("Ja, das ist wirklich e<strong>in</strong> Fauler.") Hier<br />

fragte er aber ke<strong>in</strong>en anderen Schüler, wie dieses Wort richtig<br />

auszusprechen war, sondern lieferte die Korrektur gleich selbst,<br />

<strong>in</strong>dem er halb gr<strong>in</strong>send «ooffel» sagte.<br />

Durch all diese kle<strong>in</strong>en Zwischenfälle konnten wir tatsächlich<br />

etwas lernen, ich ganz h<strong>in</strong>ten bestimmt. Ich erwähne das auch<br />

deshalb, weil Zeno bei vielen den Ruf hatte, dass man bei ihm<br />

nichts lernte. Wer sich jedoch echte Mühe gab, konnte sich<br />

auch bei ihm viel merken, obwohl ich zugeben muss, dass es<br />

manchmal schwierig war, sich neben se<strong>in</strong>en immer wieder<br />

vorkommenden gleichen Sprüchen richtig auf den Stoff zu<br />

konzentrieren. Da wir noch 14- bis 16-jährige Teenager waren -<br />

oder Teenies, wie der heutige moderne Ausdruck lautet -,<br />

fanden wir vieles noch lustig, aber nur e<strong>in</strong> paar Jahre später<br />

wäre er sicher genauso wie der bedauernswerte Schorsch I <strong>in</strong><br />

<strong>Zürich</strong> ausgelacht worden.<br />

So hörten wir von ihm immer wieder den gleichen<br />

Standardspruch: "Ich b<strong>in</strong> dagegen, dass man dafür ist!" Am<br />

legendärsten war jedoch der Ausruf "Chlämmerlisack!", wenn<br />

jemand etwas nicht gerade wusste, <strong>und</strong> er hatte auch noch das<br />

Mehrzahlwort "Chlämmerliseck!" auf Lager, was auch immer<br />

das bedeuten mochte. So e<strong>in</strong>fach konnte es manchmal se<strong>in</strong>:<br />

Bei Köbi war man e<strong>in</strong> Stöpsel <strong>und</strong> bei Zeno halt e<strong>in</strong><br />

Chlämmerlisack - <strong>und</strong> beide me<strong>in</strong>ten wohl das Gleiche. Am<br />

gefährlichsten wurde es aber im Englischen dann, wenn<br />

jemand die häufig vorkommenden Wörter "take" oder "way"<br />

oder ähnlich kl<strong>in</strong>gende Wörter nicht richtig aussprach. Dabei<br />

g<strong>in</strong>g es um die erste Silbe <strong>und</strong> obwohl nur e<strong>in</strong>er aus unserer<br />

143


Klasse vom Kanton Bern stammte, wo dieses englische "ei" im<br />

Dialekt vorkommt, <strong>und</strong> dementsprechend weniger häufig so<br />

falsch ausgesprochen wurde, rief er von vorn immer wieder<br />

"Scheiche!", <strong>und</strong> sofort verstand der Bursche oder das<br />

Mädchen, welches die richtige Aussprache war. "Scheiche"<br />

bedeutet auf Schweizerdeutsch sowohl "Be<strong>in</strong>" als auch "Be<strong>in</strong>e",<br />

war also eigentlich wenig s<strong>in</strong>nvoll, doch da dieses Wort zu den<br />

wenigen gehört, die <strong>in</strong> fast allen schweizerischen Dialekten<br />

gleich ausgesprochen werden, wussten wir alle sofort, wie es<br />

geme<strong>in</strong>t war. Dagegen legte er viel weniger Wert auf die<br />

richtige Aussprache des englischen "th", das es im Deutschen<br />

nicht gibt. Diese galt zwar schon immer als e<strong>in</strong> Schlüssel zum<br />

richtigen E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> diese Sprache, aber er war der Me<strong>in</strong>ung,<br />

dass wir uns das mit der Zeit schon noch aneignen würden, <strong>und</strong><br />

hat damit Recht bekommen, ganz sicher bei mir.<br />

Bei e<strong>in</strong>em Mädchen - dem gleichen, dessen Eltern sich wie<br />

oben im Vorwort erwähnt <strong>in</strong> dieser Schule kennen gelernt<br />

hatten - konnten wir jedes Mal leicht ausrechnen, welcher<br />

Standardspruch von ihm kommen würde, sobald sie den M<strong>und</strong><br />

öffnete. Da sie es e<strong>in</strong>fach nie schaffte, laut <strong>und</strong> deutlich zu<br />

sprechen, hörten wir von vorn bald e<strong>in</strong>mal: "Psst, nicht so laut!"<br />

Es war aber nie bös geme<strong>in</strong>t, weil auch er wusste, dass sie zu<br />

den besten Schüler<strong>in</strong>nen gehörte, die zudem als E<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> der<br />

ganzen Schule neben Englisch <strong>und</strong> Französisch auch die drei<br />

klassischen Sprachen Late<strong>in</strong>, Altgriechisch <strong>und</strong> Hebräisch<br />

lernte <strong>und</strong> überall hervorragend abschnitt.<br />

Zwischen se<strong>in</strong>en Standardsprüchen, die manchmal auch von<br />

spontan entstandenen abgelöst wurden, versuchte er immer<br />

wieder, auch witzig zu se<strong>in</strong>. So betrat er e<strong>in</strong>mal das Zimmer,<br />

<strong>in</strong>dem er so tat, als ob er we<strong>in</strong>te, <strong>und</strong> das Gesicht mit beiden<br />

Händen bedeckte - <strong>und</strong> die ganze Klasse wieherte vor Lachen.<br />

Der Gr<strong>und</strong> dafür lag dar<strong>in</strong>, dass der <strong>Lehrer</strong>konvent aus e<strong>in</strong>em<br />

Gr<strong>und</strong>, den ich heute nicht mehr weiss, e<strong>in</strong>mal beschloss, dass<br />

e<strong>in</strong> halber oder sogar e<strong>in</strong> ganzer Tag <strong>und</strong> deshalb auch e<strong>in</strong>e<br />

144


St<strong>und</strong>e bei ihm ausfallen würde. Gerade bei dieser Szene, als<br />

wir noch lachten, zeigte es sich, dass wir teilweise halt immer<br />

noch K<strong>in</strong>der waren; e<strong>in</strong> paar Jahre später hätten wir ihn dafür<br />

wie oben angedeutet sicher ausgelacht.<br />

E<strong>in</strong> anderes Mal sagte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Moment, als jemand von uns<br />

etwas nicht direkt übersetzen konnte, mit e<strong>in</strong>em Anflug von<br />

Lächeln: «Nicht traurig se<strong>in</strong>, He<strong>in</strong>tje baut e<strong>in</strong> Schloss!» Damit<br />

spielte er auf e<strong>in</strong>en der vielen Hits dieses K<strong>in</strong>derstars an, der<br />

sich damals auf dem Höhepunkt se<strong>in</strong>er Karriere befand. Am<br />

Schluss e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e, als wir wieder e<strong>in</strong>mal viel zu lachen<br />

bekommen hatten, sagte er zu den Hausaufgaben, die er uns<br />

mitgab: «Würdet ihr diese Sätze bitte schriftlicherweise<br />

e<strong>in</strong>legen!»<br />

Bei all se<strong>in</strong>en Auftritten wussten wir zu unserer Beruhigung<br />

immer, dass Zeno es nie bös me<strong>in</strong>te, auch wenn es sich<br />

manchmal so anhören mochte. Er konnte zwar genauso poltern<br />

wie andere <strong>Lehrer</strong>, aber er war <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kern herzensgut. Das<br />

zeigte er am deutlichsten dann, als wir bei ihm kurz vor den<br />

Herbstferien des Jahres 1969 se<strong>in</strong>e letzte St<strong>und</strong>e hatten.<br />

Nachdem er zuerst darüber referiert hatte, dass e<strong>in</strong>e Maturität<br />

auf das ganze Leben bezogen letztlich nichts wert war, wenn<br />

man nichts daraus machte - das konnten fast alle von uns, für<br />

die e<strong>in</strong> Maturazeugnis noch e<strong>in</strong> Tor zum Himmel war, noch<br />

nicht richtig verstehen -, wurde er geradezu sentimental, als er<br />

<strong>in</strong> fast rührenden Worten darum bat, ihn auch nach den Ferien<br />

noch zu begrüssen, wenn er nicht mehr unser <strong>Lehrer</strong> se<strong>in</strong><br />

würde. Offensichtlich hatte er solche Erfahrungen schon<br />

gemacht, sonst hätte er diese Bitte nicht ausgesprochen. Das<br />

eigentliche Problem bestand jedoch dar<strong>in</strong>, dass wir ihn <strong>und</strong><br />

auch die anderen ehemaligen <strong>Lehrer</strong> angesichts der vielen<br />

Völkerwanderungen zwischen den e<strong>in</strong>zelnen St<strong>und</strong>en nur<br />

selten wirklich zu Gesicht bekamen <strong>und</strong> nur bei unseren<br />

schuleigenen Fussballturnieren <strong>und</strong> an den Schülerabenden<br />

richtig sahen - aber auch dann war es schwierig, <strong>in</strong>mitten von<br />

145


H<strong>und</strong>erten e<strong>in</strong> halbwegs gutes Gespräch zu führen.<br />

Nach me<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong> dauerte es nur noch wenige<br />

Jahre, bis Zeno aus Gründen, die ich nie erfahren habe, diese<br />

Schule ebenfalls verliess, um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Appenzeller<br />

Schule zu unterrichten. Auch er erreichte e<strong>in</strong> hohes Alter <strong>und</strong><br />

auch se<strong>in</strong> Ableben wurde <strong>in</strong> den Medien besonders vermerkt,<br />

schliesslich war er auch dann immer noch jemand. Was se<strong>in</strong>e<br />

Worte über die Matura betrifft, konnte ich ihm schon bald Recht<br />

geben. Im Verlauf der nächsten paar Jahre <strong>und</strong> während<br />

me<strong>in</strong>es ganzen Berufslebens lernte ich immer wieder Leute<br />

kennen, die zwar die Maturaprüfungen bestanden <strong>und</strong> teilweise<br />

sogar e<strong>in</strong> Studium begonnen hatten, aber dann nicht<br />

fertiggeworden <strong>und</strong> irgendwie hängen geblieben waren, ja, ich<br />

bekam es sogar mit solchen zu tun, die e<strong>in</strong> Studium<br />

abgeschlossen hatten <strong>und</strong> trotzdem nicht weitergekommen<br />

waren. E<strong>in</strong>er von ihnen sagte mir e<strong>in</strong>mal, er habe eigentlich<br />

zwei ETH-Diplome, aber er muss wohl bereits derart ernüchtert<br />

<strong>und</strong> vom Leben zusammengestaucht worden se<strong>in</strong>, dass er <strong>in</strong><br />

diesen Worten ke<strong>in</strong>en Stolz <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e Überheblichkeit<br />

erkennen liess, wie das andere an se<strong>in</strong>er Stelle getan hätten.<br />

Trotzdem fragte ich mich immer wieder, wozu er <strong>und</strong> alle<br />

anderen so viele mühsame Jahre auf sich genommen hatten,<br />

wenn sie am Ende doch irgendwo als e<strong>in</strong>fache Angestellte<br />

endeten. Dagegen habe ich es <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en letzten Berufsjahren<br />

noch zu dem gebracht, was <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em ehemaligen Betrieb als<br />

Gruppenchef galt, aber <strong>in</strong> der Privatwirtschaft meistens als<br />

Filialleiter bezeichnet wird. Dabei unterstanden mir re<strong>in</strong> nom<strong>in</strong>ell<br />

gerade auch solche, die es als e<strong>in</strong>stige Studenten eigentlich<br />

weiter hätten br<strong>in</strong>gen können <strong>und</strong> sollen als ich, so auch jener,<br />

der die beiden ETH-Diplome erwähnte. So hatte ich im<br />

Tagdienst zwischen 20 <strong>und</strong> 30 <strong>und</strong> im Nachtdienst sogar<br />

zwischen 30 <strong>und</strong> 40 Männer <strong>und</strong> Frauen unter me<strong>in</strong>em<br />

«Kommando», was ich selbst aber nie so sah - <strong>und</strong> dieser ETH-<br />

Diplomierte war dann fast immer dabei.<br />

146


Doktor Stilfibel<br />

Nach Engler, der mir so gut gesonnen war, kommt e<strong>in</strong> weiterer,<br />

der mich besonders gern mochte, obwohl sich das zu Beg<strong>in</strong>n<br />

unseres Kontaktes noch nicht zeigte. Auch er, der Deutsch<br />

unterrichtete, gehörte zur Gruppe der <strong>Lehrer</strong>, die im Herbst der<br />

zweiten Klasse neu <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Leben traten, <strong>und</strong> schon se<strong>in</strong>e<br />

Aussprache verriet, dass er als E<strong>in</strong>ziger der Unterrichtenden<br />

aus Österreich stammte, <strong>und</strong> bis heute hatte ich nie mehr<br />

jemanden aus diesem Land <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Position. Da er es<br />

im Gegensatz zu den meisten anderen Lehrkräften von Anfang<br />

an nicht schaffte, den nötigen Respekt herzustellen - <strong>und</strong> nicht<br />

nur unter der Schülerschaft -, hatten die zum Teil primitiven<br />

Österreicherwitze Hochkonjunktur. Bis zu diesem Zeitpunkt<br />

hatte ich nur von der ewigen Rivalität im alp<strong>in</strong>en Skirennsport<br />

zwischen Österreich <strong>und</strong> der Schweiz gehört, aber noch nie von<br />

solchen Witzen.<br />

Warum ich ihn Doktor Stilfibel nenne, hat se<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong> dar<strong>in</strong>,<br />

dass er wie viele andere <strong>Lehrer</strong> tatsächlich e<strong>in</strong>en Doktortitel<br />

trug, nachdem er sieben Jahre lang <strong>in</strong> Wien studiert hatte, wie<br />

er e<strong>in</strong>mal nach e<strong>in</strong>er entsprechenden Frage e<strong>in</strong>es Schülers<br />

stolz betonte, aber auch dar<strong>in</strong>, dass dieses Büchle<strong>in</strong>, das von<br />

e<strong>in</strong>em gewissen Ludwig Re<strong>in</strong>ers geschrieben worden war, es<br />

ihm besonders angetan hatte. Eigentlich bietet dieses Büchle<strong>in</strong><br />

für solche, die sich für Grammatik besonders erwärmen<br />

können, e<strong>in</strong>e hoch<strong>in</strong>teressante Lektüre, aber wir waren immer<br />

noch 14- bis 16-jährige Teenager, die mit so viel<br />

Tiefschürfendem noch nicht viel anfangen konnten. Es war<br />

schon fast e<strong>in</strong> Ritual, wenn er den Unterrichtssaal betrat <strong>und</strong><br />

nach e<strong>in</strong>er kurzen Begrüssung schon wieder sagte: „Lesen wir<br />

<strong>in</strong> der Stilfibel weiter!“ Ich muss offen bekennen, dass diese<br />

Lektüre uns mit der Zeit richtiggehend anödete. Es konnte ja<br />

etwas nützen, ab <strong>und</strong> zu dar<strong>in</strong> zu lesen <strong>und</strong> über den Inhalt zu<br />

diskutieren - aber musste es gleich e<strong>in</strong> ganzes Jahr lang se<strong>in</strong>?<br />

Wir hatten den Herrn Doktor, wie er allgeme<strong>in</strong> genannt wurde,<br />

147


ja auch noch <strong>in</strong> der ersten Hälfte der dritten Klasse.<br />

Immerh<strong>in</strong> gab es manchmal auch e<strong>in</strong>en Trost <strong>in</strong> Form von<br />

mehreren Beispielsätzen, die wir nach unserem eigenen<br />

Geschmack umgestalten konnten. Als e<strong>in</strong>er den Satz las:<br />

„Geküsst hat ist Perfekt“ - <strong>und</strong> damit war die Zeitform geme<strong>in</strong>t -,<br />

deutete e<strong>in</strong> anderer diesen Satz <strong>in</strong> „Geküsst hat ist perfekt“ um,<br />

also mit der Betonung auf dem zweiten „e“ <strong>in</strong> „perfekt“.<br />

Ansonsten er<strong>in</strong>nere ich mich nicht daran, dass es beim Herrn<br />

Doktor noch weiteres zu lachen gab, obwohl se<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>en nie<br />

so tierisch ernst waren wie bei anderen <strong>Lehrer</strong>n. Es kl<strong>in</strong>gt wie<br />

e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es W<strong>und</strong>er, aber neben der Lektüre der Stilfibel fand er<br />

nebenbei tatsächlich noch Zeit, um uns e<strong>in</strong> paar Aufsätze <strong>und</strong><br />

vor allem Grammatik-Ex schreiben zu lassen. Nach me<strong>in</strong>er<br />

Er<strong>in</strong>nerung schrieb ich dabei ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Note unter 4, aber<br />

auch nie e<strong>in</strong>e überragende - es lief also ähnlich wie bei Marxer<br />

<strong>und</strong> Voser.<br />

Obwohl ich e<strong>in</strong>en solchen Kontakt nicht suchte - auch deshalb,<br />

weil ich sonst <strong>in</strong>s Gerede gekommen wäre, <strong>und</strong> das hätte mir <strong>in</strong><br />

jenen Jahren im Gegensatz zu heute noch etwas ausgemacht -,<br />

muss er mich schon bald <strong>in</strong>s Herz geschlossen haben. Das<br />

zeigte er nicht nur <strong>in</strong> den St<strong>und</strong>en, sondern e<strong>in</strong>mal auch an<br />

e<strong>in</strong>em Tag, an dem ich die fast dreih<strong>und</strong>ert Meter von me<strong>in</strong>er<br />

Pension bis zum Schulhaus unter die Füsse nahm. Es gab zwei<br />

Wege: Den unteren, der an e<strong>in</strong>em M<strong>in</strong>i-Krankenhaus<br />

vorbeiführte, <strong>in</strong> dem ich wegen Herzmuskelstörungen auch<br />

e<strong>in</strong>mal kurz behandelt wurde, <strong>und</strong> den oberen, der vom Dorf<br />

selbst herunterführte, <strong>und</strong> etwas mehr als h<strong>und</strong>ert Meter vor der<br />

Schule kreuzten sie sich. Kurz vor dieser Kreuzung war auch<br />

das Ziel unserer Rennpiste, die wir an den<br />

Schülerwettbewerben zu diesem Zweck benützten - weiter<br />

unten werde ich noch davon erzählen.<br />

Wie ich also aufs Geratewohl an e<strong>in</strong>em schönen Nachmittag <strong>in</strong><br />

Richtung Schulhaus schlenderte, sah ich den Herrn Doktor vom<br />

148


oberen Weg herunterkommen. Da ich nicht wusste, wie ich<br />

reagieren sollte, g<strong>in</strong>g ich weiter <strong>und</strong> tat so, als hätte ich ihn nicht<br />

gesehen. Schon hatte ich die Kreuzung passiert, doch da<br />

erkannte ich, wie er den Weg abkürzte <strong>und</strong> tatsächlich über die<br />

noch nicht geschnittene Wiese lief, nur um mit mir zusammen<br />

zur Schule zu gehen; dabei dachte er nicht daran, dass se<strong>in</strong>e<br />

Hosen hätten schmutzig werden können. Diese Aktion<br />

überraschte mich derart, dass me<strong>in</strong> Widerstand <strong>in</strong> sich<br />

zusammenfiel, <strong>und</strong> so g<strong>in</strong>gen wir gemütlich plaudernd<br />

zusammen bis zum Schulhaus, wo sich allerd<strong>in</strong>gs unsere Wege<br />

wieder trennten, weil er dann nicht gerade unsere Klasse<br />

unterrichtete.<br />

Er war ja ke<strong>in</strong> schlechter <strong>Lehrer</strong>, sondern hatte nur e<strong>in</strong>e etwas<br />

unbeholfene Art, den vorgeschriebenen Lehrstoff an die<br />

Schülerschaft weiterzuvermitteln, <strong>und</strong> gerade diese Art wurde<br />

ihm zum Verhängnis. Ich kann nicht mehr genau<br />

nachvollziehen, warum er <strong>in</strong> der ganzen Schule e<strong>in</strong>en so<br />

schlechten Ruf bekam. Am meisten lag es wohl daran, dass er<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vierten Klasse e<strong>in</strong> halbes Jahr lang den ganzen<br />

Lehrstoff wiederholen liess, den se<strong>in</strong> Vorgänger, von dem ich<br />

auch noch erzählen werde, nach se<strong>in</strong>er Ansicht falsch gemacht<br />

hatte. Das weiss ich auch deshalb noch so gut, weil das<br />

Mädchen, das mir <strong>in</strong> unserer Pension Nachhilfe-Unterricht im<br />

Französischen gab, ausgerechnet <strong>in</strong> diese vierte Klasse g<strong>in</strong>g<br />

<strong>und</strong> sich immer wieder über se<strong>in</strong>en Unterricht beschwerte -<br />

allerd<strong>in</strong>gs nur bei uns, was ihr nicht viel helfen konnte.<br />

Schliesslich sprach sich se<strong>in</strong> besonderer Unterrichtsstil auch<br />

bei der <strong>Lehrer</strong>schaft herum, zu der auch ke<strong>in</strong> so guter Kontakt<br />

bestanden haben konnte, <strong>und</strong> nach e<strong>in</strong>em Jahr erlebte ich es<br />

zum ersten <strong>und</strong> auch e<strong>in</strong>zigen Mal <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er ganzen Gymi-<br />

Karriere, dass e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> durch Beschluss von anderen<br />

<strong>Lehrer</strong>kollegen die Schule verlassen musste, aber ich vermute<br />

noch heute, dass es vor allem der stets energische Rektor war,<br />

der e<strong>in</strong> Machtwort sprach, <strong>und</strong> die anderen nur noch beifällig<br />

149


nickten. Da der Doktor aus Wien offiziell nur e<strong>in</strong> Aushilfslehrer<br />

war, wurde von der sogenannten Option e<strong>in</strong>er Verlängerung<br />

ke<strong>in</strong> Gebrauch gemacht, so dass es leicht war, ihn e<strong>in</strong>fach<br />

abzuschieben. Wenn ich daran denke, was für Figuren nachher<br />

diese Schule bevölkerten - ich werde von denen auch noch<br />

erzählen -, empf<strong>in</strong>de ich diese Wegweisung noch heute als<br />

äusserst ungerecht.<br />

Wie gern er mich mochte, zeigte er auch noch <strong>in</strong> der letzten<br />

St<strong>und</strong>e, als er mit uns über mögliche Zukunftspläne sprach. So<br />

ergab es sich, dass er plötzlich sagte: „Ich würde wirklich gern<br />

wissen, was e<strong>in</strong>mal aus Stump wird.“ Potztausend! Diese Worte<br />

reichten so tief, dass ich sie bis heute nie vergessen habe. Da<br />

ich nachher nie mehr etwas von ihm gehört oder gelesen habe,<br />

weiss ich auch nicht, ob er dieses Er<strong>in</strong>nerungsbuch jemals<br />

lesen wird, <strong>und</strong> falls doch, kann er wenigstens sehen, dass ich<br />

auch ihn nie vergessen habe.<br />

------------------------------------------------------------------<br />

Damit endet der erste Teil über die <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong>. Nach dem<br />

ersten halben Jahr, das ich noch heute als das idyllischste <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>er Schulkarriere bezeichne - vor allem deshalb, weil ich<br />

<strong>in</strong>sgesamt noch e<strong>in</strong> guter Schüler war <strong>und</strong> eigentlich alle mich<br />

noch gern mochten -, folgt der zweite Teil. Am Ende der<br />

zweiten Klasse erfolgte e<strong>in</strong>e regelrechte Zäsur, was die<br />

<strong>Lehrer</strong>schaft betrifft. Im Gegensatz zu vielen anderen Schulen,<br />

<strong>in</strong> denen die Oberstufe erst ab der vierten Klasse beg<strong>in</strong>nt,<br />

begann sie hier <strong>in</strong> vielen, aber nicht <strong>in</strong> allen Bereichen schon zu<br />

Beg<strong>in</strong>n der dritten. Das zeigte sich vor allem dar<strong>in</strong>, dass jene,<br />

die im Gymnasium im Late<strong>in</strong> <strong>und</strong> auch <strong>in</strong> den anderen<br />

Fremdsprachen schwach waren, aber dafür gute<br />

Mathematiknoten schrieben, jetzt noch zur Oberrealschule<br />

wechseln konnten, die erst ab der dritten Klasse richtig begann,<br />

<strong>und</strong> so taten das auch e<strong>in</strong>ige <strong>in</strong> unserer Klasse, doch dafür<br />

traten nicht wenige neue Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler <strong>in</strong> diese<br />

150


Schule <strong>und</strong> damit auch <strong>in</strong> unsere Klasse e<strong>in</strong>.<br />

Die zweite Änderung bestand dar<strong>in</strong>, dass wir von diesem<br />

Zeitpunkt an fast ke<strong>in</strong>e <strong>Lehrer</strong> mehr hatten, die offiziell „nur“<br />

Sek<strong>und</strong>arlehrer waren. Das führte dazu, dass wir von den<br />

festangestellten <strong>Lehrer</strong>n <strong>in</strong> alfabetischer Reihenfolge - also<br />

ohne Bewertung - Durisch, Flade <strong>und</strong> Sulz verloren <strong>und</strong> nur<br />

Köbi <strong>und</strong> Zeno bei uns noch e<strong>in</strong> halbes Jahr lang blieben.<br />

Zugleich verliessen Aeschlimann <strong>und</strong> Engler nicht nur diese<br />

Schule, sondern auch den Kanton <strong>und</strong> wurden <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> nie<br />

mehr gesehen. Das bedeutete zugleich, dass all diese Abgänge<br />

ersetzt werden mussten, <strong>und</strong> so wurden uns zu Beg<strong>in</strong>n der<br />

dritten Klasse nicht weniger als fünf neue <strong>Lehrer</strong> zugeteilt.<br />

------------------------------------------------------------------------<br />

Bartli<br />

Mit diesem Herrn beg<strong>in</strong>ne ich den zweiten Teil der <strong>Trogen</strong>er<br />

<strong>Lehrer</strong> - auch deshalb, weil er Guschtis Stellvertreter als<br />

Klassenlehrer war; jedenfalls hörte ich immer Worte <strong>in</strong> dieser<br />

Richtung. Er war es, der e<strong>in</strong> halbes Jahr lang Urlaub<br />

genommen hatte, um se<strong>in</strong> Buch über die Geschichte des<br />

Kantons Appenzell fertig zu schreiben, <strong>und</strong> jetzt wieder<br />

zurückkehrte, um den Platz se<strong>in</strong>es Stellvertreters Aeschlimann<br />

zu übernehmen.<br />

Was er unterrichtete, war also Late<strong>in</strong>, aber auch Geschichte,<br />

<strong>und</strong> es war für uns e<strong>in</strong> Glücksfall, dass wir ihn <strong>in</strong> beiden<br />

Fächern m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre lang hatten. Ohne dass<br />

wir es wussten, gehörte dieser Mann zu den Hochkarätigen,<br />

weil er nicht nur e<strong>in</strong> Schriftsteller, sondern auch noch e<strong>in</strong><br />

Politiker war, der genau <strong>in</strong> den Jahren, die ich dort verbrachte,<br />

auch e<strong>in</strong> Mitglied des Ausserrhoder Kantonsrats war.<br />

Tatsächlich wurde <strong>und</strong> wird das Parlament dieses Halbkantons<br />

151


genauso wie das im Kanton <strong>Zürich</strong> Kantonsrat genannt; das zu<br />

wissen ist deshalb wichtig, weil <strong>in</strong> anderen Kantonen von e<strong>in</strong>em<br />

Landrat oder e<strong>in</strong>em Grossen Rat die Rede ist, was immer<br />

wieder zu Verwirrungen geführt hat. Das krasseste Beispiel s<strong>in</strong>d<br />

jedoch die Ausdrücke <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> <strong>und</strong> Bern: Während <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong><br />

der Geme<strong>in</strong>derat das Stadtparlament <strong>und</strong> der Stadtrat die<br />

Stadtregierung s<strong>in</strong>d, verhält es sich <strong>in</strong> der B<strong>und</strong>eshauptstadt<br />

gerade umgekehrt. Auch <strong>in</strong> dieser Beziehung hat sich schon<br />

immer die zum Teil riesige Verschiedenheit zwischen den<br />

Kantonen gezeigt, aber sie würden noch heute eher e<strong>in</strong><br />

eigenes Heer nach Bern schicken, als ihre immer noch<br />

bestehenden Sonderrechte aufzugeben. Da hören sich die <strong>in</strong><br />

Deutschland verwendeten Namen „Landtag“ für die meisten<br />

B<strong>und</strong>esländer oder „Senat“ für Bremen, Hamburg <strong>und</strong> Berl<strong>in</strong><br />

noch direkt harmlos an; nur das Wort «Bürgerschaft», das die<br />

beiden erstgenannten Städte für ihre Parlamente verwenden,<br />

während der Senat der Regierung vorbehalten bleibt, kl<strong>in</strong>gt für<br />

helvetische Ohren noch abenteuerlicher als die landeseigenen<br />

Ausdrücke.<br />

Warum dieser Mann Bartli genannt wurde, ist uns immer e<strong>in</strong><br />

Rätsel geblieben, weil er nie e<strong>in</strong>en Bart trug <strong>und</strong> auch die alten<br />

Schulfotos, die ihn als e<strong>in</strong>en jungen <strong>Lehrer</strong> zeigten, nichts <strong>in</strong><br />

dieser Richtung erkennen liessen. Ich deute es gerade an: Er<br />

gehörte zu den wenigen <strong>Lehrer</strong>n, die <strong>in</strong> dieser Schule selbst<br />

ihre Maturaprüfungen belegten <strong>und</strong> bestanden <strong>und</strong> später dort<br />

fast ihr ganzes Leben lang unterrichteten; zudem übte er<br />

zeitweise auch das Amt des Prorektors aus. Ich habe ihn aber<br />

auch deshalb <strong>in</strong> so guter Er<strong>in</strong>nerung behalten, weil er zu den<br />

wenigen <strong>Lehrer</strong>n gehörte, zu deren Häuser ich immer e<strong>in</strong>en<br />

freien Zutritt hatte, wenn es darum g<strong>in</strong>g, zusammen mit e<strong>in</strong>em<br />

Mitschüler für e<strong>in</strong> Ex zu „schanzen“, wie wir es nannten, also<br />

sich geme<strong>in</strong>sam auf e<strong>in</strong>e Prüfung vorzubereiten.<br />

Ich bezeichne ihn deshalb als e<strong>in</strong>en Glücksfall für uns, weil es<br />

<strong>in</strong>sgesamt lockere Jahre waren, e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre im Late<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />

152


sogar vier Jahre <strong>in</strong> Geschichte. Das lag jedoch nicht nur daran,<br />

dass vor allem der Late<strong>in</strong>-Stoff <strong>in</strong> der dritten <strong>und</strong> vierten Klasse<br />

verglichen mit den Klassen weiter oben noch nicht allzu schwer<br />

war, sondern auch an e<strong>in</strong>er besonderen Beh<strong>in</strong>derung dieses<br />

<strong>Lehrer</strong>s: Er war so schwerhörig, dass er <strong>in</strong> der heutigen Zeit<br />

nicht mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Schule unterrichten dürfte, aber wir<br />

lebten eben im Appenzellerland, <strong>und</strong> zudem war er jemand.<br />

Uns allen war das jedoch nichts als recht, weil wir die<br />

Prüfungen locker angehen konnten, <strong>und</strong> ich er<strong>in</strong>nere mich nicht<br />

daran, dass irgendjemand von uns jemals e<strong>in</strong>e ungenügende<br />

Note bekam. Besonders im Late<strong>in</strong>, das uns oft genug wie<br />

trockene <strong>und</strong> öde Materie vorkam, war diese Schwerhörigkeit<br />

geradezu e<strong>in</strong> Segen.<br />

Bartli wusste natürlich, dass die Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler aller<br />

Klassen, die er unterrichtete - wir waren natürlich bei weitem<br />

nicht die E<strong>in</strong>zigen -, versuchen würden, se<strong>in</strong>e Beh<strong>in</strong>derung<br />

auszunützen, aber er konnte dagegen nicht viel ausrichten. Er<br />

konnte im Gegensatz zum Unterricht, den er fast immer vorn<br />

am Tisch sitzend gestaltete, noch so viel im ganzen Saal<br />

herumspazieren, um zu schauen, ob jemand spickte, es nützte<br />

alles nichts. Wir hatten längst e<strong>in</strong> besonderes<br />

Kommunikationssystem entwickelt, mit dem wir uns gegenseitig<br />

die notwendigen Wörter zuflüsterten, ohne dass Bartli uns<br />

dazwischenfunken konnte. Es genügte e<strong>in</strong>fach, die Lippen<br />

möglichst nicht zu bewegen, <strong>und</strong> ich er<strong>in</strong>nere mich noch heute<br />

mit e<strong>in</strong>em Schmunzeln daran, dass uns das allen verblüffend<br />

gut gelang.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs hatte auch dieses System se<strong>in</strong>en berühmten Haken:<br />

Spätestens dann, als wir Bartli im Late<strong>in</strong> nicht mehr hatten <strong>und</strong><br />

uns <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der vierten Klasse jemand anders<br />

zugeteilt wurde, der mit uns bedeutend schärfer umg<strong>in</strong>g, war es<br />

mit dieser Herrlichkeit vorbei. Wer sich bis zu diesem Zeitpunkt<br />

nicht genügend Kenntnisse angeeignet <strong>und</strong> sich zu stark auf<br />

dieses bewährte Kommunikationssystem bei den Prüfungen<br />

153


verlassen hatte, konnte e<strong>in</strong>en bösen Absturz erleben. Die neue<br />

Lehrkraft, auf die ich weiter unten auch noch e<strong>in</strong>gehen werde,<br />

entdeckte bald, dass bei dem e<strong>in</strong>en <strong>und</strong> anderen gewisse<br />

Lücken bestanden. Dementsprechend erscholl schon bald<br />

dieser wütende Ausruf, den unsere Klasse zwar nicht zu hören<br />

bekam, der sich jedoch schon bald herumsprach: „Sie haben<br />

die Schwerhörigkeit des Kollegen schamlos ausgenützt!“<br />

Jawohl, das hatten wir <strong>und</strong> alle anderen Klassen tatsächlich -<br />

aber wer hätte das schon nicht getan? Die Scheunentore<br />

standen ja weit offen <strong>und</strong> luden zu diesen leichten Prüfungen<br />

geradezu e<strong>in</strong>.<br />

Weitaus weniger dramatisch war es im Fach Geschichte, das<br />

auch weniger schwer war, so dass wir dieses besondere<br />

Kommunikationssystem eigentlich nicht gebraucht hätten, aber<br />

es versteht sich von selbst, dass dieses auch dann zum Zug<br />

kam. Im Gegensatz zu den Late<strong>in</strong>st<strong>und</strong>en blieb Bartli beim<br />

Unterricht nicht die ganze Zeit vorn sitzen, sondern spazierte<br />

durch das ganze Zimmer, als könnte er uns den Stoff auf diese<br />

Weise viel besser vermitteln. Dabei wären diese Spaziergänge<br />

gar nicht nötig gewesen, weil das, was er uns erzählte,<br />

genauso wie bei Bohni <strong>und</strong> Flade so <strong>in</strong>teressant war, dass wir<br />

auch dann die Ohren gespitzt hätten, wenn er immer vorn<br />

gesessen wäre.<br />

Da er natürlich wusste, dass wir bei Flade <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em<br />

zeitweiligen Vertreter namens Höhener, den wir jedoch nur<br />

wenige Wochen hatten, die Geschichte des Römischen<br />

Reiches bis etwa zur Zeit des Kaisers Commodus, des letzten<br />

der sogenannten Adoptivkaiser, bereits behandelt hatten,<br />

begann er nach e<strong>in</strong>em kurzen Streifzug durch die<br />

Völkerwanderungen schon bald mit dem Propheten<br />

Mohammed, dem Gründer des Islams, der damals noch nicht<br />

so aktuell <strong>in</strong> aller M<strong>und</strong>e war wie heute. Diese Gr<strong>und</strong>lage<br />

schien ihm notwendig, weil wir nachher ziemlich <strong>in</strong>tensiv die<br />

Epoche zwischen Karl Martell, der noch heute für viele wegen<br />

154


des historischen Sieges über die arabischen Heere bei Tours<br />

<strong>und</strong> Poitiers im Jahr 732 als der Retter des Abendlandes gilt,<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>em Enkel Karl dem Grossen behandelten. Danach g<strong>in</strong>g<br />

es weiter zu den Staufern, denen er sich besonders viel Zeit<br />

widmete, aber se<strong>in</strong> Hauptthema war e<strong>in</strong>deutig die Neuzeit, mit<br />

der auch die Reformation <strong>und</strong> Gegenreformation<br />

zusammenh<strong>in</strong>gen. All dies verstand er so meisterhaft zu<br />

erzählen, dass ich noch heute viele E<strong>in</strong>zelheiten weiss -<br />

natürlich auch deshalb, weil dieses Fach mir immer gut lag, so<br />

dass ich manchmal auch von solchen, die später Ärzte <strong>und</strong><br />

Rechtsanwälte wurden, vor Prüfungen über E<strong>in</strong>zelheiten<br />

gefragt wurde.<br />

Im Gegensatz zum Late<strong>in</strong>, dessen Prüfungsnoten er zu Beg<strong>in</strong>n<br />

e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e ohne grosse Kommentare zu verteilen pflegte,<br />

nahm er sich bei den Besprechungen der Geschichtsprüfungen<br />

erstaunlich viel Zeit. Es war halt unverkennbar, dass er viel<br />

Wert darauf legte, dass wir gerade <strong>in</strong> diesem Bereich viel<br />

verstanden, schliesslich hatte er selbst ja auch e<strong>in</strong> Buch über<br />

Geschichte geschrieben. Gerade bei diesen Besprechungen<br />

gab es auch immer wieder Kle<strong>in</strong>igkeiten, die zum Lachen<br />

anregten. So amüsierte er sich köstlich darüber, dass jemand<br />

das Edikt von Nantes, mit dem im Jahr 1588 den Protestanten<br />

<strong>in</strong> Frankreich vorübergehend e<strong>in</strong>e Religionsfreiheit<br />

zugestanden worden war, die später vom „Sonnenkönig“ Louis<br />

XIV. jedoch wieder aufgehoben wurde, falsch verstanden hatte<br />

<strong>und</strong> deshalb von e<strong>in</strong>er „Edith von Nantes“ schrieb. E<strong>in</strong> anderes<br />

Mal amüsierte er sich darüber, dass jemand bei e<strong>in</strong>er Prüfung<br />

auffallend viele Male geschrieben hatte: „Er hatte ja gesagt …<br />

er hatte doch gesagt ...“ Das fand er deshalb witzig, weil diese<br />

Antworten viel Selbstbewusstse<strong>in</strong> zu zeigen schienen <strong>und</strong><br />

trotzdem zur Hälfte falsch waren.<br />

Auch ich bekam e<strong>in</strong>mal me<strong>in</strong>en Anteil ab, weil ich den<br />

Reformatoren Zw<strong>in</strong>gli als e<strong>in</strong>en typischen Ländler bezeichnet<br />

hatte, anstatt den Ausdruck „Mann vom Land“ zu verwenden,<br />

155


aber der e<strong>in</strong>same Höhepunkt war, als ich von e<strong>in</strong>em Gauleiter<br />

schrieb, ohne zu wissen, dass dieses Wort wenige Jahrzehnte<br />

zuvor bei den Nationalsozialisten <strong>in</strong> Gebrauch gewesen war.<br />

Doch wie hätte ich das wissen können? Damals gab es noch<br />

ke<strong>in</strong> Internet, mit dem sich jemand auch <strong>in</strong> diesem Bereich<br />

bilden konnte, <strong>und</strong> um e<strong>in</strong>en dicken Geschichtssch<strong>in</strong>ken zu<br />

lesen, hätte mir sogar dann die Zeit gefehlt, wenn ich e<strong>in</strong>en<br />

gehabt hätte.<br />

Was mich noch heute schmunzeln lässt, ist e<strong>in</strong>e Szene, die<br />

typisch Bartli war: Als e<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong> sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Late<strong>in</strong>st<strong>und</strong>e<br />

auffallend müde zeigte <strong>und</strong> deshalb auf e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er Fragen<br />

nicht sofort antworten konnte - dabei war sie e<strong>in</strong>e sehr gute<br />

Schüler<strong>in</strong>, welche die Maturaprüfungen fast im Schlaf bestand<br />

<strong>und</strong> später e<strong>in</strong>e Journalist<strong>in</strong> wurde -, sagte er halb gr<strong>in</strong>send:<br />

„Musst halt früher <strong>in</strong>s Nest!“ E<strong>in</strong>e andere lustige Szene<br />

ereignete sich mit der gleichen Schüler<strong>in</strong>, die nebenbei erwähnt<br />

die Tochter des Schweizer Generalkonsuls <strong>in</strong> Zagreb war. Als<br />

Bartli das erfuhr, fragte er sie lächelnd: "Kannst du<br />

Jugoslawisch?" Damals gab es dieses Land noch, aber sogar<br />

Bartli, der es als e<strong>in</strong> Spezialist für Geschichte eigentlich hätte<br />

wissen müssen, schien nie davon gehört zu haben, dass es e<strong>in</strong><br />

Jugoslawisch als Sprache gar nie gegeben hat. Dass Kroatisch<br />

<strong>und</strong> Serbisch sich vor allem im Wortschatz zum Teil deutlich<br />

vone<strong>in</strong>ander unterscheiden, hat sich <strong>in</strong>zwischen überall<br />

herumgesprochen, aber aus politischen <strong>und</strong> religiösen Gründen<br />

ist <strong>in</strong> letzter Zeit noch e<strong>in</strong>e dritte Variante dazugekommen:<br />

Bosnisch, das tatsächlich viele religiöse Wörter enthält, die <strong>in</strong><br />

den beiden anderen "jugoslawischen" Schwestersprachen nicht<br />

vorkommen.<br />

Gerade deshalb, weil es bei Bartli so gemütlich war <strong>und</strong> ich<br />

auch wirklich viel lernen konnte, s<strong>in</strong>d mir se<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>en <strong>in</strong><br />

besonders angenehmer Er<strong>in</strong>nerung geblieben, aber auch bei<br />

ihm erfüllten sich die immer wieder geäusserten tragischen<br />

Worte: Die Guten müssen oft früher gehen als die anderen. So<br />

156


verschied er schon zu Beg<strong>in</strong>n der Neunzigerjahre als zweiter<br />

der <strong>Trogen</strong>er <strong>Lehrer</strong> nach Schorsch II, aber er konnte diesen<br />

wenigstens um mehr als zehn Jahre überleben <strong>und</strong> mehr als<br />

e<strong>in</strong> Jahrzehnt lang den Ruhestand geniessen, <strong>in</strong> dem er aber<br />

genauso wie se<strong>in</strong>erzeit Bohni immer noch ruhelos blieb <strong>und</strong><br />

dieses <strong>und</strong> jenes tat.<br />

Pieps<br />

Warum er diesen Spitznamen trug, war für alle, die ihn beim<br />

ersten Mal hörten, sofort klar: Er hatte e<strong>in</strong>e so auffallend hohe<br />

Stimme, dass er nicht nur als e<strong>in</strong> Tenor <strong>in</strong> jedem Chor<br />

willkommen gewesen wäre, sondern auch als e<strong>in</strong> Kontratenor,<br />

der heute wieder gross <strong>in</strong> Mode ist, e<strong>in</strong>e gute Figur abgegeben<br />

hätte.<br />

Tatsächlich unterrichtete er Musik, aber nicht nur dies, sondern<br />

auch noch Physik, was auf den ersten Blick nicht<br />

zusammenzupassen sche<strong>in</strong>t, aber bei diesem <strong>Lehrer</strong> hatte das<br />

e<strong>in</strong>e gewisse Logik. Er hätte wohl alles unterrichten können,<br />

weil er den Ruf hatte, dass er als e<strong>in</strong>ziger der <strong>Lehrer</strong>, die <strong>in</strong><br />

<strong>Trogen</strong> tätig waren, se<strong>in</strong>e Maturaprüfungen <strong>in</strong> sämtlichen<br />

Fächern mit Ausnahme des weniger wichtigen Turnens mit<br />

e<strong>in</strong>er 6 bestanden hatte. Zudem hatte er genauso wie Bartli<br />

zeitweise als Prorektor gearbeitet <strong>und</strong> es gerade auch <strong>in</strong> dieser<br />

Zeit verstanden, e<strong>in</strong> solches Ansehen zu gew<strong>in</strong>nen, dass auch<br />

se<strong>in</strong>e Ehefrau, ja, die ganze Familie davon profitieren konnten.<br />

Tatsächlich gehörte diese Frau zu den beliebtesten im Dorf <strong>und</strong><br />

auch me<strong>in</strong>e Schlummermutter mochte sie besonders gern. Was<br />

dieses Ehepaar zudem auszeichnete, war die wenig beachtete<br />

Tatsache, dass sie sich an den Sonntagen nicht nur dann <strong>in</strong> der<br />

reformierten Kirche zeigten, wenn sie glaubten, auf die Hilfe des<br />

Herrgottes angewiesen zu se<strong>in</strong>, sondern auch dann, wenn es<br />

ihnen gut g<strong>in</strong>g, also aus re<strong>in</strong>er Dankbarkeit - <strong>und</strong> zu ihrem<br />

Glück, von dem auch wir profitieren konnten, g<strong>in</strong>g es ihnen<br />

meistens gut. Dazu trug sicher auch bei, dass ihre vier K<strong>in</strong>der<br />

157


ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Schule erfolgreich waren. Die drei älteren,<br />

die allesamt im Schulorchester mitspielten, das ihr Vater<br />

dirigierte, lernte ich noch selbst kennen, ja, mit der älteren<br />

Tochter - das Ehepaar hatte je zwei Söhne <strong>und</strong> Töchter -<br />

besuchte ich sogar e<strong>in</strong> halbes Jahr lang die gleiche Klasse.<br />

Ich weiss das von diesen Kirchenbesuchen, weil wir von der<br />

Klasse, die den Konfirmationsunterricht besuchte, uns<br />

manchmal auch <strong>in</strong> der Kirche bei den Gottesdiensten zeigen<br />

mussten. Auch das gehörte zur kirchen<strong>in</strong>ternen Ausbildung;<br />

wenn ich mich richtig er<strong>in</strong>nere, mussten wir das m<strong>in</strong>destens<br />

e<strong>in</strong>mal im Monat tun, aber der Pfarrer Frischknecht, den ich<br />

weiter oben bei Flade schon genannt habe, war genauso wie<br />

Engler e<strong>in</strong> so lieber Kerl, dass er es nicht allzu streng nahm.<br />

Im Gegensatz zum Literargymnasium <strong>Zürich</strong>berg, wo es schon<br />

ab der zweiten Klasse e<strong>in</strong> Pflichtfach war, wurde Physik <strong>in</strong><br />

<strong>Trogen</strong> erst ab der dritten unterrichtet, aber doch noch früh<br />

genug, dass auch Pieps zum neuen Fünferpaket gehörte, das<br />

unserer Klasse zugeteilt wurde. Nach e<strong>in</strong>em ganzen Jahr wurde<br />

<strong>in</strong> der ersten Hälfte der vierten Klasse e<strong>in</strong>e Pause e<strong>in</strong>gelegt,<br />

bevor es ab der zweiten Hälfte wieder losg<strong>in</strong>g - <strong>und</strong> dann bis zu<br />

den Maturaprüfungen. Das kam mir natürlich gerade recht, weil<br />

dieses Fach genauso wie bei Gemmi <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> zu me<strong>in</strong>en<br />

schwächsten gehörte <strong>und</strong> wenigstens für dieses e<strong>in</strong>e halbe<br />

Jahr garantiert war, dass me<strong>in</strong> Zeugnis im Herbst des Jahres<br />

der vierten Klasse m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>en halben, wenn nicht gar<br />

e<strong>in</strong>en ganzen M<strong>in</strong>uspunkt weniger aufweisen <strong>und</strong> zudem e<strong>in</strong>en<br />

viel besseren Notendurchschnitt erreichen würde - <strong>und</strong> genau<br />

so ist es denn auch gekommen.<br />

Gerade bei Pieps zeigte sich genauso wie bei e<strong>in</strong> paar anderen<br />

<strong>Lehrer</strong>n das Phänomen, dass er viele Jahre lang der E<strong>in</strong>zige<br />

war, der <strong>in</strong> dieser Kantonsschule Physik unterrichtete, aber<br />

auch das gehörte zum Geist dieses besonderen Halbkantons<br />

Appenzell-Ausserrhoden, der mir seit dieser Zeit so ans Herz<br />

158


gewachsen ist. Er war ja nicht der E<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> dieser Lage: Auch<br />

im Zeichnen, im Englischen ab der dritten Klasse, im<br />

Italienischen <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Chemie sowie im Altgriechischen <strong>und</strong><br />

Hebräischen gab es nur je e<strong>in</strong>e Lehrkraft; auch die paar<br />

wenigen vorübergehenden Stellvertreter konnten an diesem<br />

Gesamtbild nichts ändern.<br />

Bei Pieps war es deshalb besonders heikel, weil er <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en<br />

<strong>Trogen</strong>er Jahren auch drei K<strong>in</strong>der hatte, die se<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>en<br />

besuchten - es blieb ihnen ja nichts anderes übrig. Das hätte<br />

eigentlich zu sogenannten Interessenkonflikten führen können<br />

<strong>und</strong> wäre <strong>in</strong> anderen Kantonen kaum erlaubt worden, aber auch<br />

das war typisch Appenzellisch, obwohl auch Pieps genauso wie<br />

Guschti vom Kanton <strong>Zürich</strong> stammte. Allerd<strong>in</strong>gs waren vor<br />

allem se<strong>in</strong> älterer Sohn, der e<strong>in</strong>e Klasse über mir war, <strong>und</strong><br />

se<strong>in</strong>e ältere Tochter, die e<strong>in</strong>e Klasse unter mir war, wie<br />

<strong>in</strong> fast allen anderen Fächern auch <strong>in</strong> der Physik so gut, dass<br />

sie bei den Prüfungen die Hilfe ihres Vaters gar nicht benötigten<br />

- eben so, wie es das damals sehr populäre Trio Eugster sang:<br />

Ganz de Bappe ...<br />

Ich war also <strong>in</strong> diesem Fach genauso wie bei Gemmi ke<strong>in</strong><br />

Leuchtturm, aber ich gab mir wenigstens echte Mühe, um etwas<br />

besser zu werden, <strong>in</strong>dem ich versuchte, mich so viel wie<br />

möglich direkt am Unterricht zu beteiligen, <strong>und</strong> das wurde zu<br />

me<strong>in</strong>em Erstaunen auch von Pieps geschätzt. Von se<strong>in</strong>em<br />

Unterricht ist mir so gut wie nichts geblieben, wenn ich von<br />

e<strong>in</strong>em bemerkenswerten Satz e<strong>in</strong>mal absehe, den er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

stillen St<strong>und</strong>e sagte: „Was ich euch jetzt unterrichte, hat man <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>er eigenen Schulzeit noch nicht e<strong>in</strong>mal gewusst.“ Das<br />

glaubte ich sofort, weil es auch mir klar war, wie viele<br />

Fortschritte die Naturwissenschaften gerade auch im Bereich<br />

der Physik erzielt hatten. Se<strong>in</strong>e Unterrichtsst<strong>und</strong>en wurden ab<br />

der zweiten Hälfte der vierten Klasse noch durch e<strong>in</strong><br />

sogenanntes physikalisches Praktikum ergänzt, wie es offiziell<br />

so genannt wurde, <strong>und</strong> dieses fand e<strong>in</strong>mal pro Woche an zwei<br />

159


Abendst<strong>und</strong>en statt. Es gab dort ke<strong>in</strong>e Noten, aber man musste<br />

e<strong>in</strong>fach dabei se<strong>in</strong>.<br />

Was ich über se<strong>in</strong>e beiden ältesten K<strong>in</strong>der gehört habe, konnte<br />

ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em letzten halben Jahr <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> auch noch selbst<br />

erfahren, als ich e<strong>in</strong>e Klasse absteigen musste <strong>und</strong> jener<br />

zugeteilt wurde, <strong>in</strong> die auch se<strong>in</strong>e ältere Tochter g<strong>in</strong>g. Sie<br />

beteiligte sich zwar nicht viel am Unterricht ihres Vaters, aber<br />

sie schrieb trotzdem sehr gute Noten wie im Schlaf. Eigentlich<br />

gefiel auch sie mir gut - aber eben, wer war denn ich? Da hatte<br />

es e<strong>in</strong>es der beiden Genies <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er ehemaligen Klasse, der<br />

auch noch <strong>in</strong> der gleichen Pension wohnte, viel leichter. So war<br />

es fast logisch, dass sie e<strong>in</strong> Paar wurden, <strong>und</strong> nach me<strong>in</strong>em<br />

Wissen waren sie zum Zeitpunkt me<strong>in</strong>es Wegzugs von <strong>Trogen</strong><br />

immer noch zusammen. Tatsächlich wurden solche<br />

Fre<strong>und</strong>schaften nicht ganz ungern gesehen, solange beide<br />

noch gute Noten schrieben. Die Tochter e<strong>in</strong>es der<br />

angesehensten <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> der Kantonsschule <strong>und</strong> im ganzen<br />

Dorf g<strong>in</strong>g mit e<strong>in</strong>em äusserst <strong>in</strong>telligenten Schüler, der später<br />

standesgemäss e<strong>in</strong> Arzt wurde - das rockte, wie der heutige<br />

moderne Ausdruck lautet.<br />

Ich war <strong>und</strong> blieb <strong>in</strong> diesem Fach also immer noch schwach,<br />

aber ich erreichte wenigstens, dass ich im Verlauf der Zeit auch<br />

zum Haus Zugang hatte, <strong>in</strong> dem Pieps <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Ehefrau<br />

genauso wie andere <strong>Lehrer</strong> e<strong>in</strong>e Pension unterhielten. Dort<br />

wohnten nicht nur se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> das oben erwähnte<br />

Klassengenie, sondern auch jener, der mir damals im Zug direkt<br />

gegenübersass, als Aeschlimann mit ihm e<strong>in</strong> kurzes Gespräch<br />

führte. Ich er<strong>in</strong>nere mich nicht mehr genau, wie es dazu<br />

gekommen war, dass ich diesen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Zimmer besuchen<br />

konnte, aber ich tippe darauf, dass wir zusammen Geschichte<br />

„schanzten“, mit dem auch er immer Mühe hatte, obwohl auch<br />

aus ihm später etwas Hochkarätiges wurde - nach me<strong>in</strong>em<br />

Wissen e<strong>in</strong> Rechtsanwalt, aber auch das Internet gibt darüber<br />

ke<strong>in</strong>e klare Auskunft. Bei diesem e<strong>in</strong>zigen Besuch bekam ich<br />

160


die e<strong>in</strong>zige Gelegenheit, mit Pieps für e<strong>in</strong>mal privat ausserhalb<br />

der Schule zu schwatzen, aber ich frage mich noch heute, wie<br />

wir dazu gekommen s<strong>in</strong>d, über Russland <strong>und</strong> Ch<strong>in</strong>a zu reden.<br />

Es war direkt zum Schmunzeln, wie er sagte: „Im Vergleich zu<br />

Russland liegt Ch<strong>in</strong>a immer noch m<strong>in</strong>destens dreissig Jahre<br />

zurück.“ Das war noch <strong>in</strong> der Zeit, als dieses Land allmählich<br />

<strong>in</strong>s <strong>in</strong>ternationale Rampenlicht rückte <strong>und</strong> <strong>in</strong> der UNO gerade<br />

den Platz von Taiwan e<strong>in</strong>genommen hatte, das zugunsten der<br />

sogenannten Volksrepublik, die ich noch heute so nenne,<br />

ausgeschlossen worden war.<br />

Übrigens war dieser Klassenkollege, der <strong>in</strong> der Pension von<br />

Pieps wohnte, neben jenem, der Schorsch II aus Versehen<br />

immer wieder e<strong>in</strong>en Doktor nannte, <strong>und</strong> dem bei Durisch<br />

erwähnten Mädchen der Dritte im B<strong>und</strong>e, den ich auch e<strong>in</strong>mal<br />

zu Hause <strong>in</strong> der Nähe von <strong>Zürich</strong> besuchen durfte, so dass ich<br />

auch se<strong>in</strong>e Eltern kennen lernen konnte. Ich weiss nicht mehr,<br />

wie ich das geschafft hatte, aber es blieb bei diesem e<strong>in</strong>en<br />

Besuch. Nachher flachte unser Kontakt immer mehr ab <strong>und</strong><br />

nachdem ich den Lift hatte nehmen müssen, also nicht mehr <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>e Klasse g<strong>in</strong>g, gehörte auch er zu denen, die so taten, als<br />

würden sie mich nicht mehr kennen.<br />

Die Physik war der e<strong>in</strong>e Bereich, <strong>in</strong> dem Pieps unterrichtete,<br />

aber es gab wie oben erwähnt noch e<strong>in</strong>en zweiten: Das war die<br />

Musik, der er sich mit ebenso viel H<strong>in</strong>gabe widmete, wenn nicht<br />

noch mehr. Später habe ich über das Internet herausgef<strong>und</strong>en,<br />

dass er schon am Ende der Vierzigerjahre etwas komponiert<br />

hatte. Er hatte also schon e<strong>in</strong>en gewissen Ruf, als es im Jahr<br />

1971 darum g<strong>in</strong>g, angesichts des bevorstehenden 150-Jahr-<br />

Jubiläums der Kantonsschule <strong>Trogen</strong>, die im Jahr 1821<br />

gegründet worden war, e<strong>in</strong> besonderes Musikwerk zu<br />

schreiben. Dementsprechend ernst liefen die Vorbereitungen<br />

<strong>und</strong> dazu gehörte auch, dass <strong>in</strong> diesem Jahr auf die Aufführung<br />

e<strong>in</strong>es Theaterstücks verzichtet wurde, damit alle, aber auch<br />

wirklich alle sich auf die E<strong>in</strong>studierung <strong>und</strong> Aufführung dieses<br />

161


Musikstücks mit dem Titel "Kantate" konzentrieren konnten.<br />

Eigentlich war es ke<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Eigenkomposition von Pieps,<br />

sondern e<strong>in</strong>e Zusammenstellung verschiedener bekannter<br />

Musikstücke, so auch aus e<strong>in</strong>em Wiener Walzer, aus dem<br />

berühmten Studentenlied „Gaudeamus igitur“ <strong>und</strong><br />

verschiedenen bekannten Volksliedern. E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Teil - aber<br />

eben nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er - stammte allerd<strong>in</strong>gs aus se<strong>in</strong>er eigenen<br />

Feder, <strong>und</strong> ergänzt wurde diese zusammengeschusterte<br />

Melodie mit dem Text e<strong>in</strong>es Deutschlehrers, von dem ich weiter<br />

unten auch noch sprechen werde. Wir fanden diesen Text, auf<br />

den ich dann ebenfalls noch näher e<strong>in</strong>gehe, zwar <strong>in</strong>teressant,<br />

weil er zum Anlass passte, aber das war das e<strong>in</strong>zige<br />

Bemerkenswerte. Aus heutiger Sicht betrachtet mutet der Text<br />

seltsam an, aber er passte sehr gut zu diesem Deutschlehrer.<br />

Bevor wir dieses zusammengeschusterte Werk richtig<br />

e<strong>in</strong>studieren konnten, stellte sich e<strong>in</strong> ganz anderes Problem:<br />

Wer von uns sollte die Rolle des Hauptsprechers übernehmen,<br />

der gewissermassen die Seele der ganzen Kantate war? Es<br />

war e<strong>in</strong>e ähnliche Rolle wie der Hauptsprecher <strong>in</strong> Arthur<br />

Honeggers bekanntem Stück „Niklaus von Flüe“, das ich<br />

deshalb so gut kenne, weil ich bei zwei Aufführungen<br />

selbst auch dabei war. Die Schule hatte <strong>in</strong>sofern Glück, als sie<br />

zwei gebürtige Deutsche hatte - e<strong>in</strong>er aus dem<br />

niedersächsischen Hildesheim <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er aus Frankfurt am<br />

Ma<strong>in</strong>, wie ich noch heute weiss -, <strong>und</strong> dabei hatte das<br />

„Nordlicht“ e<strong>in</strong>e besonders gute <strong>und</strong> geeignete Stimme.<br />

Tatsächlich erklärte sich dieser ohne Zögern dazu bereit, diese<br />

Rolle zu übernehmen. E<strong>in</strong> zweites, aber kle<strong>in</strong>eres Problem<br />

bestand dar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e etwa zehnköpfige Gruppe zu bilden, die ihn<br />

mit Sprechchören unterstützte. Auch das wurde bald gelöst,<br />

weil sich schnell e<strong>in</strong>e Gruppe fand, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong> besonders lautes<br />

Appenzeller Mädchen mit dem Namen Zeller, aber auch der<br />

Bursche, der den Spitznamen «Seppli» trug, nicht zu überhören<br />

162


waren. Das zeigt noch heute die Schallplatte, die wir später<br />

aufnahmen, aber ich komme darauf noch zu sprechen.<br />

Im Verlauf der vielen Wochen, die wir für das E<strong>in</strong>studieren<br />

dieser Kantate brauchten, machte sich e<strong>in</strong> Teil der Burschen zu<br />

Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>en Spass daraus, mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Konsonanten<br />

Pieps <strong>in</strong> Verlegenheit zu br<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong> Satz lautete so: „Wir s<strong>in</strong>d<br />

gelehrt <strong>und</strong> allezeit beflissen.“ Anstelle von „beflissen“ sangen<br />

e<strong>in</strong> paar „beschissen“, darunter auch ich, wie ich heute freimütig<br />

bekennen kann. E<strong>in</strong>es Tages bekam Pieps, den ich nie wirklich<br />

zornig gesehen habe, jedoch endgültig genug, aber er war auch<br />

dann äusserst fre<strong>und</strong>lich, als er diese bemerkenswerten Worte<br />

sagte: „Jetzt s<strong>in</strong>d wir nur am Proben, aber wenn bei der<br />

Aufführung auch nur e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>ziger dieses Wort so s<strong>in</strong>gt, kann<br />

man das vorn gut hören.“ Das sass, fortan strengten wir uns<br />

alle an <strong>und</strong> sangen korrekt; schliesslich lag es auch <strong>in</strong> unserem<br />

eigenen Interesse, dass die Kantate e<strong>in</strong> voller Erfolg wurde.<br />

So geschah es denn auch: Sowohl Pieps als auch der<br />

Deutschlehrer, der den etwas seltsamen Text geschrieben<br />

hatte, wurden mit viel Beifall überschüttet, <strong>und</strong> zwei oder drei<br />

Tage später durften wir die Kantate noch e<strong>in</strong>mal aufführen. Der<br />

eigentliche Höhepunkt spielte sich jedoch e<strong>in</strong>e Woche später<br />

am schulfreien Mittwochnachmittag <strong>in</strong> der Turnhalle ab, als wir<br />

die ganze Geschichte wie oben erwähnt auf e<strong>in</strong>er Platte<br />

aufnahmen. Für uns hatte dieser Tag etwas Historisches, wenn<br />

nicht gar Welthistorisches; wir hatten wirklich etwas Besonderes<br />

vollbracht <strong>und</strong> tatsächlich ist diese Aufnahme bis heute me<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>zige auf e<strong>in</strong>er Schallplatte geblieben - zwar nur mit e<strong>in</strong>er<br />

Stimme unter ferner liefen, aber ich war <strong>und</strong> b<strong>in</strong> wenigstens<br />

dabei.<br />

Ich habe diese Schallplatte bis heute aufbewahrt <strong>und</strong> wie e<strong>in</strong>en<br />

Augapfel gehütet, aber als ich sie e<strong>in</strong>mal me<strong>in</strong>er jüngeren<br />

Tochter, die später im Gegensatz zu mir studiert hat, zum<br />

Abhören gab, hatte sie am Schluss nur e<strong>in</strong> Wort übrig: Schrott.<br />

163


Obwohl es mich nicht hätte treffen müssen, traf es mich halt<br />

doch e<strong>in</strong> wenig, schliesslich hatte ich dort mitgewirkt. Heute<br />

gebe ich ihr aber Recht, so leid es mir für Pieps auch tut, der<br />

sich so viel Mühe gegeben hat. Immerh<strong>in</strong> hat sie mit dem<br />

Schrott mehr den Text als die zusammengeschusterte Melodie<br />

geme<strong>in</strong>t.<br />

Im Gegensatz zu den meisten <strong>Trogen</strong>er <strong>Lehrer</strong>n zog er nach<br />

der Versetzung <strong>in</strong> den Ruhestand wieder <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Heimatkanton zurück - <strong>und</strong> erst noch <strong>in</strong> den gleichen Ort direkt<br />

am <strong>Zürich</strong>see, wo er aufgewachsen war <strong>und</strong> die Primarschule<br />

besucht hatte. Das ist für mich umso bemerkenswerter, als es<br />

der Nachbarort des Dorfes ist, <strong>in</strong> dem ich selbst sieben Jahre<br />

me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit verbracht habe, <strong>und</strong> da auch se<strong>in</strong>e Frau von<br />

diesem Ort stammte, hätte es eigentlich e<strong>in</strong>e bessere<br />

persönliche Verb<strong>in</strong>dung ergeben können - aber eben, ich<br />

wohnte ja nicht <strong>in</strong> ihrer Pension, <strong>und</strong> zudem hätte ich e<strong>in</strong> viel<br />

besserer Schüler se<strong>in</strong> müssen, um für mich solche Türen zu<br />

öffnen.<br />

Auch Pieps erreichte wie so mancher andere me<strong>in</strong>er<br />

ehemaligen <strong>Lehrer</strong> mehr als neunzig Lebensjahre, ja, es s<strong>in</strong>d<br />

wie bei Voser sogar fast h<strong>und</strong>ert geworden. Erst bei me<strong>in</strong>en<br />

Recherchen für dieses Buch habe ich zudem noch etwas<br />

Erstaunliches entdeckt: Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht<br />

gewusst, dass er auch mit den Kadetten, von denen ich ganz<br />

oben geschrieben habe, direkt zu tun hatte. So erzählte er <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Interview, das heute im Internet gesehen <strong>und</strong> gehört<br />

werden kann, viele <strong>in</strong>teressante E<strong>in</strong>zelheiten, aber es fiel mir<br />

vor allem e<strong>in</strong>es auf: Er ist fast nicht mehr zu erkennen, weil er <strong>in</strong><br />

der Zwischenzeit stark gealtert ist, <strong>und</strong> zudem ist se<strong>in</strong>e Stimme<br />

deutlich tiefer geworden. Se<strong>in</strong> damaliger Spitzname würde<br />

heute also nicht mehr zu ihm passen.<br />

-------------------------------------------------------------------------<br />

164


Zwischenspiel<br />

Ich habe Bartli <strong>und</strong> Pieps von den <strong>Lehrer</strong>n, die ich erst ab der<br />

dritten Klasse hatte, bewusst zuerst vorgestellt, weil es mit<br />

ihnen auch noch e<strong>in</strong>e andere Geschichte zu erzählen gibt, die<br />

mit der Schule eng zusammenhängt. Damit me<strong>in</strong>e ich das<br />

schuleigene Fussball-Turnier, das immer am<br />

Mittwochnachmittag vor dem Himmelfahrtstag - oder<br />

Auffahrtstag, wie er <strong>in</strong> der Schweiz genannt wird - <strong>und</strong> natürlich<br />

auch an diesem selbst ausgetragen wurde <strong>und</strong> das ich im Jahr<br />

1969 als noch nicht e<strong>in</strong>mal 16-Jähriger zum ersten Mal<br />

miterlebte. Insgesamt waren es vier Turniere, die ich mit<br />

eigenen Augen sah, aber an dieses er<strong>in</strong>nere ich mich e<strong>in</strong>deutig<br />

am besten, gerade auch wegen dieser beiden <strong>Lehrer</strong> sogar <strong>in</strong><br />

vielen E<strong>in</strong>zelheiten.<br />

Eigentlich heisst es „Pieps <strong>und</strong> Bartli“, weil diese beiden immer<br />

<strong>in</strong> dieser Reihenfolge genannt wurden, wenn es um den<br />

Fussball g<strong>in</strong>g. Sie waren zudem die beiden e<strong>in</strong>zigen <strong>Lehrer</strong>,<br />

nach denen e<strong>in</strong>e Mannschaft benannt wurde, <strong>und</strong> auch das<br />

hiess etwas Besonderes. Ich hatte diese Zeit noch nicht selbst<br />

miterlebt, aber diese beiden Mannschaften, die natürlich jedes<br />

Jahr e<strong>in</strong>e andere Besetzung aufwiesen, hatten schon seit<br />

Jahren den Ruf, dass sie zu den Besten gehörten. Das trug<br />

ebenfalls dazu bei, dass sie bei der Auslosung der<br />

Vorr<strong>und</strong>engruppen zu den vier gehörten, die ähnlich wie bei<br />

den Fussball-Weltmeisterschaften als sogenannte<br />

Gruppenköpfe gesetzt wurden, damit sie nicht schon vorzeitig<br />

aufe<strong>in</strong>andertrafen.<br />

Gerade diese Auslosung gehörte zum Seltsamsten, was ich im<br />

Sport jemals erlebt habe. Da unsere Schule nur e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en,<br />

also nicht genormten Fussballplatz zur Verfügung hatte, so<br />

dass nicht elf, sondern nur sechs oder sieben Schüler e<strong>in</strong>e<br />

Mannschaft stellten, <strong>und</strong> da am Mittwochvormittag immer noch<br />

unterrichtet werden musste - e<strong>in</strong> Ausfall kam nicht <strong>in</strong> Frage, weil<br />

165


der gerade amtierende Rektor für Sport nicht allzu viel übrig<br />

hatte -, fehlte die Zeit, die nötig gewesen wäre, damit von den<br />

vier Gruppen jede Mannschaft gegen jede andere antreten<br />

konnte, dass also jede m<strong>in</strong>destens drei Spiele hatte. Dazu kam<br />

noch, dass nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung m<strong>in</strong>destens zwei Gruppen<br />

sogar fünf Mannschaften stellten, <strong>und</strong> trotzdem konnte jede <strong>in</strong><br />

der Vorr<strong>und</strong>e nur zweimal spielen. Daran änderte auch nichts,<br />

dass die Spiele nur zwanzig M<strong>in</strong>uten dauerten, wobei auch hier<br />

genauso wie beim Turnier <strong>in</strong> W<strong>in</strong>terthur e<strong>in</strong> Jahr zuvor die<br />

Seiten nicht gewechselt wurden. Erst ab den Viertelf<strong>in</strong>als wurde<br />

e<strong>in</strong>e halbe St<strong>und</strong>e gespielt <strong>und</strong> zudem wurden nach e<strong>in</strong>er<br />

Viertelst<strong>und</strong>e die Seiten gewechselt. Das weiss ich noch<br />

deshalb so gut, weil ich an das F<strong>in</strong>alspiel dieses Jahres noch<br />

die beste Er<strong>in</strong>nerung habe; so erlebte ich nicht weniger als fünf<br />

Tore buchstäblich hautnah mit, <strong>und</strong> zwar auf beiden Seiten.<br />

Dieser seltsame Spielkalender bewirkte, dass neben den vier<br />

sogenannten Gruppenköpfen aufs Geratewohl bestimmt wurde,<br />

wer gegen wen spielten sollte. Es war also e<strong>in</strong> ähnlicher<br />

Setzmodus wie bei der WM von 1954, als jede Gruppe zwei<br />

sogenannte Gruppenköpfe hatte. Das führte dazu, dass <strong>in</strong> der<br />

Gruppe, <strong>in</strong> der die Deutschen dabei waren, Ungarn <strong>und</strong> die<br />

Türkei gesetzt wurden. Bei den Ungarn leuchtete das noch e<strong>in</strong>,<br />

weil sie als WM-Zweite von 1938 noch e<strong>in</strong>en Bonus hatten <strong>und</strong><br />

zudem seit drei Jahren ungeschlagen waren; so hatten sie es<br />

e<strong>in</strong> Jahr zuvor geschafft, als Erste die Engländer zu Hause zu<br />

schlagen, was noch heute nicht vergessen ist. Dagegen war es<br />

unverständlich, dass auch die Türken als Gruppenköpfe gesetzt<br />

wurden, weil sie WM-Neul<strong>in</strong>ge waren <strong>und</strong> die Deutschen als<br />

WM-Dritte von 1934 eigentlich auch noch e<strong>in</strong>en Bonus gehabt<br />

hätten.<br />

Dieser seltsame Setzmodus brachte es mit sich, dass e<strong>in</strong>erseits<br />

die beiden Gruppenköpfe nicht gegene<strong>in</strong>ander spielen mussten<br />

<strong>und</strong> andererseits die beiden als schwächer E<strong>in</strong>gestuften nicht<br />

gegene<strong>in</strong>ander spielen durften. Deshalb durften die Deutschen<br />

166


nicht gegen die besonders schwachen Südkoreaner spielen,<br />

die gegen die Ungarn standesgemäss gleich mit 0:9 e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>gen,<br />

sondern mussten gegen die eigentlich schwächeren Türken<br />

antreten. Sie gewannen zwar erwartungsgemäss, aber da diese<br />

gegen die Südkoreaner auch hoch gewonnen hatten <strong>und</strong> die<br />

Tordifferenz zum Glück noch nicht zählte - wenigstens<br />

herrschte noch <strong>in</strong> dieser Beziehung e<strong>in</strong> wenig Gerechtigkeit -,<br />

musste e<strong>in</strong> zweites Spiel um den E<strong>in</strong>zug <strong>in</strong> die Viertelf<strong>in</strong>als<br />

entscheiden, <strong>und</strong> dann siegten die Deutschen noch e<strong>in</strong>mal. Es<br />

brauchte also zwei Siege gegen den gleichen Gegner, was aus<br />

heutiger Sicht ziemlich absurd sche<strong>in</strong>t.<br />

Genau gleich erg<strong>in</strong>g es damals <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Gruppe den<br />

Schweizern. Hier wurden Italien <strong>und</strong> England als Gruppenköpfe<br />

gesetzt, obwohl die Schweiz das Gastgeberland war <strong>und</strong> damit<br />

eigentlich hätte gesetzt werden müssen, wie das bis heute bei<br />

jeder anderen WM geschehen ist, sogar 2010 <strong>in</strong> Südafrika <strong>und</strong><br />

2022 <strong>in</strong> Katar, die als e<strong>in</strong>zige Gastgeberländer schon nach der<br />

Vorr<strong>und</strong>e ausschieden; wenigstens hatten die Südafrikaner im<br />

Gegensatz zu den anderen, die alle ihre drei Spiele verloren,<br />

noch vier Punkte erkämpft. Während das Setzen der Italiener<br />

als Gruppenköpfe als damals zweimalige Weltmeister noch<br />

nachvollzogen werden konnte, profitierten die Engländer von<br />

e<strong>in</strong>em Beziehungs-Modus, aber nicht von e<strong>in</strong>er WM-Leistung.<br />

Immerh<strong>in</strong> waren sie bei ihrer ersten WM-Teilnahme vier Jahre<br />

zuvor nach e<strong>in</strong>er schmachvollen Niederlage gegen die USA<br />

bald ausgeschieden, während die Schweizer es geschafft<br />

hatten, gegen die e<strong>in</strong>heimischen Brasilianer e<strong>in</strong> Unentschieden<br />

zu erreichen. Ohne die Fehlentscheidung des Schiedsrichters,<br />

der e<strong>in</strong> Tor für Brasilien anerkannte, obwohl der Ball kurz zuvor<br />

deutlich im Aus gewesen war, wie das auch e<strong>in</strong> Film zeigt,<br />

hätten sie sogar die grösste WM-Sensation aller Zeiten<br />

geschafft, sogar e<strong>in</strong>e noch grössere, als es 1966 der Sieg der<br />

Nordkoreaner gegen Italien <strong>und</strong> 2022 der Sieg der Marokkaner<br />

gegen Portugal 2022 waren.<br />

167


Wenigstens bezwangen die Engländer bei dieser WM von 1954<br />

die Schweizer, aber sie schafften es nicht, auch die Belgier zu<br />

schlagen, die als die Schwächsten der Gruppe galten, sondern<br />

spielten nur Unentschieden, doch sie gewannen die Gruppe<br />

trotzdem. Dagegen durften die Italiener gegen die Belgier<br />

ebenfalls antreten <strong>und</strong> gew<strong>in</strong>nen, worauf es zum ersten Spiel<br />

gegen die Schweizer kam. Zur Überraschung der Fachwelt<br />

gewannen jedoch die E<strong>in</strong>heimischen mit 2:1, was ihnen aber<br />

nichts nützte, weil die Italiener nach dem Sieg gegen Belgien<br />

ebenfalls zwei Punkte aufwiesen. So kam es auch <strong>in</strong> dieser<br />

Gruppe zu e<strong>in</strong>em Entscheidungsspiel zwischen zwei<br />

Mannschaften, die schon e<strong>in</strong>mal gegene<strong>in</strong>ander gespielt<br />

hatten, <strong>und</strong> diesmal gewannen die Schweizer sogar mit 4:1. Ich<br />

erwähne das deshalb, weil dieser Sieg noch heute als e<strong>in</strong>er der<br />

grössten gilt <strong>und</strong> den Weg <strong>in</strong> die Viertelf<strong>in</strong>als öffnete, wo sie<br />

allerd<strong>in</strong>gs gegen die damals sehr starken Österreicher im bis<br />

heute trefferreichsten WM-Spiel mit 5:7 verloren. Wie wir alle<br />

wissen, endete diese WM für die Deutschen mit dem ersten von<br />

bisher vier Titeln erfolgreich.<br />

Neben Pieps <strong>und</strong> Bartli wurden auch die Mannschaften Konvikt<br />

I, die ebenfalls schon seit Jahren zu den Besten gehörte, <strong>und</strong><br />

Flury-Heiho als Gruppenköpfe gesetzt. An den Namen der<br />

letzteren er<strong>in</strong>nere ich mich noch deshalb so gut, weil diese<br />

e<strong>in</strong>en Berner hatte, mit dem ich mich gut verstand <strong>und</strong> der nach<br />

e<strong>in</strong>er F<strong>in</strong>nland-Reise extra noch e<strong>in</strong>en Kontakt zu mir suchte,<br />

um mit mir darüber zu plaudern, weil es sich <strong>in</strong> der ganzen<br />

Schule herumgesprochen hatte, dass ich e<strong>in</strong> halber F<strong>in</strong>ne war.<br />

Konvikt I wurde als vierte gesetzte Mannschaft deshalb so<br />

genannt, weil das Konvikt noch zwei andere Mannschaften<br />

stellte, die folgerichtig Konvikt II <strong>und</strong> Konvikt III hiessen.<br />

Während die dritte Mannschaft, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>er aus me<strong>in</strong>er Klasse<br />

spielte, wie ich noch heute weiss, e<strong>in</strong>e ähnliche Rolle spielte<br />

wie bei der WM von 1954 die Südkoreaner <strong>und</strong> Belgier, also<br />

nichts zu bestellen hatte, gibt es von der zweiten e<strong>in</strong>e<br />

168


esondere Geschichte zu erzählen. Da wir den ganzen<br />

Nachmittag lang um den Platz herumsassen oder standen,<br />

sahen wir natürlich viele Spiele, <strong>und</strong> gerade mit Konvikt II<br />

geschah etwas, das ich weder vorher gesehen hatte noch<br />

nachher jemals wieder zu sehen bekam, <strong>und</strong> zwar bis heute.<br />

Diese Mannschaft hätte e<strong>in</strong>e gute Chance gehabt, sich für die<br />

Viertelf<strong>in</strong>als zu qualifizieren, wenn ihr etwa <strong>in</strong> der Hälfte des<br />

Spiels nicht e<strong>in</strong> unglaubliches Missgeschick unterlaufen wäre:<br />

E<strong>in</strong>e Flanke, die von der gegnerischen Mannschaft kam, nahm<br />

e<strong>in</strong>er von ihnen derart daneben ab, dass der Ball nach h<strong>in</strong>ten<br />

abprallte, <strong>und</strong> e<strong>in</strong> zweiter Verteidiger, der dort stand, wollte ihn<br />

ebenfalls nach vorn dreschen, doch der Ball prallte nochmals <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e andere Richtung, <strong>und</strong> zwar zum Tormann. Schon wollte<br />

dieser den Ball packen, aber kurz zuvor sprang dieser noch<br />

e<strong>in</strong>mal auf den Boden <strong>und</strong> nachher direkt <strong>in</strong>s Tor. Nachher<br />

rauften sich alle viele Sek<strong>und</strong>en lang die Haare, <strong>und</strong> sie<br />

konnten sich noch so anstrengen <strong>und</strong> die Lungen aus den<br />

Leibern rennen, der Ausgleich gelang ihnen nicht mehr. So<br />

schied Konvikt II, wo auch der oben erwähnte «Rosso»<br />

mitspielte - auch wegen dieses komischen Tores habe ich ihn <strong>in</strong><br />

besonderer Er<strong>in</strong>nerung behalten -, auf läppische Weise aus,<br />

aber der Tormann, der ansonsten immer gut gehalten hatte,<br />

konnte sich damit trösten, dass er nachher zur Mannschaft<br />

Konvikt I wechseln <strong>und</strong> dort den Kollegen ersetzen durfte.<br />

Solche Wechsel <strong>in</strong>nerhalb des gleichen Hauses waren erlaubt,<br />

deshalb reklamierte auch niemand. Ich habe nie erfahren,<br />

warum dieser Wechsel stattfand, aber ich nehme an, dass der<br />

andere am Himmelfahrtstag entweder verletzt ausfiel oder<br />

sogar nach Hause gefahren war, so wie auch andere das taten.<br />

Während die beiden anderen Konvikt-Mannschaften, die von<br />

vornhere<strong>in</strong> als schwächer galten, also schon nach den<br />

Vorr<strong>und</strong>enspielen ausschieden, entwickelte sich Konvikt I zu<br />

e<strong>in</strong>em der Hauptfavoriten, so dass es klar wurde, warum diese<br />

Mannschaft als e<strong>in</strong> Gruppenkopf gesetzt worden war. Ich<br />

er<strong>in</strong>nere mich nicht mehr genau, gegen wen unser Team, das<br />

169


unter der Bezeichnung „Schopfacker“ auflief - also nach dem<br />

Namen der Strasse, an der unsere Pension lag -, zuerst spielte,<br />

aber ich glaube mich zu er<strong>in</strong>nern, dass es Flury-Heiho war, weil<br />

ich nie mit Konvikt I, Pieps <strong>und</strong> Bartli zu tun hatte, wie ich noch<br />

heute weiss. Wir verloren zwar knapp - wie knapp, weiss ich<br />

nicht mehr -, aber es war halt doch e<strong>in</strong>e Niederlage, die uns e<strong>in</strong><br />

paar St<strong>und</strong>en später zum Verhängnis wurde. Da wir im<br />

Gegensatz zur dritten Gruppenmannschaft nicht gegen die<br />

e<strong>in</strong>deutig Schwächsten antreten durften, die sie<br />

dementsprechend leicht besiegten, stand es vor dem Spiel<br />

gegen diese fest, dass wir gegen sie mit m<strong>in</strong>destens drei Toren<br />

Unterschied gew<strong>in</strong>nen mussten, um uns für die Viertelf<strong>in</strong>als zu<br />

qualifizieren.<br />

Ich weiss noch gut, dass dieses Spiel gegen den Abend kurz<br />

vor dem E<strong>in</strong>dunkeln stattfand, als viele schon nicht mehr<br />

zuschauten. Obwohl wir pausenlos anrannten - das heisst die<br />

anderen, weil ich auch hier als h<strong>in</strong>terster Verteidiger spielte -,<br />

gelangen uns nur zwei Tore. Wir schieden also nur wegen<br />

dieses unfairen <strong>und</strong> unkorrekten Spielplans aus, aber noch<br />

bevor alle ause<strong>in</strong>anderg<strong>in</strong>gen, stellte es sich heraus, dass die<br />

andere Mannschaft e<strong>in</strong>en nicht berechtigten Spieler e<strong>in</strong>gesetzt<br />

hatte. Nach allgeme<strong>in</strong>em weltweitem Brauch hätte uns also e<strong>in</strong><br />

3:0-Forfaitsieg zugesprochen werden müssen, aber wir wurden<br />

gleich noch e<strong>in</strong>mal here<strong>in</strong>gelegt, weil bestimmt wurde, dass<br />

dieses Spiel am nächsten Vormittag wiederholt werden musste.<br />

Das war auch deshalb möglich, weil die Viertelf<strong>in</strong>als erst nach<br />

dem Mittagessen ausgetragen wurden, bevor dann noch die<br />

beiden Halbf<strong>in</strong>als sowie das Spiel um den dritten <strong>und</strong> vierten<br />

Platz <strong>und</strong> der F<strong>in</strong>al stattf<strong>in</strong>den sollten.<br />

Noch bevor dieses Spiel begann, stand es fest, dass wir es<br />

kaum gew<strong>in</strong>nen konnten, weil unsere Mannschaft e<strong>in</strong>en Spieler<br />

weniger stellte. Ich er<strong>in</strong>nere mich nicht mehr daran, wer fehlte,<br />

weil er vielleicht nach Hause gefahren war. Es nützte uns auch<br />

nichts, dass e<strong>in</strong>er, der <strong>in</strong> der gleichen Pension wohnte wie ich,<br />

170


neben dem Platz stand <strong>und</strong> für e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>satz bereit war; er<br />

durfte nicht mitspielen, weil er aus irgende<strong>in</strong>em Gr<strong>und</strong> nicht<br />

angemeldet worden war. So mussten wir dieses Spiel<br />

chancenlos abspulen, aber es gelang mir wenigstens der<br />

e<strong>in</strong>zige Kopfball me<strong>in</strong>es Lebens auf e<strong>in</strong> Tor. Das war auch<br />

deshalb erstaunlich, weil ich eigentlich nie mit dem Kopf spielte,<br />

sondern lieber alles mit dem Fuss besorgen wollte. Der Ball<br />

wurde jedoch vom Tormann leicht abgefangen - vom<br />

Zwill<strong>in</strong>gsbruder e<strong>in</strong>es anderen, der ebenfalls <strong>in</strong> dieser<br />

Mannschaft spielte. Eigentlich kam ich mit diesen beiden immer<br />

sehr gut aus, aber bei diesen Turnieren, bei denen es fast um<br />

Leben <strong>und</strong> Tod g<strong>in</strong>g, zählten solche guten Kontakte nichts<br />

mehr. Mit e<strong>in</strong>em Mann weniger konnten wir natürlich nicht<br />

pausenlos anrennen wie am Vorabend, aber wir kassierten<br />

wenigstens auch ke<strong>in</strong> Tor. Das nützte uns aber auch nichts -<br />

nach e<strong>in</strong>em fast erwarteten torlosen Unentschieden schieden<br />

wir def<strong>in</strong>itiv aus, während die anderen, die zuvor die e<strong>in</strong>deutig<br />

schwächste Mannschaft unserer Gruppe leicht hatten besiegen<br />

dürfen <strong>und</strong> gegen uns e<strong>in</strong>en nicht spielberechtigten Burschen<br />

e<strong>in</strong>gesetzt hatten, lächelnd weiterkamen.<br />

Das ist der e<strong>in</strong>e Teil, der unsere Mannschaft „Schopfacker“<br />

betrifft, <strong>und</strong> jetzt kommt der andere, der nach dem Mittagessen<br />

ablief. Wie erwartet hatten sich alle vier gesetzten<br />

Gruppenköpfe als Gruppensieger ziemlich leicht für die<br />

Viertelf<strong>in</strong>als qualifiziert <strong>und</strong> diese gewannen sie ebenfalls<br />

erstaunlich leicht, was aber ebenfalls erwartet werden konnte.<br />

Von den vier Mannschaften, die <strong>in</strong> den Viertelf<strong>in</strong>als<br />

ausschieden, er<strong>in</strong>nere ich mich nur an den Namen der e<strong>in</strong>en,<br />

die sich Ruwi oder El-Ruwi nannte. Ich kannte zwar die meisten<br />

Schüler, die bei diesem Turnier mitspielten, aber genau von<br />

dieser Mannschaft fast ke<strong>in</strong>en; immerh<strong>in</strong> weiss ich noch, dass<br />

der oben erwähnte «Seppli» bei ihnen mitspielte.<br />

Erst <strong>in</strong> den Halbf<strong>in</strong>als g<strong>in</strong>g es also richtig ans E<strong>in</strong>gemachte,<br />

jetzt mussten die vier Gruppenköpfe den Turniersieg unter sich<br />

171


ausmachen. Noch während diese beiden Spiele liefen, zeigten<br />

sich Pieps <strong>und</strong> Bartli persönlich zusammen an der Seitenl<strong>in</strong>ie<br />

<strong>und</strong> amüsierten sich darüber, wie die beiden Fan-Lager, von<br />

denen die Pieps-Anhänger wesentlich mehr Leute aufbieten<br />

konnten - darunter auch den oben erwähnten «Beno», wie ich<br />

noch heute weiss -, sich gegenseitig mit Schlachtrufen<br />

überboten. Da ich zu den Bartli-Burschen die viel besseren<br />

Kontakte <strong>und</strong> zudem zu Bartlis Haus wie oben erwähnt immer<br />

e<strong>in</strong>en freien Zugang hatte, nahm ich Partei für diese<br />

Mannschaft. Dementsprechend ärgerte ich mich darüber, dass<br />

e<strong>in</strong> Teil der Pieps-Anhänger laut gröhlend um den Platz zog,<br />

um ihre Mannschaft anzufeuern.<br />

Aus irgende<strong>in</strong>em Gr<strong>und</strong>, den ich nie genau erfahren habe,<br />

genossen die Burschen des Konvikts, die auch deshalb<br />

halbwegs verächtlich „Konvugen“ genannt wurden, nie e<strong>in</strong>en<br />

guten Ruf - wohl auch deshalb, weil sie ziemlich strenge<br />

Hausregeln hatten <strong>und</strong> so fast immer nur unter sich blieben -,<br />

<strong>und</strong> zudem hiess es, sie spielten viel zu hart. Das war im<br />

Halbf<strong>in</strong>al deutlich zu spüren <strong>und</strong> zu hören, als sie ausgerechnet<br />

gegen Pieps spielen mussten. Es entwickelte sich das erste<br />

wirklich ruppige Spiel des Turniers <strong>und</strong> zu me<strong>in</strong>em Bedauern<br />

gewannen die letzteren, für die ich wegen ihrer aggressiven<br />

Anhängerschaft ke<strong>in</strong>e Sympathien hegte. Ich weiss nicht mehr,<br />

ob das Spiel 1:0 oder 2:1 für Pieps endete, aber ich er<strong>in</strong>nere<br />

mich noch daran, dass es knapp war. Dagegen hatte es Bartli<br />

gegen Flury-Heiho viel leichter, da er<strong>in</strong>nere ich mich sogar noch<br />

an das genaue Ergebnis: Das Spiel endete 3:0 - <strong>und</strong> wer das<br />

dritte Tor schoss, war «Wüdi», was ich auch noch weiss.<br />

Nach dem Spiel um den dritten <strong>und</strong> vierten Platz, das Konvikt I<br />

gewann - aber auch hier ist mir das Ergebnis entfallen -, fand<br />

also der F<strong>in</strong>al zwischen Pieps <strong>und</strong> Bartli statt, die schon vor<br />

diesem Turnier als die beiden Hauptfavoriten gegolten hatten.<br />

Dementsprechend war der Spielplan auch so gestaltet worden,<br />

dass sie bei e<strong>in</strong>em normalen Verlauf ohne Überraschungen erst<br />

172


im F<strong>in</strong>al aufe<strong>in</strong>andertreffen sollten. Welche welthistorischen<br />

Dimensionen dieses Spiel hatte, zeigte sich auch dar<strong>in</strong>, dass es<br />

r<strong>und</strong> um das Spielfeld gerammelt voll war <strong>und</strong> sogar mehrere<br />

<strong>Lehrer</strong> sich zeigten, die sich sonst nicht viel aus Sport machten.<br />

Wie auf e<strong>in</strong> Kommando versammelten sich von denen, die <strong>in</strong><br />

<strong>Trogen</strong> geblieben waren, fast alle aus der Schule, <strong>und</strong> zu dieser<br />

Volksfeststimmung trug natürlich auch bei, dass schönes<br />

Wetter herrschte.<br />

Schon nach wenigen M<strong>in</strong>uten g<strong>in</strong>g Pieps <strong>in</strong> Führung, aber Bartli<br />

glich bald wieder aus. Danach wog das Spiel h<strong>in</strong> <strong>und</strong> her, wobei<br />

ke<strong>in</strong>e Mannschaft sich e<strong>in</strong>e wirklich gute Chance erarbeitete.<br />

Erst kurz vor dem Ende der ersten Hälfte wurde es durch<br />

bessere Chancen spannender <strong>und</strong> als der eigentliche<br />

Spielführer von Bartli, der e<strong>in</strong>er unserer besten Sportler war <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte später für kurze Zeit der sogenannte<br />

Direktor von Swiss-Ski wurde, mit dem Kopf das 2:1 erzielte,<br />

war der Jubel bei den Bartli-Anhängern riesig; so stand auch ich<br />

voller Freude auf <strong>und</strong> johlte mit. Dann wurden die Seiten<br />

gewechselt - <strong>und</strong> Bartli brach völlig e<strong>in</strong>, wurde dom<strong>in</strong>iert <strong>und</strong><br />

kassierte <strong>in</strong>nert kürzester Zeit noch zwei Tore. Dass Pieps<br />

deutlich mehr Anhänger hatte als Bartli, zeigte sich gerade jetzt<br />

am deutlichsten. Da es r<strong>und</strong> um das Spielfeld gerammelt voll<br />

war, konnten sie zwar nicht gröhlend herumziehen wie bei den<br />

vorherigen Spielen, aber ihre Stimmen wirkten jetzt umso<br />

stärker, wobei sich die meisten h<strong>in</strong>ter dem Tor von Bartli<br />

versammelt hatten.<br />

Ich regte mich über diese Niederlage, die eigentlich gar nicht<br />

e<strong>in</strong>e von mir war, fürchterlich auf <strong>und</strong> ärgerte mich noch mehr,<br />

als ich später hörte, dass die Pieps-Anhänger, die sich direkt<br />

h<strong>in</strong>ter dem Bartli-Tor versammelt hatten, den Tormann so lange<br />

mit Schmährufen verhöhnten, bis er sich von ihnen<br />

bee<strong>in</strong>flussen liess. Der Ärger über diese Niederlage wurde<br />

jedoch <strong>in</strong>sofern etwas gedämpft, als es schon durchgesickert<br />

war, dass dieser Tormann eigentlich gar nicht spielberechtigt<br />

173


gewesen wäre, weil er diese Schule nicht mehr besuchte, <strong>und</strong><br />

nach verschiedenen Statuten durften nur noch aktive Schüler<br />

teilnehmen; jedenfalls habe ich es nie anders gehört. Der<br />

Tormann war e<strong>in</strong> Sohn Bartlis, der von allen „Pum“ genannt<br />

wurde, aber nicht mehr <strong>in</strong> diese Schule g<strong>in</strong>g. Das wusste ich<br />

auch deshalb, weil ich tatsächlich alle Burschen <strong>und</strong> Mädchen<br />

von der ersten bis zur siebten Klasse zum<strong>in</strong>dest vom Sehen her<br />

kannte. Es hat mir <strong>in</strong> späteren Zeiten immer wieder geholfen,<br />

dass ich zwar nicht für Namen, aber für Gesichter e<strong>in</strong> sehr<br />

gutes Gedächtnis hatte. Wie sehr die e<strong>in</strong>en gleicher waren als<br />

die anderen, wie es se<strong>in</strong>erzeit George Orwell <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em noch<br />

heute weltbekannten Kurzroman «Animal Farm» (im deutschen<br />

Sprachraum als «Die Farm der Tiere» bekannt) so treffend<br />

ausgedrückt hat, zeigte sich sogar hier im abgelegenen<br />

<strong>Trogen</strong>er Paradies: Während uns aus dem gleichen Gr<strong>und</strong> ke<strong>in</strong><br />

Forfait-Sieg von 3:0 zugesprochen wurde, der uns <strong>in</strong> die<br />

Viertelf<strong>in</strong>als gebracht hätte, durfte die Mannschaft Bartli vom<br />

Anfang bis zum Schluss e<strong>in</strong>en nicht spielberechtigten Mann<br />

e<strong>in</strong>setzen, aber me<strong>in</strong> Ärger wäre sicher noch viel grösser<br />

gewesen, wenn das die Mannschaft Pieps getan hätte.<br />

Natürlich hätte jemand noch reklamieren können, aber niemand<br />

tat das, weil schliesslich auch «Pum» als Sohn e<strong>in</strong>es der<br />

meistangesehenen <strong>Lehrer</strong> jemand war, <strong>und</strong> zudem war die<br />

Schule trotz allem immer noch viel wichtiger als der Sport. Das<br />

wurde sogar von mir so gesehen, obwohl ich zu diesem<br />

Zeitpunkt mit dem Nachführen der oben erwähnten<br />

Leichtathletik-Rekordlisten immer noch nicht ganz aufgehört<br />

hatte.<br />

Nicht e<strong>in</strong>mal zwei St<strong>und</strong>en nach dem F<strong>in</strong>al konnte der ganze<br />

Ärger vergessen werden, weil <strong>in</strong> der Turnhalle nebenan, die<br />

genauso wie der Sportplatz die e<strong>in</strong>zige der Schule war, e<strong>in</strong><br />

Tanzfest gegeben wurde. Da spielte e<strong>in</strong>e schuleigene <strong>und</strong><br />

improvisiert zusammengestellte Band, zu der auch der im<br />

Vorwort erwähnte Schweizer Ami gehörte, der nur wenige<br />

Wochen später von den Sommerferien <strong>in</strong> den USA nicht mehr<br />

174


zurückkehrte, mehrere damals aktuelle Hits, <strong>und</strong> dabei tanzten<br />

viele Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler wie wild. Leider war ich damals<br />

noch viel zu unsicher <strong>und</strong> zu scheu, um e<strong>in</strong> Mädchen zu fragen,<br />

ob es mit mir aufs Tanzparkett gehen wolle. Ich wusste noch<br />

nicht, wie viel Talent <strong>in</strong> mir steckte, <strong>und</strong> musste mich immer<br />

noch stark entwickeln. Der viel zitierte Groschen fiel bei mir erst<br />

im nächsten Jahr, <strong>und</strong> dann sogar derart, dass e<strong>in</strong> Mädchen,<br />

das ich auf das Tanzparkett geführt hatte <strong>und</strong> das später e<strong>in</strong>e<br />

Ärzt<strong>in</strong> wurde, mir e<strong>in</strong>mal fast zornig sagte: «Du musst gar nicht<br />

so verrückt tun.» So hatten sich die Zeiten auch bei mir<br />

geändert. Da wir alle am nächsten Tag wieder <strong>in</strong> die Schule<br />

e<strong>in</strong>rücken mussten, war der Sport oder genauer dieses<br />

Fussball-Turnier spätestens ab diesem Zeitpunkt m<strong>in</strong>destens <strong>in</strong><br />

diesem Jahr für uns sowieso ke<strong>in</strong> Thema mehr.<br />

E<strong>in</strong> Jahr später fand das zweite schuleigene Fussballturnier<br />

statt, bei dem ich dabei war. Seltsamerweise habe ich an<br />

dieses e<strong>in</strong>e weniger gute Er<strong>in</strong>nerung, obwohl es für unsere<br />

Mannschaft, die wieder „Schopfacker“ hiess, viel besser lief als<br />

im Vorjahr; der seltsame Setzmodus war jedoch der gleiche<br />

geblieben. Nachdem wir gegen den sogenannten Gruppenkopf<br />

verloren hatten - aber ich weiss auch hier nicht mehr, wie hoch<br />

<strong>und</strong> gegen wen es war -, hatten wir es im zweiten Spiel mit<br />

e<strong>in</strong>em bedeutend schwächeren Gegner als im Vorjahr zu tun.<br />

Gerade <strong>in</strong> diesem Spiel lief unser eigentlicher Starspieler zur<br />

Hochform auf <strong>und</strong> traf mehrere Male, aber ich weiss nicht mehr,<br />

wie viele Tore er schoss - immerh<strong>in</strong> so viele, dass er<br />

zusammen mit jenem, der im F<strong>in</strong>al des Vorjahres zum 2:1 <strong>und</strong><br />

damit zum verme<strong>in</strong>tlichen Siegestreffer e<strong>in</strong>geköpft hatte,<br />

Torschützenkönig wurde. Dieser Sieg nützte uns jedoch wegen<br />

der Niederlage im ersten Spiel nichts, noch e<strong>in</strong>mal blieben wir<br />

wegen der Tordifferenz als Gruppendritte hängen.<br />

Auch <strong>in</strong> diesem Jahr waren Pieps <strong>und</strong> Bartli stark besetzt, aber<br />

nicht mehr so stark wie im Vorjahr. Das kam im Halbf<strong>in</strong>al der<br />

Mannschaft des Konvikts I zugute, die Pieps mit 2:1 besiegen<br />

175


<strong>und</strong> sich damit für die Niederlage im Vorjahr revanchieren<br />

konnte, aber immerh<strong>in</strong> war Pieps noch e<strong>in</strong>mal so weit<br />

vorgestossen. Weniger gut lief es für Bartli, das im Viertelf<strong>in</strong>al<br />

gegen die Mannschaft von Ruwi oder El-Ruwi antreten musste,<br />

die ich weiter oben erwähnt habe. Im Gegensatz zum Vorjahr<br />

war diese Mannschaft diesmal deutlich stärker besetzt, so auch<br />

mit zwei, die ich persönlich etwas besser kannte, <strong>und</strong> zwar<br />

neben «Seppli» auch noch «T<strong>in</strong>o». So konnte damit gerechnet<br />

werden, dass sie diesmal die Viertelf<strong>in</strong>als überstehen würde.<br />

Ich habe dieses Spiel aus mehreren Gründen noch <strong>in</strong><br />

besonders guter Er<strong>in</strong>nerung: Erstens standen mir die Bartli-<br />

Leute, die ausser dem Tormann immer noch fast die gleiche<br />

Mannschaft wie im Vorjahr stellten, immer noch am nächsten;<br />

zweitens durfte ich <strong>in</strong> diesem Spiel zum ersten <strong>und</strong> auch letzten<br />

Mal <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben e<strong>in</strong>en L<strong>in</strong>ienrichter spielen; drittens<br />

stürmte es die ganze Zeit, so dass jederzeit mit e<strong>in</strong>em<br />

Spielabbruch gerechnet werden musste, <strong>und</strong> viertens liefen<br />

direkt neben mir zwei Mädchen, die mit zwei Burschen von<br />

Ruwi befre<strong>und</strong>et <strong>und</strong> erst noch Maturand<strong>in</strong>nen waren, die<br />

ganze Zeit h<strong>in</strong> <strong>und</strong> her. Immer wieder schrien sie „Hansi!“ <strong>und</strong><br />

„Tomi!“ <strong>in</strong>s Feld <strong>und</strong> merkten dabei nicht, dass sie mich massiv<br />

beh<strong>in</strong>derten; dieser Tomi war der Gleiche, der den oben<br />

erwähnten Spitznamen T<strong>in</strong>o trug. Ich war zwar als L<strong>in</strong>ienrichter<br />

neutral, aber ich ärgerte mich trotzdem darüber, dass Bartli im<br />

ersten ruppigen Spiel dieses Turniers gegen Ruwi knapp verlor.<br />

Ich weiss nur noch, dass es e<strong>in</strong> 0:1 oder e<strong>in</strong> 1:2 war, aber mehr<br />

nicht.<br />

Der Ärger verflog aber bald, als nachher viele von uns sich<br />

noch im Café Oberson trafen <strong>und</strong> ausgerechnet «T<strong>in</strong>o», den ich<br />

etwas näher kannte, mir bewusst zuprostete. Wenige Monate<br />

später verliessen diese beiden Mädchen, von denen ich<br />

«T<strong>in</strong>os» Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> noch heute mit beiden Namen <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung<br />

habe, <strong>und</strong> der e<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong> die Schule, nachdem sie die<br />

Maturaprüfungen bestanden hatten, während «T<strong>in</strong>o», der die<br />

176


Handelsschule besuchte, noch zwei Jahre lang blieb. Als ich<br />

nur zwei Monate nach diesem Fussballturnier <strong>in</strong> den<br />

Sommerferien im Zentrum von <strong>Zürich</strong> e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>o besuchte, traf ich<br />

ihn schon wieder - <strong>und</strong> mit e<strong>in</strong>em anderen Mädchen an se<strong>in</strong>er<br />

Seite, das auf mich nicht den E<strong>in</strong>druck machte, dass sie nur<br />

se<strong>in</strong>e Schwester war. So schnell konnte es manchmal gehen,<br />

aber ich b<strong>in</strong> sicher, dass er den Rekord e<strong>in</strong>es anderen, der <strong>in</strong><br />

der gleichen Pension wie ich wohnte, nie brechen konnte, weil<br />

dieser im Schnitt jeden dritten Monat e<strong>in</strong>e neue Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> hatte.<br />

Das forderte aber auch e<strong>in</strong>en Preis: E<strong>in</strong> paar Jahre später, als<br />

ich zu ihm noch als E<strong>in</strong>zigem aus dieser Schule e<strong>in</strong>en Kontakt<br />

hatte, vertraute er mir an, dass er Mühe hatte, sich mit e<strong>in</strong>er<br />

Frau fest zu b<strong>in</strong>den. Er sagte es zwar nicht direkt <strong>und</strong> auch ich<br />

wagte es nicht, es ihm zu sagen, aber ich b<strong>in</strong> noch heute<br />

sicher, dass diese Schwierigkeiten an se<strong>in</strong>en auffallend vielen<br />

Beziehungen lagen - oder Beziehungskisten, wie das heute so<br />

modern heisst. Dementsprechend gibt es auch das von mir<br />

erf<strong>und</strong>ene Wort «Kistenstress», wenn es e<strong>in</strong>mal kriselt.<br />

Trotzdem hat er irgendwann geheiratet; dank des Internets<br />

wurde es später zum<strong>in</strong>dest bei ihm leicht, das herauszuf<strong>in</strong>den.<br />

Mehr als dreissig Jahre später kreuzte sich me<strong>in</strong> Weg noch<br />

e<strong>in</strong>mal mit dem von «T<strong>in</strong>o», als wir an e<strong>in</strong>em Kurs teilnahmen,<br />

der nur e<strong>in</strong>en Tag lang dauerte. Da ich mich an se<strong>in</strong>en Namen,<br />

den ich auf e<strong>in</strong>em aufgestellten Karton auf dem Tisch lesen<br />

konnte, zwar noch er<strong>in</strong>nerte, aber nach so vielen Jahren nicht<br />

mehr ganz sicher war, ob er es se<strong>in</strong> konnte, <strong>und</strong> da auch er<br />

mich offensichtlich nicht mehr erkannte, verzichtete ich darauf,<br />

ihn zu fragen, ob er der Gleiche se<strong>in</strong> könnte, der mit mir damals<br />

die <strong>Trogen</strong>er Schule besucht hatte. Wir waren damals noch<br />

nicht ganz ausgewachsen, aber ich er<strong>in</strong>nerte mich noch daran,<br />

dass er m<strong>in</strong>destens so robust <strong>und</strong> zudem etwas grösser als ich<br />

gewesen war, <strong>und</strong> jetzt war er im Vergleich zu mir schmächtig<br />

<strong>und</strong> zum<strong>in</strong>dest nicht grösser - gerade deshalb zweifelte ich<br />

daran, dass er der Gleiche war. Erst als ich bei me<strong>in</strong>en<br />

Recherchen zu diesem Buch entdeckte, dass e<strong>in</strong> Teil der<br />

177


Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler sich beim Internet-Portal<br />

«StayFriends» auf e<strong>in</strong>er Liste der Ehemaligen e<strong>in</strong>getragen <strong>und</strong><br />

zum Teil auch e<strong>in</strong>e moderne Aufnahme beigefügt hatte,<br />

erkannte ich, dass ich an jenem Tag halt doch Recht gehabt<br />

hatte. Es erstaunte mich zwar schon e<strong>in</strong> wenig, dass er sich an<br />

mich <strong>und</strong> an me<strong>in</strong> Gesicht nicht mehr er<strong>in</strong>nerte, weil ich mich im<br />

Gegensatz zu den meisten anderen nicht allzu stark verändert<br />

hatte. Wenn ich jedoch daran denke, dass auch ich viele alle<strong>in</strong><br />

aufgr<strong>und</strong> der Aufnahmen auf dieser Liste der Ehemaligen, also<br />

ohne Namensangaben, nicht mehr erkennen würde, kann ich<br />

ihn e<strong>in</strong> wenig verstehen, <strong>und</strong> zudem waren wir ja nicht <strong>in</strong> der<br />

gleichen Klasse gewesen.<br />

Wieder zurück zu diesem zweiten Fussball-Turnier, das ich <strong>in</strong><br />

<strong>Trogen</strong> erlebte: Im ersten Halbf<strong>in</strong>al schlug Konvikt I wie oben<br />

erwähnt Pieps mit 2:1 <strong>und</strong> revanchierte sich damit für die<br />

Niederlage im Vorjahr, <strong>und</strong> im zweiten Halbf<strong>in</strong>al traf Ruwi auf<br />

e<strong>in</strong>e Mannschaft, die den seltsamen Namen „Ausland 13“ trug,<br />

obwohl ke<strong>in</strong>er ihrer Spieler e<strong>in</strong> Ausländer war. Die Ziffer 13<br />

wurde wohl deshalb ausgewählt, weil Gerd Müller, der damals<br />

äusserst erfolgreiche deutsche „Bomber der Nation“, gerade<br />

diese Nummer trug, aber ich habe ke<strong>in</strong>en dieser Spieler jemals<br />

gefragt, ob es sich tatsächlich so verhielt. Da e<strong>in</strong> Spieler von<br />

«Ausland 13» <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Klasse g<strong>in</strong>g <strong>und</strong> ich mich mit ihm erst<br />

noch besonders gut verstand, lag es nahe, dass ich nach dem<br />

Ausscheiden von Bartli e<strong>in</strong> Anhänger dieser Mannschaft wurde,<br />

aber ich musste mich gleich nochmals ärgern, weil sie ihr<br />

Halbf<strong>in</strong>alspiel gegen Ruwi verlor - <strong>und</strong> auch jetzt er<strong>in</strong>nere ich<br />

mich nicht mehr an das Ergebnis, aber ich weiss noch, dass es<br />

wieder knapp war.<br />

Nachdem Pieps im Spiel um den dritten <strong>und</strong> vierten Platz die<br />

„Ausländer“ deutlich mit 3:0 besiegt hatte - dieses Ergebnis ist<br />

mir tatsächlich noch geblieben -, trafen im F<strong>in</strong>al Ruwi <strong>und</strong><br />

Konvikt I aufe<strong>in</strong>ander, <strong>und</strong> diesmal gab es sogar noch mehr<br />

Zündstoff als im vergangenen Jahr. Anstelle von Pieps waren<br />

178


jetzt die Ruwi-Leute die Liebl<strong>in</strong>ge der meisten Zuschauer, erst<br />

recht deshalb, weil es gegen die ungeliebten „Konvugen“ g<strong>in</strong>g.<br />

Dementsprechend hart g<strong>in</strong>g es zur Sache, es war das zweite<br />

ruppige Spiel dieses Turniers. Das Gegröhle der Ruwi-<br />

Anhänger war sogar noch lauter als das des Pieps-Anhangs im<br />

Vorjahr, aber diesmal hörte ich die beiden Maturand<strong>in</strong>nen nicht<br />

mehr „Hansi!“ <strong>und</strong> „Tomi!“ <strong>in</strong>s Feld brüllen wie während des<br />

Viertelf<strong>in</strong>alspiels gegen Bartli. Ich weiss aber noch gut, dass die<br />

Stimmung derart geladen war, dass sogar e<strong>in</strong>e Schlägerei<br />

sowohl auf dem Platz als auch ausserhalb befürchtet werden<br />

musste, weil auch Konvikt I natürlich se<strong>in</strong>e Anhänger hatte.<br />

Auch jetzt er<strong>in</strong>nere ich mich nicht mehr genau an das<br />

Schlussergebnis, aber immerh<strong>in</strong> noch e<strong>in</strong>mal daran, dass es<br />

wieder knapp ausg<strong>in</strong>g.<br />

Das war also das zweite schuleigene Fussball-Turnier, das ich<br />

<strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> selbst miterlebte, <strong>und</strong> es mutet seltsam an, dass mir<br />

von den beiden nachfolgenden überhaupt ke<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerungen<br />

geblieben s<strong>in</strong>d, jedenfalls nicht <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelheiten, soweit sie<br />

andere Mannschaften betrafen. Ich weiss nur noch, dass die<br />

„Konvugen“ nach vielen Jahren des Wartens endlich wieder<br />

Turniersieger wurden, <strong>und</strong> sogar beide Male h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander.<br />

Vom letzten Turnier weiss ich immerh<strong>in</strong> noch, dass wir es<br />

tatsächlich doch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> die Viertelf<strong>in</strong>als schafften, aber dort<br />

deutlich mit 0:4 unterg<strong>in</strong>gen, <strong>und</strong> zwar gegen «Ausland 13»,<br />

das jahrelang diesen Namen führte <strong>und</strong> nur wenige Wechsel zu<br />

verzeichnen hatte. Ich er<strong>in</strong>nere mich auch deshalb so gut<br />

daran, weil der andere von me<strong>in</strong>er Klasse <strong>und</strong> ich uns kurz vor<br />

dem Spielbeg<strong>in</strong>n noch fre<strong>und</strong>lich die rechte Hand gaben. Dabei<br />

muss ich zugeben, dass er diese Idee vor mir hatte, weil er die<br />

Flosse so deutlich ausstreckte, dass ich nicht darum<br />

herumkam, das Gleiche zu tun.<br />

Von diesem letzten Fussball-Turnier, das ich im Jahr 1972 noch<br />

selbst miterlebt habe, ist mir noch e<strong>in</strong>e besondere Begegnung<br />

<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung geblieben: Ausgerechnet hier zeigte sich «Ali»<br />

179


wieder e<strong>in</strong>mal, ganze zweie<strong>in</strong>halb Jahre nach dem Bestehen<br />

der Maturaprüfungen. Da ich noch wusste, dass er mir e<strong>in</strong>mal<br />

gesagt hatte, er wolle Mediz<strong>in</strong> studieren, sprach ich ihn darauf<br />

an, <strong>und</strong> er antwortete mir, dass er dieses Studium aufgegeben<br />

habe <strong>und</strong> jetzt Jura studiere - <strong>und</strong> dabei ist es geblieben.<br />

Später wurde er wie oben im Vorwort erwähnt vor allem e<strong>in</strong><br />

Anwalt für Gutbetuchte, also ähnlich wie «Noxli» <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em<br />

ersten Gymnasium.<br />

Soweit die ernsthafte Seite der Fussball-Turniere. Das schreibe<br />

ich auch deshalb, weil nicht immer alles so bitterernst<br />

genommen wurde. Es gab tatsächlich auch Jux-Mannschaften,<br />

die froh se<strong>in</strong> konnten, dass sie überhaupt noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Gruppe<br />

aufgenommen wurden. Ich er<strong>in</strong>nere mich noch gut an den<br />

Namen e<strong>in</strong>er Mannschaft, die sich „Tepidi“ nannte (Die<br />

Lauwarmen), <strong>und</strong> dass jeder von ihnen sich wie bei e<strong>in</strong>em<br />

Karnevalsfest anzog, ja, e<strong>in</strong>er schmierte sich sogar den ganzen<br />

Körper mit Lehm voll, <strong>und</strong> trotzdem wurde das akzeptiert. Die<br />

lustigste Szene ereignete sich dann, als gegen diese Witz-<br />

Mannschaft e<strong>in</strong> Strafstoss ausgesprochen wurde. Da bot sich<br />

e<strong>in</strong>er von ihnen an, das selbst zu besorgen, nur schoss er<br />

dummerweise am Tor vorbei. Darauf durfte e<strong>in</strong>er von der<br />

anderen Mannschaft den Strafstoss wiederholen - <strong>und</strong> diesmal<br />

sass der Schuss. Natürlich verstiess der erste Schuss gegen<br />

die allgeme<strong>in</strong> gültigen Regeln, aber die „Tepidi“ lagen schon zu<br />

diesem Zeitpunkt hoffnungslos zurück.<br />

E<strong>in</strong> anderes lustiges Ereignis spielte sich auch dann ab, als e<strong>in</strong><br />

Team auflief, das nur aus Mädchen bestand - auch deshalb<br />

schreibe ich hier „Team“. Sie hatten gegen die<br />

Bubenmannschaft, gegen die sie antraten, nicht nur deshalb<br />

ke<strong>in</strong>e Chance, weil sie nun e<strong>in</strong>mal Mädchen waren, sondern<br />

auch wegen ihres Körperbaus. Soweit ich mich noch er<strong>in</strong>nere,<br />

war ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges von ihnen wenigstens e<strong>in</strong> bisschen robust. Es<br />

war e<strong>in</strong> regelrechtes Schützenfest, das auch bei e<strong>in</strong>em Spiel<br />

von nur zwanzig M<strong>in</strong>uten mit e<strong>in</strong>em zweistelligen Ergebnis<br />

180


endete. Obwohl die Mädchen sich mit allen Kräften wehrten,<br />

tankten sich die Burschen immer wieder durch ihre Reihen. Der<br />

gefährlichste von ihnen aus Sicht der Mädchen war e<strong>in</strong> Hüne<br />

von fast 190 Zentimetern - der oben erwähnte „Balu“, was für<br />

ihn e<strong>in</strong> treffender Spitzname war. Immer wenn er am Ball war<br />

<strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>em Sturmlauf ansetzte, wichen die Mädchen<br />

verängstigt aus, so dass es für ihn noch viel leichter wurde, wie<br />

e<strong>in</strong> heisses Messer die Butter zu durchschneiden.<br />

Dieses Spiel hatte sogar e<strong>in</strong>en Reporter: Es war der oben<br />

erwähnte „Beno“, der direkt h<strong>in</strong>ter mir sass <strong>und</strong> jeden e<strong>in</strong>zelnen<br />

Spielzug kommentierte. Ich er<strong>in</strong>nere mich noch gut daran, dass<br />

er immer wieder sagte, er wolle später Forstwirtschaft<br />

studieren, aber ich weiss nicht mit Sicherheit, ob er dieses Ziel<br />

auch erreicht hat, weil im Internet zwar etwas über ihn <strong>in</strong> dieser<br />

Richtung zu f<strong>in</strong>den ist, aber so wie er heissen eben noch viele<br />

andere, <strong>und</strong> er zeigt sich nicht mit e<strong>in</strong>er Aufnahme. Sogar e<strong>in</strong>e<br />

solche könnte aber ke<strong>in</strong>e Garantie dafür se<strong>in</strong>, dass ich ihn mit<br />

Sicherheit wieder erkennen würde, was ich nicht nur bei T<strong>in</strong>o<br />

gesehen habe, sondern auch bei denen, die mit mir mehrere<br />

Jahre im oben erwähnten K<strong>in</strong>derheim verbracht hatten. Als es<br />

durch e<strong>in</strong>e glückliche Fügung e<strong>in</strong>mal zu e<strong>in</strong>em Treffen kam,<br />

erkannte ich von den zehn, die ich noch sah, nur e<strong>in</strong>e Frau mit<br />

Sicherheit wieder, weil ihre besonders charakteristischen<br />

Gesichtszüge die gleichen geblieben waren. Bei allen anderen,<br />

von denen ich nur erahnen konnte, wer sie waren, musste ich<br />

nachfragen, um Gewissheit zu bekommen; das war auch für<br />

mich selbst ziemlich komisch, aber es waren <strong>in</strong> der<br />

Zwischenzeit ja fast sechzig Jahre vergangen.<br />

Was diesen Balu betrifft, den ich <strong>in</strong> der Schule auch deshalb e<strong>in</strong><br />

wenig näher kennen lernte, weil wir zusammen <strong>in</strong> die<br />

Italienisch-St<strong>und</strong>en g<strong>in</strong>gen, sah ich ihn viele Jahre später durch<br />

e<strong>in</strong>en re<strong>in</strong>en Zufall <strong>in</strong> der Nähe der Zürcher Bahnhofstrasse<br />

wieder, als ich um die Mittagszeit aufs Geratewohl zwischen<br />

mehreren Gebäuden schlenderte, <strong>in</strong> denen viele Büros<br />

181


untergebracht waren. Plötzlich sah ich, wie er zusammen mit<br />

e<strong>in</strong> paar anderen etwa zwanzig Meter vor mir aus e<strong>in</strong>em<br />

Gebäude trat <strong>und</strong> mit ihnen auf e<strong>in</strong> nahe gelegenes Restaurant<br />

zusteuerte. Da ich ihn für kurze Zeit von der Seite sah, erkannte<br />

ich ihn sofort wieder, <strong>und</strong> zudem hatte er immer noch den<br />

gleichen charakteristischen Gang wie <strong>in</strong> den <strong>Trogen</strong>er Jahren.<br />

Warum er damals Italienisch belegte <strong>und</strong> nicht Englisch - ich<br />

komme weiter unten auf dieses besondere System noch zu<br />

sprechen -, lag wohl daran, dass er das Englische, das schon<br />

ab der zweiten Klasse unterrichtet wurde, genauso wie e<strong>in</strong> paar<br />

andere verpasst hatte, weil er erst ab der dritten Klasse<br />

e<strong>in</strong>stieg. Ich nehme jedoch an, dass er das Versäumte später<br />

auf irgende<strong>in</strong>e Weise noch nachgeholt hat, weil Englisch<br />

gerade <strong>in</strong> solchen Büros halt doch etwas wichtiger war als<br />

Italienisch, <strong>und</strong> heute trifft das noch viel mehr zu.<br />

Nach diesem etwas längeren Abstecher zum Sport kehre ich<br />

wieder zur Wirklichkeit zurück - <strong>und</strong> diese Wirklichkeit war nun<br />

e<strong>in</strong>mal die Schule. Es konnte jemand e<strong>in</strong> noch so guter<br />

Fussballer oder Leichtathlet se<strong>in</strong>, was als E<strong>in</strong>ziges zählte,<br />

waren nun e<strong>in</strong>mal die Schulnoten. Ich habe es mehrmals<br />

miterlebt, dass e<strong>in</strong> guter Sportler die Schule früher oder später<br />

verlassen musste, weil er nicht mehr mithalten konnte, <strong>und</strong> da<br />

es ihnen auch später nie gelang, wenigstens im Sport auf<br />

irgende<strong>in</strong>e Weise erfolgreich zu se<strong>in</strong>, habe ich von den meisten<br />

nie mehr etwas gehört. Immerh<strong>in</strong> hat es e<strong>in</strong>er später zum Leiter<br />

e<strong>in</strong>er Schule gebracht; also kann davon ausgegangen werden,<br />

dass er die Maturaprüfungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Schule doch<br />

noch bestanden hat. Schliesslich werden meistens nur solche<br />

Leute für e<strong>in</strong>en solchen Posten gewählt, erst recht dann, wenn<br />

noch e<strong>in</strong> abgeschlossenes Studium vorgewiesen werden kann.<br />

182


Tobi<br />

Nach Bartli <strong>und</strong> Pieps stelle ich jetzt den dritten der fünf neuen<br />

<strong>Lehrer</strong> vor, die uns zu Beg<strong>in</strong>n der dritten Klasse zugeteilt<br />

wurden. Se<strong>in</strong> Name war Programm, wie das heute so modern<br />

heisst. Tatsächlich wurde se<strong>in</strong> Spitzname vom deutschen Verb<br />

„toben“ abgeleitet, aber das „o“ wurde von allen immer nur kurz<br />

ausgesprochen, ohne dass e<strong>in</strong>e Verschleierung beabsichtigt<br />

war. Es war ja offensichtlich, warum dieser <strong>Lehrer</strong>, der<br />

Mathematik <strong>und</strong> bei den Oberrealschülern auch noch<br />

Darstellende Geometrie unterrichtete, so genannt wurde.<br />

Angesichts dieses Rufes, den er hatte, wurde im Gegensatz zu<br />

anderen <strong>Lehrer</strong>n über ihn nichts bekannt, was er <strong>in</strong> der<br />

Vergangenheit gemacht <strong>und</strong> erlebt hatte. Deshalb wurde auch<br />

nie erwähnt <strong>und</strong> erfuhr ich erst viele Jahre später über das<br />

Internet, dass er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Jugend e<strong>in</strong> begabter Kunst- <strong>und</strong><br />

Turmspr<strong>in</strong>ger gewesen war, <strong>und</strong> dazu passte auch se<strong>in</strong> eher<br />

kle<strong>in</strong> geratener Körperbau.<br />

Dass mit diesem Mann, der als e<strong>in</strong> Luzerner - also als e<strong>in</strong><br />

Innerschweizer - zu den ganz wenigen <strong>Lehrer</strong>n gehörte, die<br />

weder Appenzeller waren noch vom Kanton <strong>Zürich</strong> stammten,<br />

nicht zu spassen war, zeigte sich schon <strong>in</strong> der ersten St<strong>und</strong>e<br />

mit ihm. Er hatte e<strong>in</strong>e besonders energische Art, se<strong>in</strong>e Autorität<br />

zu zeigen, <strong>und</strong> niemand von uns zweifelte daran, dass er e<strong>in</strong><br />

Armee-Offizier war, wie es hiess, aber „nur“ e<strong>in</strong> Oberleutnant,<br />

aber ich habe nie herausgef<strong>und</strong>en, ob das auch wirklich<br />

stimmte. Immer wenn er das Zimmer betrat, stellten wir uns die<br />

Frage, welchen se<strong>in</strong>er beiden Standardsätze er diesmal sagen<br />

würde: „Die Aufgaben!“ oder „Nehmt die Hefte!“. Während es<br />

beim ersten klar war, dass wir <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>en von drei Heften, die<br />

wir führen mussten, die Hausaufgaben zusammen anschauen<br />

würden, wobei der e<strong>in</strong>e oder andere natürlich „fischte“, also<br />

e<strong>in</strong>e Rüge bekam, öffneten sich nach dem zweiten<br />

Standardsatz buchstäblich neue Welten. Dann wussten wir,<br />

dass wieder e<strong>in</strong> neues Thema kam, <strong>und</strong> mussten das zweite<br />

183


Heft aufschlagen - das dritte war noch für die Prüfungen<br />

vorgesehen.<br />

Kaum waren wir schreibbereit, spazierte Tobi im ganzen<br />

Zimmer herum <strong>und</strong> sprach ziemlich laut vor, was wir<br />

niederzuschreiben hatten, <strong>und</strong> das war nicht wenig. Er hatte <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Kopf e<strong>in</strong> unglaubliches Repertoire gespeichert <strong>und</strong><br />

schaute bei diesen Spaziergängen ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal irgendwo<br />

ab. Hätte er e<strong>in</strong>e Karriere auf e<strong>in</strong>er Theaterbühne oder als<br />

Opernsänger e<strong>in</strong>geschlagen, der Dutzende von Partituren<br />

auswendig wissen muss, hätte er kaum schlechter<br />

abgeschnitten. Nicht nur deshalb bezeichne ich ihn als e<strong>in</strong>e der<br />

grössten Mathematik-Kapazitäten aller Zeiten - <strong>und</strong> ich me<strong>in</strong>e<br />

das nicht ironisch. Er wusste tatsächlich sehr viel <strong>und</strong> schaffte<br />

es immer wieder, uns derart gekonnt <strong>in</strong> neue Seiten se<strong>in</strong>er Welt<br />

e<strong>in</strong>zuführen, dass die meisten von uns diese wenigstens<br />

halbwegs verstehen konnten.<br />

Das war die e<strong>in</strong>e Seite von ihm, aber die andere Seite sah<br />

gerade deshalb, weil er so viel wusste, so aus, dass er nicht<br />

erkennen konnte, dass eben nicht alle so gut se<strong>in</strong> konnten wie<br />

er. Tatsächlich konnte er es fast bis auf den Tod nicht<br />

ausstehen, dass nicht alle se<strong>in</strong> Programm sofort <strong>in</strong> sich<br />

aufnehmen konnten, <strong>und</strong> so drängte sich der Name Tobi<br />

geradezu auf. Ich er<strong>in</strong>nere mich noch gut, wie er e<strong>in</strong>mal sogar<br />

derart tobte, dass auch unsere Klassenbesten <strong>und</strong> vor allem die<br />

beiden, die ich noch heute als unsere Klassengenies bezeichne<br />

<strong>und</strong> die später standesgemäss Ärzte wurden, ihren Anteil<br />

abbekamen. Immer wenn er tobte, wurde se<strong>in</strong> Gesicht noch<br />

röter, als es ohneh<strong>in</strong> schon war, aber auf der anderen Seite<br />

amüsierte es uns auch trotz der damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Lebensgefahr, wenn er so auftrat.<br />

Es lag nahe, dass jene, die <strong>in</strong> der Mathematik ke<strong>in</strong>e<br />

Leuchttürme waren, bei ihm noch mehr unten durchmussten,<br />

<strong>und</strong> zu diesen gehörte auch ich, obwohl ich <strong>in</strong> den Jahren, als<br />

184


die Algebra <strong>und</strong> die Geometrie noch getrennt unterrichtet<br />

wurden, im erstgenannten Fach zweimal sogar e<strong>in</strong>e glatte 6<br />

bekam, aber es waren auch erstaunlich leichte Prüfungen. Zu<br />

Beg<strong>in</strong>n der dritten Klasse sah es aber noch nicht danach aus,<br />

dass ich e<strong>in</strong>mal solche Noten schreiben würde, <strong>und</strong> zudem<br />

brauchte ich auch bei ihm genauso wie bei Schorsch II e<strong>in</strong>e<br />

Anlaufzeit, um mich an ihn zu gewöhnen. Gerade auch deshalb<br />

kam es zu jener Szene, die sich nachher bei vielen <strong>in</strong> der<br />

Schule herumsprach: Ich weiss nicht mehr, was ich verbrochen<br />

hatte, aber plötzlich gab er mir e<strong>in</strong>e Ohrfeige, das heisst er<br />

schlug mich nicht allzu stark mit dem Aussenteil der Hand. Es<br />

tat nicht weh, aber ich war ziemlich darüber überrascht, dass<br />

e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> wegen e<strong>in</strong>er Kle<strong>in</strong>igkeit derart ausrasten konnte.<br />

Damals waren solche Aussetzer noch möglich, weil der<br />

<strong>Lehrer</strong>schaft immer Recht gegeben wurde, aber heute wäre so<br />

etwas e<strong>in</strong> Politikum, ja, gewisse Eltern würden sogar e<strong>in</strong><br />

Gericht bemühen.<br />

Immerh<strong>in</strong> sprach sich diese halbe Ohrfeige so weit herum, dass<br />

ausgerechnet e<strong>in</strong>er von Tobis zwei Söhnen, die diese Schule<br />

ebenfalls besuchten, mit e<strong>in</strong>em Schmunzeln auf mich zukam<br />

<strong>und</strong> mich fragte, ob es wirklich stimme, dass se<strong>in</strong> Vater mir e<strong>in</strong>e<br />

Ohrfeige gegeben habe. Wenige Wochen zuvor war er noch <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>er Klasse gewesen, bevor auch er sich zur Oberrealschule<br />

umteilen liess, wo es ihm besser lief. Ich er<strong>in</strong>nere mich noch<br />

gut, dass er e<strong>in</strong> halbes Jahr zuvor, als ich <strong>in</strong> diese Schule<br />

e<strong>in</strong>getreten war, als e<strong>in</strong>er der ersten auf mich zukam <strong>und</strong> mich<br />

fre<strong>und</strong>lich begrüsste, <strong>und</strong> nachher hatten wir auch nach se<strong>in</strong>em<br />

Wechsel zur Oberrealschule immer e<strong>in</strong>en erstaunlich guten<br />

Kontakt. Als dieser begann, wusste ich noch nicht, dass se<strong>in</strong><br />

Vater e<strong>in</strong>er der <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> dieser Schule war, aber das erfuhr ich<br />

natürlich ziemlich bald.<br />

Erstaunlicherweise ist dieser Zwischenfall der e<strong>in</strong>zige zwischen<br />

Tobi <strong>und</strong> mir geblieben, obwohl er nachher immer wieder e<strong>in</strong>en<br />

Gr<strong>und</strong> gehabt hätte, um mich zusammenzustauchen. Ich wurde<br />

185


nachher zwar e<strong>in</strong> bisschen besser, aber das alle<strong>in</strong> reichte nicht<br />

dafür, dass er mich halt doch irgendwie gern mochte. Das<br />

zeigte er am meisten an den Schülerabenden, wenn er mich<br />

immer mit e<strong>in</strong>em fast fröhlichen „Grüezi Juha!“ begrüsste. Dazu<br />

trug wohl auch bei, dass ich nach den Me<strong>in</strong>ungen auch aller<br />

anderen <strong>Lehrer</strong> immer anständig <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich blieb, was am<br />

Ende me<strong>in</strong>er Schulkarriere sogar jene, die mich weniger gern<br />

mochten - ich werde noch auf diese zu sprechen kommen -,<br />

noch e<strong>in</strong>mal bestätigten.<br />

Ab der fünften Klasse wurden die Algebra <strong>und</strong> die Geometrie zu<br />

e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Fach zusammengelegt, das dann folgerichtig<br />

als Mathematik bezeichnet wurde. Von diesem Zeitpunkt an<br />

wurde das Programm deutlich schwieriger, so dass immer mehr<br />

von uns zu schwimmen begannen. Schliesslich konnte Tobi<br />

nicht mehr länger an sich halten <strong>und</strong> machte se<strong>in</strong>em Namen<br />

wieder e<strong>in</strong>mal alle Ehre, als er tobend sagte: „Nach den<br />

Herbstferien werden e<strong>in</strong>ige von euch e<strong>in</strong>en bösen Absturz<br />

erleben! Ihr werdet schon noch sehen warum!“<br />

Bevor es so weit kam, konnten wir aber noch e<strong>in</strong>mal erleben,<br />

welche ungeheure Kapazität er trotz all se<strong>in</strong>er Ausraster halt<br />

doch war. Wie <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> war es auch <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> der Brauch,<br />

dass e<strong>in</strong> Teil der Maturanden oder Abiturienten nach den<br />

bestandenen Prüfungen aufs Geratewohl <strong>in</strong> verschiedene<br />

Klassenzimmer g<strong>in</strong>g <strong>und</strong> sich am Unterricht beteiligte - <strong>und</strong><br />

diesmal bestand die Teilnahme nicht nur im Mitbr<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>es<br />

lebenden Huhnes wie bei Guschti. So geschah es, dass e<strong>in</strong>er<br />

von ihnen vorn an der Wandtafel e<strong>in</strong>e ziemlich komplizierte<br />

Gleichung mit mehreren Unbekannten kritzelte <strong>und</strong> am Schluss<br />

kühn sagte: „Das wirft die ganze bisher gelehrte Mathematik<br />

über den Haufen.“ Leider wartete er mit se<strong>in</strong>en Kollegen nicht<br />

mehr darauf, wie Tobi diese Aufgabe löste, sondern verliess<br />

den Raum fast fluchtartig, <strong>und</strong> damit ersparte er sich e<strong>in</strong>e<br />

pe<strong>in</strong>liche Szene. Was darauf folgte, war eben typisch Tobi: Es<br />

dauerte nicht e<strong>in</strong>mal zwei M<strong>in</strong>uten, bis er das Ganze zerpflückt<br />

186


<strong>und</strong> die Aufgabe gelöst hatte. Man konnte ihm wirklich nichts<br />

vormachen.<br />

Leider bewahrheitete sich nach den Herbstferien der fünften<br />

Klasse das, was Tobi vorausgesagt hatte: Ich wurde tatsächlich<br />

schlechter <strong>und</strong> erreichte ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige genügende Note mehr.<br />

Schon vorher hatte ich damit Mühe gehabt, Rhomben <strong>und</strong><br />

Rhomboide auszurechnen, aber jetzt, da auch noch Zyl<strong>in</strong>der<br />

das Repertoire bereicherten, musste ich kapitulieren. Dazu<br />

kamen auch noch die Trigonometrie <strong>und</strong> ihre Logarithmentafel,<br />

mit der ich ke<strong>in</strong>e Mühe hatte, solange nur der S<strong>in</strong>us <strong>und</strong> der<br />

Cos<strong>in</strong>us auszurechnen waren. Mit dem Tangens hatte ich aber<br />

schon Probleme <strong>und</strong> spätestens beim Cotangens war bei mir<br />

Endstation. Ich konnte mich noch so anstrengen <strong>und</strong> teilweise<br />

mit anderen Schülern „schanzen“, es gelang mir e<strong>in</strong>fach nichts<br />

mehr, so dass ich endgültig kapitulierte. Zudem stand es wegen<br />

anderer schwacher Fächer schon zu diesem Zeitpunkt fest,<br />

dass ich auch <strong>in</strong> dieser Schule durchfallen würde. Ich konnte<br />

das mit e<strong>in</strong>em Provisorium zwar noch etwas h<strong>in</strong>ausschieben,<br />

aber es schien nur noch e<strong>in</strong>e Frage der Zeit zu se<strong>in</strong>, bis ich<br />

auch von hier wegziehen musste. Obwohl auch Tobi das<br />

wusste, weil die <strong>Lehrer</strong>schaft bei ihren privaten Treffen immer<br />

über diesen <strong>und</strong> jenen sprach, griff er mich ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal<br />

an, was ich ihm immer hoch angerechnet habe. Schliesslich<br />

musste ich <strong>in</strong> der Hälfte der sechsten Klasse tatsächlich den Lift<br />

nehmen, wie es im Schülerjargon hiess, <strong>und</strong> nachher bekam ich<br />

nach dreie<strong>in</strong>halb langen Tobi-Jahren e<strong>in</strong>en neuen<br />

Mathematiklehrer zugeteilt.<br />

Noch heute denke ich mit e<strong>in</strong>em Schmunzeln daran, was für<br />

Tobi charakteristisch war: Eigentlich war es Vorschrift, dass die<br />

<strong>Lehrer</strong> uns ab der vierten Klasse nicht mehr duzen durften, es<br />

sei denn, es war mit e<strong>in</strong>er Klasse extra so abgemacht, <strong>und</strong><br />

tatsächlich fragten e<strong>in</strong> paar von ihnen, wie sie weiter vorgehen<br />

sollten, so auch Schorsch II, der sozusagen die Erlaubnis dazu<br />

erhielt. Tobi hielt sich jedoch nicht daran, sondern duzte uns<br />

187


auch nachher weiter, als g<strong>in</strong>ge ihn diese ungeschriebene Regel<br />

nichts an. Tobi war eben Tobi.<br />

Auch er kehrte nach se<strong>in</strong>er Versetzung <strong>in</strong> den Ruhestand nicht<br />

mehr <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Heimatkanton zurück, sondern blieb <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong>.<br />

Dazu trug sicher auch bei, dass er es genauso wie fast alle<br />

anderen <strong>Lehrer</strong> geschafft hatte, sich e<strong>in</strong> eigenes Häuschen zu<br />

kaufen; also war es nichts als logisch, dass er blieb. Übrigens<br />

gehörte er zu den ganz wenigen <strong>Lehrer</strong>n, die darauf<br />

verzichteten, e<strong>in</strong>e Schülerpension zu führen, aber auch das<br />

passte gut zu ihm. Wie mancher andere erreichte <strong>und</strong><br />

überschritt auch er die Grenze von neunzig Jahren. Was genau<br />

aus se<strong>in</strong>en beiden Söhnen geworden ist, habe ich auch trotz<br />

des Internets nie erfahren.<br />

Bouton<br />

Der vierte im B<strong>und</strong>e der fünf <strong>Lehrer</strong>, die wir zu Beg<strong>in</strong>n der<br />

dritten Klasse bekamen, war e<strong>in</strong>e der tragischsten Figuren<br />

dieser Schule, aber nur wegen se<strong>in</strong>es Familiennamens Knöpfli,<br />

von dem dieser Spitzname abgeleitet wurde. Im Gegensatz zu<br />

se<strong>in</strong>en Kollegen, die ihre Ehrentitel natürlich ebenfalls kannten,<br />

aber sich nichts daraus machten, solange jemand unter uns sie<br />

nicht direkt so nannte - <strong>und</strong> diesen Mut hatte sowieso niemand -<br />

, konnte es ihn rasend machen, wenn er diesen Namen bei<br />

e<strong>in</strong>em Gespräch unter Schülern durch Zufall hörte.<br />

Dabei war er eigentlich e<strong>in</strong>e Kapazität, dem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Fachbereich niemand etwas vormachen konnte. Was er<br />

unterrichtete, waren Französisch <strong>und</strong> Italienisch; diese beiden<br />

Sprachen kannte er <strong>in</strong>- <strong>und</strong> auswendig, zudem sprach er beide<br />

fliessend von h<strong>in</strong>ten nach vorn <strong>und</strong> umgekehrt. Wir konnten uns<br />

immer wieder davon überzeugen, wenn er sich mit Franzosen<br />

<strong>und</strong> Romands sowie mit Italienern <strong>und</strong> Tess<strong>in</strong>ern <strong>in</strong> ihren<br />

Muttersprachen unterhielt. Er beherrschte sie so gut, als wäre<br />

er e<strong>in</strong>er von ihnen.<br />

188


Da ich wie oben erwähnt im Französischen <strong>in</strong> der ersten Hälfte<br />

der dritten Klasse immer noch Zeno hatte, lernte ich Bouton<br />

vorerst nur <strong>in</strong> den Italienisch-St<strong>und</strong>en kennen. Eigentlich wäre<br />

diese Sprache für mich nicht obligatorisch gewesen, weil ich<br />

schon Englisch als dritte Fremdsprache belegte, aber ich wollte<br />

zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> der Anfangsphase dabei se<strong>in</strong> <strong>und</strong> schauen, ob<br />

diese Sprache mir wirklich liegen würde. Dabei hatte ich im<br />

Vergleich zu den meisten anderen e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en<br />

Wettbewerbsvorteil: Da die zweite Ehefrau me<strong>in</strong>es Vaters e<strong>in</strong>e<br />

Norditaliener<strong>in</strong> war <strong>und</strong> erst noch aus e<strong>in</strong>er Stadt stammte, <strong>in</strong><br />

der noch heute behauptet wird, dass dort e<strong>in</strong>e der re<strong>in</strong>sten<br />

Italienisch-Varianten gesprochen wird, hatte ich diese Sprache<br />

schon etwas im Ohr, aber ich verstand trotzdem noch nicht<br />

allzu viel. Gerade deshalb hatte ich <strong>in</strong> den Frühl<strong>in</strong>gsferien extra<br />

noch etwas gelernt, um gut vorbereitet zu se<strong>in</strong>.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs hätte es diese Vorbereitung nicht gebraucht, weil ich<br />

schon bald entdeckte, dass diese Sprache mir tatsächlich lag,<br />

<strong>und</strong> damals konnte ich mir noch nicht im Ger<strong>in</strong>gsten vorstellen,<br />

dass auch Italienisch später zu me<strong>in</strong>en fünf klassischen<br />

Sprachen gehören würde, die ich oben erwähnt habe. Im<br />

Gegensatz zu mir konnten es die meisten anderen aber nicht so<br />

locker nehmen, weil sie viel Mühe hatten <strong>und</strong> dementsprechend<br />

auch weniger gute Noten schrieben, ja, zum Teil sogar<br />

ungenügend waren, <strong>und</strong> das machte wiederum Bouton rasend.<br />

Da er natürlich auch wusste, dass Italienisch für viele nur e<strong>in</strong>e<br />

Ausweich-Variante war <strong>und</strong> Englisch immer noch viel mehr<br />

Bedeutung hatte, ertrug er es nicht, wenn er das Gefühl hatte,<br />

dass die e<strong>in</strong>en oder anderen sich nicht genug anstrengten. So<br />

habe ich noch heute <strong>in</strong> guter Er<strong>in</strong>nerung, wie er e<strong>in</strong>mal beim<br />

Verteilen der Noten e<strong>in</strong>es Ex empört ausrief: "Italienisch ist ke<strong>in</strong><br />

Abfallkübel!" Zudem rief er nicht nur e<strong>in</strong>mal zwei Burschen zu,<br />

die zwar hervorragende Konvikt-Fussballer, aber ke<strong>in</strong>e<br />

glänzenden Schüler waren: "Wenn ihr euch nicht bessert, könnt<br />

ihr gehen <strong>und</strong> das Englische nachholen!" Im Verlauf der<br />

nächsten paar Monate wurden die beiden zwar etwas besser,<br />

189


aber nicht <strong>in</strong> anderen Fächern, so dass sie die Schule<br />

tatsächlich schon bald verlassen mussten. Der e<strong>in</strong>e der beiden<br />

war der oben Erwähnte, der es später doch noch zum Leiter<br />

e<strong>in</strong>er Schule brachte, aber das konnten <strong>in</strong> jenem Jahr natürlich<br />

weder Bouton noch er selbst voraussehen.<br />

Wie ernst es Bouton nahm, zeigte sich auch dann, wenn er<br />

wieder e<strong>in</strong>mal jemanden aus se<strong>in</strong>er Klasse ausschloss. So<br />

geschah das auch mit e<strong>in</strong>em Mädchen, das mir besonders gut<br />

gefiel; der Kontakt brach zwar nicht ganz ab, weil wir uns immer<br />

wieder sahen, aber er war natürlich nicht mehr so direkt.<br />

Tatsächlich hatte Bouton das Recht, jemanden<br />

auszuschliessen, wenn er nach se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung deutlich sah,<br />

dass jemand sich nicht wirklich bemühte, besser zu werden.<br />

Natürlich musste e<strong>in</strong>e solche Entscheidung auch noch vom<br />

<strong>Lehrer</strong>konvent durchgewunken werden, aber das war nur e<strong>in</strong>e<br />

Formsache; schliesslich verhielten sich die <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong><br />

zue<strong>in</strong>ander fast wie Logenbrüder, wenn ich e<strong>in</strong>mal von Doktor<br />

Stilfibel absehe, der vorzeitig weggeschickt wurde.<br />

Was mich selbst betrifft, hatte ich von Anfang an ke<strong>in</strong>e<br />

Probleme <strong>und</strong> konnte locker durchmarschieren, <strong>und</strong> auch dann,<br />

wenn er zu Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e fast wie beiläufig sagte:<br />

«Adesso scriviamo un piccolo lavoro.» («Jetzt schreiben wir<br />

e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Arbeit.»). Was er fast ironisch so nannte, konnte<br />

natürlich nur e<strong>in</strong> Ex se<strong>in</strong>, aber das schreckte mich nie ab, derart<br />

sicher beherrschte ich den Stoff. Nicht e<strong>in</strong>mal dann, als es galt,<br />

solche Verfe<strong>in</strong>erungen zu erkennen wie "sono andato, sono<br />

andata, sono andati, sono andate" (ich b<strong>in</strong> gegangen,<br />

männliche <strong>und</strong> weibliche Variante; sie s<strong>in</strong>d gegangen,<br />

männliche <strong>und</strong> weibliche Variante), bekam ich Kopfschmerzen.<br />

Die folgerichtige Konsequenz dieses lockeren<br />

Durchmarschierens bestand dar<strong>in</strong>, dass ich im Herbst des<br />

gleichen Jahres etwas Welthistorisches erlebte, als ich <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>em Zeugnis lesen durfte, dass ich im Italienischen e<strong>in</strong>e<br />

glatte 6 bekommen hatte. Das war das erste Mal <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

190


langen <strong>und</strong> steilen Gymi-Karriere, dass jemand mir diese<br />

Maximalnote gab, aber es blieb <strong>in</strong> der Folge auch das letzte<br />

Mal. Wiederum e<strong>in</strong> halbes Jahr später, also vor den<br />

Frühl<strong>in</strong>gsferien, bekam ich noch e<strong>in</strong>e 5,5; das war zwar auch<br />

hervorragend, aber eben ke<strong>in</strong>e 6 mehr, <strong>und</strong> darauf kam es mir<br />

damals noch an, obwohl me<strong>in</strong> späterer Absturz sich h<strong>in</strong>ten <strong>und</strong><br />

vorn noch nicht abzeichnete.<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n der vierten Klasse wurde uns aus Gründen, die wir<br />

nie genau erfahren haben, e<strong>in</strong> anderer Italienisch-<strong>Lehrer</strong><br />

zugeteilt, den ich weiter unten auch noch vorstellen werde. Zu<br />

diesem Zeitpunkt hatten wir Bouton schon seit e<strong>in</strong>em halben<br />

Jahr im Französischen als Nachfolger von Zeno. Eigentlich<br />

wurde der Stoff erst ab dem Herbst der dritten Klasse etwas<br />

schwieriger, aber nicht für mich, weil ich jetzt auch <strong>in</strong> dieser<br />

Sprache sattelfest geworden war. Schade, dass der Monsieur,<br />

den ich <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> gehabt hatte <strong>und</strong> der nur e<strong>in</strong> Jahr zuvor im<br />

Unterricht vor der ganzen Klasse gesagt hatte, sie wüssten ja<br />

alle, dass der Stump nichts wusste, das nicht sehen <strong>und</strong> hören<br />

konnte!<br />

Da ich <strong>in</strong> den Französisch-St<strong>und</strong>en an e<strong>in</strong>er anderen Bank sass<br />

als im Italienischen - warum das so war, weiss ich auch nicht<br />

mehr -, konnte ich erst ab dem Herbst der dritten Klasse, als<br />

Bouton uns neu zugeteilt wurde, so richtig sehen, was <strong>in</strong> der<br />

Schule schon längst die R<strong>und</strong>e machte <strong>und</strong> dementsprechend<br />

nicht ohne Schmunzeln herumerzählt wurde: Er konnte vorn an<br />

se<strong>in</strong>em Tisch nie ruhig sitzen <strong>und</strong> wippte ständig mit den<br />

Be<strong>in</strong>en, <strong>und</strong> zwar nicht nur e<strong>in</strong> wenig, sondern ziemlich heftig,<br />

so dass immer wieder befürchtet werden musste, er könnte die<br />

Be<strong>in</strong>e anschlagen. Deshalb mussten wir uns immer<br />

zusammenreissen, um nicht <strong>in</strong> lautes Gelächter auszubrechen,<br />

wenn die St<strong>und</strong>e begann <strong>und</strong> er lange herumschaute, um den<br />

zu suchen, den er diesmal als Opfer auserwählen konnte.<br />

Dabei wippte er nicht nur mit den Be<strong>in</strong>en, sondern klopfte<br />

mehrmals mit der rechten Faust auf den Tisch, <strong>in</strong>dem er<br />

191


ebenso mehrmals "écoutons!" ("hören wir!") sagte oder genauer<br />

brummte.<br />

Natürlich fand er immer jemanden, aber wer dann auserwählt<br />

wurde, musste nicht jedes Mal etwas aus der Grammatik<br />

erklären oder aus e<strong>in</strong>er Kurzgeschichte erzählen, denn es kam<br />

immer wieder vor, dass ganz e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> bestimmtes Gedicht<br />

von La Fonta<strong>in</strong>e vorgetragen werden musste. Diese Fabel, wie<br />

sie genannt wurde <strong>und</strong> von denen dieser Dichter viele<br />

geschrieben hatte, war die vom Fuchs <strong>und</strong> dem eitlen Raben,<br />

der e<strong>in</strong> Stück Brot fallen lässt, weil der Fuchs ihn überlistet <strong>und</strong><br />

ihn bittet, ihm etwas vorzus<strong>in</strong>gen. Ich er<strong>in</strong>nere mich auch<br />

deshalb so gut daran, weil das unser Standardgedicht war, das<br />

alle auswendig kennen <strong>und</strong> deshalb immer wieder vortragen<br />

mussten - aber wenigstens auch dann immer im Sitzen -, <strong>und</strong><br />

es gab kaum jemanden, der nicht wenigstens e<strong>in</strong>mal drankam.<br />

Im Gegensatz zu Zeno büffelten wir nicht allzu viel Grammatik,<br />

weil Bouton zu Recht fand, dass wir die Sprache am besten<br />

lernten, wenn wir zusammen viel lasen. So ergab es sich, dass<br />

wir vier Büchle<strong>in</strong> durcharbeiteten, an deren Titel ich mich noch<br />

heute gut er<strong>in</strong>nere: "Lettres de mon moul<strong>in</strong>" (Briefe aus me<strong>in</strong>er<br />

Mühle) von Alphonse Daudet, "Contes choisis" (Ausgewählte<br />

Erzählungen) von Guy de Maupassant, «Le pays où l’on<br />

n’arrive jamais» (Das Land, wo man nie ankommt) von André<br />

Dhôtel <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Liebesgeschichte, die im Zweiten<br />

Weltkrieg vorkommt, mit dem Titel "Le silence de la mer" (Das<br />

Schweigen des Meeres) von e<strong>in</strong>em gewissen Vercors, der <strong>in</strong><br />

Wirklichkeit Jean Bruller hiess. Bouton hatte e<strong>in</strong> gutes Näschen:<br />

Tatsächlich kamen wir auch durch das Lesen dieser Werke gut<br />

voran, aber wir hatten trotzdem ab <strong>und</strong> zu noch e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es<br />

Grammatik-Ex.<br />

Da ich ihn im Französischen bis zum Ende me<strong>in</strong>er langen <strong>und</strong><br />

steilen Gymi-Karriere hatte, also <strong>in</strong>sgesamt dreie<strong>in</strong>halb Jahre,<br />

kann ich ihn sicher als me<strong>in</strong>en Hauptlehrer für dieses Fach<br />

192


ezeichnen, <strong>und</strong> im Gegensatz zu den meisten anderen lernte<br />

ich ihn e<strong>in</strong>mal auf e<strong>in</strong>e ganz besondere Weise kennen. Es war<br />

viel schwerer als bei se<strong>in</strong>en Kollegen, etwas an ihn<br />

heranzukommen, <strong>und</strong> er hatte zudem wegen se<strong>in</strong>er<br />

Eigenschaften, die er nie abstreifen konnte - das Wippen mit<br />

den Be<strong>in</strong>en <strong>und</strong> das Klopfen mit der rechten Faust auf den<br />

Tisch -, den Ruf, dass er immer den E<strong>in</strong>druck bekam, man<br />

wolle sich über ihn lustig machen, <strong>und</strong> teilweise stimmte das<br />

auch. Gerade deshalb strengten wir uns auch ernsthaft an, um<br />

<strong>in</strong> den St<strong>und</strong>en nicht zu lächeln, geschweige denn zu lachen,<br />

aber e<strong>in</strong>mal passierte mir das im Unterricht doch e<strong>in</strong>mal, aber<br />

ich hatte Glück, weil auch er wusste, dass ich manchmal e<strong>in</strong><br />

sonniges Gemüt hatte. Deshalb liess er das noch durchgehen,<br />

aber richtig ernst wurde es dann, als er mich draussen<br />

ausserhalb e<strong>in</strong>er Schulst<strong>und</strong>e wegen irgendetwas, das mir<br />

entfallen ist, zur Rede stellte. Er war zwar nicht bös, aber die<br />

Frage, die er mir stellte, liess mich dennoch erkennen, dass<br />

jetzt nicht zu spassen war. Deshalb passte ich höllisch auf,<br />

damit me<strong>in</strong> Gesicht auch nicht den leisesten Anflug e<strong>in</strong>es<br />

Lächelns erkennen liess, aber schon nach e<strong>in</strong>er halben M<strong>in</strong>ute<br />

hatte ich diese schwere Zeit h<strong>in</strong>ter mir. Ich war gerade noch<br />

e<strong>in</strong>mal davongekommen.<br />

Wie ernst es manchmal se<strong>in</strong> konnte, zeigte sich auch an e<strong>in</strong>em<br />

Tag, als irgendjemand sich den Scherz erlaubte, an Bouton<br />

e<strong>in</strong>en Brief zu schicken <strong>und</strong> auf den Umschlag "An Dr. Knutzli"<br />

zu schreiben. Natürlich wussten alle, wer damit geme<strong>in</strong>t war;<br />

deshalb wurde dieser Brief ja uns übergeben. Da wir se<strong>in</strong>e<br />

Launen gut genug kannten, beratschlagten wir e<strong>in</strong>ige Zeit, wer<br />

es auf sich nehmen solle, ihm diesen Brief zu übergeben, noch<br />

bevor die St<strong>und</strong>e begann. Schliesslich erklärte sich e<strong>in</strong>e der<br />

besten Schüler<strong>in</strong>nen - die gleiche, die ich bei Durisch erwähnt<br />

<strong>und</strong> mit der ich mich immer so gut verstanden habe - dazu<br />

bereit, diesen Opfergang auf sich zu nehmen. Es war ihr Glück,<br />

dass Bouton kurz vor der St<strong>und</strong>e noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Stock<br />

h<strong>in</strong>aufgehen wollte, um dort <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Zimmer etwas zu<br />

193


erledigen. Noch bevor er an ihr vorbeig<strong>in</strong>g, drückte sie ihm<br />

diesen Brief geradezu <strong>in</strong> die Hände, <strong>und</strong> er schaute nur kurz<br />

darauf <strong>und</strong> g<strong>in</strong>g brummend weiter.<br />

Angesichts dieser Schilderungen könnte angenommen werden,<br />

dass Bouton immer nur e<strong>in</strong> knurrender Brummbär war, aber er<br />

konnte ganz unerwartet auch Gefühle zeigen. Das sahen wir<br />

am deutlichsten dann, als es <strong>in</strong> der ganzen Schule<br />

durchgesickert war, dass se<strong>in</strong>e Ehefrau Zwill<strong>in</strong>ge geboren<br />

hatte. Ob es zwei Buben oder zwei Mädchen waren oder ob es<br />

sogar e<strong>in</strong> gemischtes Paar war, haben wir nie genau erfahren.<br />

Er selbst verriet es uns nie <strong>und</strong> von uns wagte es natürlich<br />

niemand, ihn zu fragen. Auf jeden Fall hielten wir es für gut, ihm<br />

etwas zu schenken; also gab jeder von uns e<strong>in</strong> paar Fränkle<strong>in</strong>,<br />

so dass für ihn e<strong>in</strong> riesiger Blumenstrauss gekauft werden<br />

konnte. Als jemand von uns - ich weiss nicht mehr, wer das tat -<br />

ihm diesen Strauss überreichte, nachdem er sich gesetzt hatte,<br />

konnte er se<strong>in</strong>e schwache Seite endgültig nicht mehr<br />

verstecken, <strong>und</strong> er sagte mehrmals offensichtlich gerührt<br />

"Merci!" <strong>und</strong> "Merci beaucoup!" - jawohl, auf Französisch,<br />

schliesslich hatten wir jetzt Französisch-Unterricht.<br />

Während ich Bouton <strong>in</strong> dieser Sprache bis zum Ende me<strong>in</strong>er<br />

<strong>Trogen</strong>er Zeit hatte, kehrte ich nach dem Zwischenjahr mit<br />

e<strong>in</strong>em anderen <strong>Lehrer</strong> aus Gründen, die ich später selbst nie<br />

richtig nachvollziehen konnte, zu Beg<strong>in</strong>n der fünften Klasse<br />

nicht mehr <strong>in</strong> den Italienisch-Unterricht zurück. Ich kann es mir<br />

noch heute nur damit erklären, dass ich manchmal mit se<strong>in</strong>em<br />

etwas schleppenden Unterricht Mühe hatte <strong>und</strong> es zudem <strong>in</strong><br />

diesem Zwischenjahr mit dem anderen <strong>Lehrer</strong> nach me<strong>in</strong>er<br />

eigenen Me<strong>in</strong>ung etwas zu locker genommen hatte, so dass ich<br />

gr<strong>und</strong>los befürchtete, ich würde <strong>in</strong> diesem Fach nicht mehr so<br />

gut se<strong>in</strong>. Es spielte aber sicher auch e<strong>in</strong>e Rolle, dass der Stoff<br />

<strong>in</strong> allen Fächern <strong>in</strong>zwischen deutlich schwieriger geworden war.<br />

Ich habe später das, was ich bei ihm nicht mehr lernte, zwar<br />

spielend nachgeholt - sogar weit über das Matura-Niveau<br />

194


h<strong>in</strong>aus -, aber ich beg<strong>in</strong>g trotzdem e<strong>in</strong>en taktischen Fehler. Da<br />

ich im Englischen aus Gründen, die ich gleich unten näher<br />

erklären werde, nie so gute Noten geschrieben hatte wie im<br />

Italienischen, brachte ich mich selbst um die Chance, e<strong>in</strong>en<br />

besseren Notendurchschnitt zu erreichen. Doch andererseits<br />

war diese Sprache auch für mich so wichtig, dass ich sie nicht<br />

aufgeben wollte, wie das andere getan hatten, die sich so wie<br />

"Balu" für das Italienische entschieden hatten.<br />

Ich habe erst viele Jahre später erfahren, dass Bouton nach<br />

se<strong>in</strong>er Versetzung <strong>in</strong> den Ruhestand auffallend viel Zeit <strong>in</strong> der<br />

Toskana verbrachte, die er besonders liebte. Irgendwie passte<br />

das auch zu ihm, schliesslich war er wegen se<strong>in</strong>er<br />

hervorragenden Kenntnisse der Sprache e<strong>in</strong> halber Italiener<br />

geworden. E<strong>in</strong>es muss ich noch betonen: Was e<strong>in</strong> anderer<br />

ehemaliger Schüler, der erst nach me<strong>in</strong>em Wegzug <strong>in</strong> diese<br />

Schule e<strong>in</strong>trat, zu Beg<strong>in</strong>n der Achtzigerjahre die<br />

Maturaprüfungen bestand <strong>und</strong> heute als Journalist arbeitet,<br />

unter dem halbwegs höhnischen Titel "Knöpflis Saat geht auf"<br />

über se<strong>in</strong>e Erlebnisse im Kanton Tess<strong>in</strong> schrieb, als er se<strong>in</strong>e<br />

bei ihm erworbenen Italienisch-Kenntnisse anwendete, kann ich<br />

nicht bestätigen. Bouton war zwar nicht leicht zu nehmen, aber<br />

er war auch nicht so trocken <strong>und</strong> humorlos, wie dieser<br />

Ehemalige ihn beschrieben hat. Wer es wirklich wollte, konnte<br />

auch bei ihm viel lernen.<br />

195


Kasi<br />

Jetzt kommt noch der fünfte <strong>Lehrer</strong>, der uns zu Beg<strong>in</strong>n der<br />

dritten Klasse neu zugeteilt wurde - <strong>und</strong> dieser ist etwas<br />

Besonderes, weil er es als E<strong>in</strong>ziger geschafft hat, von mir<br />

wegen se<strong>in</strong>es warmherzigen Gemüts tatsächlich <strong>in</strong>s Herz<br />

geschlossen zu werden. Deshalb kann ich auch se<strong>in</strong>en vollen<br />

Namen nennen: Er hiess Hans Wärtli, der genauso wie Pieps<br />

e<strong>in</strong>er der meistgeachteten <strong>und</strong> zugleich musikalischsten <strong>Lehrer</strong><br />

war.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs beruhte unsere erste Begegnung auf e<strong>in</strong>em<br />

Missverständnis. Wer so jung ist wie wir damals, die noch nicht<br />

e<strong>in</strong>mal ganz 16-jährig waren, denkt nicht viel darüber nach,<br />

wenn jemand nicht der allgeme<strong>in</strong>en Norm zu entsprechen<br />

sche<strong>in</strong>t. Kasi hatte nämlich e<strong>in</strong> besonderes Merkmal, das ich<br />

seitdem nie mehr gesehen habe: Er hatte nicht nur e<strong>in</strong>e<br />

Adlernase, sondern gleich e<strong>in</strong>e doppelte mit e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Tal<br />

dazwischen. Deshalb konnten viele von uns <strong>und</strong> vor allem die<br />

Burschen sich e<strong>in</strong> Lachen nicht verkneifen, als wir <strong>in</strong> der<br />

allerersten St<strong>und</strong>e bei ihm auf den Stühlen sassen <strong>und</strong> er, der<br />

bereits am Tisch gesessen hatte, jetzt aufstand <strong>und</strong> auf uns<br />

zukam.<br />

Kasi selbst schien mit se<strong>in</strong>em sonnigen Gemüt - also ähnlich<br />

wie ich, deshalb verstanden wir uns vom Anfang bis zum<br />

Schluss me<strong>in</strong>es <strong>Trogen</strong>er Dase<strong>in</strong>s immer so gut - gar nicht zu<br />

merken, dass wir nur wegen se<strong>in</strong>er Nase lachten, als er<br />

entschieden sagte: "E<strong>in</strong> paar Buben lachen jetzt, aber ihr<br />

werdet schon noch sehen, wie es bei mir ist." Damit sollte er<br />

bald Recht bekommen, aber das konnten <strong>und</strong> wollten wir jetzt<br />

noch nicht sehen. Was er unterrichtete, war Englisch <strong>und</strong> nur<br />

Englisch, <strong>und</strong> erst noch als E<strong>in</strong>ziger <strong>in</strong> der Oberstufe; also<br />

befand er sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ähnlichen Lage wie Schorsch II mit dem<br />

Zeichnen <strong>und</strong> Pieps mit der Physik.<br />

196


Wie er unterrichtete, unterschied sich jedoch gr<strong>und</strong>legend von<br />

dem, was uns Zeno beigebracht hatte. Von jetzt an war es mit<br />

der lockeren E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> diese Sprache vorbei - also fertig<br />

lustig, wie der moderne Ausdruck heute lautet. Wer bisher noch<br />

geglaubt hatte, dass Englisch e<strong>in</strong>e leichte Sprache sei, musste<br />

jetzt gründlich umdenken. Das zeigte sich am deutlichsten bei<br />

den Prüfungen: Kasi verstand es meisterhaft, die Sätze mit so<br />

vielen schwierigen E<strong>in</strong>zelheiten zu vermischen, dass wir<br />

höllisch aufpassen mussten. Se<strong>in</strong>e Bewertung war streng -<br />

jeder auch noch so kle<strong>in</strong>e Fehler wurde gnadenlos mit e<strong>in</strong>er<br />

Viertelnote Abzug bewertet oder genauer bestraft, so dass<br />

jemand mit acht Fehlern gerade noch e<strong>in</strong>e 4 bekam.<br />

Dementsprechend gab es bei vielen e<strong>in</strong>en Absturz, von dem<br />

sich die meisten mit der Zeit aber erholen konnten, also nicht<br />

ganz so schlimm wie bei Tobi. Ich selbst weiss noch heute,<br />

dass ich bei ihm nie e<strong>in</strong>e ungenügende Note schrieb, aber ich<br />

schaffte es auch nur selten über e<strong>in</strong>e 5. Immer wenn ich<br />

glaubte, ich könne es diesmal packen <strong>und</strong> zur Abwechslung<br />

e<strong>in</strong>e Note über der 5, ja, sogar e<strong>in</strong>e 6 schreiben wie manchmal<br />

<strong>in</strong> Boutons Italienisch-St<strong>und</strong>en, kam irgendwie e<strong>in</strong>e Kle<strong>in</strong>igkeit<br />

dazwischen, die mich an diesen Träumen h<strong>in</strong>derte.<br />

Wie raff<strong>in</strong>iert er es verstand, die etwa fünfzehn Sätze, die er<br />

uns zuerst auf Deutsch diktierte <strong>und</strong> die wir nachher <strong>in</strong>s<br />

Englische übersetzen mussten, mit allem Möglichen zu<br />

vermischen, zeigte sich am meisten bei Orts- <strong>und</strong> Städtenamen<br />

<strong>und</strong> bei Personenbezeichnungen, die im Unterricht zuvor nur<br />

e<strong>in</strong>mal kurz erwähnt wurden. So erfuhr ich erst bei ihm, dass<br />

der bekannte italienische Urlaubsort Livorno auf Englisch<br />

Leghorn heisst <strong>und</strong> dass e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wohner von Aberdeen e<strong>in</strong><br />

Aberdonian ist. Da ich beim ersten Mal dieses Leghorn auch<br />

nicht wusste, weil ich vorher zu wenig aufgepasst hatte, fiel ich<br />

folgerichtig auch e<strong>in</strong>mal here<strong>in</strong>.<br />

Gerade was Aberdeen betrifft, gibt es über diese Stadt e<strong>in</strong>e<br />

besondere Geschichte. Im Gegensatz zu vielen anderen<br />

197


<strong>Lehrer</strong>n, die später Englisch unterrichtet haben <strong>und</strong> noch heute<br />

unterrichten, genügte es Kasi nicht, diese Sprache e<strong>in</strong>fach nur<br />

zu studieren, sondern er wollte das vor Ort selbst tun, <strong>und</strong> zwar<br />

nicht nur im Verlauf e<strong>in</strong>es vorgeschriebenen Semesters, wie<br />

das heute üblich ist, sondern mehrere Jahre lang; deshalb<br />

verlegte er se<strong>in</strong>en Wohnsitz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en jungen Jahren von der<br />

Schweiz nach Grossbritannien. Eigentlich wäre es nahe<br />

gelegen, se<strong>in</strong> Studium <strong>in</strong> England selber <strong>und</strong> am besten gleich<br />

im Zentrum London zu absolvieren, aber er entschied sich für<br />

Schottland - jedoch nicht für die politische Hauptstadt<br />

Ed<strong>in</strong>burgh, die auch nach Kasis Worten wie «Ed<strong>in</strong>bara»<br />

ausgesprochen wird, nicht für das Industriezentrum Glasgow<br />

<strong>und</strong> auch nicht für die nordöstliche Stadt D<strong>und</strong>ee, die vor allem<br />

durch den Fussballvere<strong>in</strong> D<strong>und</strong>ee United bekannt geworden ist,<br />

sondern eben für das noch nördlicher gelegene Aberdeen.<br />

Dieses stellte allerd<strong>in</strong>gs auch e<strong>in</strong>en bekannten Fussballvere<strong>in</strong>,<br />

der genauso wie die beiden grossen Vere<strong>in</strong>e Glasgow Rangers<br />

<strong>und</strong> Celtic Glasgow sogar e<strong>in</strong>en Europa-Pokal gew<strong>in</strong>nen konnte<br />

- im Jahr 1983 mit e<strong>in</strong>em 2:1 nach Verlängerung ausgerechnet<br />

gegen das grosse Real Madrid.<br />

In dieser Stadt studierte Kasi also Englisch mehrere Jahre lang,<br />

wie er später immer wieder stolz betonte, <strong>und</strong> aus dieser Zeit zu<br />

Beg<strong>in</strong>n der Dreissigerjahre soll wegen se<strong>in</strong>er Vorliebe für<br />

Kasimir-Zigarren auch se<strong>in</strong> Spitzname stammen, wie es immer<br />

hiess. Allerd<strong>in</strong>gs sahen wir ihn nie rauchen <strong>und</strong> hörten auch nie<br />

davon, dass er das tat. Wie sehr diese Zeit hoch oben im<br />

schottischen Norden ihn geprägt hatte, zeigte er e<strong>in</strong>es Tages<br />

auch mit e<strong>in</strong>em Lichtbildervortrag, bei dem er uns viele Bilder<br />

mit Kommilitonen <strong>und</strong> Professoren zeigte. Gerade <strong>in</strong> dieser<br />

besonderen St<strong>und</strong>e zeigte er uns e<strong>in</strong>drücklich, dass se<strong>in</strong>e<br />

Studienzeit nicht e<strong>in</strong>fach nur e<strong>in</strong> Studium war, sondern noch<br />

viel mehr, nämlich der Aufbau <strong>und</strong> das Hegen <strong>und</strong> Pflegen von<br />

Fre<strong>und</strong>schaften, die das ganze Leben lang anhalten können. In<br />

dieser Beziehung war noch so etwas wie e<strong>in</strong>e gute alte Zeit zu<br />

spüren: Man studierte nicht nur für sich alle<strong>in</strong>, sondern<br />

198


zusammen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe; dementsprechend litt man auch<br />

zusammen <strong>und</strong> freute sich gegenseitig vor allem dann, wenn<br />

alle die Prüfungen bestanden hatten.<br />

Diese vielen Bilder mit se<strong>in</strong>en Kommilitonen <strong>und</strong> Professoren<br />

waren für uns bloss die Bestätigung dessen, was wir schon<br />

lange wussten: Er verehrte alles, was irgendwie mit<br />

Grossbritannien zu tun hatte, <strong>und</strong> es versteht sich von selbst,<br />

dass dabei Schottland an erster Stelle stand. So war es<br />

folgerichtig, dass <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Zimmer gleich vier grosse<br />

Landkarten h<strong>in</strong>gen: Die e<strong>in</strong>e zeigte ganz Grossbritannien <strong>und</strong><br />

Irland zusammen - damit natürlich auch die kle<strong>in</strong>e Insel Man<br />

dazwischen -, die zweite nur England zusammen mit Wales, die<br />

dritte nur Schottland <strong>und</strong> die vierte schliesslich nur Irland.<br />

Dagegen war von der viel grösseren englischsprachigen Welt<br />

nichts zu sehen; es gab also ke<strong>in</strong>e Landkarten mit<br />

Nordamerika, Australien oder Neuseeland. Das passte eben<br />

auch zum Lernstoff, <strong>in</strong> dem nur das britische Englische<br />

vorgesehen war. Kasi konnte uns verschiedene E<strong>in</strong>zelheiten<br />

aus der etwas anders gelagerten Grammatik der<br />

amerikanischen Variante des Englischen, die schon vor e<strong>in</strong>em<br />

halben Jahrh<strong>und</strong>ert als gleichberechtigt galt, zwar schon<br />

erklären, aber er beschränkte sich auf das Britische, so oft es<br />

g<strong>in</strong>g.<br />

Diese Konzentration auf die britische Variante des Englischen<br />

war auch deshalb möglich, weil diese Schule wie oben im<br />

Vorwort erwähnt nur zwei Schüler hatte, die als<br />

Auslandschweizer <strong>in</strong> den USA aufgewachsen waren, aber<br />

schon bald wieder wegg<strong>in</strong>gen. Deshalb gab es für uns nicht das<br />

gleiche Problem wie e<strong>in</strong> paar Jahre später, als ich die<br />

Dolmetscherschule <strong>Zürich</strong> besuchte <strong>und</strong> dort im Englischen e<strong>in</strong><br />

Niveau erreichte, das sogar über das der Maturaprüfungen<br />

h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>g. Besonders <strong>in</strong> der Aussprache lernte ich sehr viel,<br />

weil ich immer den Ruf hatte, dass ich nur schwer zu verstehen<br />

war, wenn ich <strong>in</strong> dieser Sprache redete, <strong>und</strong> daran hat sich bis<br />

199


heute nichts geändert. Dabei lernten wir sogar die Oxford-<br />

Variante, die noch heute als die beste <strong>und</strong> fe<strong>in</strong>ste gilt, <strong>und</strong> ich<br />

darf bekennen, dass mir das gar nicht so schlecht gelungen ist.<br />

Obwohl auch dort eigentlich vorgesehen war, dass vor allem<br />

das britische Englische unterrichtet wurde, war es im<br />

Gegensatz zu den beiden Gymnasien <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> <strong>und</strong> <strong>Trogen</strong><br />

offiziell erlaubt, die Prüfungen auch <strong>in</strong> der amerikanischen<br />

Variante zu schreiben. Das hatte jedoch e<strong>in</strong>en Haken, der so<br />

aussah, wie es unser Englischlehrer - e<strong>in</strong> echter Engländer, der<br />

mit e<strong>in</strong>er Schweizer<strong>in</strong> verheiratet war <strong>und</strong> deshalb viele Jahre<br />

lang hier lebte <strong>und</strong> unterrichtete - so formulierte: "You can, but<br />

you must decide, so that you don't s<strong>in</strong>k somewhere <strong>in</strong> the<br />

Atlantic Ocean." Obwohl ich davon ausgehen kann, dass so gut<br />

wie alle, die diese Zeilen lesen, Englisch gut genug verstehen,<br />

br<strong>in</strong>ge ich noch die Übersetzung: "Sie können, aber Sie müssen<br />

sich entscheiden, so dass Sie nicht irgendwo im Atlantischen<br />

Ozean vers<strong>in</strong>ken."<br />

Trotz Kasis Verehrung, ja, sogar Leidenschaft für<br />

Grossbritannien <strong>und</strong> vor allem für Schottland lasen wir im<br />

Gegensatz zu Bouton ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges englischsprachiges Werk<br />

vollständig, aber viele Stücke wenigstens teilweise - allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht Shakespeare, den wir nicht nur wegen se<strong>in</strong>er<br />

mittelalterlichen Sprache sowieso nicht richtig verstanden<br />

hätten, sondern auch wegen se<strong>in</strong>er Ausdrucksweise, die ich<br />

damals genauso wie heute für etwas kompliziert halte.<br />

Immerh<strong>in</strong> weiss ich noch, dass se<strong>in</strong> Ausruf «Frailty, thy name is<br />

wife!» (Schwäche, de<strong>in</strong> Name ist Weib!) von Kasi mehrmals<br />

zitiert wurde. Ja, hätte dieser Dichter die spätere<br />

gesellschaftliche Entwicklung nur voraussehen können! Aber<br />

auch Kasi stellte diesen Ausruf nicht <strong>in</strong> Abrede, weil es<br />

offensichtlich war, dass er mit den Mädchen <strong>in</strong>sgesamt weniger<br />

klarkam als mit den Buben. Das zeigte er vor allem bei den<br />

beiden, die viele Jahre <strong>in</strong> Ghana verbracht hatten <strong>und</strong> deshalb<br />

nach se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung bei den Prüfungen viel besser hätten<br />

abschneiden müssen, <strong>und</strong> das sagte er auch ungeniert, <strong>in</strong>dem<br />

200


er sie regelmässig als Engländer<strong>in</strong>nen oder<br />

Halbengländer<strong>in</strong>nen bezeichnete. Damit hörte er erst dann auf,<br />

als e<strong>in</strong>em dieser beiden der Kragen platzte <strong>und</strong> sie mutig nach<br />

vorn rief: "Wir s<strong>in</strong>d gar ke<strong>in</strong>e Engländer<strong>in</strong>nen - <strong>und</strong> auch ke<strong>in</strong>e<br />

Halbengländer<strong>in</strong>nen!" Sie waren tatsächlich zwei<br />

Busenfre<strong>und</strong><strong>in</strong>nen, aber ihre Wege trennten sich noch vor<br />

me<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong>: Während jene, die so viel Mut<br />

zeigte, im Verlauf der sechsten Klasse ohne Vorankündigung<br />

plötzlich verschwand, bestand die andere e<strong>in</strong> Jahr später die<br />

Maturaprüfungen - <strong>und</strong> von beiden habe ich seitdem nie mehr<br />

etwas gehört oder gelesen.<br />

Se<strong>in</strong>e Verehrung vor allem für Schottland zeigte sich dar<strong>in</strong>,<br />

dass der Nationaldichter Robert Burns, für den er e<strong>in</strong>e<br />

besondere Schwäche hatte, auffallend oft zitiert wurde, <strong>und</strong><br />

dabei erwähnte er immer wieder den Beowulf, se<strong>in</strong><br />

bekanntestes Werk. Auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Bereich zeigte er<br />

uns, wie viel vor allem Schottland für ihn bedeutete: Obwohl<br />

Aberdeen <strong>und</strong> das weiter südliche gelegene D<strong>und</strong>ee <strong>und</strong> vor<br />

allem ihr Umfeld die Gegend ausmachen, <strong>in</strong> der das<br />

sogenannte Scots, also die schottische Variante des<br />

Englischen, die heute als e<strong>in</strong>e eigenständige Sprache gilt, die<br />

vorherrschende Umgangssprache ist, hatte er sich dort oben<br />

erstaunlich gute Kenntnisse der schottischen Variante des<br />

Gälischen angeeignet, die schon damals fast nur noch an der<br />

Westküste gesprochen wurde. Diese ist noch viel archaischer<br />

als die irische Variante des Gälischen <strong>und</strong> wird heute nur noch<br />

von wenigen Tausend Menschen gesprochen, war aber vor<br />

neunzig Jahren noch viel mehr verbreitet als heute. Zudem<br />

hatte er auch gute Gr<strong>und</strong>kenntnisse der gerade erwähnten<br />

irischen Variante des Gälischen sowie des Walisischen <strong>und</strong> des<br />

Manx - auf der oben erwähnten Insel Man -, aber nicht des<br />

Kornischen, das vor e<strong>in</strong>em halben Jahrh<strong>und</strong>ert schon als<br />

ausgestorben galt, aber heute genauso wie das Manx, dem<br />

dieser Tod später nachgesagt wurde, durch erstaunlich viele<br />

Zweitsprachler wiederbelebt worden ist. So soll es heute wieder<br />

201


Familien geben, <strong>in</strong> denen bewusst nur Kornisch gesprochen<br />

wird. Da drängt sich e<strong>in</strong>e Parallele zu Elieser Ben Jehuda auf,<br />

der als der eigentliche Vater des neugeschaffenen Hebräischen<br />

gilt, auch dank se<strong>in</strong>er Eltern, die als Zweitsprachler nach se<strong>in</strong>er<br />

Geburt mit ihm <strong>und</strong> auch mite<strong>in</strong>ander ausschliesslich <strong>in</strong> dieser<br />

Sprache redeten, <strong>und</strong> als er noch als Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d die ersten Sätze<br />

von alle<strong>in</strong> stammeln konnte, sagte se<strong>in</strong> Vater zur Mutter: "Jetzt<br />

ist das Hebräische zum ersten Mal seit 2'000 Jahren wieder<br />

lebendig geworden." So wird es jedenfalls berichtet.<br />

Diese Verehrung für alles, was mit Grossbritannien <strong>und</strong> der<br />

englischen Sprache zu tun hatte - genauso stark <strong>und</strong> <strong>in</strong>tensiv<br />

wie jene, die Bouton für das Französische <strong>und</strong> Italienische<br />

empfand -, zeigte sich bei Kasi auch dadurch, dass wir<br />

zusammen echte britische Lieder aus allen Landesteilen<br />

sangen. Dabei s<strong>in</strong>d mir freilich nur noch das Lied vom Loch<br />

Lomond, "Oh my darl<strong>in</strong>g Clement<strong>in</strong>e" <strong>und</strong> das amerikanische<br />

"Glory, glory Hallelujah" über John Browns Body <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung<br />

geblieben; allerd<strong>in</strong>gs haben wir diese drei auch e<strong>in</strong>deutig am<br />

meisten gesungen. Besonders vor dem Ferienbeg<strong>in</strong>n <strong>und</strong> erst<br />

recht vor den Weihnachten sang Kasi diese Lieder gern mit<br />

uns, wobei er natürlich mitsang. Dabei sangen wir <strong>und</strong> auch die<br />

anderen Klassen manchmal so laut, dass der Gesang auch <strong>in</strong><br />

anderen Zimmern zu hören war. So er<strong>in</strong>nere ich mich noch,<br />

dass wir das e<strong>in</strong>mal hörten, als wir gerade bei Bouton waren.<br />

Das weiss ich auch deshalb noch so gut, weil dieser direkt unter<br />

Kasis Zimmer unterrichtete. Als e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e andere Klasse die<br />

Töne nicht sauber erwischte <strong>und</strong> es zudem e<strong>in</strong> schwermütiges<br />

Lied war, so wie Schottland genauso wie alle anderen im<br />

Norden gelegenen Länder viele von denen hat, fragte Bouton <strong>in</strong><br />

die R<strong>und</strong>e: "Ist das e<strong>in</strong> Grabgesang?" Er hatte tatsächlich auch<br />

S<strong>in</strong>n für Humor <strong>und</strong> für e<strong>in</strong>mal war Lachen erlaubt. Ich bekenne<br />

aber noch heute, dass ich <strong>in</strong> jener St<strong>und</strong>e diese Klasse<br />

beneidete, weil ich dort oben lieber mitgesungen hätte, als beim<br />

zeitweise mürrischen <strong>und</strong> immer schwer zu berechnenden<br />

Bouton französische Grammatik zu büffeln.<br />

202


Warum ich gerade an Kasi e<strong>in</strong>en solchen Gefallen gef<strong>und</strong>en<br />

habe, liegt an zwei Gründen. Der e<strong>in</strong>e war der, dass er trotz des<br />

schweren Stoffes, den er uns vermittelte, <strong>und</strong> trotz der<br />

schweren Prüfungen viel Wärme ausstrahlte, so dass es schon<br />

fast natürlich war, dass er immer wieder sagte: "Ihr seid alle so<br />

liebe Kerle." Oder auch zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen: "Er ist e<strong>in</strong> so lieber<br />

Kerl." Diese zweite Variante sagte er dann doch lieber <strong>in</strong> der Er-<br />

Version, ich habe die zweite Person E<strong>in</strong>zahl von ihm tatsächlich<br />

nie gehört. Es störte uns nicht weiter, dass er die Mädchen nie<br />

erwähnte, weil wir davon ausg<strong>in</strong>gen, dass diese damit auch<br />

geme<strong>in</strong>t waren, aber er kam <strong>in</strong>sgesamt mit den Buben, wie er<br />

uns auch <strong>in</strong> den höheren Klassen noch nannte, wie schon<br />

erwähnt etwas klarer zurecht. Immerh<strong>in</strong> wurde das mit den<br />

lieben Kerlen so legendär, dass auch dies im "Monumentum"<br />

besonders erwähnt wurde.<br />

Der zweite Gr<strong>und</strong> für me<strong>in</strong>e besondere H<strong>in</strong>wendung zu Kasi<br />

liegt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er persönlichen Begegnung ausserhalb der Schulzeit.<br />

Tatsächlich traf ich ihn im Juli 1970 durch Zufall e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der<br />

Stadt <strong>Zürich</strong>, als ich die paar Ferienwochen bei me<strong>in</strong>em Vater<br />

<strong>in</strong> der Nähe des Friedhofs Sihlfeld verbrachte, der noch heute<br />

der grösste <strong>in</strong> der ganzen Schweiz ist <strong>und</strong> wo viele berühmte<br />

Personen begraben liegen. Wie ich e<strong>in</strong>mal kurz nach dem<br />

Mittagessen aufs Geratewohl h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>g, um e<strong>in</strong>en<br />

Spaziergang zu machen, sah ich auf der anderen Strassenseite<br />

plötzlich jemanden, der mir bekannt vorkam. So schaute ich<br />

genauer h<strong>in</strong> <strong>und</strong> erkannte Kasi, der zu me<strong>in</strong>er grossen<br />

Überraschung ausgerechnet hier vorbeikam. Obwohl er ke<strong>in</strong>e<br />

Blumen bei sich trug, denke ich noch heute, dass er auf dem<br />

Weg zum Friedhof war, entweder um e<strong>in</strong> Grab zu besuchen<br />

oder dort jemanden zu treffen. Natürlich erkannte er auch mich<br />

bald <strong>und</strong> so kam es zum ersten direkten persönlichen Gespräch<br />

mit ihm, Auge <strong>und</strong> Auge <strong>und</strong> beide etwa gleich gross, aber ich<br />

war <strong>in</strong> diesem Alter natürlich noch nicht ganz ausgewachsen.<br />

In me<strong>in</strong>er immer wieder vorkommenden Kühnheit, die <strong>in</strong><br />

203


späteren Jahren noch manchem sauer aufstiess, sagte ich ihm<br />

direkt, dass ich sehr darüber überrascht war, ihn ausgerechnet<br />

hier zu treffen. Da entgegnete er mir, dass er ursprünglich auch<br />

e<strong>in</strong> Stadtbub war <strong>und</strong> hier viel vorbeikam. Ich kann noch heute<br />

bezeugen, dass er das gleiche astre<strong>in</strong>e <strong>Zürich</strong>deutsche sprach<br />

wie ich. Das erwähne ich deshalb, weil noch heute <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Schulchronik steht, dass er e<strong>in</strong> Aargauer war. Es kann<br />

durchaus se<strong>in</strong>, dass er von Baden stammte, wo heute fast<br />

gleich wie <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> gesprochen wird, wie mir das e<strong>in</strong> Bekannter<br />

sagte, der selber dort aufgewachsen war, aber ich b<strong>in</strong> sicher,<br />

dass se<strong>in</strong>e Wurzeln <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> waren, sonst hätte er kaum e<strong>in</strong>en<br />

Besuch ausgerechnet <strong>in</strong> diesem Friedhof gemacht. Unser<br />

Gespräch dauerte zwar nur kurz, bevor unsere Wege sich<br />

wieder trennten, aber es bedeutete mir sehr viel. Ich dachte<br />

überhaupt nicht daran, dass diese paar M<strong>in</strong>uten vielleicht zu<br />

e<strong>in</strong>er Vorzugsbehandlung führen konnten, die ich auch gar nie<br />

gewollt hätte, aber sie zeigten mir wenigstens diesen e<strong>in</strong>en<br />

<strong>Lehrer</strong> von e<strong>in</strong>er ganz anderen persönlichen Seite.<br />

Wir erfuhren nie so richtig, dass Kasi äusserst musikalisch war<br />

<strong>und</strong> hervorragend Klavier spielte, doch er selbst tat auch alles<br />

dafür, dass dies nicht allzu bekannt wurde. Er war eben nicht<br />

nur warmherzig, sondern auch viel zu bescheiden, um sich hier<br />

allzu stark aus dem Fenster zu lehnen. Dass er aber für Musik<br />

sehr viel übrighatte, konnten wir neben dem S<strong>in</strong>gen auch daran<br />

erkennen, dass er immer wieder betonte, wie sehr er<br />

Beethoven schätzte, also ähnlich wie me<strong>in</strong> Vater. Als er uns<br />

e<strong>in</strong>mal fragte, was dieser alles komponiert hatte, kamen wir fast<br />

an ke<strong>in</strong> Ende: Sonaten aller Arten, Sonat<strong>in</strong>en aller Arten,<br />

Kirchenmusik, neun S<strong>in</strong>fonien <strong>und</strong> sogar noch e<strong>in</strong>e Oper - zwar<br />

nur e<strong>in</strong>e, aber wenigstens ist "Fidelio" noch heute weltbekannt.<br />

Wie so vielen anderen hat es Kasi am meisten die neunte<br />

S<strong>in</strong>fonie mit der Schlussode <strong>und</strong> den e<strong>in</strong>leitenden Worten<br />

"Freude, schöner Götterfunken ..." angetan. Es war e<strong>in</strong>es von<br />

Beethovens letzten Werken; dementsprechend war dieses<br />

Werk auch se<strong>in</strong> Abschiedsgeschenk für die Welt, obwohl die<br />

204


Uraufführung mehr als zwei Jahre vor se<strong>in</strong>em Ableben stattfand<br />

- natürlich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wohnort Wien, die nicht nur ich als die<br />

grösste Musikstadt aller Zeiten bezeichne, weil dort neben<br />

Beethoven noch viele andere hochkarätige Komponisten<br />

gewirkt haben <strong>und</strong> zum grössten Teil auch begraben liegen.<br />

Hätte ich ihn auch nur e<strong>in</strong>mal direkt gefragt, welches Musikwerk<br />

am schwersten zu spielen <strong>und</strong> zu s<strong>in</strong>gen sei, hätte ich von ihm<br />

wohl die gleiche Antwort bekommen, die ich schon damals<br />

gewusst oder m<strong>in</strong>destens geahnt habe: Es ist e<strong>in</strong>deutig dieser<br />

letzte Teil von Beethovens neunter S<strong>in</strong>fonie, wenn der Chor,<br />

der bisher noch gesessen hat, aufsteht <strong>und</strong> der Sänger, der die<br />

Bass-Teile s<strong>in</strong>gt, mit diesen Worten beg<strong>in</strong>nt: «Oh Fre<strong>und</strong>e,<br />

nicht diese Töne! ...».<br />

Mit Kasi selbst gab es auch e<strong>in</strong>en besonderen Abschied: Er war<br />

der letzte <strong>Lehrer</strong>, bei dem ich noch e<strong>in</strong> Ex schrieb - noch <strong>in</strong> den<br />

ersten Tagen des Monats April 1973, als es schon lange<br />

feststand, dass ich diese Schule verlassen musste. Ich strengte<br />

mich aber trotzdem noch an, weil ich die Serie, dass ich bei ihm<br />

nie e<strong>in</strong>e ungenügende Note schrieb, nicht jetzt noch abreissen<br />

lassen wollte. Tatsächlich gelang mir das - ich habe auch<br />

dieses Heft, <strong>in</strong> dem ich diese Prüfung schrieb, noch bis heute<br />

aufbewahrt <strong>und</strong> wie e<strong>in</strong>en Augapfel gehütet.<br />

Nach me<strong>in</strong>em Wegzug von dieser Schule unterrichtete Kasi,<br />

der schon damals mehr als 64-jährig war, aber trotzdem noch<br />

erstaunlich jung aussah, nur noch wenige Monate, aber noch<br />

e<strong>in</strong> wenig über die offizielle Pensionierung h<strong>in</strong>aus, bis es<br />

endgültig feststand, wer se<strong>in</strong> Nachfolger wurde. Nachher zog er<br />

sich endgültig zurück <strong>und</strong> genoss se<strong>in</strong>e letzten paar<br />

Lebensjahrzehnte, <strong>in</strong>dem er weiter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em eigenen<br />

Häuschen wohnte, das von der Schule aus sogar gesehen<br />

werden konnte. Dieses Häuschen hatte es <strong>in</strong> sich: Es lag direkt<br />

an e<strong>in</strong>em Weg, der ihm zu Ehren den Spitznamen «Kasigasse»<br />

bekommen hatte - <strong>und</strong> dieser Weg war der gleiche, von dem<br />

aus Doktor Stilfibel se<strong>in</strong>erzeit über das noch ungeschnittene<br />

205


Gras schritt, nur um geme<strong>in</strong>sam mit mir zur Schule gehen zu<br />

können.<br />

Auch Kasi blieb also <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong>, was nichts als logisch war;<br />

schliesslich lebte er schon damals seit mehr als drei<br />

Jahrzehnten dort - <strong>und</strong> woh<strong>in</strong> hätte er denn ziehen sollen?<br />

Gerade auch dies war ebenfalls erstaunlich, passte jedoch<br />

ebenfalls zu ihm: Wir sahen zwar se<strong>in</strong> Heim, aber sonst<br />

wussten wir wenig bis nichts über ihn, etwa ob er K<strong>in</strong>der hatte<br />

<strong>und</strong> wie viele es waren. Ich schreibe hier bewusst<br />

Lebensjahrzehnte, weil auch er nach se<strong>in</strong>er Versetzung <strong>in</strong> den<br />

Ruhestand noch sehr lange lebte <strong>und</strong> das gleiche Alter wie<br />

Voser <strong>und</strong> Pieps erreichte, also ebenfalls 98-jährig wurde. Die<br />

<strong>Trogen</strong>er Luft <strong>in</strong> der Höhe muss den <strong>Lehrer</strong>n wirklich gut<br />

bekommen se<strong>in</strong>, weil auffallend viele von ihnen die Limite von<br />

80 <strong>und</strong> sogar 90 Lebensjahren überschritten haben, so neben<br />

Pieps, Tobi, Bouton <strong>und</strong> Kasi auch der zweite Rektor, den ich<br />

noch erlebte <strong>und</strong> weiter unten auch noch vorstellen werde.<br />

Der Progressive<br />

Ab der zweiten Hälfte der dritten Klasse hatten wir neben den<br />

fünf, die uns zu Beg<strong>in</strong>n dieser Klasse zugeteilt worden waren,<br />

zwei weitere neue <strong>Lehrer</strong>. E<strong>in</strong>er von ihnen war der Progressive,<br />

den ich nicht deshalb so bezeichne, weil er es wagte, lange<br />

Haare zu tragen, die am Ende der Sechzigerjahre schon <strong>in</strong> der<br />

ganzen Welt e<strong>in</strong> Markenzeichen waren, sondern wegen der Art<br />

se<strong>in</strong>es Unterrichts <strong>und</strong> teilweise auch wegen se<strong>in</strong>er politischen<br />

Ansichten. So gesehen kann dieser Titel auch ironisch<br />

verstanden werden.<br />

Angesichts se<strong>in</strong>er rhetorischen Fähigkeiten <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Worte,<br />

die an die Anführer der Studentenrevolten von 1968 er<strong>in</strong>nerten,<br />

war es wirklich erstaunlich, dass er genauso wie alle anderen<br />

<strong>Lehrer</strong> mit Ausnahme von Schorsch II kurze Haare trug, die<br />

206


allerd<strong>in</strong>gs gut zum Gesicht passten. Von allen <strong>Lehrer</strong>n, die ich<br />

im Gymnasium jemals hatte, war dieser e<strong>in</strong>deutig der jüngste,<br />

genau zehn Jahre älter als ich. Das weiss ich deshalb so gut,<br />

weil er später <strong>in</strong> die Politik e<strong>in</strong>stieg <strong>und</strong> damit auch e<strong>in</strong>e Person<br />

des öffentlichen Interesses wurde, wie das heute so schön<br />

heisst. Auch se<strong>in</strong>e Art des Unterrichts war neu, so stand er die<br />

meiste Zeit direkt vor uns <strong>und</strong> setzte sich so gut wie nie. Ich<br />

hatte das zuvor schon bei Marxer <strong>und</strong> Voser erlebt, aber nie so<br />

<strong>in</strong>tensiv wie bei ihm; immerh<strong>in</strong> setzten sich diese beiden<br />

wenigstens manchmal <strong>in</strong>mitten des Unterrichts, aber er ke<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>ziges Mal - jedenfalls kann ich mich nicht daran er<strong>in</strong>nern.<br />

Die Wörter Marxer <strong>und</strong> Voser verraten es: Dieser <strong>Lehrer</strong> war ab<br />

der zweiten Hälfte der dritten Klasse unser neuer Deutschlehrer<br />

als Nachfolger von Doktor Stilfibel. Nach den beiden <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong><br />

<strong>und</strong> diesem Gastlehrer aus Österreich war dieser also schon<br />

me<strong>in</strong> vierter <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> diesem Fach. Es ist nicht ohne Ironie,<br />

dass dieser Neue ausgerechnet der Gleiche war, der zuvor<br />

nach Doktor Stilfibels Me<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vierten Klasse vieles so<br />

falsch unterrichtet hatte, dass er dort den gleichen Stoff<br />

nachholen liess. Was den Grammatikteil betrifft, war dieser<br />

<strong>Lehrer</strong> für uns e<strong>in</strong> Glücksfall, weil wir <strong>in</strong> diesem Bereich nicht<br />

allzu viel zu büffeln hatten. Dabei kam es uns auch entgegen,<br />

dass wir von der Re<strong>in</strong>ers-Stilfibel immer noch so stark geprägt,<br />

aber auch gezeichnet waren, dass wir die ganze deutsche<br />

Grammatik bereits <strong>in</strong>- <strong>und</strong> auswendig kannten - aber natürlich<br />

übertreibe ich jetzt e<strong>in</strong> wenig.<br />

Wir hatten bei diesem <strong>Lehrer</strong> zwar nur wenig Grammatik, aber<br />

er machte das dadurch wett, dass wir bei ihm auffallend viele<br />

Aufsätze schreiben mussten oder durften. Bei mir war das<br />

tatsächlich e<strong>in</strong> Dürfen, weil dieser Teil des Deutschunterrichts<br />

mir immer besonders lag <strong>und</strong> ich nicht e<strong>in</strong>mal bei den <strong>Lehrer</strong>n,<br />

die mich so wie Marxer, Voser <strong>und</strong> e<strong>in</strong> anderer, den ich weiter<br />

unten noch vorstellen werde, als schwächer e<strong>in</strong>stuften, jemals<br />

e<strong>in</strong>e ungenügende Note bekommen habe. Ich erreichte zwar<br />

207


nur selten e<strong>in</strong>e Note um die 5 oder noch höher, aber ich turnte<br />

immer zwischen e<strong>in</strong>er 4 <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er 5 herum, wie ich noch heute<br />

gut weiss.<br />

Das grösste Problem bei ihm bestand ohneh<strong>in</strong> dar<strong>in</strong>, dass er<br />

me<strong>in</strong>e Worte nur schwer identifizieren konnte. Wie ich es oben<br />

bei Schorsch II geschrieben habe, gab es e<strong>in</strong>en <strong>Lehrer</strong>, der<br />

sich über me<strong>in</strong>e Schrift beschwerte, <strong>und</strong> das war er. So schrieb<br />

er e<strong>in</strong>mal ungeniert am Ende e<strong>in</strong>es Aufsatzes als<br />

Zusatzkommentar: "Ich habe Mühe, de<strong>in</strong>e Schrift zu lesen."<br />

Fortan bemühte ich mich ehrlich darum, mich <strong>in</strong> diesem Bereich<br />

zu verbessern, <strong>und</strong> ich glaube noch heute, dass mir das nicht<br />

allzu schlecht gelungen ist.<br />

Ansonsten konnte er mit mir zufrieden se<strong>in</strong>. Die besondere<br />

Stärke <strong>in</strong> den Aufsätzen kam mir e<strong>in</strong>mal zugute, als ich das<br />

Thema "Die letzten M<strong>in</strong>uten vor dem Tod" behandelte. Ich<br />

weiss nicht mehr, ob alle dieses Thema beschreiben mussten<br />

oder ob zwischen verschiedenen gewählt werden konnte. Für<br />

e<strong>in</strong>mal traf ich <strong>in</strong>s Schwarze: <strong>Me<strong>in</strong>e</strong> Sätze, die im letzten Satz<br />

"Jenseits, ich komme!" ihren Höhepunkt hatten, gefielen diesem<br />

<strong>Lehrer</strong> derart gut, dass er unten "Teilweise brillant, vor allem<br />

am Schluss!" schrieb <strong>und</strong> mir dazu e<strong>in</strong>e glatte 6 gab; tatsächlich<br />

stand am Schluss dieses Lobes e<strong>in</strong> Ausrufezeichen. Es<br />

versteht sich von selbst, dass ich auch dieses Heft, <strong>in</strong> dem ich<br />

diesen Aufsatz schrieb, noch bis heute genauso wie jenes im<br />

Englisch-Unterricht mit dem letzten Ex bei Kasi noch bis heute<br />

aufbewahrt <strong>und</strong> wie e<strong>in</strong>en Augapfel gehütet habe. Nach der 6<br />

im Italienisch-Unterricht bei Bouton - <strong>und</strong> dies sogar im<br />

Zeugnis, bei den Prüfungen hatte ich ohneh<strong>in</strong> schon mehrere<br />

bekommen - war dies also der zweite Höhepunkt <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

langen <strong>und</strong> steilen Gymi-Karriere, <strong>und</strong> wie oben erwähnt<br />

gesellten sich später <strong>in</strong> der vierten Klasse noch zwei weitere 6<br />

<strong>in</strong> der Algebra dazu.<br />

In diesem Aufsatz mit der e<strong>in</strong>zigen 6, die ich jemals im Deutsch-<br />

208


Unterricht bekommen habe, schrieb ich am Schluss, dass ich<br />

nicht glaubte, es gebe nach dem Tod irgendwie weiter, sondern<br />

davon überzeugt war, dass danach alles vorbei sei. Schliesslich<br />

war auch ich genauso wie fast alle anderen so modern <strong>und</strong><br />

progressiv, dass ich ganz e<strong>in</strong>fach nicht daran glauben konnte,<br />

<strong>und</strong> trotz me<strong>in</strong>er Prägung durch die Sonntagsschule <strong>und</strong><br />

Oetiker im Gymnasium <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> konnte ich mir schlicht nichts<br />

anderes vorstellen. Es waren sicher gerade diese Worte, die<br />

diesem <strong>Lehrer</strong> so gut gefielen. Das bestätigte se<strong>in</strong> späteres<br />

Wirken bei den Sozialdemokraten, die den Atheismus schon<br />

immer hochgeschrieben haben <strong>und</strong> bei ihren<br />

Parteiversammlungen wie oben bei Voser erwähnt noch heute<br />

die "Internationale" s<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> dabei zugleich die rechte Faust<br />

hochhalten, obwohl sie genauso wie die deutsche SPD <strong>und</strong> die<br />

österreichische SPÖ dem Marxismus offiziell abgeschworen<br />

haben <strong>und</strong> vom kommunistischen Gedankengut abgerückt s<strong>in</strong>d.<br />

Sie beteuerten das zwar immer wieder, aber alle<strong>in</strong> der Besuch,<br />

den Helmut Hubacher, der damalige Vorsitzende der Schweizer<br />

Sozialdemokraten, im Jahr 1982 <strong>in</strong> Ost-Berl<strong>in</strong> beim SED-<br />

Vorsitzenden <strong>und</strong> Stal<strong>in</strong>-Verherrlicher Honecker machte, der<br />

vor allem als der Hauptorganisator des Berl<strong>in</strong>er Mauerbaus<br />

bekannt geworden war, lässt mich daran zweifeln. Dazu<br />

gehören auch die «brüderlichen» Grüsse an die rumänischen<br />

Genossen anlässlich ihres letzten Parteikongresses noch kurz<br />

vor dem Sturz des Diktators, der sich mit dem Wort<br />

«Conducator» (Anführer) genauso wie Castro auf Kuba e<strong>in</strong>en<br />

ähnlich lautenden Ehrentitel gegeben hatte. Den negativen<br />

Höhepunkt leistete sich aber Peter Vollmer, e<strong>in</strong> Nationalrat <strong>und</strong><br />

Busenfre<strong>und</strong> von Hubacher, als er bei e<strong>in</strong>em «brüderlichen»<br />

Besuch <strong>in</strong> Nordkorea ungeniert sagte, dass die dortigen Berge<br />

ihn ans Emmental er<strong>in</strong>nerten, von dem er stammte. Auf diesen<br />

Bergen waren e<strong>in</strong> halbes Jahrh<strong>und</strong>ert zuvor bei heftigen<br />

Kämpfen, die von se<strong>in</strong>en Genossen vom Zaun gerissen worden<br />

waren, mehrere 100'000 Soldaten ums Leben gekommen. Ich<br />

sage heute sogar noch deutlicher als <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en jungen Jahren,<br />

209


dass jegliche Kumpanei mit den Kommunisten mit wirklicher<br />

Sozialdemokratie nichts zu tun hat <strong>und</strong> sogar e<strong>in</strong> Verrat an der<br />

Arbeiterklasse ist. Wie ich es oben schon bei Voser<br />

geschrieben habe, fühlte ich mich eigentlich immer zu dieser<br />

Partei h<strong>in</strong>gezogen, aber alle<strong>in</strong> der Gedanke, dass ich mit<br />

fanatischen Marxisten mit ihrem allzu e<strong>in</strong>seitigen Weltbild<br />

zusammenarbeiten müsste, verursacht bei mir noch heute<br />

Magenkrämpfe. Ich erwähne hier die Sozialisten bewusst nicht,<br />

weil ich es ihnen noch heute hoch anrechne, dass die Welt es<br />

vor allem ihnen zu verdanken hat, dass aus Portugal nach dem<br />

Sturz der faschistischen Diktatur im April 1974 ke<strong>in</strong> sowjetischer<br />

Stützpunkt <strong>in</strong> Westeuropa wurde. Der damalige KP-<br />

Vorsitzende, der sich immer wieder geschickt <strong>in</strong> Szene zu<br />

setzen wusste, machte ja nie e<strong>in</strong> Geheimnis daraus, welches<br />

se<strong>in</strong>e Pläne <strong>und</strong> Ziele waren, <strong>und</strong> dass se<strong>in</strong>e geistige Heimat<br />

die Gulag-Sowjetunion war, <strong>und</strong> auch er bekam <strong>in</strong> der Schweiz<br />

von l<strong>in</strong>ker Seite aus erstaunlich viel Unterstützung.<br />

Wie die Ges<strong>in</strong>nung des Progressiven ausgerichtet war, konnten<br />

wir auch am e<strong>in</strong>zigen politischen Theaterstück erkennen, das er<br />

nach dem Stück «Der Besuch der alten Dame» von Friedrich<br />

Dürrenmatt mit uns behandelte, obwohl uns das <strong>in</strong> diesem<br />

jungen Alter noch nicht so richtig bewusst wurde: Es war «Der<br />

gute Mensch von Sezuan» von Bertolt Brecht, von dem er sehr<br />

viel hielt; dementsprechend war dieser der E<strong>in</strong>zige, auf den er<br />

näher e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g, so dass er auch von ihm wie damals Arm<strong>in</strong> bei<br />

den Komponisten <strong>und</strong> Schorsch II bei den Malern fast se<strong>in</strong><br />

ganzes Leben erzählte. Da wir noch viel zu jung waren, um die<br />

politischen Aussagen zu erkennen, wenn die schwangere Shen<br />

Te sich zeitweise als den Ausbeuter Shui Ta ausgibt, also e<strong>in</strong>en<br />

Mann spielt, g<strong>in</strong>g dieses Stück an mir vorbei, genauso wie alle<br />

anderen Werke dieses Stückeschreibers, wie er sich selbst<br />

nannte. Allerd<strong>in</strong>gs muss ich zugeben, dass ich mit Theater nie<br />

allzu viel anfangen konnte, wenn ich e<strong>in</strong>mal von Friedrich<br />

Dürrenmatt absehe, den ich genauso wie se<strong>in</strong>en geistigen<br />

Kumpan Max Frisch durch mehrere glückliche Umstände sogar<br />

210


persönlich kennen lernen konnte, aber es würde zu weit führen,<br />

hier alle E<strong>in</strong>zelheiten zu erzählen.<br />

Was Brecht betrifft, wurde dieser für me<strong>in</strong>en Geschmack schon<br />

immer zu stark hochgejubelt. Wenn sich jemand nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg, als die Kulturschaffenden sich genauso wie<br />

die Politiker entscheiden mussten, ob sie sich im Westen oder<br />

im Osten niederlassen wollten, sich für Ost-Berl<strong>in</strong> entschied <strong>und</strong><br />

nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 genauso wie andere<br />

die oben erwähnte bekannte Faschisten-Keule auspackte <strong>und</strong><br />

sich nicht davor scheute, im Jahr 1955 <strong>in</strong> Moskau den<br />

sogenannten <strong>in</strong>ternationalen Stal<strong>in</strong>-Friedenspreis<br />

entgegenzunehmen, zeigt mir das deutlich, auf welcher Seite<br />

e<strong>in</strong> solcher stand. Daran ändert sich auch nichts, dass er nach<br />

diesem angeblichen faschistischen Komplott, das dank der<br />

«lieben» Sowjets niedergeschlagen wurde, diese Massnahmen<br />

als zu hart empfand <strong>und</strong> den Machthabern dementsprechend<br />

deutliche Worte schrieb, von denen nicht alle veröffentlicht<br />

wurden.<br />

Das Gleiche sage ich auch über den Liedersänger Wolf<br />

Biermann, der <strong>in</strong> der Mitte der Siebzigerjahre nach e<strong>in</strong>em<br />

Konzert im Westen ausgebürgert wurde. Auch dieser packte die<br />

Faschisten-Keule aus, als er auf den 17. Juni 1953<br />

angesprochen wurde, <strong>und</strong> es wurde immer wieder<br />

unterschlagen, dass dieser politische Barde, der am 13. August<br />

1961, also am Tag der endgültigen Abriegelung vom Westen,<br />

noch Flugblätter verteilte, auf denen von der Notwendigkeit<br />

dieser Massnahme zum Vermeiden e<strong>in</strong>es angeblich vom<br />

Westen vorbereiteten Kriegs fantasiert wurde, ke<strong>in</strong>eswegs das<br />

DDR-System mit Mauer <strong>und</strong> Stacheldraht <strong>in</strong> Frage stellte,<br />

sondern vor allem die Alle<strong>in</strong>herrschaft der SED kritisierte. Hätte<br />

er ke<strong>in</strong>en Bonus gehabt, den er se<strong>in</strong>en Eltern verdankte, die<br />

bekannte Widerstandskämpfer gegen die Nazis gewesen<br />

waren, wäre sicher auch er wie so viele andere im DDR-Gulag<br />

verschw<strong>und</strong>en - entweder im Stasi-Gefängnis Berl<strong>in</strong>-<br />

211


Hohenschönhausen, das mit der Lubjanka <strong>in</strong> Moskau<br />

verglichen werden konnte, oder im KZ Bautzen, wie es im<br />

Volksm<strong>und</strong> genannt wurde, aber auch für die schweizerischen<br />

Genoss<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Genossen war das nie e<strong>in</strong> Thema. Gerade<br />

deshalb, weil dieser, der ebenfalls zu denen gehörte, die sich<br />

freiwillig im Osten niedergelassen hatten, das DDR-System an<br />

sich nie kritisierte, war er im Westen der beste Propagandist für<br />

diesen Staat, so dass die Machthaber mitsamt den Stasi-Leuten<br />

auch nie e<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong> sahen, gegen ihn so vorzugehen, wie sie<br />

das mit anderen gemacht hatten. Es wurde im Westen nie so<br />

richtig bekannt, dass jemand auch nach e<strong>in</strong>er Flucht nie wirklich<br />

sicher se<strong>in</strong> konnte, was zahlreiche Morde auf westlichem<br />

Territorium bewiesen haben. Dazu gehörte <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> auch der<br />

bekannte Fluchthelfer Hans Ulrich Lenzl<strong>in</strong>ger, der selbst ke<strong>in</strong><br />

ehemaliger Flüchtl<strong>in</strong>g war, aber viele aus der DDR<br />

ausgeschleust hatte. Heute wissen wir, dass es Stasi-Agenten<br />

waren, die dabei auch logistische Hilfe von e<strong>in</strong>heimischen<br />

L<strong>in</strong>ksextremen bekamen, aber der letzte Beweis dafür fehlt, weil<br />

diese noch heute genauso schweigen wie die noch lebenden<br />

ehemaligen RAF-Terroristen, von denen viele <strong>in</strong> der DDR<br />

Unterschlupf fanden <strong>und</strong> noch ke<strong>in</strong> E<strong>in</strong>ziger irgende<strong>in</strong>e Reue<br />

für die vielen Morde gezeigt hat.<br />

Wieder zurück zum Progressiven: Gerade diese politische<br />

Ausrichtung, die wir schon <strong>in</strong> Ansätzen erkennen konnten, war<br />

die andere Seite se<strong>in</strong>es Unterrichts, an dessen Qualitäten ich<br />

nie gezweifelt habe. Wir waren mit unseren 15 bis 16 Jahren<br />

zwar noch zu jung, um alle politischen Zusammenhänge richtig<br />

begreifen zu können, aber wenn jemand e<strong>in</strong>en Terroranschlag<br />

mit <strong>in</strong>direkten Worten gutheisst, wie er das tat, konnten auch wir<br />

verstehen, dass dies zu weit g<strong>in</strong>g. Selbst nach der Flugzeug-<br />

Katastrophe von Würenl<strong>in</strong>gen, bei der im Februar 1970 e<strong>in</strong><br />

Swissair-Flugzeug von paläst<strong>in</strong>ensischen Terroristen zum<br />

Absturz gebracht worden war - damals war das bei den noch<br />

zahlreichen vorhandenen technischen Lücken möglich -, stellte<br />

er sich auf die anti-israelische Seite, <strong>in</strong>dem er irgendetwas von<br />

212


Befreiung schwafelte <strong>und</strong> davon, dass Paläst<strong>in</strong>a schliesslich<br />

auch ihre Heimat sei. Bei dieser Diskussion war es das e<strong>in</strong>zige<br />

Mal, dass wir zwei mit Worten ane<strong>in</strong>andergerieten, weil ich<br />

auch der E<strong>in</strong>zige war, der es wagte, den M<strong>und</strong> zu öffnen.<br />

Schon damals hatte ich Mühe, mich immer so anzupassen,<br />

dass ich das Schweigen vorzog; das hat mir später im<br />

Berufsleben immer wieder <strong>in</strong>sofern geschadet, als ich nicht so<br />

wie mancher andere, der eigentlich weniger gut qualifiziert war,<br />

an mir vorbei aufsteigen konnte, aber ich habe wenigstens<br />

nirgendwo geschleimt, <strong>und</strong> darauf b<strong>in</strong> ich noch heute stolz.<br />

Es war für diesen <strong>Lehrer</strong> gut, dass unsere Diskussion sich nicht<br />

<strong>in</strong> die Länge zog, weil das Ende der St<strong>und</strong>e schon bald nahte<br />

<strong>und</strong> er sich damit retten konnte. Am Schluss sagte er bloss<br />

noch, dass wir für solche Themen noch viel zu jung seien, aber<br />

auch er hatte etwas gelernt: Von jetzt an vermied er jede<br />

politische Diskussion oder auch nur Anspielung, <strong>und</strong> da die<br />

Frühl<strong>in</strong>gsferien schon vor der Tür standen, war das umso<br />

leichter. Wir hatten bereits erfahren, dass se<strong>in</strong> kurzes Gastspiel<br />

bei uns dann enden <strong>und</strong> nachher schon wieder e<strong>in</strong> neuer<br />

Deutschlehrer unsere Klasse übernehmen würde, aber es<br />

überraschte uns trotzdem, dass er die letzten paar Wochen<br />

wohl auch aufgr<strong>und</strong> dieser politischen Diskussion wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Kehraus-Stimmung abspulte. Wo war da nur der Mut, für den<br />

sich viele L<strong>in</strong>ke schon immer gerühmt haben?<br />

Die Art, wie er sich von uns verabschiedete oder genauer nicht<br />

verabschiedete, passte ebenfalls zu ihm. Nachdem er <strong>in</strong> der<br />

letzten St<strong>und</strong>e noch erstaunlich viel über dieses <strong>und</strong> jenes<br />

geplaudert hatte - so auch noch e<strong>in</strong>mal wie kurz vor den<br />

Weihnachten 1969 über die entscheidenden Unterschiede<br />

zwischen den Fünfzigerjahren, die er im Gegensatz zu uns<br />

schon als Jugendlicher miterlebt hatte, <strong>und</strong> den<br />

Sechzigerjahren -, verliess er wortlos den Raum, während wir<br />

unsere Sachen zusammenpackten. Als e<strong>in</strong>e Gruppe von uns<br />

sich nachher noch im Café Oberson traf, sagte e<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong><br />

213


treffend, was wir alle dachten: "Er hätte sich wenigstens noch<br />

persönlich von uns verabschieden können."<br />

Er verschwand zwar aus unserem Leben, aber durch se<strong>in</strong><br />

Wirken <strong>in</strong> der Politik nicht aus unserem Gedächtnis, jedenfalls<br />

nicht aus dem me<strong>in</strong>igen. Nach se<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong><br />

bekam er <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> ausgerechnet dort e<strong>in</strong>e Anstellung, wo ich<br />

zwei Jahre zuvor e<strong>in</strong> Schüler gewesen war. Zugleich begann<br />

se<strong>in</strong>e politische Laufbahn, die dazu führte, dass er bald e<strong>in</strong>mal<br />

<strong>in</strong> den Kantonsrat gewählt wurde. Wie sehr jemand, der die<br />

ganzen Abläufe nicht genau kennt <strong>und</strong> sich auch nicht richtig<br />

<strong>in</strong>formiert, von e<strong>in</strong>em Insider manipuliert werden kann, hat<br />

gerade dieser <strong>Lehrer</strong> bewiesen. Acht Jahre später wurde er<br />

vom Kantonsrat abgewählt, aber er stellte das viele Jahre<br />

später so dar, dass er den Rat freiwillig verlassen hatte, weil er<br />

sich vorgestellt hatte, dass er im Geme<strong>in</strong>derat, also im<br />

Stadtzürcher Parlament, viel mehr bewegen könne. Auch dort<br />

manipulierte er nochmals, als er vor nicht allzu langer Zeit<br />

behauptete, dass die politische Fre<strong>und</strong>schaft zwischen den<br />

Sozialdemokraten <strong>und</strong> den Freis<strong>in</strong>nigen - offiziell die FDP, die<br />

im Gegensatz zur FDP <strong>in</strong> Deutschland <strong>und</strong> zur rechtsnationalen<br />

FPÖ <strong>in</strong> Österreich schon seit der Gründung der modernen<br />

Eidgenossenschaft im Jahr 1848 zu den staatstragenden<br />

Parteien gehört -, auf se<strong>in</strong>e Initiative zurückzuführen sei. In<br />

Wirklichkeit begann diese Fre<strong>und</strong>schaft, die noch heute<br />

allgeme<strong>in</strong> als "Koalition der Vernunft" bezeichnet wird, schon<br />

dann, als er selbst noch im Kantonsrat wirkte <strong>und</strong> zwei<br />

Gewerbetreibende, die der SPS <strong>und</strong> der FDP angehörten, e<strong>in</strong>e<br />

persönliche Fre<strong>und</strong>schaft begannen <strong>und</strong> diese auf die beiden<br />

Parteien ausweiten konnten.<br />

In e<strong>in</strong>em dritten Punkt bewies dieser <strong>Lehrer</strong> noch e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong>en<br />

besonderen Eigenwillen: Als er für e<strong>in</strong> Jahr lang als<br />

Parlamentspräsident wirken durfte, wie das <strong>in</strong> der ganzen<br />

Schweiz vom B<strong>und</strong>esparlament bis zum Kantons- <strong>und</strong><br />

Geme<strong>in</strong>deparlament üblich ist, stellte er e<strong>in</strong>mal das Mikrofon<br />

214


e<strong>in</strong>fach ab, als e<strong>in</strong> Politiker der SVP, also der Schweizerischen<br />

Volkspartei, wie sich diese nennt, etwas sagte, das ihm nicht<br />

gefiel. Das ist auch deshalb bekannt geworden, weil <strong>in</strong> der NZZ,<br />

also <strong>in</strong> der "Neuen Zürcher Zeitung", noch heute an jedem<br />

Dienstag <strong>und</strong> Donnerstag <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelheiten geschrieben steht,<br />

was am Montag im Kantonsrat <strong>und</strong> am Mittwoch im<br />

Geme<strong>in</strong>derat alles abgelaufen ist. Dass er es nicht lassen<br />

konnte, bewies er später auch dadurch, dass er für e<strong>in</strong>e<br />

Zeitung, die noch heute e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Woche ersche<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong><br />

paar Jahre lang Artikel schrieb, sicher auch deshalb, weil dabei<br />

jedes Mal e<strong>in</strong>e Aufnahme von ihm zu sehen war. Da auch er<br />

dann schon im Ruhestand lebte, war er jedoch etwas<br />

gemässigter <strong>und</strong> gelassener geworden, ja, se<strong>in</strong>e Worte liessen<br />

manchmal auch so etwas wie Humor erkennen.<br />

Me<strong>in</strong> Schlussfazit ist dies: Als <strong>Lehrer</strong> war er zwar hervorragend,<br />

aber <strong>in</strong> den zwischenmenschlichen Bereichen gab es bei ihm<br />

während Jahrzehnten gewaltige Lücken.<br />

Schwarz<br />

Neben dem Progressiven war dieser <strong>Lehrer</strong> der zweite, der uns<br />

ab der zweiten Hälfte der dritten Klasse unterrichtete. Er wurde<br />

Köbis Nachfolger, aber nur <strong>in</strong> der Geografie <strong>und</strong> nicht im<br />

Turnen - dafür war <strong>und</strong> blieb weiter Guschti zuständig. Im<br />

Gegensatz zum Progressiven, der zu uns schnell e<strong>in</strong>en guten<br />

Draht fand, zeigte es sich bei ihm schon <strong>in</strong> der ersten St<strong>und</strong>e,<br />

dass er es schwer haben würde. Schon als er <strong>in</strong>s Zimmer trat,<br />

mussten e<strong>in</strong> paar von uns lachen, weil se<strong>in</strong>e rauchige Stimme<br />

ziemlich viel Hilflosigkeit erkennen liess. So etwas spüren<br />

Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler schnell e<strong>in</strong>mal, <strong>und</strong> gerade deshalb<br />

ist es umso wichtiger, dass gleich am Anfang e<strong>in</strong> guter E<strong>in</strong>stieg<br />

gef<strong>und</strong>en wird, aber das misslang ihm gründlich. Dabei konnte<br />

er wirklich etwas <strong>und</strong> zudem sah er auch trotz se<strong>in</strong>er auffallend<br />

dicken schwarzen Brille, die se<strong>in</strong> Gesicht fast vollständig<br />

215


edeckte, nicht allzu schlecht aus.<br />

Gerade se<strong>in</strong> umfangreiches Wissen, das wir nie bestritten<br />

haben, wurde mir zu Beg<strong>in</strong>n zum Verhängnis. Was er<br />

unterrichtete, war leider nicht die eigentliche Geografie, die mir<br />

so lag <strong>und</strong> bei der ich spielend gute Noten hatte schreiben<br />

können - über Länder, Flüsse <strong>und</strong> Berge -, sondern Wirtschaft,<br />

<strong>und</strong> gleich e<strong>in</strong> halbes Jahr lang, also bis zum Ende der dritten<br />

Klasse. Ich wusste zwar, dass auch dies als e<strong>in</strong> Teil des<br />

Geografie-Unterrichts galt, aber dieses Wissen half mir auch<br />

nicht weiter. Das Wort, das er auffallend viel sagte <strong>und</strong> das mir<br />

deshalb noch am besten <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung geblieben ist, war<br />

Textil<strong>in</strong>dustrie. Was konnte das denn nur se<strong>in</strong>? Ich hatte noch<br />

nie zuvor davon gehört. Da ich mich nicht vor der ganzen<br />

Klasse blamieren wollte, wagte ich es nicht, ihn zu fragen, was<br />

damit geme<strong>in</strong>t war, <strong>und</strong> <strong>in</strong> den ersten paar Wochen bekam ich<br />

zu ihm noch ke<strong>in</strong>en richtigen Zugang, so dass ich ihn auch<br />

nicht direkt nach e<strong>in</strong>er Unterrichtsst<strong>und</strong>e fragen konnte. Ich<br />

erfuhr erst <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Pension davon, was das bedeutete, als<br />

e<strong>in</strong>er etwas von Tüchern redete.<br />

Dass dieser Bereich der Geografie mir überhaupt nicht lag,<br />

zeigte sich beim ersten Ex, das wir bei ihm nach etwa e<strong>in</strong>em<br />

Monat schreiben mussten. Zum Glück war ich nicht der E<strong>in</strong>zige,<br />

der e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Absturz erlebte, aber das nützte mir auch<br />

nicht viel. Ich hatte mir zwar viel Mühe gegeben, den ganzen<br />

komplizierten Stoff zu lernen, <strong>und</strong> nach me<strong>in</strong>em Gefühl auch<br />

nicht schlecht abgeschnitten, aber das Endergebnis war<br />

trotzdem e<strong>in</strong>e 3. So traf es sich natürlich auch nicht gut, dass er<br />

beim Verteilen der Prüfungen nach der Korrektur bei jedem<br />

E<strong>in</strong>zelnen mit se<strong>in</strong>er rauchigen Stimme so laut wie möglich<br />

kommentierte, was er gut <strong>und</strong> was er schlecht fand, <strong>und</strong> ich<br />

gehörte nun e<strong>in</strong>mal zu den Schlechten.<br />

Angesichts dieser wirklich tiefen Note riss ich mich diesmal<br />

zusammen, <strong>in</strong>dem ich sofort nach dem Ende der St<strong>und</strong>e direkt<br />

216


zu ihm h<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g <strong>und</strong> um e<strong>in</strong>e kurze Aussprache bat. Ich hatte<br />

nämlich den E<strong>in</strong>druck, dass das Verteilen so vieler schlechter<br />

Noten - ich war wie oben erwähnt nicht der E<strong>in</strong>zige - auch mit<br />

Kompensation zu tun haben musste. Da er zu uns nie e<strong>in</strong>en<br />

richtigen persönlichen Zugang fand <strong>und</strong> das ganze Programm<br />

vorn trocken abspulte, lag es nahe, dass dies e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Rache<br />

war. Zu me<strong>in</strong>em Erstaunen erklärte er sich dazu bereit <strong>und</strong> als<br />

wir nachher im gleichen Zimmer alle<strong>in</strong> waren, merkte ich bald,<br />

dass ich halt doch e<strong>in</strong>e gute Nase gehabt hatte, als er ziemlich<br />

laut sagte: "Immer werden die jungen <strong>Lehrer</strong> angepöbelt!" Ich<br />

gab ihm zwar Recht, aber er war trotzdem nicht bereit, diese<br />

schlechte Note wieder zurückzunehmen <strong>und</strong> sie wenigstens um<br />

e<strong>in</strong>e halbe zu erhöhen, wie ich erhofft hatte.<br />

<strong>Me<strong>in</strong>e</strong> Chance war also vorbei, aber ich hatte noch den<br />

schwachen Trost, dass ich beim zweiten Ex wenigstens e<strong>in</strong><br />

bisschen besser abschneiden würde, aber das erwies sich als<br />

e<strong>in</strong> Irrtum. "Stump - schon wieder e<strong>in</strong>e Katastrophe!", rief er<br />

demonstrativ laut aus, als er beim Verteilen der Blätter mit den<br />

Noten an mir vorbeig<strong>in</strong>g. Es war zwar ke<strong>in</strong>e 3 mehr, aber nach<br />

me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung immer noch e<strong>in</strong>e 3,5 <strong>und</strong> damit immer noch<br />

ungenügend. Diesmal verzichtete ich auf e<strong>in</strong>en Versuch, ihn<br />

noch e<strong>in</strong>mal zur Rede zu stellen. So wurstelte ich weiter dah<strong>in</strong>,<br />

bis der Tag der Rettung kam, der so aussah, dass mir beim<br />

dritten Ex endlich der Knopf aufgegangen war <strong>und</strong> ich e<strong>in</strong>e 5<br />

schrieb, wenn ich mich noch richtig er<strong>in</strong>nere. Das half dem<br />

Notendurchschnitt gewaltig: 11,5 geteilt durch 3 ergab e<strong>in</strong>e<br />

Note von 3,8; diese r<strong>und</strong>ete Schwarz für das Zeugnis dann<br />

tatsächlich noch zu e<strong>in</strong>er 4 auf. Ich hatte me<strong>in</strong>en Kopf also<br />

gerade noch e<strong>in</strong>mal aus der viel zitierten Schl<strong>in</strong>ge ziehen<br />

können.<br />

Abgesehen von diesem Wort "Textil<strong>in</strong>dustrie" ist mir von se<strong>in</strong>em<br />

Unterricht nichts mehr geblieben, obwohl wir ihn auch noch <strong>in</strong><br />

der ganzen vierten Klasse hatten, <strong>in</strong> der ich bei ihm ke<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>zige ungenügende Note mehr schrieb, aber ebenfalls immer<br />

217


zwischen e<strong>in</strong>er 4 <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er 5 herumturnte. Dafür weiss ich<br />

umso mehr noch davon, dass er auch <strong>in</strong> allen anderen Klassen<br />

viel Mühe hatte, obwohl er wirklich e<strong>in</strong>en guten Willen hatte <strong>und</strong><br />

ke<strong>in</strong> schlechter <strong>Lehrer</strong> war, aber er fand e<strong>in</strong>fach nirgendwo<br />

e<strong>in</strong>en richtigen Draht zu den Klassen. Das trug sicher dazu bei,<br />

dass er im Frühl<strong>in</strong>g 1971 die Schule praktisch durch die<br />

H<strong>in</strong>tertür verliess, ohne dass dies besonders auffiel. Deshalb<br />

wurde dieser <strong>Lehrer</strong> schnell vergessen, wie wir glaubten.<br />

Umso grösser war me<strong>in</strong> Erstaunen <strong>und</strong> sicher auch das von<br />

vielen anderen, als Schwarz e<strong>in</strong> halbes Jahr später im Heftle<strong>in</strong><br />

"Spick", das die beiden damaligen Maturandenklassen<br />

herausgaben, buchstäblich wieder ausgegraben wurde. Obwohl<br />

der "Spick" nicht so aggressiv war wie das "Monumentum" e<strong>in</strong><br />

Jahr zuvor <strong>und</strong> <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>leitung noch extra geschrieben stand,<br />

dass man den <strong>Lehrer</strong>n ihre Fehler nach der Maturität nicht noch<br />

extra vorwerfen wolle, wurde ausgerechnet dieser<br />

bedauernswerte <strong>Lehrer</strong> angegriffen. Im umgeschriebenen<br />

bekannten Gedicht über die zehn Negerle<strong>in</strong>, das heute nicht<br />

mehr so geschrieben werden dürfte, stand dieser Satz:<br />

Neun kle<strong>in</strong>e Negerle<strong>in</strong>,<br />

Die g<strong>in</strong>gen zu Herrn Schwarz.<br />

Da hat sich e<strong>in</strong>es totgelacht -<br />

Da waren's nur noch acht.<br />

Genauso wie bei zwei anderen <strong>Lehrer</strong>n, die ich weiter unten<br />

noch vorstellen werde <strong>und</strong> die im "Monumentum" ihr böses Fett<br />

abbekamen, fand ich auch diese Worte völlig daneben, aber sie<br />

bestätigten ebenfalls das, was ich auch heute, mehr als e<strong>in</strong><br />

halbes Jahrh<strong>und</strong>ert später, noch e<strong>in</strong>mal sage: Ich b<strong>in</strong> mit den<br />

<strong>Lehrer</strong>n trotz der Tatsache, dass ich ke<strong>in</strong> besonders guter<br />

Schüler mit glänzenden Noten war, <strong>in</strong>sgesamt viel besser<br />

ausgekommen als mit e<strong>in</strong>em Teil der Schüler, unter denen es<br />

erstaunlich viele Hochnäsige gab - aber nur unter den<br />

Burschen, das muss ich nochmals extra betonen.<br />

218


Fufu<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n der vierten Klasse wurden uns genauso wie e<strong>in</strong> Jahr<br />

zuvor fünf weitere neue <strong>Lehrer</strong> zugeteilt. Jetzt war die<br />

Oberstufe endgültig erreicht; auch das typisch appenzellische<br />

Modell des Vermischens <strong>in</strong> der zweiten <strong>und</strong> dritten Klasse mit<br />

Gymnasiasten, Oberrealschülern <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>arschülern hatte<br />

jetzt ausgedient, weil es auch wegen des Lernstoffes nicht mehr<br />

möglich war.<br />

E<strong>in</strong>er dieser neuen <strong>Lehrer</strong> war Fufu, der diesen Spitznamen<br />

deshalb bekam, weil er offiziell Fuhrer hiess. Was er<br />

unterrichtete, war e<strong>in</strong>erseits Deutsch <strong>in</strong> der Unterstufe <strong>und</strong><br />

andererseits Italienisch. Das war deshalb erstaunlich, weil diese<br />

Sprache auf den ersten Blick oder genauer beim ersten<br />

H<strong>in</strong>hören gar nicht zu ihm zu passen schien. Im Gegensatz zu<br />

den Italienern, Tess<strong>in</strong>ern <strong>und</strong> italienischsprachigen Bündnern,<br />

die ihre Sprache bekanntlich so schnell <strong>und</strong> mit so vielen<br />

Zusatzschlaufen sprechen, dass zum Beispiel bei<br />

synchronisierten Wildwestfilmen die italienischen Sprecher<br />

immer noch gehört werden können, während die<br />

englischsprachigen Darsteller mit dem Reden schon längst<br />

aufgehört haben, konnte Fufu nicht schnell sprechen. Dazu<br />

hatte er noch e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Sprachfehler, der sich dar<strong>in</strong><br />

äusserte, dass er die verschiedenen Zischlaute - zh, sch, dsch<br />

<strong>und</strong> tsch - nicht sauber aussprechen konnte. Diese sche<strong>in</strong>baren<br />

Mängel machte er dadurch wett, dass bei ihm schon <strong>in</strong> der<br />

ersten St<strong>und</strong>e zu spüren war, welche Leidenschaft <strong>und</strong> sogar<br />

welche Liebe er gerade für diese Sprache empfand; das zeigte<br />

er auch dadurch, dass er uns vor jeder St<strong>und</strong>e mit e<strong>in</strong>em<br />

fröhlichen "Buongiorno a tutti!" begrüsste.<br />

Er war der Stellvertreter für Bouton, für den er aus<br />

irgendwelchem Gr<strong>und</strong>, den wir nie erfuhren, für e<strong>in</strong> Jahr<br />

e<strong>in</strong>spr<strong>in</strong>gen sollte, wie es vorgesehen war. Zugleich war er das<br />

Gegenteil von Tobi, was das Duzen <strong>und</strong> Siezen ab der vierten<br />

219


Klasse betrifft. Während der erstere sich für dieses<br />

ungeschriebene Gesetz überhaupt nicht <strong>in</strong>teressierte, übertrieb<br />

es Fufu auf die andere Seite. So nannte er jeden <strong>und</strong> jede von<br />

uns "Signore" <strong>und</strong> "Signora" <strong>und</strong> mit dem Familiennamen<br />

dah<strong>in</strong>ter, obwohl wir immer noch 16- bis 17-jährige Teenager<br />

waren <strong>und</strong> uns deshalb noch gar nicht an solche Anredeformen<br />

gewöhnt hatten. Da traf es sich direkt gut, dass es bei<br />

männlichen Namen möglich ist, das letzte "e" auszulassen, also<br />

nur "signor" zu sagen. So war ich also "Signor Stump", während<br />

e<strong>in</strong> anderer, von dem ich noch sprechen werde, "Signor<br />

Frischknecht" hiess. Ich erwähne diesen auch deshalb, weil es<br />

e<strong>in</strong> Jahr zuvor <strong>in</strong> der Italienisch-Klasse mit Bouton e<strong>in</strong> Mädchen<br />

mit dem gleichen Familiennamen gegeben hatte, das aber nach<br />

me<strong>in</strong>em Wissen mit diesem Burschen h<strong>in</strong>ten <strong>und</strong> vorn nicht<br />

verwandt war. Da sie diese Schule nach wenigen Monaten<br />

wieder verliess, blieb es Fufu erspart, zwischen diesen beiden<br />

allergenaustens zu unterscheiden, wenn er "signor" oder<br />

"signora" beziehungsweise «signor<strong>in</strong>a» für e<strong>in</strong> Fräule<strong>in</strong><br />

aussprach, was man damals noch so sagen durfte. Was dieses<br />

Mädchen betrifft, war dieses das E<strong>in</strong>zige, das an jedem<br />

Samstag schulfrei hatte, weil es der Kirche der Adventisten<br />

angehörte, die genauso wie die Juden genau an diesem Tag<br />

vom Schulunterricht dispensiert waren. Das war mir auch<br />

deshalb so vertraut, weil ich schon <strong>in</strong> der Primarschule e<strong>in</strong>en<br />

Juden kennen gelernt hatte, der als E<strong>in</strong>ziger von uns an den<br />

Samstagen zu Hause bleiben durfte. Damals war es noch<br />

üblich, dass man auch an e<strong>in</strong>em Samstag Schulunterricht hatte,<br />

aber wenigstens musste das Programm nicht so wie heute viel<br />

mehr zusammengequetscht werden.<br />

Dass dieses Jahr mit Fufu nur als e<strong>in</strong> Zwischenjahr vorgesehen<br />

war, zeigte sich auch dar<strong>in</strong>, dass wir bei ihm wenig bis nichts<br />

lernten, was die Grammatik betrifft. Allerd<strong>in</strong>gs fragte er immer<br />

wieder Verben ab, was sich auch dar<strong>in</strong> zeigte, dass er jedes<br />

Mal jemanden auffallend langsam fragte: "Quali verbi<br />

conosce?" ("Welche Tätigkeitswörter kennen Sie?"). Dabei war<br />

220


immer deutlich zu hören, dass er das "sch" bei "sce" wegen<br />

se<strong>in</strong>es Sprachfehlers nicht sauber aussprechen konnte.<br />

Während wir <strong>in</strong> dieser Klasse im Französischen bereits die<br />

Funktion des Konjunktivs, wie der Subjonctif ausgedeutscht<br />

heisst, <strong>und</strong> des Passé simple behandelten, lernten wir hier den<br />

Konjunktiv <strong>und</strong> das Passato remoto, das dem französischen<br />

Passé simple entspricht <strong>und</strong> im Gegensatz zu diesem noch<br />

heute im süditalienischen Sprachraum viel gehört werden kann,<br />

noch nicht kennen. Allerd<strong>in</strong>gs wurde diese Sprache auch erst<br />

ab der dritten Klasse <strong>und</strong> nicht so wie das Französische schon<br />

ab der ersten unterrichtet.<br />

Was wir im grammatikalischen Bereich zu wenig lernten,<br />

machte Fufu dadurch wett, dass wir auffallend viele<br />

Wörterprüfungen hatten, die allerd<strong>in</strong>gs nicht schwer waren, so<br />

dass ich auch hier wieder e<strong>in</strong>mal locker durchmarschieren<br />

konnte. Ich weiss noch gut, wie ich ihn e<strong>in</strong>mal foppte, als er<br />

nach mehreren Wörtern, die er e<strong>in</strong>zeln sagte <strong>und</strong> die wir dann<br />

direkt übersetzen mussten, dieses fragte: "Und was heisst<br />

'ausleihen'?" Keck wie ich manchmal war, rief ich <strong>in</strong> die R<strong>und</strong>e<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>: "Auf Spanisch heisst es 'prestar'!" Da dieses mit dem<br />

italienischen "prestare" praktisch identisch ist, stiess das Fufu<br />

mit vollem Recht sauer auf, <strong>und</strong> dementsprechend sagte er<br />

scharf: "Stump, jetzt reicht es aber!" Dabei unterschlug er für<br />

e<strong>in</strong>mal das Wort «Signor».<br />

Ich kannte dieses spanische Wort auch deshalb, weil <strong>in</strong> dieser<br />

Schule e<strong>in</strong> freiwilliger Spanisch-Unterricht angeboten wurde,<br />

allerd<strong>in</strong>gs nur auf bescheidenem Niveau. Ich belegte diese<br />

Sprache nicht, weil ich mit vier Fremdsprachen bereits<br />

genügend bedient war <strong>und</strong> mir sagte, dass ich diese Sprache<br />

irgendwann e<strong>in</strong>mal sowieso lernen würde, <strong>und</strong> habe damit<br />

Recht bekommen. So gehört heute auch das Spanische zu<br />

me<strong>in</strong>en fünf klassischen Sprachen, die ich oben beim Monsieur<br />

erwähnt habe. Auf irgende<strong>in</strong>e Weise hatte ich e<strong>in</strong> paar Wörter<br />

221


aufgeschnappt, also offensichtlich auch dieses.<br />

Die Italienisch-St<strong>und</strong>en bei Fufu s<strong>in</strong>d mir auch deshalb <strong>in</strong> so<br />

guter Er<strong>in</strong>nerung geblieben, weil ich zeitweise direkt neben<br />

e<strong>in</strong>em Mädchen sass, von dem ich weiter unten noch sprechen<br />

werde <strong>und</strong> von dem ich mehrere Wochen lang glaubte, es<br />

könne me<strong>in</strong>e erste Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> werden. Nach e<strong>in</strong>em Jahr war es<br />

mit der Herrlichkeit schon wieder vorbei, als Fufu wieder Bouton<br />

Platz machen musste, <strong>und</strong> das bedeutete für mich auch das<br />

Ende des Italienisch-Unterrichts, wie ich das bereits erzählt<br />

habe. Es klang direkt wie e<strong>in</strong>e Warnung, als e<strong>in</strong> Schüler uns<br />

noch <strong>in</strong> der Woche, als ich mich entscheiden musste, ob ich<br />

wieder zu Bouton gehen solle, den ich ja schon im<br />

Französischen hatte, diese Worte sagte: "Ihr seid selber schuld,<br />

dass ihr bei Fufu nichts getan habt." Damit hatte er teilweise<br />

Recht; wir hatten zwar schon etwas getan, aber eben nicht<br />

genug, <strong>und</strong> gerade auch deshalb g<strong>in</strong>g ich <strong>in</strong> diesem Fach nicht<br />

mehr zu Bouton. Allerd<strong>in</strong>gs waren vorher schon ganz andere<br />

ausgestiegen, so auch e<strong>in</strong>er der beiden, die ich noch heute als<br />

unsere Klassengenies bezeichne.<br />

Heihei<br />

Warum dieser <strong>Lehrer</strong>, der genauso wie Bartli <strong>und</strong> e<strong>in</strong> paar<br />

andere, die ich noch vorstellen werde, die Maturaprüfungen <strong>in</strong><br />

<strong>Trogen</strong> selbst bestanden hatte, so genannt wurde, lag an<br />

se<strong>in</strong>em Familiennamen Heierli, aber auch daran, dass er es<br />

verstand, se<strong>in</strong>en Unterricht mit viel Humor zu gestalten. Ich<br />

habe ke<strong>in</strong>en anderen <strong>Lehrer</strong> gekannt, der se<strong>in</strong>en Unterricht mit<br />

so vielen humoristischen E<strong>in</strong>zelheiten vermischte, dass sogar<br />

e<strong>in</strong>er wie ich, der mit den naturwissenschaftlichen Fächern nicht<br />

viel oder genauer gar nichts anfangen konnte, den Stoff<br />

wenigstens halbwegs begriff.<br />

Was Heihei unterrichtete, war ab der vierten Klasse Chemie,<br />

222


also das gleiche Fach, das ich <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> schon ab der zweiten<br />

Hälfte der zweiten Klasse bei Gemmi kennen gelernt hätte,<br />

wenn ich die Schule wegen me<strong>in</strong>er allzu tiefen Noten nicht<br />

vorzeitig hätte verlassen müssen. Dazu kam ab dem Herbst der<br />

vierten Klasse genauso wie <strong>in</strong> der Physik an e<strong>in</strong>em Abend für<br />

zwei St<strong>und</strong>en e<strong>in</strong> Praktikum, das offiziell als Chemisches<br />

Laboratorium bezeichnet, aber im Schüler-Volksm<strong>und</strong> e<strong>in</strong>fach<br />

Chemie-Labor genannt wurde, was ja auch stimmte. Im<br />

Gegensatz zu Pieps, der als E<strong>in</strong>ziger Physik unterrichtete, <strong>und</strong><br />

zu Kasi, der <strong>in</strong> der Oberstufe der e<strong>in</strong>zige Englischlehrer war,<br />

arbeitete Heihei zwar offiziell als e<strong>in</strong>ziger Chemielehrer dieser<br />

Schule, aber er wurde zeitweise von e<strong>in</strong>em jungen <strong>und</strong><br />

auffallend gutaussehenden <strong>und</strong> deshalb von fast allen Mädchen<br />

umschwärmten Bündner <strong>Lehrer</strong> namens Alig unterstützt.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs hatte unsere Klasse diesen nie <strong>und</strong> bekam ihn auch<br />

selten zu Gesicht.<br />

Genauso wie von der Biologie bei Guschti <strong>und</strong> von der Physik<br />

bei Pieps ist mir auch von der Chemie bei Heihei so gut wie<br />

nichts mehr <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung geblieben, wenn ich davon absehe,<br />

dass wir <strong>in</strong> der allerersten St<strong>und</strong>e den Unterschied zwischen<br />

homogen <strong>und</strong> heterogen kennen lernten. Ich er<strong>in</strong>nere mich<br />

dafür umso mehr an se<strong>in</strong>e Sprüche, die er immer wieder<br />

e<strong>in</strong>streute, etwa diese Frage, die genauso legendär war wie<br />

Guschtis Ch<strong>in</strong>ese, Schorschs Worte über das Spicken, Köbis<br />

Stöpsel <strong>und</strong> Brühler <strong>und</strong> Zenos Chlämmerlisack: "Kann ich<br />

e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Laden gehen <strong>und</strong> sagen: 'Ich möchte gern e<strong>in</strong><br />

Pf<strong>und</strong> Elektronen kaufen'?" Oder genauso oft diese Frage:<br />

"Who cans English?" Warum er immer wieder auf diesen<br />

seltsamen Satz kam, blieb für uns e<strong>in</strong> Rätsel. Er wusste selbst,<br />

dass bei "cans" <strong>in</strong> diesem Satz sowohl dieses Wort als auch<br />

das "s" ganz h<strong>in</strong>ten falsch waren, aber er konnte es e<strong>in</strong>fach<br />

nicht lassen. Als er e<strong>in</strong>mal diese Frage an e<strong>in</strong>en Schüler stellte<br />

<strong>und</strong> dieser lachend verne<strong>in</strong>te, dass er Englisch konnte, fragte er<br />

ihn: "Hast du etwa Italienisch?" Als dieser noch e<strong>in</strong>mal lachend<br />

verne<strong>in</strong>te, gab Heihei auf. Auch er gehörte zu den <strong>Lehrer</strong>n, die<br />

223


uns duzen konnten, weil das mit unserer Klasse so<br />

abgesprochen war.<br />

Bei so viel Chemie, die e<strong>in</strong> paar Wochen lang durch e<strong>in</strong>en<br />

Astonomie-Teil unterbrochen wurde, der eigentlich zum Fach<br />

Geografie gehörte, aber hier zugeteilt <strong>und</strong> am Schluss mit<br />

e<strong>in</strong>em Ex gekrönt wurde, bei dem ich wie erwartet nicht allzu<br />

glänzend abschnitt, g<strong>in</strong>g immer wieder vergessen, dass Heihei<br />

eigentlich viel mehr e<strong>in</strong> Geologe als e<strong>in</strong> Chemielehrer war. So<br />

war er genauso wie Sulz nicht nur e<strong>in</strong> hervorragender Kenner<br />

des nahegelegenen Alpste<strong>in</strong>-Gebirges, sondern auch der<br />

eigentliche Ideengeber <strong>und</strong> Erf<strong>in</strong>der der öffentlichen<br />

geologischen Wanderwege, die es heute <strong>in</strong> der ganzen<br />

Schweiz zu H<strong>und</strong>erten gibt.<br />

Das war Heiheis e<strong>in</strong>e Seite: Se<strong>in</strong> ziemlich lustiger Unterricht,<br />

der mir leider nicht viel nützte. Die andere Seite war jedoch die,<br />

dass er im Gegensatz zu anderen Kollegen ke<strong>in</strong>en Hehl daraus<br />

machte, dass er von der Armee sehr viel hielt. So versteht es<br />

sich von selbst, dass auch er e<strong>in</strong> Offizier war, <strong>und</strong> sogar e<strong>in</strong><br />

Oberst. Wenn es um die viel zitierte Landesverteidigung g<strong>in</strong>g,<br />

hörte bei ihm der Spass auf. Das zeigte er zu Beg<strong>in</strong>n des<br />

Jahres 1973 auch dann, als e<strong>in</strong>e Bittschrift mit dem Titel<br />

"Petition für e<strong>in</strong>e starke Armee" gestartet wurde <strong>und</strong> er auch im<br />

Unterricht dafür warb, obwohl wir streng genommen noch gar<br />

nicht berechtigt waren, e<strong>in</strong>e Unterschrift zu geben. Die<br />

Volljährigkeit wurde damals erst nach der Vollendung von 20<br />

Jahren erreicht <strong>und</strong> wurde erst <strong>in</strong> der Mitte der Neunzigerjahre,<br />

also ganze zwanzig Jahre später, nach e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />

Volksabstimmung auf 18 gesenkt, wie es auch dem Brauch <strong>in</strong><br />

fast allen anderen Ländern entsprach.<br />

Ich weiss noch gut, mit welchen leidenschaftlichen Worten er<br />

für diese Petition kämpfte, <strong>in</strong>dem er auch den Volksaufstand<br />

von Ungarn im Herbst des Jahres 1956 erwähnte, dessen<br />

Er<strong>in</strong>nerung noch nicht allzu weit weg lag. "Es war wirklich<br />

224


schrecklich, das zu sehen", sagte er mit ehrlicher<br />

Erschütterung; schliesslich war auch <strong>in</strong> der Schweiz bei diesem<br />

Ereignis da <strong>und</strong> dort mit e<strong>in</strong>em Krieg gerechnet worden.<br />

Obwohl wir wie erwähnt eigentlich nicht berechtigt waren, e<strong>in</strong>e<br />

Unterschrift zu geben, sammelte er bei uns so viele wie<br />

möglich, aber es gab zwei Burschen, die sich weigerten, sich<br />

auf diese Weise weichklopfen zu lassen: Der e<strong>in</strong>e war e<strong>in</strong><br />

Schüler, welcher der Sohn e<strong>in</strong>es bekannten Schriftstellers war,<br />

mit dem ich mich immer gut verstand <strong>und</strong> zu dem ich e<strong>in</strong> paar<br />

Jahre später vorübergehend e<strong>in</strong>en kurzen Kontakt hatte … <strong>und</strong><br />

der andere war ich selbst. Während der andere sagte, er wolle<br />

sich zuerst noch e<strong>in</strong> bisschen besser <strong>in</strong>formieren, weigerte ich<br />

mich aus Pr<strong>in</strong>zip: Auf diese Weise, also durch langes E<strong>in</strong>reden,<br />

lasse ich mich nicht bee<strong>in</strong>flussen, <strong>und</strong> so ist es bis heute<br />

geblieben. Diese Petition konnte später <strong>in</strong> Bern beim<br />

B<strong>und</strong>esparlament zwar e<strong>in</strong>gereicht werden, aber sie versandete<br />

bald irgendwie <strong>und</strong> wurde nachher nie mehr erwähnt.<br />

Wenigstens kam Heiheis Schwäche für die Armee e<strong>in</strong>em<br />

Schüler zugute, der erst nach den Herbstferien <strong>in</strong> der fünften<br />

Klasse neu zu uns stiess, womit er zugleich der Letzte war, der<br />

so spät noch e<strong>in</strong>stieg. Das hatte se<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong> dar<strong>in</strong>, dass er<br />

als E<strong>in</strong>ziger von allen Schülern, die ich kennen lernte, se<strong>in</strong>e<br />

Ausbildung extra unterbrochen hatte, um <strong>in</strong> dieser Zeit die RS<br />

zu absolvieren, <strong>und</strong> trotzdem fand er den Anschluss erstaunlich<br />

schnell wieder. Dementsprechend bestand auch er zwei Jahre<br />

später die Maturaprüfungen <strong>und</strong> wurde nachher e<strong>in</strong> Tierarzt,<br />

wie ich über das Internet herausgef<strong>und</strong>en habe. Es war deutlich<br />

zu sehen <strong>und</strong> vor allem zu hören, dass Heihei ke<strong>in</strong>en Hehl<br />

daraus machte, wie sympathisch ihm dieser Schüler war, aber<br />

auch dieser musste se<strong>in</strong>e Prüfungen immer noch selbst<br />

schreiben.<br />

Immerh<strong>in</strong> hatte er bereits h<strong>in</strong>ter sich gebracht, was die meisten<br />

Burschen nach ihrer Schulzeit ebenfalls erledigen mussten, <strong>und</strong><br />

damals war es noch nicht so leicht wie heute, vom Armeedienst<br />

225


wegzukommen. Von e<strong>in</strong>em Zivildienst war zwar bereits die<br />

Rede <strong>und</strong> tatsächlich wurde Ende 1973 die sogenannte<br />

Münchenste<strong>in</strong>er Initiative, die von e<strong>in</strong>er Gruppe von <strong>Lehrer</strong>n im<br />

Gymnasium Münchenste<strong>in</strong> bei Basel gestartet worden war, im<br />

B<strong>und</strong>esparlament e<strong>in</strong>gereicht. Diese wurde jedoch ganze vier<br />

Jahre lang bewusst verschleppt <strong>und</strong> revidiert, <strong>und</strong> als es endlich<br />

zu e<strong>in</strong>er Volksabstimmung kam, wurde sie nach<br />

entsprechender Propaganda deutlich abgelehnt - oder<br />

verworfen, wie das typisch helvetische Wort dafür lautet. Es war<br />

nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet der Vorsteher des<br />

Eidgenössischen Militärdepartements, wie der<br />

Verteidigungsm<strong>in</strong>ister der Schweiz damals hiess, sich vor<br />

diesem Abstimmungswochenende im Fernsehen <strong>und</strong> Radio<br />

extra noch für die Annahme dieser Vorlage ausgesprochen<br />

hatte, damit e<strong>in</strong> erster Ansatz zur Lösung des viel diskutierten<br />

Dienstverweigererproblems gef<strong>und</strong>en werden könne. Insgesamt<br />

brauchte es drei solche Initiativen, bis der Zivildienst <strong>in</strong> den<br />

Neunzigerjahren endlich durchkam, aber davon waren wir <strong>in</strong><br />

unserer Schulzeit noch e<strong>in</strong>e halbe Weltreise entfernt.<br />

Wenn ich daran denke, dass damals e<strong>in</strong>e Weigerung e<strong>in</strong>e<br />

monatelange Gefängnisstrafe bedeutete, für die jemand im<br />

Beruf se<strong>in</strong> Leben lang büssen musste, <strong>und</strong> mir vor Augen führe,<br />

dass es heute sogenannte Sportler-RS gibt, die aber im<br />

Vergleich zu unseren Kampfbataillonen wie Kasperli-Truppen<br />

daherkommen, kann ich all jene gut verstehen, die sich heute<br />

… vorkommen. Das gilt umso mehr, wenn an die beiden<br />

Tennis-Nationalhelden Federer <strong>und</strong> Wawr<strong>in</strong>ka gedacht wird, die<br />

sich am Aushebungstag nicht e<strong>in</strong>mal persönlich stellen<br />

mussten, sondern sich wegen angeblichen Rückenproblemen<br />

e<strong>in</strong>fach als dienstuntauglich abmelden konnten, obwohl sie an<br />

jedem Tag st<strong>und</strong>enlang auf e<strong>in</strong>em Tennisplatz hart tra<strong>in</strong>ierten<br />

<strong>und</strong> damals noch ke<strong>in</strong>e Weltstars waren, doch sie waren<br />

ke<strong>in</strong>eswegs die e<strong>in</strong>zigen bekannten Spitzensportler, die ihre<br />

guten Beziehungen zu Sportärzten ausnützen konnten. Das<br />

zeigte sich auch bei e<strong>in</strong>em bekannten Fussballer <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em<br />

226


ekannten Skirennfahrer, die ihre WK-Zeiten mit dem Lösen<br />

von Kreuzworträtseln verbr<strong>in</strong>gen durften, weil ihre Arme <strong>und</strong><br />

Be<strong>in</strong>e so hoch versichert waren, dass bei der Armee ganz oben<br />

beide Augen zugedrückt wurden. Dagegen musste e<strong>in</strong> viel<br />

weniger bekannter Sportler, der «nur» <strong>in</strong> der zweithöchsten<br />

Liga spielte, se<strong>in</strong>e Karriere jedes Jahr für drei Wochen<br />

unterbrechen, weil er <strong>in</strong> unserer Kompanie se<strong>in</strong>e WK ohne<br />

Sonderrechte leisten musste.<br />

Was mich selbst betrifft, war ich zwar fast e<strong>in</strong> Jahr lang <strong>in</strong> der<br />

Armee dabei, aber ich sehe nicht nur Negatives, weil ich dort<br />

tatsächlich auch für das Leben viel gelernt habe. Vor allem<br />

stimmen auch die Worte, die e<strong>in</strong> Instruktor <strong>in</strong> der RS sagte, als<br />

er davon sprach, dass nur die Armee es ermögliche, dass so<br />

viele Leute aus so vielen verschiedenen Berufsgattungen<br />

zusammenkommen. Zudem bot sie auch die Möglichlichkeit,<br />

auch entlegene Teile der Schweiz kennen zu lernen, <strong>in</strong> die e<strong>in</strong><br />

Normalbürger wie ich normalerweise nicht reiste, zum Beispiel<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Tal im Berner Oberland oder im Oberwallis. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

mussten die Fahrpreise bis zum Ende der Siebzigerjahre<br />

abgesehen vom E<strong>in</strong>rückungs- <strong>und</strong> Entlassungstag m<strong>in</strong>destens<br />

zur Hälfte selbst berappt werden, was ganz schön <strong>in</strong>s<br />

Portemonaie gehen konnte, <strong>und</strong> auch an den<br />

Ausgangsabenden wurde natürlich viel ausgegeben. Das<br />

veranlasste e<strong>in</strong>en Bekannten, der selbst von der Armee<br />

freigestellt war, aber dafür jedes Jahr mehrere H<strong>und</strong>ert Franken<br />

Entschädigung abdrücken musste - ich habe sogar e<strong>in</strong>en<br />

gekannt, die nicht e<strong>in</strong>mal die RS absolvieren <strong>und</strong> dafür<br />

regelmässig etwa 1'200 Franken überweisen musste -, zur fast<br />

höhnischen Aussage: «Du gibst <strong>in</strong> den WK genau gleich viel<br />

aus wie ich - wozu leistest du überhaupt Dienst?» Allerd<strong>in</strong>gs<br />

stimmen auch die Worte, die mir e<strong>in</strong> anderer sagte: «Das<br />

Traurige vergisst man mit der Zeit.» So denke ich noch heute<br />

besonders gern an e<strong>in</strong>en zurück, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Repertoire so<br />

viele Witze gespeichert hatte, dass er uns nächtelang<br />

unterhalten konnte. Das half uns gewaltig, als er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

227


W<strong>in</strong>ternacht, <strong>in</strong> der wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Scheune vor Kälte schlotterten,<br />

e<strong>in</strong>mal fast lachend sagte: «Vor lauter Zittern komme ich gar<br />

nicht mehr nach mit Frieren.»<br />

Gerade diese Vorliebe für alles Militärische muss wohl dazu<br />

beigetragen haben, dass Heihei nicht bei allen beliebt war, so<br />

auch nicht bei den beiden Klassen, die das "Monumentum"<br />

herausgaben. Dar<strong>in</strong> wurde er als "Serpens Chemicus"<br />

bezeichnet, also als e<strong>in</strong>e Schlange, aber das konnte ich nie<br />

nachvollziehen. Obwohl me<strong>in</strong>e Noten auch bei ihm nicht<br />

glänzend waren <strong>und</strong> ich dementsprechend im Zeugnis selten<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e 4 schaffte, verstand ich mich mit ihm recht gut.<br />

Ich wusste ja auch, dass es nicht an ihm lag, sondern an mir<br />

selbst, <strong>und</strong> es hätte mir nie gepasst, wegen e<strong>in</strong>es so guten<br />

persönlichen Kontaktes e<strong>in</strong>e Vorzugsbehandlung zu<br />

bekommen, die sich auch <strong>in</strong> den Noten ausdrückte. Wie ich es<br />

weiter oben schon angedeutet habe, wäre mir jegliches<br />

Schleimen viel zu widerlich gewesen.<br />

Zu unserem guten Kontakt passt auch diese kle<strong>in</strong>e Geschichte:<br />

Als ich e<strong>in</strong> Jahr nach me<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong> me<strong>in</strong>e<br />

ehemalige Schlummermutter wieder e<strong>in</strong>mal besuchte <strong>und</strong> dabei<br />

schon im Nachbardorf Speicher ausstieg, also bei der<br />

zweitletzten Station, um den Rest zu Fuss zurückzulegen, kam<br />

mir auf der Strasse zwischen diesen beiden Dörfern plötzlich<br />

e<strong>in</strong> Auto entgegen. Noch bevor es an mir vorbeifuhr, fiel mir auf,<br />

dass der Fahrer, der von mir aus gesehen auf der «falschen»<br />

Seite sass, sich auffallend herüberlehnte <strong>und</strong> mir sogar<br />

zuw<strong>in</strong>kte. Ich dachte schon <strong>in</strong> diesem Moment, dass es Heihei<br />

se<strong>in</strong> könnte, <strong>und</strong> er schien es auch wirklich zu se<strong>in</strong>, aber ich b<strong>in</strong><br />

noch heute nicht zu h<strong>und</strong>ert Prozent sicher, dass er es war.<br />

Im Gegensatz zu den meisten <strong>Lehrer</strong>kollegen verliess er diese<br />

Kantonsschule genauso wie Zeno vorzeitig, aber nicht um wie<br />

dieser anderswo zu unterrichten, sondern um den vollamtlichen<br />

Posten des Direktors e<strong>in</strong>es St.Galler Museums zu übernehmen,<br />

228


nachdem er dort schon vorher zeitweise gearbeitet hatte. Auch<br />

nach se<strong>in</strong>em Ableben war das Echo <strong>in</strong> den Medien gross,<br />

schliesslich war auch er jemand gewesen, erst recht als der<br />

Erf<strong>in</strong>der der öffentlichen geologischen Wanderwege, was heute<br />

schon fast vergessen <strong>und</strong> nur bei den Kennern noch bekannt<br />

ist.<br />

Specker<br />

Der dritte der neuen <strong>Lehrer</strong>, die wir zu Beg<strong>in</strong>n der vierten<br />

Klasse bekamen, hiess tatsächlich so. Ich muss ihn hier wohl<br />

so nennen, weil ich se<strong>in</strong>en Vornamen vergessen habe <strong>und</strong> er<br />

nie e<strong>in</strong>en Spitznamen trug - <strong>und</strong> wenn doch, dann höchstens<br />

Specki, was sich aber nie so richtig durchgesetzt hat. Specker<br />

trat die Nachfolge des Progressiven an; so war er nach Marxer,<br />

Voser, Doktor Stilfibel <strong>und</strong> dem Letztgenannten schon me<strong>in</strong><br />

fünfter Deutschlehrer, <strong>und</strong> dabei war ich zu diesem Zeitpunkt<br />

noch nicht e<strong>in</strong>mal bei der Hälfte der vorgesehenen Gymi-Zeit<br />

angekommen, die damals noch sechse<strong>in</strong>halb Jahre lang<br />

dauerte, also noch e<strong>in</strong> halbes Jahr länger als heute.<br />

Warum Specker <strong>in</strong> den damals kursierenden Jahresberichten<br />

als e<strong>in</strong> Basler bezeichnet wurde, ist für mich wie so vieles<br />

andere <strong>in</strong> dieser Schule immer e<strong>in</strong> Rätsel geblieben. Es ist ja<br />

nicht auszuschliessen, dass er e<strong>in</strong>en Teil se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit <strong>und</strong><br />

Jugend dort verbracht oder vielleicht dort studiert hatte, aber er<br />

sprach h<strong>in</strong>ten <strong>und</strong> vorn nicht dieses charakteristische<br />

Baseldiitsch, das vor allem durch den noch heute berühmten<br />

Kabarettisten <strong>und</strong> Filmschauspieler Alfred Rasser im ganzen<br />

Land bekannt geworden ist. Dazu trug <strong>in</strong> diesen Jahren aber<br />

auch der FC Basel bei, dem <strong>in</strong> der Mitte der Sechzigerjahre,<br />

also kurz vor Speckers Unterrichtszeit, der nationale<br />

Durchbruch gelungen war <strong>und</strong> der seitdem den Schweizer<br />

Fussball entscheidend mitprägt. Die e<strong>in</strong>zige Unterbrechung<br />

waren die Jahre 1988 bis 1994, als dieser Vere<strong>in</strong> nicht weniger<br />

als sechs Jahre lang <strong>in</strong> der zweithöchsten Liga herumturnte,<br />

229


<strong>und</strong> erst seit dem Jahr 2002, als endlich wieder e<strong>in</strong> Meistertitel<br />

<strong>und</strong> dazu auch noch der Cupsieg gefeiert werden konnten,<br />

gehört er immer zu den besten Zwei oder Drei im Land. Seit<br />

diesem Jahr konnten auch dank der millionenschweren<br />

Investitionen aus Industrie-Kreisen, die dafür sorgten, dass die<br />

besten Spieler von anderen Vere<strong>in</strong>en abgekauft werden<br />

konnten, neben zwölf Meistertiteln <strong>und</strong> sieben Cupsiegen auch<br />

noch fünf sogenannte Doubles mit beiden Titeln im gleichen<br />

Jahr errungen werden. E<strong>in</strong> Vergleich mit dem FC Bayern<br />

München, der schon seit den Siebzigerjahren so erfolgreich ist<br />

<strong>und</strong> mit den Spielerkäufen von anderen Vere<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e ähnliche<br />

Wirtschaft betreibt, ist gar nicht so abwegig. Welcher Spieler<br />

kann schon widerstehen, wenn ihm nicht nur das Doppelte des<br />

bisherigen Gehalts, sondern gleich das Zehnfache angeboten<br />

wird?<br />

Gerade durch diesen Vere<strong>in</strong>, bei dem manchmal sogar noch<br />

echte Stadtbasler mitspielten, aber auch durch verschiedene<br />

Leute im Bereich der Kunst <strong>und</strong> im Fernsehen ist dieser<br />

besondere Dialekt <strong>in</strong> den helvetischen Ohren haften geblieben.<br />

Wenigstens <strong>in</strong> diesem Punkt s<strong>in</strong>d die Deutschen den<br />

Schweizern unterlegen: Während <strong>in</strong> Deutschland eigentlich nur<br />

das Sächsische <strong>und</strong> zum Teil auch noch das Schwäbische den<br />

Ruf haben, beim blossen H<strong>in</strong>hören zu Lachkrämpfen zu führen,<br />

gibt es <strong>in</strong> der Schweiz gleich deren drei - neben dem<br />

Appenzellischen <strong>in</strong> beiden Varianten auch noch den Dialekt der<br />

Stadt Basel. So nenne ich diese Stadt gerade auch deshalb,<br />

weil ich den oben genannten Kabarettisten immer gern<br />

gesehen <strong>und</strong> gehört habe, schon seit vielen Jahren Läppli-<br />

Stadt, aber wenn ich waschechte Personen von dort manchmal<br />

treffe <strong>und</strong> das so sage, werden diese nie bös, sondern lachen<br />

nur, weil sie ja wissen, dass diese Worte stimmen.<br />

Bei Specker hatten wir also Deutsch, aber auch diese Periode<br />

war mehr e<strong>in</strong>e Übergangszeit <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Hegen <strong>und</strong> Pflegen von<br />

dem, was wir schon bei Doktor Stilfibel <strong>und</strong> beim Progressiven<br />

230


gelernt hatten. Da wir von diesem Grammatik-Büchle<strong>in</strong> nur e<strong>in</strong><br />

halbes Jahr nach dem Wegzug des Doktors aus Wien immer<br />

noch gezeichnet waren, mussten wir auch nicht allzu viel<br />

Grammatik büffeln. Ich habe von Speckers Unterricht zwei<br />

E<strong>in</strong>zelheiten <strong>in</strong> guter Er<strong>in</strong>nerung: E<strong>in</strong>erseits sass er im<br />

Gegensatz zum Progressiven, der meistens vorn im Stehen<br />

referierte, fast die ganze Zeit am Tisch, <strong>und</strong> andererseits<br />

schrieben wir auch bei ihm erstaunlich viele Aufsätze, also<br />

genau gleich wie bei se<strong>in</strong>em Vorgänger. Das konnte mir aber<br />

nur recht se<strong>in</strong>, weil ich sogar bei den <strong>Lehrer</strong>n, mit denen ich<br />

weniger gut auskam, immer gern Aufsätze geschrieben habe.<br />

Genauso wie vorher beim Progressiven behandelten wir aber<br />

auch bei ihm e<strong>in</strong> Theaterstück, das für uns Teenager wie das<br />

von Brecht nur schwer zu verstehen war, weil wir so viel sozial<br />

Tiefschürfendes <strong>in</strong> diesem jungen Alter noch gar nicht richtig<br />

aufnehmen <strong>und</strong> verarbeiten konnten. Bei Specker war es «Der<br />

Volksfe<strong>in</strong>d» des Norwegers Henrik Ibsen, das ich immerh<strong>in</strong><br />

besser e<strong>in</strong>ordnen konnte als Brechts doppeldeutigen guten<br />

Menschen von Sezuan.<br />

Auch bei ihm kam e<strong>in</strong>e Szene vor, die ich bis heute nicht<br />

vergessen habe: So wie Schorsch I drei Jahre zuvor <strong>in</strong> die<br />

R<strong>und</strong>e gefragt hatte, welche heutigen Sprachen direkt vom<br />

Late<strong>in</strong> abstammten, <strong>und</strong> ich zwar «Rumänisch» sagen wollte,<br />

aber mir aus Versehen das Wort «Bulgarisch» herausrutschte -<br />

wenigstens hatte ich mich freiwillig gemeldet -, fragte Specker<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der ersten St<strong>und</strong>en, welche germanischen Sprachen<br />

direkt mit dem Deutschen verwandt seien. Noch bevor fast alle<br />

von West- <strong>und</strong> Nordeuropa mitsamt dem Afrikaans im Süden<br />

von Afrika durch waren, sagte jemand tatsächlich das Wort<br />

«F<strong>in</strong>nisch». Schon hörten wir Specker vorn am Tisch sitzend<br />

ziemlich laut sagen: «F<strong>in</strong>nisch um Gottes willen nicht!» Obwohl<br />

er aufgr<strong>und</strong> me<strong>in</strong>es Vornamens natürlich wusste, woher ich zur<br />

Hälfte stammte, sprach er mich im Gegensatz zu anderen<br />

<strong>Lehrer</strong>n nie darauf an, soweit ich mich noch er<strong>in</strong>nere. Dagegen<br />

231


taten das nicht wenige Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler, so auch der<br />

oben erwähnte Berner vom Team Flury-Heiho, der nach e<strong>in</strong>er<br />

F<strong>in</strong>nland-Reise extra noch bei mir vorbeikam, weil er glaubte,<br />

ich könne ziemlich gut F<strong>in</strong>nisch.<br />

Tatsächlich lernte ich diese Sprache erst mit 27 Jahren richtig,<br />

als ich nach dem unerwarteten Ableben me<strong>in</strong>es Vaters, das für<br />

mich monatelang wie e<strong>in</strong> Schock wirkte, etwas Verrücktes tun<br />

musste, um mich abzulenken. So nahm ich es auf mich, zum<br />

ersten Mal systematisch F<strong>in</strong>nisch zu lernen, <strong>und</strong> damit diese<br />

Ablenkung auch stark genug war, lernte ich gleich noch<br />

Ungarisch dazu. Während mir vom letzteren zwar noch die<br />

Grammatik im Kopf geblieben ist, aber dafür der Wortschatz<br />

sich zu fast h<strong>und</strong>ert Prozent vom Gedächtnis verabschiedet hat,<br />

ist mir vom F<strong>in</strong>nischen der grösste Teil noch geblieben. Wenn<br />

ich damals schon dabei war, hätte ich gern auch e<strong>in</strong> wenig<br />

Estnisch gelernt, das immer noch h<strong>in</strong>ter dem Eisernen Vorhang<br />

buchstäblich versteckt war <strong>und</strong> erst im Sommer 1980, als die<br />

olympischen Segelwettbewerbe vor der estnischen Hauptstadt<br />

Tall<strong>in</strong>n stattfanden, se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Feuertaufe erlebte, weil<br />

es neben dem Russischen, der alles dom<strong>in</strong>ierenden Sprache<br />

auch im Baltikum, immer wieder zu hören war. Da immer noch<br />

der Kalte Krieg herrschte, was mit dazu beitrug, dass Estland<br />

nicht zu den meistbereisten Ländern <strong>in</strong> der Gulag-Sowjetunion<br />

gehörte, wurden dementsprechend auch ke<strong>in</strong>e Lehrmittel für<br />

den Westen gedruckt.<br />

Was me<strong>in</strong>e Herkunft betrifft, waren auch die Worte e<strong>in</strong>es<br />

Schülers bemerkenswert, als wir im Jahr 1972 bei der<br />

sogenannten Aushebung, also bei der E<strong>in</strong>teilung für die RS,<br />

extra nach Speicher, dem Hauptort dieses Bezirks, gehen oder<br />

fahren mussten. Als er mich erblickte, sagte er mir: «Ich habe<br />

gar nicht gewusst, dass du auch e<strong>in</strong> Schweizer bist.»<br />

Tatsächlich wusste ich selbst das auch erst seit wenigen<br />

Jahren, als im Jahr 1964 am Tag der Eröffnung der Lausanner<br />

Landesausstellung, bei der ich ebenfalls dabei war, weil unsere<br />

232


Klasse - die vierte Primarklasse, wie ich mich noch gut er<strong>in</strong>nere<br />

- durch e<strong>in</strong> Geschenk von irgendwo dorth<strong>in</strong> reisen durfte, alle<br />

Kirchenglocken läuteten <strong>und</strong> ich e<strong>in</strong>e Hausangestellte des oben<br />

erwähnten K<strong>in</strong>derheims nach dem Gr<strong>und</strong> fragte. Nachdem sie<br />

das beantwortet hatte, fügte sie h<strong>in</strong>zu: «Schliesslich bist auch<br />

du e<strong>in</strong> Schweizer, obwohl du immer so f<strong>in</strong>nisch tust.» Diesen<br />

Ruf hatte ich deshalb, weil ich wirklich glaubte, ich sei alle<strong>in</strong> von<br />

dort, obwohl ich nur wenig F<strong>in</strong>nisch verstand. Dazu trug nicht<br />

nur me<strong>in</strong>e biologische Mutter bei, sondern auch me<strong>in</strong> Vater, der<br />

mir ausgerechnet diese Tatsache verschwieg, obwohl er<br />

patriotisch ges<strong>in</strong>nt war.<br />

Da ich also immer glaubte, nur e<strong>in</strong> F<strong>in</strong>ne zu se<strong>in</strong>, wagte ich es<br />

im K<strong>in</strong>dergarten nicht, beim bekannten K<strong>in</strong>derlied<br />

«S’Schwiizerländli isch zwar chlii, aber schöner chönnt’s nöd<br />

sii» (Das Schweizerländchen ist war kle<strong>in</strong>, aber schöner könnte<br />

es nicht se<strong>in</strong>) mitzus<strong>in</strong>gen, weil ich dachte, ich hätte ke<strong>in</strong> Recht<br />

dazu, <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Unterstufe der Primarschule wiederholte sich<br />

das Gleiche, als «Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Schweizer Knabe <strong>und</strong> hab’ die<br />

Heimat lieb» gesungen wurde. Ich wusste es tatsächlich nicht<br />

anders <strong>und</strong> niemand machte mich darauf aufmerksam, dass ich<br />

eigentlich auch hätte mits<strong>in</strong>gen dürfen. Deshalb muss ich noch<br />

heute schmunzeln, wenn ich an die Worte e<strong>in</strong>es Arbeitskollegen<br />

aus Portugal denke, mit dem ich e<strong>in</strong>mal darüber sprach, dass <strong>in</strong><br />

unseren Schulen der patriotische Geschichtsunterricht nicht<br />

mehr vorkam, <strong>und</strong> der dabei diesen bemerkenswerten Satz<br />

sagte: «Eigentlich s<strong>in</strong>d auch unsere K<strong>in</strong>der Schweizer, weil sie<br />

ja hier aufwachsen <strong>und</strong> hier zur Schule gehen.»<br />

Wieder zurück zu Specker: Auch er gehörte zu den <strong>Lehrer</strong>n, bei<br />

denen ich mehr oder weniger locker durchmarschieren konnte.<br />

Es wäre ja auch wirklich allzu komisch gewesen, wenn ich auch<br />

jetzt nicht wenigstens e<strong>in</strong>e 4,5 erreicht hätte. Die Zeiten von<br />

Marxer <strong>und</strong> Voser, <strong>in</strong> denen ich mich auch wegen vieler<br />

persönlicher Unsicherheiten aufgr<strong>und</strong> me<strong>in</strong>er verpfuschten<br />

K<strong>in</strong>dheit noch nicht richtig hatte ausdrücken können, lagen zu<br />

233


diesem Zeitpunkt schon lange h<strong>in</strong>ter mir. Jetzt hatte auch ich<br />

e<strong>in</strong> M<strong>und</strong>werk, das manchmal ziemlich geschliffen se<strong>in</strong> konnte,<br />

aber bei Specker war das nie notwendig, weil er immer e<strong>in</strong><br />

lieber Kerl war, der für uns alle wirklich nur das Beste wollte.<br />

Von se<strong>in</strong>em Unterricht ist mir zwar nicht viel geblieben, aber ich<br />

weiss dafür umso mehr, dass er im Fach Deutsch me<strong>in</strong><br />

persönlicher Rekordhalter geworden ist. Als E<strong>in</strong>ziger von all<br />

me<strong>in</strong>en Deutschlehrern im Gymnasium hatte ich ihn nicht nur<br />

e<strong>in</strong> Jahr lang oder sogar nur e<strong>in</strong> halbes, sondern gleich<br />

e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre, <strong>und</strong> das war bei diesen vielen<br />

Personalwechseln wirklich erstaunlich. Nach diesen e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb<br />

Jahren zog er, der bis dah<strong>in</strong> noch nicht zum festen Lehrkörper<br />

gehört hatte, vorübergehend wieder weg, aber er kam später<br />

wieder zurück, als ich nicht mehr <strong>in</strong> dieser Schule war, <strong>und</strong><br />

wurde sogar fest übernommen, wie ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schulchronik<br />

gelesen habe. Trotzdem habe ich auch über ihn nie mehr etwas<br />

gehört oder gelesen.<br />

Handsch<strong>in</strong><br />

Auch bei diesem <strong>Lehrer</strong> bleibt mir nichts anderes übrig, als<br />

se<strong>in</strong>en Familiennamen zu verwenden, weil ich auch se<strong>in</strong>en<br />

Vornamen vergessen habe <strong>und</strong> er genauso wenig wie Specker<br />

e<strong>in</strong>en Spitznamen trug, der sich wirklich durchgesetzt hat. Das<br />

zu erwähnen ist auch deshalb wichtig, weil dieser Deutschlehrer<br />

zwar geachtet war, aber trotzdem nicht den gleichen erstaunlich<br />

guten Ruf hatte wie dieser Handsch<strong>in</strong>. Während uns beim Mann<br />

aus Basel ausser Specki ke<strong>in</strong> wirklich brauchbarer Spitzname<br />

e<strong>in</strong>fiel - auch deshalb, weil er ausserhalb der Schulst<strong>und</strong>en<br />

ziemlich zurückhaltend war <strong>und</strong> deshalb weniger<br />

Angriffsflächen bot -, war es bei diesem Neuen naheliegend,<br />

dass er ke<strong>in</strong>en solchen Namen bekam, weil er e<strong>in</strong> erstaunlich<br />

hohes Ansehen genoss. Handsch<strong>in</strong> war e<strong>in</strong>fach Handsch<strong>in</strong>.<br />

Dieses hohe Ansehen kam auch daher, weil es von ihm hiess,<br />

234


er spreche von allen <strong>Lehrer</strong>n das beste <strong>und</strong> "re<strong>in</strong>ste"<br />

Hochdeutsch. Da das Fach Religion, das er unterrichtete,<br />

genauso wie <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> das E<strong>in</strong>zige war, <strong>in</strong> dem die Verwendung<br />

der verschiedenen Dialekte erlaubt wurde, war es sehr schwer,<br />

das nachzuprüfen. E<strong>in</strong>es weiss ich aber noch gut: Ich kannte<br />

den Dialekt der Bündner Hauptstadt Chur, die den gleichen Ruf<br />

hat wie Hannover <strong>in</strong> Deutschland, wo allerd<strong>in</strong>gs echtes<br />

Standarddeutsch gesprochen wird, zwar nicht so gut wie das<br />

Walserdeutsche, das <strong>in</strong> den Bergen gesprochen wird, aber<br />

Handsch<strong>in</strong> konnte nicht von dort stammen. Se<strong>in</strong>e Aussprache<br />

er<strong>in</strong>nerte h<strong>in</strong>ten <strong>und</strong> vorn nicht an Graubünden, allerd<strong>in</strong>gs war<br />

se<strong>in</strong> Dialekt e<strong>in</strong>e schwer e<strong>in</strong>zuschätzende Mischung von<br />

vielem.<br />

Se<strong>in</strong> hohes Ansehen war aber auch deshalb erstaunlich, weil er<br />

e<strong>in</strong> Fach unterrichtete, das bei den meisten von uns<br />

Teenagern, die vor kurzem <strong>in</strong> den pubertierenden Abschnitt<br />

e<strong>in</strong>getreten waren, nicht allzu beliebt war, aber wir g<strong>in</strong>gen h<strong>in</strong>,<br />

weil der Besuch dieser St<strong>und</strong>en ebenfalls obligatorisch war.<br />

Was Handsch<strong>in</strong> uns beizubr<strong>in</strong>gen versuchte, war also Religion;<br />

damit war er für mich Oetikers <strong>und</strong> Englers Nachfolger. Im<br />

Gegensatz zu diesen Zeiten zwei bis drei Jahre zuvor, als wir<br />

noch Buben, Knaben oder Jungs gewesen waren, von denen<br />

die meisten den Stimmbruch noch nicht e<strong>in</strong>mal bekommen<br />

hatten, waren wir jetzt viel reifer geworden, wie wir glaubten.<br />

Wer wollte uns also jetzt, da wir viel reifer <strong>und</strong> schon fast<br />

Erwachsene waren, noch irgendetwas von e<strong>in</strong>em christlichen<br />

Glauben erzählen? Hatten nicht schon die Kreuzzüge, die<br />

Verbrennungen von angeblichen Ketzern <strong>und</strong> Hexen sowie die<br />

Sklaverei im Namen des Christentums gezeigt, dass mit dieser<br />

Religion e<strong>in</strong>iges nicht stimmen konnte? Und warum gab es <strong>in</strong><br />

der ganzen Welt so viele Kriege <strong>und</strong> so viel Hungersnot? Der<br />

heute vergessene Bürgerkrieg <strong>in</strong> Biafra, woher Bilder mit<br />

Tausenden von ausgehungerten K<strong>in</strong>dern die Welt schockiert<br />

hatten, war eben erst vor wenigen Monaten beendet worden,<br />

aber der Vietnamkrieg, der viele Jahre lang das Hauptthema<br />

235


der <strong>in</strong>ternationalen Politik war, wütete immer noch weiter. Wo<br />

war denn Gott, sowohl vor e<strong>in</strong>em halben Jahrh<strong>und</strong>ert als auch<br />

noch viel früher, vor allem <strong>in</strong> den Jahren der beiden Weltkriege<br />

<strong>und</strong> noch viel früher? Warum hatte er immer weggeschaut,<br />

wenn es wirklich e<strong>in</strong>en gab?<br />

All diese Fragen beschäftigten uns aufmüpfigen Teenager<br />

heiss, aber Handsch<strong>in</strong> verstand es, auf alle Angriffe erstaunlich<br />

ruhig e<strong>in</strong>zugehen, während er immer mitten unter uns sass,<br />

genau gleich wie e<strong>in</strong> anderer <strong>Lehrer</strong>, von dem ich weiter unten<br />

auch noch sprechen werde. Er wusste selbst ja auch, welche<br />

Probleme die Welt <strong>und</strong> damit auch uns jungen Leute<br />

beschäftigten; also hielt er es für besser, möglichst ruhig zu<br />

bleiben. Weder er noch ich, der sich damals überhaupt nicht für<br />

irgende<strong>in</strong>e Religion <strong>in</strong>teressierte, konnte sich damals vorstellen,<br />

dass auch er gerade durch diese ruhige Art e<strong>in</strong> paar<br />

Samenkörner streute, die mich später dazu führten, mich zu<br />

diesem Gott, den auch ich nie hatte begreifen können <strong>und</strong> zum<br />

Teil noch heute nicht richtig verstehe, <strong>und</strong> zur biblischen<br />

Botschaft von Jesus Christus zu bekehren.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs hatte ich mit den Pharisäern <strong>und</strong> Schriftgelehrten,<br />

wie ich die besonders fanatischen Prediger unter den<br />

Evangelikalen bezeichne, immer so viel Mühe, dass ich immer<br />

wieder Probleme hatte, mich <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de fest zu<br />

b<strong>in</strong>den. Ich lasse mich nun e<strong>in</strong>mal nicht gern anschreien - dafür<br />

hat mir schon die Armee genügt -, aber wenn ich auch noch<br />

feststellen muss, dass sich gerade bei solchen zudem<br />

charakterliche Defizite zeigen, die sich dar<strong>in</strong> ausdrücken, dass<br />

sie um jeden Preis immer im Mittelpunkt der Gläubigen stehen<br />

wollen, obwohl es auch noch andere fähige Leute zum<br />

Predigen gäbe, löscht es bei mir ab, wie das so modern heisst.<br />

So erlebte ich e<strong>in</strong> typisches Müsterchen mit e<strong>in</strong>em<br />

Superfrommen dann, als ich ihm e<strong>in</strong>mal aus lauter<br />

Fre<strong>und</strong>lichkeit zuzw<strong>in</strong>kerte - <strong>und</strong> schon kam er mit e<strong>in</strong>er Bibel<br />

vorbei, schlug e<strong>in</strong>e Seite aus dem Alten Testament auf, zeigte<br />

236


mir e<strong>in</strong>en Vers <strong>und</strong> sagte: «Weisst du denn nicht, dass hier<br />

geschrieben steht, man solle niemandem zuzw<strong>in</strong>kern?» Dabei<br />

unterschlug er, dass dieser Vers so geme<strong>in</strong>t ist, dass jemand<br />

das nicht tun solle, wenn es nicht ehrlich geme<strong>in</strong>t ist, aber ich<br />

hatte es mit ihm ja ehrlich geme<strong>in</strong>t. Wie es Jesus Christus<br />

treffend gesagt hat, als er e<strong>in</strong>mal dafür kritisiert wurde, dass er<br />

an e<strong>in</strong>em Sabbat Menschen heilte <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Jünger auf den<br />

Feldern Ähren zum Brotbacken sammelten: «Der Sabbat ist für<br />

die Menschen gemacht <strong>und</strong> nicht die Menschen für den<br />

Sabbat.» Ich könnte noch weitere Müsterchen erzählen, die ich<br />

mit Pharisäern <strong>und</strong> Schriftgelehrten erlebt habe, aber dieses<br />

e<strong>in</strong>e, das zu den bezeichnendsten gehörte, soll hier genügen.<br />

Die allgeme<strong>in</strong>e Abkehr vom Christentum vor allem seit dem<br />

Zweiten Weltkrieg war <strong>und</strong> ist die e<strong>in</strong>e Seite, aber es gab <strong>und</strong><br />

gibt auch e<strong>in</strong>e andere, die noch heute genau gleich, ja, sogar<br />

noch krasser ist: Die meisten glauben zwar nicht an e<strong>in</strong>en<br />

lebendigen Gott, aber sie haben dafür ihre Ersatzgötter, wie<br />

das <strong>in</strong> der modernen Zeit bei unzähligen Sport-, Film- <strong>und</strong><br />

Showbus<strong>in</strong>ess-Stars noch viel ausgeprägter ist als <strong>in</strong> unseren<br />

Teenagerjahren, als bei Konzerten der Beatles <strong>und</strong> Roll<strong>in</strong>g<br />

Stones vor allem Tausende von Mädchen <strong>und</strong> jungen Frauen<br />

wie <strong>in</strong> Trance schrien <strong>und</strong> bei e<strong>in</strong>em Konzert der letzteren im<br />

Zürcher Hallenstadion sämtliche Stühle zu Kle<strong>in</strong>holz verarbeitet<br />

wurden. Ich weiss noch heute sehr gut, welche Verehrung auch<br />

<strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> diesen halben Herrgöttern entgegengebracht wurde,<br />

<strong>und</strong> dazu gesellten sich weitere Bands, von denen die damals<br />

meistgenannten - jedenfalls die von mir gehörten - <strong>in</strong><br />

alfabetischer Reihenfolge so hiessen: Black Sabbath, Deep<br />

Purple, Jethro Tull, Led Zeppel<strong>in</strong>, Santana, The Equals (die<br />

e<strong>in</strong>zige gemischtrassige Band mit drei Schwarzen <strong>und</strong> zwei<br />

Weissen <strong>und</strong> ihrem bekanntesten Hit «Viva Bobby Joe», wie ich<br />

noch heute weiss), ferner The Monkeys, The Shock<strong>in</strong>g Blue,<br />

The Who <strong>und</strong> Uriah Heep. Dazu kamen auch noch zahlreiche<br />

Solisten, auf deren Aufzählung ich hier nicht nur aus<br />

Platzgründen bewusst verzichte. Zu den beiden e<strong>in</strong>zigen<br />

237


Ausnahmen, die mir damals bekannt waren <strong>und</strong> für me<strong>in</strong>en<br />

Geschmack so schöne Musik schrieben, dass ich an ihnen<br />

Gefallen fand, gehörten vor allem die Beach Boys <strong>und</strong> die Bee<br />

Gees sowie zum Teil auch die Les Humphries S<strong>in</strong>gers.<br />

Gerade diese Verehrung, die ich schon damals als pervers<br />

empfand, zeigte deutlich, dass <strong>in</strong> dieser Beziehung im<br />

menschlichen Denken e<strong>in</strong>iges verkehrt lief <strong>und</strong> immer noch<br />

läuft, <strong>und</strong> ich scheute mich auch <strong>in</strong> diesen Jahren nicht, das so<br />

zu sagen. Es machte mir geradezu Spass, <strong>in</strong> unserer Pension<br />

die anderen zu provozieren, wenn im Fernsehkasten, den wir<br />

alle zusammen benützten, wieder e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> solches Programm<br />

kam <strong>und</strong> ich sagte: "Schaut her, euer Idol!" oder "Schaut her,<br />

eure Idole!" Natürlich stiess das den anderen sauer auf, e<strong>in</strong>er<br />

von ihnen entgegnete e<strong>in</strong>mal ziemlich laut: "Du hast ja nur<br />

Vorurteile!" Da konnte ich ihm zum Teil sogar Recht geben,<br />

aber das war mir gleichgültig. Ich hatte schon <strong>in</strong> diesen Jahren<br />

e<strong>in</strong> untrügliches Gefühl dafür, was stimmen konnte <strong>und</strong> was<br />

nicht, aber es spielte sicher auch e<strong>in</strong>e Rolle, dass ich schon<br />

damals mehr auf Barock, Klassik <strong>und</strong> Romantik sowie auf<br />

Volksmusik aller Arten <strong>und</strong> Kirchenmusik stand, <strong>und</strong> so ist es<br />

bis heute geblieben.<br />

Diese Abkehr vom Christentum, die sicher auch durch den<br />

Schock der beiden Weltkriege mitbewirkt wurde, hatte die Welt<br />

unter anderem gerade auch diesen modernen Idolen zu<br />

verdanken. Für viele von uns Teenagern, die jeden Tag mit<br />

dem überspült wurden, was diese uns boten, war es geradezu<br />

e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>ladung, nicht an Gott <strong>und</strong> an Jesus Christus zu<br />

glauben. Wenn schon der Beatle George Harrison sich zum<br />

H<strong>in</strong>duismus, Cat Stevens <strong>und</strong> der Boxer Cassius Clay sich zum<br />

Islam <strong>und</strong> <strong>in</strong> späteren Jahren auch noch T<strong>in</strong>a Turner, die <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>er <strong>Trogen</strong>er Zeit noch mit ihrem damaligen Ehemann Ike<br />

auftrat, sich zum Buddhismus bekehrt hatten <strong>und</strong> das die ganze<br />

Welt immer wieder ungeniert wissen liessen - warum sollten all<br />

jene, die von ihnen so viel hielten, nicht auch das Gleiche tun<br />

238


oder sich m<strong>in</strong>destens ebenfalls vom Christentum abwenden?<br />

Umgekehrt wurden aber jeder Mann <strong>und</strong> jede Frau, die ebenso<br />

ungeniert verkündeten, sie hätten sich bewusst zu Jesus<br />

Christus bekehrt, laut verlacht <strong>und</strong> von vielen Fans boykottiert,<br />

wie es das Beispiel mit Bob Dylan gezeigt hat, aber das<br />

geschah erst nach me<strong>in</strong>er <strong>Trogen</strong>er Zeit.<br />

Dazu kommt aber noch dies: Wir waren alle so benebelt, dass<br />

wir gar nicht erkennen konnten, dass die gewaltige<br />

Drogenwelle, die seit dieser Zeit um die ganze Welt gegangen<br />

ist, unter anderem gerade auch durch diese Bands <strong>und</strong> Solisten<br />

ihren Anfang genommen hat. Daran ändert auch nichts, dass<br />

heute mehrere der noch Lebenden mahnende Worte an die<br />

jungen Leute richten, doch ja ke<strong>in</strong>e Drogen zu nehmen. Der<br />

Schaden, den sie damals angerichtet haben, <strong>in</strong>dem sie<br />

ungeniert behaupteten, das Bewusstse<strong>in</strong> werde damit erweitert,<br />

<strong>und</strong> damit Millionen <strong>in</strong> den Ru<strong>in</strong> getrieben haben, kann nicht<br />

mehr wettgemacht werden. Ich habe das schon mehrmals <strong>in</strong><br />

verschiedenen Internet-Foren geschrieben <strong>und</strong> b<strong>in</strong><br />

dementsprechend auch angefe<strong>in</strong>det worden, sofern me<strong>in</strong>e<br />

Kommentare überhaupt veröffentlicht wurden, aber je mehr ich<br />

angegriffen werde, desto mehr erkenne ich, dass ich mich auf<br />

dem richtigen Weg bef<strong>in</strong>de - es wird ja nicht ohne Gr<strong>und</strong> jedes<br />

Mal so empf<strong>in</strong>dlich reagiert.<br />

Von den St<strong>und</strong>en mit Handsch<strong>in</strong>, die für die meisten e<strong>in</strong><br />

qualvolles Abspulen e<strong>in</strong>es obligatorischen Faches waren, ist mir<br />

am meisten e<strong>in</strong>e Diskussion <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung geblieben, als über<br />

vorehelichen Geschlechtsverkehr diskutiert wurde. Wie es dazu<br />

gekommen war <strong>und</strong> wer dieses Thema <strong>in</strong> die R<strong>und</strong>e gebracht<br />

hatte, weiss ich nicht mehr, aber dafür weiss ich umso mehr,<br />

wie heiss diskutiert wurde. Jetzt waren wir ja <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Alter, <strong>in</strong><br />

dem das Interesse für das andere Geschlecht sich immer<br />

stärker zeigte; also schien es nicht schlecht zu se<strong>in</strong>, auch<br />

darüber zu sprechen. Eigentlich waren wir uns dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ig, dass<br />

es nicht darauf ankam, ob e<strong>in</strong> Pärchen offiziell verheiratet war<br />

239


oder nicht, aber e<strong>in</strong>er stellte sich heftig dagegen: Es war der<br />

Gleiche, der Schorsch II lange aus Versehen e<strong>in</strong>en Doktor<br />

nannte <strong>und</strong> am genau gleichen Tag wie ich zur Welt gekommen<br />

war. Da se<strong>in</strong>e Eltern, die ich e<strong>in</strong>mal wie oben erwähnt an e<strong>in</strong>em<br />

Wochenende kennen lernte, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kirche mitarbeiteten, hatte<br />

er uns gegenüber e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Wissensvorsprung, gerade<br />

auch was die biblischen Aussagen über vorehelichen<br />

Geschlechtsverkehr betrifft. Im Gegensatz zu Handsch<strong>in</strong>, der<br />

versuchte, so neutral wie möglich zu bleiben, konnte er es sich<br />

leisten, hier e<strong>in</strong>e eigene Me<strong>in</strong>ung zu vertreten, die schon<br />

damals bei den meisten als daneben galt. Immerh<strong>in</strong> hörte ich<br />

gerade durch diesen Klassenkollegen zum ersten Mal solche<br />

Aussagen.<br />

Nach e<strong>in</strong>em Jahr war auch das Gastspiel mit Handsch<strong>in</strong> vorbei.<br />

Dass ab dem Beg<strong>in</strong>n der fünften Klasse e<strong>in</strong> ganz anderer <strong>und</strong><br />

härterer W<strong>in</strong>d wehen würde, zeigte sich auch dar<strong>in</strong>, dass das<br />

Fach Religion von jetzt an nicht mehr vorkam. Trotz des<br />

Internets habe ich nie herausbekommen, was aus diesem<br />

Handsch<strong>in</strong> geworden ist, ja, er wurde nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> den<br />

verschiedenen Schulchroniken richtig erwähnt, jedenfalls nicht<br />

so klar wie die anderen <strong>Lehrer</strong>.<br />

Juon<br />

Mit dem letzten der fünf <strong>Lehrer</strong>, die wir zu Beg<strong>in</strong>n der vierten<br />

Klasse bekamen <strong>und</strong> ich hier vorstelle, wird es wieder<br />

musikalisch. Dieser <strong>Lehrer</strong> - der dritte Bündner nach Durisch<br />

<strong>und</strong> Köbi, der aber auch nicht mehr e<strong>in</strong> ganz re<strong>in</strong>es<br />

Bündnerisch sprach - unterrichtete also genauso wie Arm<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />

Durisch Musik <strong>und</strong> Gesang. Ich er<strong>in</strong>nere mich aber nicht nur<br />

deshalb so gut an ihn, sondern auch wegen se<strong>in</strong>es<br />

Familiennamens, <strong>und</strong> da muss ich etwas ausholen.<br />

In me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit kannte ich e<strong>in</strong>e Frau mit dem gleichen<br />

240


Namen, die zudem auch noch aus dem gleichen Kanton<br />

Graubünden stammte <strong>und</strong> zu mir e<strong>in</strong>ige Zeit lang wie e<strong>in</strong>e<br />

Mutter war, die ich nie hatte. Ich bezeichne diese knapp zwei<br />

Jahre mit ihr noch heute als die schönste Zeit <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

K<strong>in</strong>dheit. Als ich e<strong>in</strong>es Tages hörte, dass sie das K<strong>in</strong>derheim, <strong>in</strong><br />

dem sie als Hausangestellte lebte, verlassen würde, fühlte es<br />

sich an, als hätte mir jemand e<strong>in</strong> Messer <strong>in</strong> den Leib gerammt,<br />

derart schwer wog dieser Verlust für mich. So habe ich noch<br />

heute nicht vergessen, dass der Tag ihres Wegzugs für mich<br />

wie e<strong>in</strong> Weltuntergang war; also traf es sich direkt gut, dass es<br />

ke<strong>in</strong>en tränenreichen persönlichen Abschied gab - irgendwie<br />

verschwand sie durch die H<strong>in</strong>tertür, ohne sich von mir zu<br />

verabschieden. Damals war sie für mich, der etwa e<strong>in</strong>en halben<br />

Meter kle<strong>in</strong>er war, e<strong>in</strong>e sanftmütige <strong>und</strong> starke Ries<strong>in</strong>, die mich<br />

auch noch mit fast zehn Jahren wie e<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d herumtragen<br />

konnte.<br />

Durch verschiedene unglückliche Lebensumstände, an denen<br />

ich zum Teil auch selbst schuld war - andererseits gab es ja<br />

noch ke<strong>in</strong> Internet, so dass ich erst um die Jahrtausendwende<br />

erfuhr, wie ihr neuer Familienname nach ihrer Heirat lautete <strong>und</strong><br />

wo genau sie jetzt wohnte -, dauerte es mehr als vierzig Jahre,<br />

bis ich sie endlich wieder persönlich traf, <strong>und</strong> ich erkannte bei<br />

dieser ersten Begegnung nach so vielen Jahrzehnten, dass ich<br />

damit Recht gehabt hatte, sie so e<strong>in</strong>zuschätzen: Sie war mit<br />

fast siebzig Jahren immer noch erstaunlich kräftig - das<br />

erkannte ich daran, wie fest sie mich buchstäblich packte <strong>und</strong><br />

umarmte - <strong>und</strong> genauso gross wie ich, <strong>und</strong> ich messe immerh<strong>in</strong><br />

fast 180 Zentimeter. Das gilt für e<strong>in</strong>en Mann zwar nicht als viel,<br />

aber sehr wohl für e<strong>in</strong>e Frau; jedenfalls ist dieses Denken bis<br />

heute das gleiche geblieben, wie ich es schon vor mehr als<br />

e<strong>in</strong>em halben Jahrh<strong>und</strong>ert immer wieder zu hören bekam. Ich<br />

habe diese Frau me<strong>in</strong> Leben lang geliebt <strong>und</strong> werde sie auch<br />

über den Tod h<strong>in</strong>aus lieben; sie war <strong>und</strong> blieb immer me<strong>in</strong><br />

besonderer Schatz. Vor allem wegen ihr hatte ich me<strong>in</strong> Leben<br />

lang e<strong>in</strong>e Schwäche für gross gewachsene Frauen <strong>und</strong><br />

241


Mädchen, die e<strong>in</strong>erseits robust wirken <strong>und</strong> andererseits auch<br />

noch e<strong>in</strong>e gewisse Grazilität ausstrahlen, so auch die oben<br />

erwähnte Filmschauspieler<strong>in</strong> Vanessa Redgrave. Das bedeutet<br />

aber nicht, dass ich mich nicht auch <strong>in</strong> Mädchen <strong>und</strong> später <strong>in</strong><br />

Frauen verliebte, die zum Teil deutlich kle<strong>in</strong>er waren als ich, <strong>in</strong><br />

<strong>Trogen</strong> sowieso - ich war eigentlich immer <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Mädchen<br />

verliebt, aber natürlich nur nache<strong>in</strong>ander, <strong>und</strong> es war leider<br />

immer nur e<strong>in</strong>seitig. Trotzdem erkannte ich ansatzweise schon<br />

damals, was ich heute offen so sagen kann: Es tut der<br />

menschlichen Seele unheimlich gut, jemand anderen zu lieben,<br />

selbst wenn diese Liebe nicht erwidert wird, weil immer gehofft<br />

werden kann, dass es sich e<strong>in</strong>mal zu e<strong>in</strong>em Glück entwickelt,<br />

<strong>und</strong> auch dies kann für die Seele natürlich nur positiv se<strong>in</strong>.<br />

Wieder zurück zu diesem Herrn Juon: Er unterrichtete also<br />

ebenfalls Musik <strong>und</strong> Gesang. Eigentlich hätten wir zwei uns gar<br />

nicht kennen lernen sollen, weil die Gesangst<strong>und</strong>en zu Beg<strong>in</strong>n<br />

der vierten Klasse genauso wie <strong>in</strong> der ganzen dritten nicht<br />

vorgeschrieben waren. Das kam erst wieder ab der zweiten<br />

Hälfte der vierten Klasse, aber das wusste ich nicht mit<br />

Sicherheit. Deshalb klopfte ich an die Tür des Saales, von dem<br />

ich wusste, dass dort dr<strong>in</strong>nen Musik unterrichtet wurde - der<br />

gleiche Saal, <strong>in</strong> dem wir e<strong>in</strong> Jahr zuvor mit Durisch zu tun<br />

gehabt hatten -, <strong>und</strong> nachdem ich e<strong>in</strong> „Here<strong>in</strong>!“ gehört hatte <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>getreten war, sah ich zu me<strong>in</strong>em Erstaunen, dass nur etwa<br />

zehn Burschen <strong>und</strong> Mädchen vor ihm <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Klavier<br />

sassen. Es stellte sich sofort heraus, dass ich aus Versehen<br />

erschienen war, aber da er mir äusserst fre<strong>und</strong>lich sagte, dass<br />

Freiwillige immer willkommen seien, entschloss ich mich, dort<br />

zu bleiben.<br />

Es hatte se<strong>in</strong>en bestimmten Gr<strong>und</strong>, warum jetzt nur so wenige<br />

dabei waren: Es wurden zwei italienische Lieder geprobt, <strong>und</strong><br />

da die wenigsten Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler diese Sprache<br />

lernten, ergab sich auch diese ger<strong>in</strong>ge Zahl. So war ich umso<br />

willkommener, es konnte wirklich jeder <strong>und</strong> jede gebraucht<br />

242


werden. Da diese Lieder nicht allzu schwer waren <strong>und</strong> zudem<br />

nur e<strong>in</strong>stimmig gesungen wurden, konnten wir sie schon bald<br />

ziemlich gut, aber diese Italienisch-Gesangst<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d mir<br />

auch noch aus e<strong>in</strong>em anderen Gr<strong>und</strong> <strong>in</strong> bestimmter Er<strong>in</strong>nerung<br />

geblieben: Ich hatte <strong>in</strong> jenen Jahren noch Musikträume <strong>und</strong><br />

schrieb tatsächlich genau zehn Lieder - das weiss ich noch<br />

heute gut -, bis ich merkte, dass ich etwa die Hälfte aller<br />

Melodien abgekupfert hatte, ohne dass ich das zunächst<br />

merkte. Das lag jedoch nahe, weil fast alle anderen <strong>in</strong> der<br />

Pension, die ich bewohnte, <strong>in</strong> ihren Zimmern Schallplatten oder<br />

Grammophone hatten, aus denen jeden Tag die neusten Hits<br />

ertönten. Was mich aber viel mehr traf, war die ausserordentlich<br />

gute Stimme, mit der uns Juon diese beiden Lieder vorsang.<br />

Dank ihm wurde es mir schon damals klar, dass es nichts mit<br />

e<strong>in</strong>er Solo-Karriere als Sänger werden konnte, woran ich<br />

tatsächlich schon gedacht hatte. Ich besass zwar schon damals<br />

e<strong>in</strong>e sehr gute Stimme, die jedoch nur für e<strong>in</strong>en Chor etwas<br />

taugte, aber nie für e<strong>in</strong>en Solisten, <strong>und</strong> so ist es bis heute<br />

geblieben.<br />

Während die beiden italienischen Lieder auch deshalb bald<br />

e<strong>in</strong>mal sassen, weil wir sie wie erwähnt nur e<strong>in</strong>stimmig sangen,<br />

sah das bei dem e<strong>in</strong>en französischen, das wir ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>übten, schon ganz anders aus. In den ersten paar Wochen<br />

probte Juon getrennt, das heisst mit den Burschen <strong>und</strong><br />

Mädchen <strong>in</strong> verschiedenen St<strong>und</strong>en. Alle<strong>in</strong> dies deutete darauf<br />

h<strong>in</strong>, dass wir es mit e<strong>in</strong>em schwierigen Brocken zu tun hatten.<br />

Im Gegensatz zu den St<strong>und</strong>en bei Durisch, der mich e<strong>in</strong> paar<br />

Wochen lang noch als Tenor hatte s<strong>in</strong>gen lassen, bevor er mich<br />

zu den Bässen umteilte, war ich diesmal von Anfang an im<br />

untersten Stockwerk dabei, aber es wurmte mich immer noch,<br />

dass ich nicht im oberen mits<strong>in</strong>gen durfte. Dort hätte ich mich<br />

e<strong>in</strong>fach viel wohler gefühlt - <strong>und</strong> daran hat sich noch bis heute<br />

nichts geändert.<br />

Erst als Juon sah, dass die Bässe <strong>und</strong> Tenöre das Stück gut<br />

243


genug konnten, probten wir mit den beiden Mädchenstimmen<br />

zusammen - also mit den Sopran- <strong>und</strong> Altstimmen -, <strong>und</strong> erst<br />

jetzt, da ich alle vier Stimmen hörte, konnte ich erkennen, dass<br />

dieses Lied e<strong>in</strong>es der bekanntesten französischen Lieder war,<br />

das ich damals im K<strong>in</strong>derheim viele Male im Radio gehört hatte,<br />

von dem ich aber noch heute den Titel nicht kenne. Schon bald<br />

bekamen wir alle so viel Spass an diesem Lied, dass wir uns<br />

auf die Schülerabende, an denen wir sie vorzutragen hatten,<br />

riesig freuten. Endlich konnten wir alle zusammen zeigen, was<br />

wir draufhatten.<br />

Obwohl es <strong>in</strong> diesem Jahr 1970 ke<strong>in</strong> eigentliches Jubiläum zu<br />

feiern galt - das kam erst e<strong>in</strong> Jahr später, als wir wie oben<br />

erwähnt die von Pieps zusammengestellte Kantate aufführten -,<br />

wurden im Gegensatz zum nachfolgenden Jahr gleich drei<br />

Schülerabende durchgeführt. Wir haben nie erfahren, welches<br />

die Gründe waren, <strong>und</strong> erfuhren zudem auch erst jetzt so<br />

richtig, dass dies für Juon die Abschiedsvorstellung wurde, weil<br />

er nur noch bis zum Herbst dieses Jahres unterrichten <strong>und</strong><br />

dann <strong>in</strong> den Ruhestand gehen würde. Deshalb war bei uns der<br />

Wille, für diesen bei allen beliebten <strong>Lehrer</strong> das Beste zu geben,<br />

umso grösser.<br />

Als Erste kamen gleich wir mit den beiden italienischen Liedern<br />

dran, wobei wir noch von zwei Gitarristen begleitet wurden, von<br />

denen der e<strong>in</strong>e Teddy war, wie ich noch heute weiss. Das<br />

dauerte natürlich nur e<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten; also blieb für das<br />

Orchester, das nachher irgende<strong>in</strong> Stück spielte - welches<br />

genau, weiss ich nach so langer Zeit nicht mehr -, noch<br />

genügend Zeit. Das Bemerkenswerte war, dass <strong>in</strong> diesem<br />

kle<strong>in</strong>en Orchester zwei aus unserer Klasse <strong>und</strong> wie oben<br />

erwähnt drei K<strong>in</strong>der des Dirigenten mitspielten. Ich weiss das<br />

nur deshalb noch so gut, weil das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schulchronik steht,<br />

die ich noch bis <strong>in</strong> die heutige Zeit herüberretten konnte.<br />

Nach diesem Musikstück kamen wir zum zweiten Mal dran, <strong>und</strong><br />

244


diesmal auch mit dem grossen Haufen, der beim französischen<br />

Lied mitsang. Es war wirklich e<strong>in</strong>drücklich, wie wir vierzig bis<br />

sechzig Burschen <strong>und</strong> Mädchen dieses Lied vierstimmig<br />

h<strong>in</strong>schmetterten. Ich übertreibe nicht, wenn ich schreibe, dass<br />

wir alle nachher Stand<strong>in</strong>g Ovations bekamen, wie das sonst nur<br />

sogenannten Superstars des Sports <strong>und</strong> des Showbus<strong>in</strong>ess<br />

<strong>und</strong> manchmal auch e<strong>in</strong> paar Leuten der Politik zuteil wird.<br />

Natürlich galten diese Stand<strong>in</strong>g Ovations vor allem Juon, dem<br />

auch noch e<strong>in</strong> riesiger Blumenstrauss überreicht wurde, <strong>und</strong> ich<br />

er<strong>in</strong>nere mich noch gut daran, dass er Mühe hatte, vor lauter<br />

Rührung nicht <strong>in</strong> Tränen auszubrechen. Ich weiss ebenfalls<br />

noch gut, dass ich selbst, der sonst mit dem Applaudieren<br />

immer zurückhaltend war, diesmal mitklatschte. Die<br />

Begeisterung über diese bestens gelungene Aufführung war<br />

derart gross, dass wir das ganze Stück gleich noch e<strong>in</strong>mal<br />

s<strong>in</strong>gen mussten oder vielmehr durften. Juon bekam tatsächlich<br />

wie geplant den grossen Abschied, den alle ihm auch von<br />

Herzen gönnten.<br />

Trotz dieses Riesenbeifalls g<strong>in</strong>g nicht vergessen, dass der<br />

eigentliche Höhepunkt, wie er als solcher ausgedacht wurde,<br />

noch gar nicht gekommen war. Dieser war die Aufführung des<br />

bekannten Theaterstücks „Britannicus“ von Jean Rac<strong>in</strong>e, das <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er deutschen Version von etwa zehn Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong><br />

Schülern gespielt wurde. Da ich wusste, wie viel Knochenarbeit<br />

während vielen Wochen geleistet werden musste, um e<strong>in</strong> Stück<br />

aufzuführen, hatte ich mich gar nicht erst gemeldet, als<br />

Kandidat<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Kandidaten gesucht wurden, <strong>und</strong> zudem<br />

wäre ich ziemlich sicher gar nicht genommen worden, weil das<br />

Schauspielern mir nie wirklich lag. Ich schaute zwar immer gern<br />

zu - aber selbst mitspielen? Das überliess ich grosszügig<br />

anderen, aber es gab ja auch immer Leute, die sich für die<br />

Rollen <strong>in</strong>teressierten. Im Vergleich zum Vorjahr spielten diesmal<br />

ganz andere Leute mit; so nahm auch jene aus unserer Klasse,<br />

mit der ich mich immer gut verstand <strong>und</strong> der schon damals e<strong>in</strong>e<br />

Karriere als Schauspieler<strong>in</strong> zugetraut wurde, die ihr aber nicht<br />

gelang, diesmal nicht teil.<br />

245


Gerade die Aufführung dieses Theaterstücks zeigte, dass der<br />

eigentliche Star des Abends nicht Juon war, sondern jemand<br />

anders. Es war nicht der Bursche, der Kaiser Nero als<br />

Hauptfigur spielte <strong>und</strong> dabei gerade wegen dieses<br />

Theaterstücks e<strong>in</strong>en Bart tragen durfte, ohne dass jener <strong>Lehrer</strong>,<br />

von dem ich oben geschrieben habe, etwas hätte e<strong>in</strong>wenden<br />

können. Natürlich hätte er auch e<strong>in</strong>en künstlichen umhängen<br />

können, aber das wollte er nicht <strong>und</strong> das wäre auch e<strong>in</strong> wenig<br />

lächerlich gewesen. Da er auch noch selbst rothaarig war wie<br />

dieser Kaiser - genauer e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation zwischen rot <strong>und</strong><br />

blond -, passte alles gut zusammen. Der eigentliche Star dieses<br />

Abends war e<strong>in</strong>deutig die Schüler<strong>in</strong>, die Neros Mutter Agripp<strong>in</strong>a<br />

spielte, nachdem sie schon im Orchester mitgewirkt hatte. Sie<br />

war e<strong>in</strong>e St. Galler<strong>in</strong> aus e<strong>in</strong>em Dorf im Rhe<strong>in</strong>tal, wie ich noch<br />

heute weiss, <strong>und</strong> zudem war sie ziemlich gross gewachsen <strong>und</strong><br />

sah wie e<strong>in</strong>e feurige Südländer<strong>in</strong> aus; also war sie für die Figur<br />

der Agripp<strong>in</strong>a wie geschaffen <strong>und</strong> auch ihre Schauspielkunst<br />

strahlte viel Können aus. Sie war e<strong>in</strong>e Klasse höher als ich <strong>und</strong><br />

erst seit der zweiten Hälfte der vierten Klasse <strong>in</strong> dieser Schule.<br />

Ich weiss diese E<strong>in</strong>zelheiten auch deshalb noch so gut, weil ich<br />

mich für sie <strong>in</strong>teressierte, obwohl es mir von Anfang an klar war,<br />

dass ich bei ihr nie landen konnte. Im Verlauf der drei Jahre, die<br />

wir gleichzeitig <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> verbrachten, gelang es mir nur e<strong>in</strong>mal,<br />

mit ihr e<strong>in</strong> kurzes Gespräch zu führen, als es um irgendetwas<br />

Belangloses g<strong>in</strong>g.<br />

Ich sah sie nach dem Bestehen ihrer Maturaprüfungen erst e<strong>in</strong><br />

paar Jahrzehnte später wieder, als im „Tages-Anzeiger“ e<strong>in</strong>e<br />

Bibliothek <strong>und</strong> damit auch ihre Direktor<strong>in</strong> vorgestellt wurden. Da<br />

ihr Name erwähnt wurde, schaute ich etwas genauer h<strong>in</strong>, <strong>und</strong><br />

ich erkannte, dass ihr Gesicht auch nach so langer Zeit fast das<br />

gleiche geblieben war, aber natürlich e<strong>in</strong> wenig gealtert.<br />

Offensichtlich war sie unverheiratet geblieben, wie der immer<br />

noch gleiche Familienname verriet, aber heute ist es für e<strong>in</strong>e<br />

Frau ja möglich, nach e<strong>in</strong>er Scheidung den Namen des Ex-<br />

Mannes wieder löschen zu lassen; also bleibt es e<strong>in</strong>e<br />

246


Vermutung. Es wäre jedoch nicht ohne Ironie, dass<br />

ausgerechnet die beiden, die ich immer als die attraktivsten <strong>in</strong><br />

dieser Schule sah - eben diese Agripp<strong>in</strong>a <strong>und</strong> jene, mit der ich<br />

mich immer gut verstand, <strong>und</strong> von dieser weiss ich es mit<br />

Sicherheit -, nie geheiratet haben.<br />

Nach Juons Abgang von der Bühne übernahm e<strong>in</strong> Exil-Bulgare<br />

namens Stanischew das Zepter, bis er von Pieps wegen se<strong>in</strong>er<br />

Kantate vorübergehend abgelöst wurde, aber im Herbst darauf<br />

kam er wieder zurück <strong>und</strong> blieb e<strong>in</strong>e ganze Weile, jedenfalls<br />

auch noch nach me<strong>in</strong>em Wegzug von dieser Schule. Ich<br />

er<strong>in</strong>nere mich auch deshalb so gut an ihn, weil ich mit ihm e<strong>in</strong><br />

Jahr später die ersten paar russischen Wörter wechseln konnte,<br />

was ihn sehr freute, aber das gehört zu e<strong>in</strong>em Kapitel weiter<br />

unten.<br />

--------------------------------------------------------------------------<br />

Die St<strong>und</strong>en mit Juon s<strong>in</strong>d mir auch deshalb <strong>in</strong> so guter<br />

Er<strong>in</strong>nerung geblieben, weil ich ausgerechnet dort e<strong>in</strong> Mädchen<br />

kennen lernte, von dem ich wochenlang glaubte, es könne<br />

me<strong>in</strong>e erste Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> werden. Wir kannten uns zwar schon seit<br />

e<strong>in</strong>em Jahr, weil wir <strong>in</strong> die gleichen Italienisch-St<strong>und</strong>en zu<br />

Bouton g<strong>in</strong>gen - dabei gehörte sie zu den wenigen, die diese<br />

Sprache als Absolventen der Handelsschule belegten -, aber<br />

erst jetzt lernten wir uns e<strong>in</strong> wenig besser kennen. Die Art, wie<br />

sie manchmal zu mir herüberschaute <strong>und</strong> mir zulächelte, schien<br />

mir zu zeigen, dass sie an mir wirklich <strong>in</strong>teressiert war, <strong>und</strong><br />

auch sie gefiel mir natürlich, schliesslich erlebte ich so etwas<br />

zum ersten Mal. Eigentlich stand ich zwar mehr auf langhaarige<br />

Frauen, aber wenn e<strong>in</strong>e den dazu passenden Kopf hatte, fand<br />

ich auch mittellange, ja, sogar kurze Haare schön - aber eben,<br />

es musste alles passen, <strong>und</strong> so halte ich es noch heute. Bei ihr<br />

passte es jedoch; sie trug ihre Haare <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Komb<strong>in</strong>ation aus<br />

mittellang <strong>und</strong> kurz, <strong>und</strong> ihre Ersche<strong>in</strong>ung machte jeden<br />

allfälligen Mangel wett. Das Gesamtpaket stimmte also, wie der<br />

247


heutige moderne Ausdruck lautet.<br />

Da die Gruppe, welche die beiden italienischen Lieder probte,<br />

wie erwähnt nur aus etwa zehn Leuten bestand, kamen wir uns<br />

gerade <strong>in</strong> diesen St<strong>und</strong>en am nächsten, aber ohne dass von<br />

ihrer Seite irgende<strong>in</strong> entscheidender Funke herübersprang. Das<br />

empfand ich jedoch nicht als weiter tragisch, weil ich mir<br />

ausrechnete, dass wir an den drei Schülerabenden genügend<br />

Gelegenheiten haben würden, um e<strong>in</strong>e richtige Fre<strong>und</strong>schaft zu<br />

beg<strong>in</strong>nen. Es störte mich überhaupt nicht, dass sie e<strong>in</strong> halbes<br />

Jahr älter war als ich <strong>und</strong> damit die siebzehn Jahre bereits<br />

vollendet hatte. Vor allem wegen ihr, also noch viel mehr als<br />

wegen unserer Aufführungen, freute ich mich auf diese<br />

Schülerabende am meisten.<br />

Tatsächlich schien ich mich am ersten Abend nicht zu<br />

täuschen, weil ich erstaunlich lange mit ihr tanzen konnte, ohne<br />

dass sie auf andere e<strong>in</strong> Auge warf. Immerh<strong>in</strong> hätte sie noch<br />

zwischen Dutzenden von anderen wählen können, so kamen<br />

auch immer wieder Wechsel vor. Auch dank ihr verlor ich me<strong>in</strong>e<br />

bisherigen Hemmungen <strong>und</strong> konnte mich auch dann, als<br />

getrennt zu wilden Melodien getanzt wurde, erstaunlich gut<br />

bewegen. Trotzdem kam es noch zu ke<strong>in</strong>em Kuss, weil ich<br />

spürte, dass sie dazu noch nicht bereit war. Ich nahm das nicht<br />

weiter tragisch, weil ich ja immer noch zwei weitere Abende vor<br />

mir hatte, an denen mehr entstehen konnte, wie ich glaubte.<br />

Am zweiten Schülerabend spürte ich jedoch von Anfang an,<br />

dass etwas mit ihr geschehen se<strong>in</strong> musste, aber sie deutete<br />

nichts an. Nachdem wir e<strong>in</strong>en oder zwei Tänze h<strong>in</strong>ter uns<br />

gebracht hatten, sagte sie etwas von Müdigkeit <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Pause. So g<strong>in</strong>g ich also für wenige M<strong>in</strong>uten h<strong>in</strong>aus, um frische<br />

Luft zu schnappen, <strong>und</strong> als ich wieder zurückkehrte, sah ich sie<br />

mit e<strong>in</strong>em anderen Burschen tanzen - <strong>und</strong> im Gegensatz zu mir<br />

zwei Tage zuvor viel enger, so dass ich mir leicht ausrechnen<br />

konnte, dass es zwischen diesen beiden offensichtlich gefunkt<br />

hatte.<br />

248


Der Neue, den sie sich jetzt angelacht hatte, war ausgerechnet<br />

dieser Frischknecht, von dem ich oben bei Flade <strong>und</strong> Fufu<br />

geschrieben habe. Wir zwei kannten uns ebenfalls, weil auch er<br />

die Italienisch-St<strong>und</strong>en besuchte, aber im Gegensatz zu diesem<br />

Mädchen war er erst im April dieses Jahres <strong>in</strong> die Schule<br />

e<strong>in</strong>getreten. Als hätten wir beide geahnt, dass zwischen uns<br />

e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Mädchen stehen würde, hatten wir nie mite<strong>in</strong>ander<br />

gesprochen <strong>und</strong> uns nicht e<strong>in</strong>mal gegrüsst; wir existierten nur<br />

nebene<strong>in</strong>ander <strong>und</strong> das genügte uns. Ich konnte diese<br />

Kehrtwendung vor allem deshalb nicht begreifen, weil dieser<br />

Bursche ke<strong>in</strong> besonders gut aussehender, hoch gewachsener<br />

<strong>und</strong> kräftiger Adonis war - die meisten Frauen <strong>und</strong> Mädchen<br />

standen doch immer auf solche Typen, <strong>und</strong> daran hat sich auch<br />

bis heute nichts geändert. Er verkörperte das genaue<br />

Gegenteil, ja, er war sogar noch etwas kle<strong>in</strong>er als sie, was die<br />

meisten Frauen <strong>und</strong> Mädchen ja ebenfalls immer gestört hat.<br />

Trotzdem musste er etwas Bestimmtes aufgewiesen haben,<br />

das ich diesem Mädchen nicht bieten konnte.<br />

Da es offensichtlich war, dass ich bei ihr abgemeldet war,<br />

verliess ich das Fest <strong>und</strong> kehrte <strong>in</strong> die Pension zurück, wo ich<br />

etwas tat, das ich seitdem bis heute nie mehr wegen e<strong>in</strong>er Frau<br />

oder wegen e<strong>in</strong>es Mädchens getan habe: Ich heulte mich aus,<br />

dafür musste das von der Schlummermutter zur Verfügung<br />

gestellte Kopfkissen herhalten. Später erlebte ich noch andere<br />

Abfuhren, aber diese war für mich e<strong>in</strong>deutig die schlimmste,<br />

<strong>und</strong> dabei war ich noch nicht e<strong>in</strong>mal 17-jährig. Die<br />

Enttäuschung sass derart tief, dass ich am dritten Schülerabend<br />

nicht mehr h<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g, obwohl ich eigentlich noch e<strong>in</strong>mal hätte<br />

mits<strong>in</strong>gen müssen, vor allem die beiden italienischen Lieder, für<br />

die nur wenige Leute zur Verfügung standen.<br />

Ab der nächsten Woche waren die beiden tatsächlich<br />

zusammen, was sich auch dar<strong>in</strong> zeigte, dass sie jetzt direkt<br />

nebene<strong>in</strong>andersassen <strong>und</strong> <strong>in</strong> den St<strong>und</strong>en mite<strong>in</strong>ander<br />

scherzten. Wie weit diese Fre<strong>und</strong>schaft g<strong>in</strong>g, konnte ich aber<br />

249


nicht herausf<strong>in</strong>den, weil beide nicht <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> wohnten, wo der<br />

Flurfunk - oder das Buschtelefon, wie das <strong>in</strong> der Schweiz<br />

genannt wird - immer bestens funktionierte. Nach wenigen<br />

Wochen war diese Romanze jedoch schon wieder vorbei <strong>und</strong><br />

dazu trug sicher auch bei, dass dieser Frischknecht kurz darauf<br />

auch noch aus irgendwelchen Gründen die Schule verliess, <strong>und</strong><br />

er wurde nachher nie mehr gesehen. In diesen wenigen<br />

Monaten, <strong>in</strong> denen er bei uns war, spielte er aber Schicksal <strong>und</strong><br />

war zur falschen Zeit am falschen Ort. Ohne dass er es wusste,<br />

spannte er mir kurz vor dem Ziel me<strong>in</strong>e erste mögliche Fre<strong>und</strong><strong>in</strong><br />

aus, aber ich schliesse nicht aus, dass es e<strong>in</strong>fach nicht unsere<br />

Bestimmung war <strong>und</strong> auch ohne diesen Burschen nichts<br />

entstanden wäre. Schliesslich waren dieses Mädchen <strong>und</strong> ich ja<br />

immer noch sehr jung <strong>und</strong> standen noch am Anfang unseres<br />

Lebens.<br />

Wenige Wochen nach Frischknechts Wegzug von der Schule -<br />

genauer nach den Herbstferien - ergab es sich seltsamerweise,<br />

dass dieses Mädchen <strong>und</strong> ich <strong>in</strong> den Italienisch-St<strong>und</strong>en, die<br />

wir weiter zusammen besuchten, direkt nebene<strong>in</strong>ander zu<br />

sitzen kamen. Da ich nie sicher war, ob sie me<strong>in</strong> Abservieren<br />

an jenem Schülerabend vielleicht doch bereute <strong>und</strong> jetzt e<strong>in</strong>en<br />

neuen Kontakt suchte, <strong>und</strong> da ich nicht noch e<strong>in</strong>mal so schwer<br />

verletzt werden wollte, wagte ich es nicht, nochmals näher auf<br />

sie e<strong>in</strong>zugehen. Trotzdem dauerte dieser seltsame Kontakt<br />

noch e<strong>in</strong> gutes halbes Jahr <strong>und</strong> er endete <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Schulst<strong>und</strong>en erst zu Beg<strong>in</strong>n der fünften Klasse, als ich wie<br />

oben bei Bouton erwähnt aus Gründen, die ich später selbst nie<br />

richtig nachvollziehen konnte, das Italienische aufgab <strong>und</strong> mich<br />

nur noch auf das Englische als obligatorische dritte<br />

Fremdsprache konzentrierte. Damit beg<strong>in</strong>g ich nicht nur den<br />

e<strong>in</strong>en taktischen Fehler, den ich oben <strong>in</strong> Bezug auf den<br />

Notendurchschnitt schon erklärt habe, sondern auch noch<br />

e<strong>in</strong>en zweiten: Von diesem Zeitpunkt an hatte ich zu diesem<br />

Mädchen ke<strong>in</strong>en so direkten Kontakt mehr wie zuvor. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

zeichnete es sich bereits ab, dass dieser immer mehr<br />

250


versandete, obwohl wir uns <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>gst<strong>und</strong>en beim<br />

E<strong>in</strong>studieren der Kantate noch sahen, dann also bei Pieps.<br />

Ich sollte auf e<strong>in</strong>e ziemlich makabre Weise noch Recht<br />

bekommen, obwohl es zu Beg<strong>in</strong>n des ersten Schülerabends<br />

noch gut aussah, weil dieses Mädchen mir tatsächlich ihre<br />

Eltern vorstellte, die diesmal erschienen. Dabei bekam ich erst<br />

jetzt die Gewissheit, dass ihre Mutter e<strong>in</strong>e Italiener<strong>in</strong> war, wie<br />

sie mir das schon e<strong>in</strong> Jahr zuvor gesagt hatte. Das war sicher<br />

e<strong>in</strong> guter Gr<strong>und</strong> dafür gewesen, dass sie auch die Italienisch-<br />

St<strong>und</strong>en besuchte; schliesslich tat das auch die Schüler<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>er Klasse, mit der ich mich immer gut verstand, aus dem<br />

gleichen Gr<strong>und</strong>. Schon schöpfte ich wieder e<strong>in</strong>e schwache<br />

Hoffnung, weil es e<strong>in</strong>en bestimmten Gr<strong>und</strong> geben musste, dass<br />

sie das tat, aber als ich sie nach der Aufführung der Kantate<br />

schon zu Beg<strong>in</strong>n der Tanzst<strong>und</strong>en <strong>in</strong>mitten des Getümmels<br />

halbwegs umschlungen mit e<strong>in</strong>em Burschen sah, der diese<br />

Schule nicht besuchte <strong>und</strong> im Gegensatz zu Frischknecht aus<br />

Mädchensicht auch noch e<strong>in</strong>e Augenweide war, wurde es mir<br />

endgültig klar, was die St<strong>und</strong>e geschlagen hatte. Von diesem<br />

Abend an tat ich alles, um ihr so weit wie möglich aus dem Weg<br />

zu gehen, <strong>und</strong> das war leicht, weil wir nicht <strong>in</strong> die gleiche Klasse<br />

g<strong>in</strong>gen.<br />

E<strong>in</strong> halbes Jahr später beendete sie die Handelsschule <strong>und</strong> zog<br />

von <strong>Trogen</strong> weg, <strong>und</strong> ich habe sie seitdem nie mehr gesehen,<br />

aber doch noch von ihr gehört, wenn auch auf e<strong>in</strong>e seltsame<br />

Weise: Wenige Jahre später bekam ich für kurze Zeit zu e<strong>in</strong>er<br />

ehemaligen Klassenkolleg<strong>in</strong> von mir durch e<strong>in</strong>en Zufall wieder<br />

e<strong>in</strong>en Kontakt - <strong>und</strong> erst jetzt erfuhr ich, dass diese beiden, die<br />

ihre Wurzeln im gleichen Ort hatten, schon seit Jahren<br />

Busenfre<strong>und</strong><strong>in</strong>nen waren, aber vielleicht erst seit ihrem Wegzug<br />

von der Schule, weil ich sie dort nie zusammen gesehen hatte.<br />

Von dieser Frau, die zu diesem Zeitpunkt bereits e<strong>in</strong>e<br />

gescheiterte Ehe h<strong>in</strong>ter sich hatte, bekam ich zu hören, dass<br />

ihre Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Art Verlobten hatte <strong>und</strong> für e<strong>in</strong>ige Zeit nach<br />

251


Australien gezogen war. Da dieser neue Kontakt mit der<br />

ehemaligen Klassenkolleg<strong>in</strong> kurz darauf wieder zerbrach, habe<br />

ich nie mit Sicherheit erfahren, ob sie diesen geheiratet <strong>und</strong> für<br />

immer nach Australien ausgewandert ist.<br />

E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Trost ist mir geblieben, so bös sich das auch<br />

anhören mag: Dieses Mädchen neigte schon <strong>in</strong> jenen Jahren<br />

e<strong>in</strong> wenig zur Korpulenz <strong>und</strong> wenn ich mir vor Augen führe, wie<br />

verschiedene Frauen, die ich vor 40 <strong>und</strong> 50 Jahren persönlich<br />

kannte, <strong>in</strong>zwischen «explodiert» s<strong>in</strong>d, also gewaltig<br />

zugenommen haben, ist mir vielleicht e<strong>in</strong> Kelch erspart<br />

geblieben. Trotzdem hat mir diese erste schlechte Erfahrung,<br />

die sich e<strong>in</strong> Jahr später noch fast wiederholt hätte, noch viele<br />

Jahre lang wehgetan. Ob sie sich wohl jemals bewusst war,<br />

was sie mir angetan hatte, obwohl ich ihr me<strong>in</strong> ganzes Herzblut<br />

gegeben hätte? Ich bezweifle das.<br />

Die Drohne<br />

Das ist zwar e<strong>in</strong> weibliches Wort, das auch für Männer<br />

verwendet werden kann, aber wir hatten tatsächlich auch e<strong>in</strong>e<br />

Frau <strong>Lehrer</strong><strong>in</strong>, doch sie war unsere e<strong>in</strong>zige <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e von nur<br />

zwei weiblichen Lehrkräften <strong>in</strong> dieser Schule. Sie ersetzte <strong>in</strong> der<br />

zweiten Hälfte der vierten Klasse Bartli im Fach Late<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />

zeigte schon <strong>in</strong> der allerersten St<strong>und</strong>e, dass von jetzt an e<strong>in</strong><br />

ganz anderer <strong>und</strong> härterer W<strong>in</strong>d wehen würde. Gerade sie war<br />

es, die schon nach wenigen Tagen ausrief, wir hätten die<br />

Schwerhörigkeit ihres Kollegen - damit war eben Bartli geme<strong>in</strong>t<br />

- schamlos ausgenützt. Nicht weil sie e<strong>in</strong>e Frau war, sondern<br />

durch ihr Auftreten sage ich noch heute, dass ich ke<strong>in</strong>e andere<br />

Lehrkraft kannte, die zwei so völlig verschiedene persönliche<br />

Seiten hatte, wie der Tag sich von der Nacht unterscheidet.<br />

Die e<strong>in</strong>e Seite war die, dass sie nicht nur Late<strong>in</strong> unterrichtete,<br />

sondern auch Altgriechisch <strong>und</strong> Hebräisch, <strong>und</strong> genauso wie<br />

252


Schorsch II im Zeichnen, Pieps <strong>in</strong> der Physik <strong>und</strong> Kasi im<br />

Englischen <strong>in</strong> der Oberstufe war sie die e<strong>in</strong>zige Lehrkraft <strong>in</strong><br />

dieser Schule, wo sie allerd<strong>in</strong>gs immer nur vier Late<strong>in</strong>-Klassen<br />

hatte, weil auch sie nur <strong>in</strong> der Oberstufe unterrichtete. Zudem<br />

konnten die Lernenden, die Griechisch <strong>und</strong> Hebräisch belegten,<br />

an zwei Händen abgezählt werden, <strong>und</strong> drei von ihnen g<strong>in</strong>gen<br />

<strong>in</strong> unsere Klasse. Während e<strong>in</strong> Mädchen, das später e<strong>in</strong>e Ärzt<strong>in</strong><br />

wurde, als E<strong>in</strong>zige auf das Englische verzichtete <strong>und</strong> sich<br />

neben dem für alle obligatorischen Französischen auf die<br />

beiden klassischen Sprachen konzentrierte, belegte e<strong>in</strong>es der<br />

beiden Klassengenies zwar Hebräisch, aber ke<strong>in</strong> Griechisch,<br />

obwohl später auch er e<strong>in</strong> Arzt wurde. Nach se<strong>in</strong>en Worten hielt<br />

er, der <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der dritten Klasse den E<strong>in</strong>stieg<br />

verschlafen hatte, obwohl er extra noch von Zeno darum<br />

gebeten worden war, nachträglich doch noch e<strong>in</strong>zusteigen,<br />

diese Sprache nicht für so wichtig. Unser Klassenprimus oder<br />

genauer unsere Klassenprima im Bereich der Sprachen war<br />

jedoch die oben schon zweimal erwähnte Schüler<strong>in</strong>, deren<br />

Eltern sich <strong>in</strong> dieser Schule kennen gelernt hatten <strong>und</strong> die<br />

neben Englisch <strong>und</strong> Französisch als E<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> der ganzen<br />

Schule alle drei klassischen Sprachen <strong>und</strong> damit fünf<br />

Sprachenbelegte, aber ausgerechnet über sie habe ich später<br />

nie erfahren, was aus ihr geworden ist.<br />

Da das Englische <strong>in</strong> der heutigen Zeit auch im Bereich der<br />

Mediz<strong>in</strong> die wichtigste Sprache ist, weil fast die ganze<br />

Fachliteratur <strong>in</strong> dieser Sprache gedruckt wird, <strong>und</strong> da die<br />

meisten Wörter aus dem Griechischen stammen, nehme ich an,<br />

dass die Schulkolleg<strong>in</strong>, die im Gymnasium auf das Englische<br />

verzichtete, <strong>und</strong> das Klassengenie, das gute Griechisch-<br />

Kenntnisse ganz e<strong>in</strong>fach brauchte, das Versäumte schon kurz<br />

nach dem Bestehen der Maturaprüfungen auf irgende<strong>in</strong>e Weise<br />

doch noch nachgeholt haben.<br />

Was diese drei klassischen Sprachen betrifft, war die Drohne,<br />

wie ich sie hier nenne, tatsächlich e<strong>in</strong>e Kapazität, wie es von<br />

253


denen nur wenige gab <strong>und</strong> gibt. Sie unterrichtete diese nicht<br />

nur e<strong>in</strong>fach, sondern kannte sie auch von h<strong>in</strong>ten <strong>und</strong> vorn <strong>und</strong><br />

wiederum von vorn nach h<strong>in</strong>ten <strong>in</strong>- <strong>und</strong> auswendig. Zudem<br />

verstand sie es meisterhaft, den Unterricht so lebendig zu<br />

gestalten, als hätte sie die Zeiten im Römischen Reich selbst<br />

erlebt. Obwohl ich ke<strong>in</strong> Griechisch <strong>und</strong> Hebräisch belegte -<br />

dafür war die Zeit bei mir noch nicht reif -, kann ich mir gut<br />

vorstellen, dass sie die "Magna Graecia", wie im Altertum der<br />

griechische Siedlungsraum von der spanischen Ostküste bis<br />

zum Schwarzen Meer genannt wurde, <strong>und</strong> die Geschichte der<br />

biblischen Patriarchen sowie das Königreich der Israeliten unter<br />

den ersten drei Königen Saul, David <strong>und</strong> Salomo genauso<br />

lebendig schildern konnte. Ihr Unterricht war tatsächlich so<br />

<strong>in</strong>teressant, dass die Maturanden, die das "Monumentum"<br />

verfassten, ihr dafür extra noch dankten.<br />

Das war die e<strong>in</strong>e Seite von ihr, aber die andere war die, dass<br />

sie sich so gab, als wäre es ihr pe<strong>in</strong>lich, e<strong>in</strong>e Frau zu se<strong>in</strong>.<br />

Dabei hatte sie eigentlich e<strong>in</strong> hübsches Gesicht, so dass es für<br />

uns alle immer unverständlich war, warum sie sich mit ihren<br />

kaum 150 Zentimetern Körpergrösse immer nur <strong>in</strong> engen Hosen<br />

zeigte, die an ihrem auffallend hageren Körper zu kleben<br />

schienen. Deshalb musste sie es sich gefallen lassen, dass sie<br />

im gleichen "Monumentum" nicht nur viel Lob bekam, sondern<br />

wegen dieser Ersche<strong>in</strong>ung auch hochgenommen wurde. Es war<br />

e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Gedicht, dessen zwei erste Strophen so lauteten:<br />

Vom nördlichen Gestade<br />

Herab <strong>in</strong>s Schweizerland<br />

Kam unsere Renate,<br />

In Hosen nur bekannt.<br />

Warum verbirgt sie ihren Reiz<br />

Und Evas schöne Formen?<br />

Entspricht das etwa e<strong>in</strong>em Geiz<br />

Und vielleicht andern Normen?<br />

254


Die paar anderen Strophen führe ich nicht mehr auf, weil sie<br />

schlechter geraten waren als die beiden ersten, <strong>und</strong> zudem war<br />

auch die zweite Hälfte der zweiten Strophe derart holperig, dass<br />

ich sie hier e<strong>in</strong> wenig korrigiert habe. Ich war schon immer der<br />

Me<strong>in</strong>ung, dass nur jene, die es auch wirklich können, dichten<br />

sollten, weil es sonst pe<strong>in</strong>lich wirkt.<br />

Was das nördliche Gestade betrifft, stammte diese Frau<br />

tatsächlich aus Norddeutschland, doch es stimmte davon nur<br />

die Hälfte. Da es das Internet aber noch nicht gab <strong>und</strong> diese<br />

Frau von sich nie etwas Persönliches erzählte, konnten diese<br />

Schüler nicht wissen, dass sie nicht von der nördlichen Küste<br />

stammte, sondern kurz vor dem Zweiten Weltkrieg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Kle<strong>in</strong>stadt <strong>in</strong> der Nähe von Hannover zur Welt gekommen war,<br />

wie heute leicht herausgef<strong>und</strong>en werden kann. Im Gegensatz<br />

zur heutigen Zeit, <strong>in</strong> der hier <strong>in</strong> der Schweiz auffallend viele aus<br />

Deutschland <strong>und</strong> Österreich unterrichten, war sie neben e<strong>in</strong>em<br />

anderen, den ich weiter unten noch vorstellen werde, die<br />

e<strong>in</strong>zige Lehrkraft aus dem grossen Kanton, wie das nördliche<br />

Nachbarland schon seit Jahrzehnten scherzhaft so genannt<br />

wird - <strong>und</strong> tatsächlich wird ja immer wieder e<strong>in</strong> Fernseh-<br />

Programm, das dort im Bereich der billigen Unterhaltung<br />

e<strong>in</strong>geführt wird, früher oder später auch <strong>in</strong> der Schweiz<br />

nachgemacht oder genauer nachgeäfft.<br />

Die zwei extremen Gegensätze zeigten sich bei dieser Frau<br />

auch im Unterricht. Auf der e<strong>in</strong>en Seite konnte sie das<br />

Römische Reich genauso wie se<strong>in</strong>erzeit Bohni ungeheuer<br />

lebendig vermitteln, als hätte sie Cicero, Julius Cäsar <strong>und</strong><br />

Tacitus, die sie am <strong>in</strong>tensivsten behandelte, persönlich<br />

gekannt, <strong>und</strong> zugleich konnte sie hervorragend Werke<br />

vorstellen, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte <strong>und</strong> die<br />

auch <strong>in</strong> der Literatur nur wenig bekannt s<strong>in</strong>d. Damit me<strong>in</strong>e ich<br />

vor allem das "Monumentum Ancyranum", <strong>in</strong> dem der Kaiser<br />

Augustus von se<strong>in</strong>em Leben erzählte, <strong>und</strong> die sogenannten<br />

Märtyrerakten, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>e Christ<strong>in</strong> namens Perpetua ähnlich<br />

255


wie e<strong>in</strong>e Reporter<strong>in</strong> ihre letzten Tage <strong>und</strong> auch die ihrer<br />

Glaubensgenossen schilderte, die ebenfalls zum Tod verurteilt<br />

wurden. Es war e<strong>in</strong>e ähnliche Reportage wie die von Pl<strong>in</strong>ius<br />

dem Jüngeren, der beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 nach<br />

Christus vor Ort dabei war <strong>und</strong> miterlebte, wie se<strong>in</strong> Onkel, der<br />

berühmte Naturforscher Pl<strong>in</strong>ius der Ältere, dabei durch<br />

Ersticken umkam. Diese Reportage behandelten wir nicht, aber<br />

dafür se<strong>in</strong>en ausführlichen Briefwechsel mit dem Kaiser Trajan<br />

etwa um die Jahre 100 bis 110. Der eigentliche Höhepunkt war<br />

aber die "Germania" des Geschichtsschreibers Tacitus, die wir<br />

gründlich durchlasen, <strong>und</strong> da die Drohne selbst aus der<br />

Gegend stammte, wo der Konsul Varus im Jahr 9 nach Christus<br />

bei der berühmten Schlacht gleich drei Legionen verloren hatte<br />

<strong>und</strong> dabei selbst auch gefallen war, lag es nahe, gerade dieses<br />

Werk am gründlichsten zu behandeln. Daneben lasen wir auch<br />

mittellate<strong>in</strong>ische Texte von Petrarca <strong>und</strong> Erasmus von<br />

Rotterdam, den beiden bekanntesten Autoren dieser Epoche<br />

neben Dante Alighieri, der mit se<strong>in</strong>er «La Div<strong>in</strong>a Commedia»<br />

als der Schöpfer der modernen italienischen Sprache gilt, aber<br />

ebenfalls mittellate<strong>in</strong>ische Werke geschrieben hat, <strong>und</strong> dazu<br />

Comic-Hefte mit Texten von Plautus, aber auch auf diese<br />

Weise konnten wir viel lernen.<br />

Genauso wie Guschti mit se<strong>in</strong>em Ch<strong>in</strong>esen, Schorsch II mit<br />

se<strong>in</strong>en Spick-Sprüchen, Köbi mit se<strong>in</strong>em Stöpsel <strong>und</strong> Brühler,<br />

Zeno mit se<strong>in</strong>em Chlämmerlisack <strong>und</strong> Heihei mit se<strong>in</strong>em Pf<strong>und</strong><br />

Elektronen hatte auch die Drohne e<strong>in</strong> Markenzeichen, das<br />

immer wieder zu hören war. Immer wenn sie e<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>e gab,<br />

die e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation aus Geschichte <strong>und</strong> Grammatik war, <strong>und</strong><br />

dann etwas fragte, das nicht e<strong>in</strong>mal die beiden Klassengenies<br />

sofort beantworten konnten, war leicht auszurechnen, dass<br />

dieses e<strong>in</strong>e Wort bald wieder kommen würde: Meistbietend. Ich<br />

kann hier nur ungefähr wiedergeben, wie e<strong>in</strong>e solche Szene<br />

aussah: Wer weiss es? - Meistbietend? - Niemand? Doch,<br />

manchmal wusste jemand tatsächlich etwas, aber erst nach<br />

langem Zögern, <strong>und</strong> bis dah<strong>in</strong> hatte sie dieses Wort schon<br />

256


längst wieder gesagt. Je nach Lage der D<strong>in</strong>ge wirkte dieses<br />

"meistbietend" manchmal lustig, aber manchmal auch pe<strong>in</strong>lichlangweilig.<br />

Das war also die e<strong>in</strong>e Seite, die den Late<strong>in</strong>unterricht wirklich so<br />

lebendig gestaltete, dass niemand <strong>in</strong> Gefahr geriet, irgendwann<br />

e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>zuschlafen. Die andere Seite war jedoch, dass die<br />

Prüfungen knallhart waren, aber sie wurden wenigstens jedes<br />

Mal angekündigt. Jeden Monat gab es e<strong>in</strong> solches Ex, bei dem<br />

es nie sicher war, ob sie e<strong>in</strong>en Text von Cicero oder Julius<br />

Cäsar oder von wem auch immer vorlegen würde, den wir dann<br />

<strong>in</strong>s Deutsche übersetzen mussten. Das kam deshalb besonders<br />

darauf an, weil Cicero noch heute als derjenige römische Autor<br />

gilt, der am schwersten zu übersetzen ist, während sogar e<strong>in</strong><br />

Julius Cäsar, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em auffallend militärischen Stil schrieb -<br />

so ist se<strong>in</strong> Spruch «veni, vidi, vici», also «ich kam, sah <strong>und</strong><br />

siegte» noch heute <strong>in</strong> der ganzen Welt bekannt <strong>und</strong><br />

gewissermassen se<strong>in</strong> Markenzeichen -, im Vergleich zu ihm<br />

direkt leicht zu übersetzen ist. Das sage sogar ich, der im Late<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> der Oberstufe nie mehr an die früheren Leistungen<br />

anknüpfen konnte - eben gerade auch wegen dieser schweren<br />

Texte. Es kam uns auch deshalb darauf an, dass wir möglichst<br />

ke<strong>in</strong>en Text von Cicero bekamen, weil wir ja nicht mehr allzu<br />

weit von den Maturaprüfungen weg waren <strong>und</strong> es sich bereits<br />

herumgesprochen hatte, dass es dann wie e<strong>in</strong>e Lotterie war,<br />

dass also die e<strong>in</strong>en mit e<strong>in</strong>em Cicero-Text kämpfen <strong>und</strong> die<br />

anderen e<strong>in</strong>en von Cäsar oder von wem auch immer<br />

übersetzen mussten oder auch durften. Ich habe nie genau<br />

erfahren, ob dieses Gerücht wirklich stimmte oder ob doch alle<br />

den gleichen Text erhielten <strong>und</strong> dann e<strong>in</strong>fach weiter<br />

ause<strong>in</strong>ander sitzen mussten, aber alle<strong>in</strong> die Tatsache, dass so<br />

geredet wurde, spricht für sich.<br />

Zu all dem kam etwa jeden zweiten Monat e<strong>in</strong>e Wörterprüfung,<br />

für die wir etwa e<strong>in</strong>en Monat lang Zeit hatten, um etwa<br />

zweih<strong>und</strong>ert Wörter zu büffeln. Auch diese Spezialprüfungen<br />

257


kündigte sie zwar an, aber immer nur für irgendwann <strong>in</strong> der<br />

nächsten Woche, so dass wir <strong>in</strong> jeder St<strong>und</strong>e damit rechnen<br />

mussten, dass es jetzt so weit war. Wenigstens schnitt ich bei<br />

diesen Prüfungen nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung nicht so schlecht ab<br />

wie bei den Übersetzungen <strong>und</strong> ich bekenne ehrlich, dass ich<br />

von diesem Wörterdrill, den wir tatsächlich so empfanden, noch<br />

heute e<strong>in</strong> wenig profitiere.<br />

Ich habe es bereits angedeutet: Praktisch alle Übersetzungen<br />

gerieten mir so daneben, dass ich nicht nur <strong>in</strong> der Mathematik<br />

<strong>und</strong> Physik, sondern auch im Late<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Absturz erlebte, der<br />

mit dazu beitrug, dass ich auch diese Schule bald verlassen<br />

musste. Dazu kam noch, dass ich selbst auch e<strong>in</strong>mal erlebte,<br />

was immer wieder herumerzählt wurde, <strong>und</strong> auch deshalb habe<br />

ich für sie diesen Spitznamen gewählt: Beim ger<strong>in</strong>gsten<br />

Anzeichen von Spicken - wie auch immer die Drohne es<br />

empfand - kam sie sofort vorbei, nahm e<strong>in</strong>em den<br />

Prüfungszettel weg <strong>und</strong> gab ihn später mit e<strong>in</strong>er 1 zurück.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs war diese e<strong>in</strong>e Note nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Flecken, auch<br />

e<strong>in</strong>e 6 hätte mich damals nicht mehr gerettet, ja, nicht e<strong>in</strong>mal<br />

e<strong>in</strong>e 6 im Zeugnis, weil ich alle<strong>in</strong> mit der Mathematik <strong>und</strong> den<br />

drei naturwissenschaftlichen Fächern Biologie, Chemie <strong>und</strong><br />

Physik locker auf mehr als drei M<strong>in</strong>uspunkte kam. Ich schreibe<br />

das auch deshalb, weil ich von anderen hörte, dass sie vor<br />

allem wegen der Drohne diese Schule verlassen mussten, <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>er deckte sie dabei mit mehreren unschönen Worten e<strong>in</strong>, um<br />

es noch fre<strong>und</strong>lich auszudrücken. Da ich diesen fast acht Jahre<br />

später durch e<strong>in</strong>en Zufall <strong>in</strong> der Nähe des oben im Vorwort<br />

erwähnten Bellevueplatzes <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> traf <strong>und</strong> er mir dann sagte,<br />

dass er kurz vor dem Abschluss se<strong>in</strong>er Studien stehe, darf<br />

angenommen werden, dass er später <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Schule<br />

die Maturaprüfungen doch noch nachgeholt <strong>und</strong> bestanden hat.<br />

E<strong>in</strong>e zweite Spezialszene mit ihr erlebte ich auch gerade dann,<br />

als es mit mir ab der fünften Klasse allmählich abwärtsg<strong>in</strong>g: Ich<br />

weiss nicht mehr, was ich während der St<strong>und</strong>e verbrochen<br />

258


hatte, aber wir zwei gerieten mit Worten ziemlich stark<br />

ane<strong>in</strong>ander. Obwohl ich mir ke<strong>in</strong>er Schuld bewusst war,<br />

entschuldigte ich mich nachher bei ihr, aber das nützte nicht<br />

mehr viel. Sie schloss mich tatsächlich für e<strong>in</strong>e ganze Woche<br />

vom Unterricht aus, doch als ich konsequent blieb <strong>und</strong> das<br />

tatsächlich durchzog, liess sie mir noch vor dem Ende dieser<br />

Woche durch Klassenkollegen ausrichten, ich müsse mich<br />

wieder zeigen; also war sie weniger konsequent als ich.<br />

Bei so vielen negativen Erlebnissen mit ihr hätte ich fast<br />

vergessen können, dass ihre immer noch vorhandenen guten<br />

Seiten auch dar<strong>in</strong> bestanden, dass sie mit uns <strong>in</strong> St.Gallen, das<br />

weit <strong>und</strong> breit die e<strong>in</strong>zige Stadt <strong>in</strong> der Nähe war, die viel<br />

Kulturelles anbot, e<strong>in</strong>mal die bekannte Stiftsbibliothek besuchte<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>mal sogar an e<strong>in</strong>e Aufführung der weltberühmten<br />

"Carm<strong>in</strong>a Burana" von Carl Orff g<strong>in</strong>g, die vor allem wegen des<br />

Kernstücks "Oh Fortuna!" noch heute weltberühmt s<strong>in</strong>d.<br />

Damals war ich noch zu jung, um die ganzen Zusammenhänge<br />

richtig zu verstehen, aber heute bezeichne ich dieses<br />

Musikstück als e<strong>in</strong>es der Hauptwerke, die dazu beigetragen<br />

haben, dass auch im Bereich der Kultur die alten christlichen<br />

Werte immer mehr verloren gegangen s<strong>in</strong>d, nicht zuletzt auch<br />

durch den Schock mit den beiden Weltkriegen als traurigen<br />

Höhepunkten dieser ganzen Entwicklung. Ich halte es für<br />

ke<strong>in</strong>en Zufall, dass auch die "Carm<strong>in</strong>a Burana" mit ihrer<br />

pantheistischen <strong>und</strong> damit zugleich antichristlichen Botschaft <strong>in</strong><br />

der Zeit des Nationalsozialismus hoch im Kurs standen.<br />

Deshalb erstaunt es mich umso mehr, dass gerade dieses<br />

Werk auch mit Hilfe des YouTube wieder e<strong>in</strong>e ungeheure<br />

Verbreitung erfährt, aber auch das passt zum heutigen<br />

Gesamtbild.<br />

Trotz dieser kulturellen Schulreisen, die wir als solche<br />

empfanden, liess die Drohne uns nie näher an sich heran. So<br />

erzählte sie nie etwas Persönliches von sich, das blieb immer<br />

unter Verschluss. Wie weltfremd diese Frau trotz ihrer ganzen<br />

259


Bildung <strong>und</strong> ihres sicher hervorragenden Unterrichts se<strong>in</strong><br />

konnte, bewies sie am deutlichsten an jenem traurigen<br />

Vormittag im September 1972, als bekannt geworden war, dass<br />

bei den Olympischen Sommerspielen <strong>in</strong> München nach zwei<br />

bereits ermordeten israelischen Sportlern auch noch die neun<br />

anderen, die als Geiseln genommen worden waren, zusammen<br />

mit e<strong>in</strong>em Polizisten ums Leben gekommen waren. Die<br />

ebenfalls erschossenen paläst<strong>in</strong>ensischen Terroristen, für die<br />

der Progressive sicher auch noch jetzt Sympathien empfand,<br />

zähle ich hier bewusst nicht auf.<br />

Noch bevor der Unterricht begann, las die Drohne e<strong>in</strong>en Text<br />

vor, den der noch heute weltbekannte russische Schriftsteller<br />

Alexander Solschenizyn unter dem Titel "Der Geist von<br />

München" geschrieben hat. Dieser war e<strong>in</strong> Teil se<strong>in</strong>er<br />

Nobelpreis-Rede, die er bekanntlich nie halten konnte, weil er<br />

1970, im Jahr der Auszeichnung, bewusst nicht ausreisen<br />

wollte, weil er damit rechnen musste, dass er nachher nicht<br />

mehr zurückkehren durfte. Vier Jahre später - kurz nach me<strong>in</strong>er<br />

RS - wurde nach der Veröffentlichung des Buches «Archipel<br />

Gulag», das nicht nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em mittelalterlich wirkenden<br />

Russischen, sondern auch auf Deutsch nur zähflüssig zu lesen<br />

ist, aber trotzdem ausgebürgert <strong>und</strong> <strong>in</strong> den Westen<br />

abgeschoben. Wenigstens konnte er diesmal <strong>in</strong>sofern von<br />

se<strong>in</strong>em Bekanntheitsgrad profitieren, als er nicht e<strong>in</strong> zweites<br />

Mal im Gulag verschwand wie während des Zweiten Weltkriegs.<br />

Mit diesem Text «Der Geist von München», dessen tieferer<br />

S<strong>in</strong>n nicht leicht zu erkennen ist, ist das Münchener Abkommen<br />

von 1938 geme<strong>in</strong>t, bei dem die europäischen Grossmächte<br />

Italien, Frankreich <strong>und</strong> Grossbritannien dem Deutschen Reich<br />

die Erlaubnis gaben, die damalige Tschechoslowakei zum<br />

Abtreten der deutschsprachigen Sudentengebiete zu zw<strong>in</strong>gen.<br />

Solschenizyn hatte mit se<strong>in</strong>en Worten <strong>in</strong> diesem auffallend<br />

kurzen Abschnitt im Kern zwar Recht - aber was um Himmels<br />

willen hatten dieses Abkommen von 1938 <strong>und</strong> der<br />

260


Terroranschlag von 1972 bei den Olympischen Sommerspielen,<br />

also zwei Ereignisse, die durch e<strong>in</strong>en re<strong>in</strong>en Zufall <strong>in</strong> der<br />

gleichen Stadt stattfanden, mite<strong>in</strong>ander zu tun? Ich wollte das<br />

die Drohne eigentlich schon <strong>in</strong> dieser St<strong>und</strong>e fragen, aber ich<br />

war e<strong>in</strong> zu schlechter Schüler, um dafür berechtigt zu se<strong>in</strong>, <strong>und</strong><br />

die anderen zogen es vor, lieber zu schweigen. Es gab bei ihr<br />

eben nur diese beiden Seiten: Wer gut abschnitt, wurde von ihr<br />

respektiert, aber wer nicht so gut war, hatte schlicht ke<strong>in</strong> Stimm<strong>und</strong><br />

Rederecht, <strong>und</strong> zu diesen gehörte auch ich.<br />

Immerh<strong>in</strong> konnte ich es ihr immer hoch anrechnen, dass sie<br />

mich auch nach dem Benützen des Liftes <strong>in</strong> der neuen Klasse,<br />

wo ich sie als e<strong>in</strong>zige Late<strong>in</strong>lehrer<strong>in</strong> der Oberstufe natürlich<br />

noch e<strong>in</strong>mal hatte, nie auf irgende<strong>in</strong>e Weise angriff, <strong>und</strong><br />

genauso handelten auch die neuen Kolleg<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Kollegen.<br />

Dar<strong>in</strong> waren diese vorbildlicher als nicht wenige aus der alten<br />

Klasse, die nicht mehr mit mir sprachen <strong>und</strong> mich auch nicht<br />

mehr grüssten, wenn wir ane<strong>in</strong>ander vorbeig<strong>in</strong>gen, aber das<br />

kam wenigstens nicht allzu oft vor. Ich schliesse jedoch nicht<br />

aus, dass die Drohne sich auch deshalb so verhielt, weil es ihr<br />

völlig gleichgültig war, was aus mir wurde, <strong>und</strong> tatsächlich gab<br />

es auch nicht so etwas wie e<strong>in</strong>en persönlichen Abschied.<br />

Nur wenige Jahre später bekam ich vom e<strong>in</strong>zigen ehemaligen<br />

Mitbewohner der Pension, zu dem ich noch Kontakt hatte,<br />

etwas Sensationelles zu hören: Diese sche<strong>in</strong>bar so unnahbare<br />

Frau hatte tatsächlich geheiratet. Der Auserwählte war e<strong>in</strong><br />

<strong>Lehrer</strong>, der <strong>in</strong> der gleichen Schule unterrichtete <strong>und</strong> von dem<br />

ich weiter unten auch noch erzählen werde. Ich konnte das<br />

zuerst fast nicht glauben, doch dann schmunzelte ich - <strong>und</strong> e<strong>in</strong><br />

paar Jahre später konnte ich noch e<strong>in</strong>mal schmunzeln, als ich<br />

auf irgende<strong>in</strong>e Weise auch noch mitbekam, dass diese beiden<br />

sich bereits wieder getrennt hatten.<br />

Obwohl ihre Wurzeln <strong>in</strong> Norddeutschland lagen, blieb auch sie<br />

nach der Versetzung <strong>in</strong> den Ruhestand <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> hängen <strong>und</strong><br />

261


esuchte weiter viele kulturelle Veranstaltungen. Manchmal<br />

schrieb sie sogar etwas, das mit der Geschichte des Altertums<br />

<strong>und</strong> den drei Sprachen, die sie unterrichtet hatte, eng<br />

zusammenh<strong>in</strong>g, ja, sie veröffentlichte auch e<strong>in</strong> nicht schlecht<br />

geratenes Buch über e<strong>in</strong>en der Mitgründer der Reformation <strong>in</strong><br />

der Schweiz. Zw<strong>in</strong>gli <strong>und</strong> Calv<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d zwar die bekanntesten,<br />

aber sie waren nicht die E<strong>in</strong>zigen; es gab auch noch Bull<strong>in</strong>ger,<br />

den engsten Mitarbeiter von Zw<strong>in</strong>gli, sowie Farel <strong>und</strong> Vadian -<br />

über e<strong>in</strong>en von diesen hat sie dieses Buch geschrieben. Zudem<br />

sprang sie ähnlich wie andere Kollegen noch im Alter von<br />

siebzig Jahren <strong>und</strong> mehr zum Unterrichten e<strong>in</strong>, wenn sie e<strong>in</strong>mal<br />

gebraucht wurde. Im Gegensatz zu vielen anderen aus dem<br />

grossen Kanton, welche die e<strong>in</strong>heimischen Schweizer immer<br />

zum Schmunzeln br<strong>in</strong>gen, wenn sie versuchen, Dialekt zu<br />

sprechen, hielt sie es nie für nötig, extra Schweizerdeutsch zu<br />

lernen, <strong>und</strong> sie hatte damit sogar Recht. Sie verstand ja alles,<br />

zudem ist auch sie im Verlauf der vielen Jahre fast e<strong>in</strong>e<br />

waschechte <strong>Trogen</strong>er Frau geworden.<br />

Doktor Am<br />

So wie die Drohne die e<strong>in</strong>zige Lehrkraft war, die wir ab der<br />

zweiten Hälfte der vierten Klasse hatten - die e<strong>in</strong>zige Ausnahme<br />

war der oben erwähnte Exil-Bulgare Stanischew, der aber<br />

wegen der Kantate bald durch Pieps ersetzt wurde -, so war<br />

dieser <strong>Lehrer</strong> der E<strong>in</strong>zige, den wir zu Beg<strong>in</strong>n der fünften Klasse<br />

neu bekamen. Er war der Nachfolger von Schwarz,<br />

unterrichtete also Geografie; nach Roth, Dorigo, Köbi <strong>und</strong><br />

Schwarz war dieser also schon me<strong>in</strong> fünfter <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> diesem<br />

Fach.<br />

Warum ich ihn hier so nenne, hat se<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong> dar<strong>in</strong>, dass<br />

dieses "am" genauso zu se<strong>in</strong>em Namen gehörte, wie viele<br />

andere zwischen ihren Vor- <strong>und</strong> Familiennamen e<strong>in</strong> "van", e<strong>in</strong><br />

"von" oder gar e<strong>in</strong> "van de", e<strong>in</strong> "van der" oder e<strong>in</strong> "von der"<br />

262


führen. Tatsächlich hatte unsere Kompanie <strong>in</strong> der RS e<strong>in</strong>en<br />

Burschen mit e<strong>in</strong>em solchen "von der", der gerade kurz zuvor<br />

die Maturaprüfungen bestanden hatte, <strong>und</strong> es passte dazu,<br />

dass er nicht nur aus e<strong>in</strong>er vornehmen Familie stammte,<br />

sondern sich darauf auch noch etwas e<strong>in</strong>bildete. Als ich ihn, mit<br />

dem ich trotzdem erstaunlich gut auskam, wegen se<strong>in</strong>es<br />

sonderbaren Akzents e<strong>in</strong>mal danach fragte, antwortete er zu<br />

me<strong>in</strong>em Erstaunen, dass bei ihm zu Hause immer nur<br />

Hochdeutsch gesprochen wurde. Die meisten wissen heute<br />

nicht mehr, dass es noch vor wenigen Jahrzehnten <strong>in</strong> vielen<br />

vornehmen Zürcher Familien der Brauch war, sich nie im<br />

Dialekt zu unterhalten; deshalb sprach auch der General Wille,<br />

welcher der schweizerischen Armee während des Ersten<br />

Weltkriegs vorstand, ebenfalls nur Hochdeutsch. Was diesen<br />

Von der betrifft, hat es mich jedoch immer gew<strong>und</strong>ert, warum er<br />

ausgerechnet bei der Infanterie dabei war - als e<strong>in</strong>er, der immer<br />

wieder von e<strong>in</strong>em höheren Niveau geredet hatte, wofür er<br />

e<strong>in</strong>mal sogar von e<strong>in</strong>em aus e<strong>in</strong>er anderen fe<strong>in</strong>en Familie, der<br />

zudem ebenfalls die Maturaprüfungen gerade bestanden hatte,<br />

gemassregelt wurde.<br />

Was "van", "van de", "van der", «von» <strong>und</strong> "von der" betrifft, gibt<br />

es aber noch Nuancen: Während die drei erstgenannten im<br />

niederländisch-flämischen Sprachraum auffallend häufig<br />

vorkommen, s<strong>in</strong>d die deutschen "von" <strong>und</strong> "von der" viel<br />

seltener. Zudem haben die niederländisch-flämischen Varianten<br />

nichts mit e<strong>in</strong>er vornehmen Herkunft zu tun, sonst wäre auch<br />

der noch heute weltbekannte Komponist Ludwig van<br />

Beethoven, dessen Grossvater aus Flandern stammte, e<strong>in</strong><br />

Adliger gewesen. Dagegen bedeutet es im Deutschen immer<br />

noch etwas, wenn jemand e<strong>in</strong> "von" <strong>und</strong> erst recht e<strong>in</strong> "von der"<br />

mit sich führt.<br />

Warum ich hier etwas ausgeholt habe, liegt dar<strong>in</strong>, dass es mit<br />

diesem "am" etwas ganz Besonderes auf sich hat. Es kommt so<br />

selten vor, dass es sogar für die <strong>Trogen</strong>er <strong>Lehrer</strong>schaft etwas<br />

263


ganz Neuartiges war. Das erklärt auch, warum dieser neue<br />

<strong>Lehrer</strong> sich nach se<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> diese Schule heftig darüber<br />

beschwerte, dass auf der aktualisierten <strong>Lehrer</strong>liste, die alle auf<br />

dem grossen Anschlagbrett lesen konnten, dieses "am" nicht<br />

aufgeführt wurde. Ich sage nicht gerade, dass er tobte, aber es<br />

wurde herumerzählt, dass er ke<strong>in</strong>e Ruhe gab, bis dieses "am"<br />

nachträglich e<strong>in</strong>gefügt wurde. Nomen est omen, dieses uralte<br />

late<strong>in</strong>ische Sprichwort, das ich schon bei Engler zitiert habe -<br />

dort aber positiv -, traf auch auf diesen <strong>Lehrer</strong> zu. Ich habe<br />

ke<strong>in</strong>en anderen gekannt, der se<strong>in</strong>e Nase derart hochtrug, dass<br />

sogar e<strong>in</strong> Teil der <strong>Lehrer</strong>kollegen mit ihm Mühe hatte. Wie ich<br />

es bei der Drohne angetönt habe, gab es zwei <strong>Lehrer</strong> vom<br />

grossen Kanton, <strong>und</strong> dieser war der andere. Dazu kam noch,<br />

dass er von Düsseldorf stammte, wo die Leute angeblich<br />

besonders hochnäsig s<strong>in</strong>d, wie e<strong>in</strong>e Rhe<strong>in</strong>länder<strong>in</strong>, die ihre<br />

Wurzeln <strong>in</strong> Mönchengladbach hatte, mir e<strong>in</strong>mal erzählte. Ob<br />

das wirklich stimmt, weiss ich nicht - ich zitiere hier nur<br />

jemanden. Immerh<strong>in</strong> stammt aber der bekannte Dichter<br />

He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e, den ich immer gern gelesen habe, auch aus<br />

dieser Stadt.<br />

Angesichts dieser Probleme wegen des "am" g<strong>in</strong>g fast unter,<br />

dass dieser <strong>Lehrer</strong> eigentlich e<strong>in</strong>en guten Start h<strong>in</strong>legte. Ich<br />

er<strong>in</strong>nere mich noch heute daran, dass se<strong>in</strong>e allererste St<strong>und</strong>e<br />

aus e<strong>in</strong>em Lichtbildervortrag über Malta bestand, aber das ist<br />

auch schon alles. Kaum war diese an sich gute E<strong>in</strong>führung<br />

vorbei, tauchten schon die ersten Schwierigkeiten auf. Je<br />

länger wir bei ihm waren, desto mühsamer schleppten sich die<br />

St<strong>und</strong>en dah<strong>in</strong>; so liegt es nahe, dass alles, was er uns<br />

unterrichtete, sich von me<strong>in</strong>em Gedächtnis verabschiedet hat.<br />

Schliesslich geriet die ganze Geschichte gar so weit, dass auch<br />

unsere beiden Klassengenies mit ihm Mühe bekamen. Die<br />

Hauptschwierigkeit bestand dar<strong>in</strong>, dass er uns zwar nicht mit<br />

Worten, aber durch se<strong>in</strong> Verhalten immer wieder spüren liess,<br />

um wie viel besser als wir er doch war. Wenn es aber wieder<br />

e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Ex gab, von denen e<strong>in</strong>es nach dem anderen so<br />

264


komisch gestaltet wurde, dass sogar die Klassengenies sich<br />

beschwerten, legte er auch noch mit diesen <strong>und</strong> ähnlichen<br />

Worten nach: "Ich habe me<strong>in</strong>e Exam<strong>in</strong>a schon gemacht."<br />

Trotzdem gelang es mir immer, mich irgendwie so<br />

durchzuschlängeln, dass ich fast immer m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e 4<br />

schaffte, aber zu e<strong>in</strong>em persönlichen Gespräch mit ihm ist es<br />

nie gekommen. Wie sollte das auch möglich se<strong>in</strong>? Er stand ja<br />

um etliche soziale Stufen höher als ich.<br />

Es sprach sich bald herum, dass andere Klassen, die er<br />

unterrichtete, mit ihm ebenfalls Mühe hatten. Während jedoch<br />

Doktor Stilfibel, der se<strong>in</strong>e Arbeit nicht wirklich falsch gemacht<br />

hatte, nach e<strong>in</strong>em Jahr wieder hatte gehen müssen, durfte<br />

Doktor Am, der tatsächlich auch e<strong>in</strong>en Doktortitel trug, die<br />

ganzen e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre bleiben, also bis zum Ende der ersten<br />

Hälfte der sechsten Klasse, als das Fach Geografie ab diesem<br />

Zeitpunkt nicht mehr auf dem Lehrplan stand. Nachher setzte<br />

sich se<strong>in</strong>e <strong>Lehrer</strong>tätigkeit noch für e<strong>in</strong> paar Jahre fort, wie ich<br />

später auf irgende<strong>in</strong>e Weise erfuhr, bis er wieder wegg<strong>in</strong>g <strong>und</strong><br />

irgendwo im Nirgendwo verschwand. Ich b<strong>in</strong> noch heute davon<br />

überzeugt, dass se<strong>in</strong>e adlige Herkunft mitgeholfen hat, dass er<br />

bleiben durfte. Wozu hatte man schliesslich se<strong>in</strong>e<br />

Beziehungen? Da konnte nicht e<strong>in</strong>mal die <strong>Trogen</strong>er<br />

<strong>Lehrer</strong>schaft viel ausrichten.<br />

Wie wenig unsere Klasse von ihm hielt, zeigte sie <strong>in</strong> der<br />

allerletzten St<strong>und</strong>e mit ihm, als beschlossen wurde, dass alle<br />

sich schwarz anziehen würden, aber ich b<strong>in</strong> sicher, dass diese<br />

Demonstration ihn überhaupt nicht bee<strong>in</strong>druckt hat. Da es zu<br />

diesem Zeitpunkt bereits feststand, dass ich den Lift nehmen<br />

<strong>und</strong> damit diese Klasse verlassen musste, <strong>und</strong> da ich zudem<br />

sowieso ke<strong>in</strong>e schwarzen Kleider hatte, besuchte ich diese<br />

St<strong>und</strong>e nicht mehr. Ich war jedoch so neugierig, dass ich am<br />

Ende doch noch h<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g, um zu schauen, ob sich tatsächlich<br />

alle an diese Abmachung gehalten hatten, aber das war e<strong>in</strong><br />

schwerer Fehler. Ich sah zwar alle mit schwarzen Kleidern<br />

265


herauskommen, aber es grüsste mich niemand mehr, weil mich<br />

niemand mehr kennen wollte, auch nicht die beiden, die ich je<br />

e<strong>in</strong>mal hatte besuchen können. Diese Erfahrung war jedoch e<strong>in</strong><br />

Vor-Spiegelbild für me<strong>in</strong> ganzes Leben danach, <strong>in</strong> dem ich<br />

solche <strong>und</strong> ähnliche Szenen immer wieder erleben musste, <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>e me<strong>in</strong>er ersten bitteren Lektionen. Ich me<strong>in</strong>e es ganz<br />

nüchtern, wenn ich sage, dass nur e<strong>in</strong> ganz kle<strong>in</strong>er Prozentsatz<br />

der Menschen, mit denen es jemand direkt zu tun hat, sich als<br />

wirkliche Fre<strong>und</strong>e erweisen, wenn es darauf ankommt, <strong>und</strong> das<br />

habe ich auch schon von vielen anderen so gehört.<br />

Schmuh<br />

Nach den Herbstferien des Jahres 1971 wurden uns <strong>in</strong> der<br />

zweiten Hälfte der fünften Klasse zwei neue <strong>Lehrer</strong> zugeteilt,<br />

von denen der e<strong>in</strong>e von Specker das Fach Deutsch übernahm,<br />

<strong>und</strong> das war dieser. Warum Schmuh so genannt wurde, hatte<br />

se<strong>in</strong>en Ursprung laut dem "Monumentum" dar<strong>in</strong>, dass er e<strong>in</strong>st<br />

e<strong>in</strong>e Vorliebe für e<strong>in</strong>e Comic-Figur mit diesem Namen gehabt<br />

haben soll, aber wir haben nie herausbekommen, ob das<br />

wirklich stimmte. Warum er dort zusätzlich als Pater<br />

Progressivulus Bil<strong>in</strong>guis bezeichnet wurde, also als<br />

zweisprachiger Progressiver, war für uns ebenfalls e<strong>in</strong> Rätsel,<br />

aber ich schliesse nicht aus, dass er sich diese Worte im<br />

"Monumentum" zu Herzen nahm <strong>und</strong> deshalb nach den<br />

Herbstferien, als er unsere Klasse übernahm, sehr darauf<br />

achtete, dass er nicht mehr allzu viele Fremdwörter e<strong>in</strong>streute -<br />

<strong>und</strong> was das Progressive betrifft, hatten alle sowieso ihre<br />

eigenen Ansichten. Auf jeden Fall wurde er bereits me<strong>in</strong><br />

sechster Deutschlehrer - <strong>und</strong> das <strong>in</strong>nerhalb von nur viere<strong>in</strong>halb<br />

Jahren.<br />

Es sche<strong>in</strong>t natürlich zu se<strong>in</strong>, dass es nicht möglich ist, sich mit<br />

jedem e<strong>in</strong>zelnen <strong>Lehrer</strong> oder mit jeder e<strong>in</strong>zelnen <strong>Lehrer</strong><strong>in</strong> gut<br />

zu verstehen. Neben der Drohne <strong>und</strong> Doktor Am war dieser<br />

266


Mann der Dritte im B<strong>und</strong>e, aber bei ihm war das deshalb<br />

verhängnisvoll, weil Deutsch dadurch, dass zur Hauptsache <strong>in</strong><br />

dieser Sprache unterrichtet wird, eigentlich das Kernfach e<strong>in</strong>es<br />

Gymnasiums im deutschsprachigen Raum ist. Wenn es <strong>in</strong><br />

diesem Fach nicht klappt, wird es nachher umso schwieriger.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs muss ich bekennen, dass ich selbst ebenfalls e<strong>in</strong>en<br />

grossen Anteil dazu beigetragen habe, weil ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em<br />

allerersten Aufsatz bei ihm auffallend viele lange Sätze schrieb,<br />

die damals e<strong>in</strong> Markenzeichen von mir waren. Ich befand mich<br />

ja immer noch <strong>in</strong> der Entwicklung <strong>und</strong> hatte gerade erst<br />

begonnen, me<strong>in</strong>e ersten paar Kurzgeschichten zu schreiben,<br />

<strong>und</strong> als ich e<strong>in</strong>en Abschnitt e<strong>in</strong>er Klassenkolleg<strong>in</strong> zum Lesen<br />

gab, me<strong>in</strong>te sie ebenfalls, ich schreibe sehr kompliziert. Im<br />

Vergleich zum bekannten Dichter He<strong>in</strong>rich von Kleist schrieb ich<br />

jedoch direkt noch e<strong>in</strong>fach, aber ich war ja nur e<strong>in</strong><br />

unbedeutender Schüler von erst achtzehn Jahren <strong>und</strong> ke<strong>in</strong><br />

Dichter von Weltruf, den ich aber bis heute genauso wie den<br />

bei Doktor Am erwähnten He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e <strong>und</strong> e<strong>in</strong> paar andere<br />

immer gern gelesen habe.<br />

Durch diesen komplizierten Schreibstil, gegen den ich<br />

manchmal noch heute ankämpfen muss, kam das, was ich im<br />

ersten Aufsatz unter se<strong>in</strong>er Regierung eigentlich ausdrücken<br />

wollte, bei Schmuh gar nicht an. Deshalb schrieb er neben<br />

e<strong>in</strong>em Satz als Anmerkung: "Satz unmöglich!" Ich gab ihm ja<br />

Recht <strong>und</strong> hatte me<strong>in</strong>e Lektion dadurch gelernt, dass ich mich<br />

danach redlich darum bemühte, etwas kürzere Sätze zu<br />

schreiben. Wenn jedoch e<strong>in</strong> Kontakt schon zu Beg<strong>in</strong>n<br />

angeschlagen ist, kann das kaum jemals wiedergutgemacht<br />

werden, <strong>und</strong> so war es auch zwischen uns. Im Verlauf der<br />

nächsten zwölf Monate, <strong>in</strong> denen er noch me<strong>in</strong> Deutschlehrer<br />

war, bekam ich zwar genauso wenig wie für diesen ersten<br />

Aufsatz e<strong>in</strong>e ungenügende Note, aber eben auch nie e<strong>in</strong>e, die<br />

e<strong>in</strong>e 4,5 überschritt, obwohl die meisten Aufsätze mir nachher<br />

viel besser gerieten als dieser. Daran änderte sich auch nichts,<br />

als ich ihm e<strong>in</strong>mal nach e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e e<strong>in</strong> paar me<strong>in</strong>er<br />

267


Kurzgeschichten <strong>in</strong> die Hand drückte <strong>und</strong> ihn bat, sie zu lesen,<br />

damit er mich wenigstens e<strong>in</strong> bisschen verstehen könne. Er<br />

nahm sie zwar entgegen, sagte dazu aber nichts, <strong>und</strong> ich<br />

glaube noch heute, dass er sie gar nie gelesen hat; jedenfalls<br />

hat er nie etwas erwähnt.<br />

Unser Kontakt wurde schon nach dem ersten Aufsatz vor allem<br />

dadurch überschattet, dass er es für nötig hielt, vor der ganzen<br />

Klasse <strong>in</strong> fast genüsslichem Ton zu sagen, wie unmöglich ich<br />

geschrieben habe, so wie auch Voser das e<strong>in</strong>mal getan hatte.<br />

Kritik ist immer berechtigt, aber das sollte jedes Mal unter den<br />

betreffenden Personen bleiben <strong>und</strong> nicht allen anderen<br />

mitgeteilt werden. Ich sage noch heute, dass jemand, der so<br />

etwas tut, charakterschwach ist. Wenigstens teilte er der<br />

Klasse, <strong>in</strong> der es sowieso schon e<strong>in</strong> paar Burschen hatte, die<br />

mich nicht besonders gern mochten <strong>und</strong> für die solche Worte<br />

natürlich wie Honig waren, nicht auch noch mit, was er am<br />

Schluss des Aufsatzes geschrieben hatte: Quantität kann<br />

Qualität niemals ersetzen.<br />

Ich gab ihm noch e<strong>in</strong>mal Recht; allerd<strong>in</strong>gs me<strong>in</strong>te er mit diesen<br />

Worten auch sich selbst, aber natürlich ohne es zu wollen. Er<br />

war nämlich der Autor der Kantate, auf die ich bei Pieps<br />

ausführlich e<strong>in</strong>gegangen b<strong>in</strong>. Schon während des E<strong>in</strong>studierens<br />

im Verlauf von vielen Wochen sagte ich mir immer wieder, was<br />

für e<strong>in</strong> komischer Text es war, <strong>und</strong> jetzt, da ich es mit dem<br />

Autor persönlich zu tun hatte, wurde mir klar warum. Schon die<br />

Zusammenstellung der verschiedenen Musikstücke empfand<br />

ich als seltsam, um es noch fre<strong>und</strong>lich auszudrücken, aber die<br />

Worte sagten vieles <strong>und</strong> zugleich nichts aus. - Das ist die<br />

Gr<strong>und</strong>grösse «man». - Das war e<strong>in</strong>er der ersten Sätze, aber es<br />

folgten noch sehr viele: «… dass noch ke<strong>in</strong> hauptsatz<br />

erschienen ist - Wir unterscheiden personen, zeiten <strong>und</strong><br />

modalitäten - wahrheit spricht janusgesicht - Wo Moira waltet,<br />

bleibe fern! …» Jawohl, auch die Haupwörter schrieb Schmuh<br />

kle<strong>in</strong>, was schliesslich auch «progressiv» war <strong>und</strong> nicht nur<br />

268


allen anderen europäischen Sprachen, sondern auch dem<br />

damaligen Zeitgeist entsprach; nur die Satzanfänge <strong>und</strong><br />

Eigennamen liess er gnädig noch mit Grossbuchstaben<br />

beg<strong>in</strong>nen, sonst wäre dieses Werk wirklich zu «forschrittlich»<br />

geworden.<br />

Aber was um Himmels willen hatte diese Feier mit der<br />

griechischen <strong>und</strong> römischen Götterwelt zu tun? Zudem gibt es<br />

<strong>in</strong> der griechischen Mythologie nicht nur e<strong>in</strong>e Schicksalsgött<strong>in</strong>,<br />

wie es das Wort Moira ausdrückt, sondern gleich deren drei.<br />

Warum so kompliziert? Warum sollten wir die Wahrheit nicht<br />

direkt anschauen, sondern immer daran denken, dass sie zwei<br />

Seiten hat, <strong>und</strong> das <strong>in</strong> diesem jungen Alter? Der Höhepunkt war<br />

schliesslich der, als an e<strong>in</strong>er Stelle auch noch Salomon<br />

angerufen wurde. Es war wirklich gut, dass wir Teenager noch<br />

nicht allzu viel über diese zwar weise sche<strong>in</strong>enden, aber völlig<br />

daneben geratenen Worte nachdachten. Wir spulten e<strong>in</strong>fach<br />

das ganze Programm herunter; die Hauptsache war, dass<br />

gefeiert werden konnte. Wie ich es schon bei Pieps über me<strong>in</strong>e<br />

Tochter geschrieben habe, die sich e<strong>in</strong>mal die Mühe nahm, die<br />

ganze Kantate anzuhören, lässt es mich auch jetzt wieder<br />

schmunzeln, wie schnell sie dieses Werk, das wir damals als<br />

welthistorisch empfanden, mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Wort bewertete:<br />

Schrott.<br />

Natürlich gab es nicht nur diese Kantate, die jedoch se<strong>in</strong><br />

Hauptwerk war <strong>und</strong> deshalb alles andere überstrahlte, <strong>und</strong><br />

auch nicht nur die Aufsätze, bei denen ich regelmässig schlecht<br />

wegkam. Genauso wie Guschti mit se<strong>in</strong>em Ch<strong>in</strong>esen, Schorsch<br />

II mit se<strong>in</strong>en Spick-Sprüchen, Köbi mit se<strong>in</strong>em Stöpsel <strong>und</strong><br />

Brühler, Zeno mit se<strong>in</strong>em Chlämmerlisack, Heihei mit se<strong>in</strong>em<br />

Pf<strong>und</strong> Elektronen <strong>und</strong> die Drohne mit ihrem "meistbietend" hatte<br />

auch Schmuh e<strong>in</strong> Markenzeichen, das immer wieder über se<strong>in</strong>e<br />

Lippen kam. Wir wussten zwar aufgr<strong>und</strong> der Worte <strong>in</strong> der<br />

Kantate, dass er sich <strong>in</strong> der griechisch-römischen Götterwelt<br />

offensichtlich zu Hause fühlte, aber wir fragten uns trotzdem<br />

269


immer wieder, warum er diesen Schiller-Vers aus Beethovens<br />

"Ode an die Freude" wählte, genauer aus der neunten <strong>und</strong><br />

letzten S<strong>in</strong>fonie:<br />

Wollust ward dem Wurm gegeben <strong>und</strong> der Cherub steht vor<br />

Gott.<br />

Diesen Vers sagte er auffallend häufig, so dass wir uns direkt<br />

w<strong>und</strong>erten, wenn er e<strong>in</strong>mal mehr als e<strong>in</strong>e Woche lang nicht<br />

mehr vorkam, aber er kam immer wieder - <strong>in</strong> diesem Punkt<br />

konnten wir uns auf Schmuh wirklich verlassen.<br />

Daneben gab es manchmal tatsächlich auch politische<br />

Diskussionen, soweit sie möglich waren; schliesslich gehörte<br />

auch das zum Deutschunterricht. So sprachen wir e<strong>in</strong>mal<br />

auffallend lange über den Vietnamkrieg, der im Sommer des<br />

Jahres 1972 wieder e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e ziemlich heftige Phase zu<br />

verzeichnen hatte, nachdem die nordvietnamesische Armee<br />

von e<strong>in</strong>em Tag auf den anderen mit Zehntausenden von<br />

zusätzlichen Soldaten <strong>in</strong> Südvietnam e<strong>in</strong>gefallen war, um e<strong>in</strong>e<br />

Schlussoffensive e<strong>in</strong>zuläuten, <strong>und</strong> die Amis mit e<strong>in</strong>em neuen<br />

Bombenhagel auf Städte im Norden antworteten. Dabei stellte<br />

es sich heraus, dass wir allesamt ke<strong>in</strong>e wirkliche Ahnung von<br />

den Geschehnissen hatten, aber nicht nur wir, sondern auch<br />

Schmuh. Schliesslich sah er selbst das auch e<strong>in</strong>, deshalb führte<br />

er nachher mit uns ke<strong>in</strong>e solchen Diskussionen mehr.<br />

Wenigstens bezeichnete er uns nicht so wie der Progressive<br />

mehr als zwei Jahre zuvor als viel zu jung, die noch ke<strong>in</strong>e<br />

Ahnung hatten, <strong>und</strong> das konnte ich ihm wieder hoch anrechnen.<br />

Nach e<strong>in</strong>em Jahr war Schmuhs Gastspiel vorbei, das heisst<br />

me<strong>in</strong> Gastspiel bei ihm, denn die anderen hatten ihn weiter. Da<br />

ich <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der sechsten Klasse wie schon<br />

erwähnt den Lift nehmen musste, bekam ich <strong>in</strong> der unteren<br />

Klasse wieder e<strong>in</strong>en neuen Deutschlehrer, schon den siebten,<br />

womit ich sicher e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>samen Weltrekord aufgestellt habe.<br />

270


Wer kann schon von sich sagen, er oder sie habe <strong>in</strong>nerhalb von<br />

sechs Jahren gleich sieben Deutschlehrer gehabt?<br />

Ich bekenne noch heute, dass ich nicht allzu traurig war, dass<br />

ich Schmuh nachher nicht mehr hatte, weil unser Kontakt nie so<br />

richtig warm geworden war. Dazu passte auch, dass es<br />

zwischen uns ke<strong>in</strong>en richtigen Abschied gab, ja, ich er<strong>in</strong>nere<br />

mich nicht e<strong>in</strong>mal daran, ob wir nach der letzten Lektion noch<br />

e<strong>in</strong> paar kurze Worte wechselten. Wer ke<strong>in</strong> so guter Schüler ist<br />

wie andere, hat nun e<strong>in</strong>mal auch <strong>in</strong> dieser Beziehung schlechte<br />

Karten, <strong>und</strong> zudem war das Zusammenstauchen immer noch<br />

die Sache des Rektors. Der E<strong>in</strong>zige, der sich nicht an diese<br />

ungeschriebene Regel hielt, war Tobi, aber dieser war eben<br />

auch e<strong>in</strong> Fall für sich.<br />

Der Philosoph<br />

Nach so viel Unerfreulichem gleich mit drei <strong>Lehrer</strong>n<br />

h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander wird es jetzt wieder erfreulicher. Ich nenne<br />

diesen Mann bewusst so, weil er eben das Fach Philosophie<br />

unterrichtete. Er war der zweite <strong>Lehrer</strong>, den unsere Klasse nach<br />

den Herbstferien <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der fünften Klasse neu<br />

bekam. Warum dieses Fach überhaupt im Lehrplan vorkam,<br />

w<strong>und</strong>erte uns tatsächlich. Was konnten wir pubertierenden<br />

Teenager, die ganz andere Probleme hatten, mit so viel<br />

Tiefschürfendem schon anfangen? Das Gute daran war<br />

wenigstens, dass auch dies e<strong>in</strong> Fach war, bei dem es ke<strong>in</strong>e<br />

ungenügenden Noten geben konnte, weil der regelmässige<br />

Besuch der St<strong>und</strong>en genügte; jedenfalls er<strong>in</strong>nere ich mich nicht<br />

daran, dass wir jemals e<strong>in</strong> Ex schreiben mussten, <strong>und</strong> ich<br />

könnte mich zusätzlich irren, aber nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung<br />

bekamen alle von uns die Pauschalnote 5.<br />

Bis zur ersten Lektion hatten wir vom Philosophen nur gewusst,<br />

dass er e<strong>in</strong>er der drei <strong>Lehrer</strong> war, die sich für den Posten des<br />

Rektors beworben hatten, der im Oktober 1971 durch den<br />

271


altersbed<strong>in</strong>gten Rücktritt des Amts<strong>in</strong>habers frei wurde. Es<br />

erstaunte uns, dass ausgerechnet e<strong>in</strong> solcher Mann sich dafür<br />

bewarb, aber wer schliesslich gewählt wurde, war nicht er,<br />

sondern e<strong>in</strong> Mathematiklehrer, von dem ich weiter unten auch<br />

noch schreiben werde. Viele von uns wussten nicht e<strong>in</strong>mal, wer<br />

er war, weil er nicht an jedem Tag unter uns weilte, <strong>und</strong> wenn er<br />

es e<strong>in</strong>mal doch war, g<strong>in</strong>g das bei den vielen<br />

Völkerwanderungen <strong>in</strong> den Pausen regelmässig unter.<br />

So versteht es sich, dass wir ziemlich neugierig waren <strong>und</strong><br />

gespannt darauf warteten, wer das Zimmer betreten würde. Da<br />

wir aber so wie immer munter drauflosschwatzten, verpassten<br />

fast alle den Moment, als dieser Herr tatsächlich e<strong>in</strong>trat. Sofort<br />

wurde es still <strong>und</strong> noch bevor dieser Neue sich setzte, konnten<br />

wir erkennen, dass se<strong>in</strong>e Ersche<strong>in</strong>ung dem entsprach, was er<br />

uns unterrichten sollte: Ziemlich gross gewachsen, jedenfalls<br />

grösser als die meisten anderen <strong>Lehrer</strong>, zudem mit e<strong>in</strong>em<br />

Vollbart, der das Gesicht fast vollständig bedeckte, <strong>und</strong> mit<br />

e<strong>in</strong>er Kleidung, die an die vielen Gurus <strong>und</strong> Jogi-<strong>Lehrer</strong><br />

er<strong>in</strong>nerte, die gerade <strong>in</strong> diesen Jahren immer mehr aufkamen.<br />

Er strahlte tatsächlich viel Weisheit <strong>und</strong> Würde aus, <strong>und</strong> ich<br />

spürte schon <strong>in</strong> dieser M<strong>in</strong>ute, dass dieser Mann mir gefallen<br />

würde.<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich noch daran, dass er vor lauter Weisheit <strong>und</strong><br />

Würde kaum e<strong>in</strong> Wort sprach, <strong>und</strong> auch nachdem er sich<br />

gesetzt hatte, stellte er sich nicht richtig vor. Dafür zog er aus<br />

se<strong>in</strong>er Mappe e<strong>in</strong> Büchle<strong>in</strong> mit e<strong>in</strong>em unendlich langen Titel<br />

hervor, das jedoch zum Autor passte, der es geschrieben hatte:<br />

Es war der noch heute weltbekannte Philosoph Immanuel Kant,<br />

über den ich erst viele Jahre später erfuhr, dass er derart tief<br />

mit se<strong>in</strong>er Gedankenwelt beschäftigt gewesen war, dass er<br />

se<strong>in</strong>e Heimatstadt Königsberg ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal verlassen<br />

hatte, also se<strong>in</strong> ganzes Leben lang dort verbracht hatte. Dieses<br />

Büchle<strong>in</strong> sollte von jetzt an unsere Lektüre se<strong>in</strong>, die natürlich<br />

jeder von uns selbst beschaffen musste.<br />

272


Wenn ich an die St<strong>und</strong>en mit dem Philosophen zurückdenke,<br />

empf<strong>in</strong>de ich es noch heute als e<strong>in</strong>e Meisterleistung, dass wir<br />

diese Zeit mehr oder weniger gut über die R<strong>und</strong>en brachten.<br />

Dabei leistete der <strong>Lehrer</strong> e<strong>in</strong>deutig den Hauptanteil, weil er<br />

unendlich viele Male versuchte, uns <strong>in</strong> den Unterricht<br />

e<strong>in</strong>zuspannen. Er konnte sich ja selbst gut genug vorstellen,<br />

dass der Stoff für uns eigentlich noch ungeeignet war, <strong>und</strong> so<br />

entwickelten sich regelmässig Monologe, bei denen fast nur er<br />

sprach. So sehr er sich auch bemühte, aus uns etwas<br />

herauszulocken, es gelang ihm e<strong>in</strong>fach nicht, <strong>und</strong> wenn nicht<br />

e<strong>in</strong>mal unsere beiden Klassengenies viel von sich preisgaben,<br />

durfte auch ich mich getrost zurücklehnen. Die Hauptsache war,<br />

dass wir alle schon von Beg<strong>in</strong>n an wussten, dass allesamt e<strong>in</strong>e<br />

genügende Note bekommen würden. Warum sollten wir uns<br />

also überanstrengen?<br />

Immerh<strong>in</strong> gab es doch noch e<strong>in</strong>e lustige Szene: Als er e<strong>in</strong>mal<br />

von e<strong>in</strong>em Mädchen, welches das gleiche war, das von Bartli<br />

se<strong>in</strong>erzeit gefragt worden war, ob es Jugoslawisch könne,<br />

etwas wissen wollte, <strong>und</strong> diese den Kopf derart über dem<br />

Schreibpult senkte, dass nur die langen Haare zu sehen waren,<br />

sagte er nach vielen Sek<strong>und</strong>en des Wartens: "Ich sehe nur<br />

Haare." Darauf flüsterte ihr e<strong>in</strong>es der beiden Klassengenies so<br />

laut zu, dass wir alle ihn verstehen konnten: "Sag doch, du<br />

siehst nur e<strong>in</strong>en Bart!" Darauf gr<strong>in</strong>sten fast alle von uns <strong>und</strong><br />

auch der <strong>Lehrer</strong> liess e<strong>in</strong>en Anflug von Gr<strong>in</strong>sen erkennen;<br />

schliesslich wusste er selbst ja auch, dass se<strong>in</strong> Bart fast das<br />

ganze Gesicht bedeckte. E<strong>in</strong>e andere schöne Szene geschah,<br />

als das Mädchen, mit dem ich mich immer gut verstand <strong>und</strong> das<br />

durch e<strong>in</strong>en Zufall e<strong>in</strong>mal direkt neben mir sass, aus<br />

irgende<strong>in</strong>em Gr<strong>und</strong>, den nicht e<strong>in</strong>mal sie selbst wusste, wie sie<br />

mir nachher sagte, zu we<strong>in</strong>en begann. Als er das sah, fragte er<br />

<strong>in</strong> väterlichem Ton bloss: "Bist du traurig?" Das empfand sie<br />

selbst nachher auch als herzig, nachdem sie sich wieder erholt<br />

hatte.<br />

273


Trotz des öden Unterrichtsstoffes, aus dem wir nicht klug<br />

wurden <strong>und</strong> mit dem nicht e<strong>in</strong>mal die beiden Klassengenies<br />

wirklich etwas anfangen konnten, g<strong>in</strong>gen wir gern <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e<br />

St<strong>und</strong>en. Bei ihm konnten wir tatsächlich so etwas wie Wärme<br />

spüren, sie standen <strong>in</strong> scharfem Kontrast zu den oft knallharten<br />

St<strong>und</strong>en vor allem bei Tobi <strong>und</strong> manchmal auch bei der Drohne.<br />

Das war für uns auch deshalb wichtig, weil <strong>in</strong> den letzten paar<br />

Wochen bereits das Gerücht lief, dass er nachher die Schule<br />

vorübergehend verlassen würde.<br />

Nach e<strong>in</strong>em Jahr wurden wir schliesslich von Kant erlöst <strong>und</strong> es<br />

bestätigte sich das, was bereits herumgereicht worden war: Der<br />

Philosoph verliess tatsächlich die Schule, kehrte jedoch nach<br />

e<strong>in</strong>iger Zeit wieder zurück, als ich schon nicht mehr dabei war,<br />

wie ich über e<strong>in</strong>e Schulchronik erfahren habe. Da die<br />

Philosophie nur als e<strong>in</strong> nicht allzu wichtiges Nebenfach galt <strong>und</strong><br />

weit <strong>und</strong> breit ke<strong>in</strong> anderer dieses Fach unterrichtete, fiel es<br />

m<strong>in</strong>destens für e<strong>in</strong> Jahr aus. Das weiss ich auch deshalb so<br />

gut, weil die andere Klasse, zu der ich nach den Herbstferien<br />

des Jahres 1972 absteigen musste, ke<strong>in</strong>e Philosophie mehr<br />

hatte.<br />

Auch me<strong>in</strong>e Tochter hatte dieses Fach nie, als sie das<br />

Gymnasium besuchte. Es wurde zwar immer noch unterrichtet,<br />

aber nur noch im letzten Schuljahr vor den Maturaprüfungen<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> der Beziehung als e<strong>in</strong> Freifach, als unter mehreren<br />

Angeboten e<strong>in</strong>es ausgewählt werden konnte, das dann als<br />

obligatorisches Fach galt. Sie entschied sich für das Fach<br />

Psychologie, das seitdem neu e<strong>in</strong>geführt worden war <strong>und</strong> das<br />

sie viel mehr <strong>in</strong>teressierte als Philosophie, <strong>und</strong> dafür hatte sie<br />

me<strong>in</strong> volles Verständnis. Nach ihren Worten bestanden die<br />

Prüfungen dar<strong>in</strong>, dass sie über verschiedene Psychologen wie<br />

zum Beispiel Sigm<strong>und</strong> Freud Arbeiten schreiben mussten, die<br />

mit Aufsätzen verglichen werden konnten, <strong>und</strong> dabei bekam sie<br />

jedes Mal m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e 5.<br />

274


Obwohl das, was der Philosoph uns unterrichtete oder genauer<br />

zu vermitteln versuchte, ziemlich trocken war <strong>und</strong> auch er selbst<br />

oft so wirkte, sorgte er höchstpersönlich dafür, dass es doch<br />

noch e<strong>in</strong>e Geschichte zum Schmunzeln gab: Am letzten<br />

Schülerabend, an dem ich selbst dabei war, soll er zusammen<br />

mit e<strong>in</strong> paar Kollegen so viel getrunken haben, dass sogar e<strong>in</strong>er<br />

wie er lallte <strong>und</strong> torkelte - ausgerechnet e<strong>in</strong> Philosoph, aber<br />

auch er war halt nur e<strong>in</strong> Mensch, der sich auch e<strong>in</strong>mal<br />

ungezwungen geben durfte.<br />

Bölleli<br />

Warum ich diesen <strong>Lehrer</strong> so nenne, hat e<strong>in</strong>en ganz bestimmten<br />

Gr<strong>und</strong>, auf den ich weiter unten näher e<strong>in</strong>gehen werde. Da die<br />

meisten von uns im Gegensatz zu allen anderen Lehrkräften<br />

nie richtig erfahren haben, welches se<strong>in</strong> wirklicher Name war,<br />

den ich selbst erst vor wenigen Jahren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schulchronik<br />

entdeckt habe, <strong>und</strong> da er auch nie e<strong>in</strong>en Spitznamen bekam,<br />

nenne ich ihn halt so.<br />

Nach den Herbstferien der fünften Klasse war Bölleli nach<br />

Schmuh <strong>und</strong> dem Philosophen der dritte <strong>Lehrer</strong>, den ich neu<br />

bekam, aber ich hätte ihn gar nicht bekommen, wenn ich se<strong>in</strong>e<br />

St<strong>und</strong>en nicht freiwillig besucht hätte. Tatsächlich belegte ich<br />

auch e<strong>in</strong> Fach als Freiwilliger, aber es war das e<strong>in</strong>zige. Was er<br />

unterrichtete, war Russisch - ich habe mich nicht verschrieben,<br />

es war wirklich Russisch. Da es gerade <strong>in</strong> der zweiten Hälfte<br />

der Sechziger- <strong>und</strong> zu Beg<strong>in</strong>n der Siebzigerjahre geradezu<br />

Mode geworden war, diese Sprache im ganzen deutschen<br />

Sprachraum <strong>in</strong> möglichst vielen Gymnasien e<strong>in</strong>zuführen, wollte<br />

auch die Kantonsschule <strong>Trogen</strong> nicht abseits stehen. Wie ich<br />

erfahren habe, wird dort heute auch noch Mandar<strong>in</strong>-Ch<strong>in</strong>esisch<br />

unterrichtet, das <strong>in</strong> zahlreichen Gymnasien die gleiche Funktion<br />

ausübt wie damals das Russische, so auch <strong>in</strong> der Schule, die<br />

me<strong>in</strong>e Tochter besucht hat. Ich br<strong>in</strong>ge den Zusatz «Mandar<strong>in</strong>»<br />

auch deshalb, weil die meistverbreitete ch<strong>in</strong>esische Variante<br />

275


ausserhalb des Mutterlandes das Kantonesische ist, das von<br />

den meisten <strong>in</strong> der weltweiten ch<strong>in</strong>esischen Diaspora<br />

gesprochen, aber nicht im gleichen Ausmass unterrichtet wird,<br />

weil nur das Mandar<strong>in</strong> <strong>in</strong> ganz Ch<strong>in</strong>a <strong>und</strong> zudem auf der Insel<br />

Taiwan sowie <strong>in</strong> Malaysia <strong>und</strong> S<strong>in</strong>gapur die offizielle<br />

Amtssprache ist - im gleichen S<strong>in</strong>gapur, wo auch e<strong>in</strong>e unserer<br />

Schüler<strong>in</strong>nen aus e<strong>in</strong>er gutbetuchten Familie ihre K<strong>in</strong>dheit<br />

verbracht hat.<br />

Das F<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>er geeigneten Lehrkraft für Russisch war viel<br />

schwieriger als das Unterrichten an sich. Es herrschte noch der<br />

Kalte Krieg; dementsprechend brauchte es noch e<strong>in</strong>e<br />

Umgewöhnungszeit, um daran zu denken, dass östlich des<br />

Eisernen Vorhangs ebenfalls Menschen wie im Westen mit den<br />

gleichen Sorgen <strong>und</strong> Ängsten lebten. Tatsächlich war es uns<br />

noch viel zu wenig bekannt, dass nicht nur im Westen ständig<br />

e<strong>in</strong> Angriff vom Osten aus befürchtet wurde, sondern auch im<br />

Osten ständig e<strong>in</strong>er vom Westen aus, weil auch dort die<br />

politische <strong>und</strong> militärische Propaganda ganze Arbeit leisteten.<br />

Das trug sicher dazu bei, dass es äusserst schwierig war,<br />

jemanden zu f<strong>in</strong>den, der die russische Sprache gut genug<br />

beherrschte, um sie hier zu unterrichten. Meistens durften nur<br />

solche ausreisen, die treue Parteimitglieder waren; es gab zwar<br />

auch Ausnahmen, aber nur wenige, <strong>und</strong> zu diesen gehörten<br />

nach me<strong>in</strong>em Wissen vor allem sogenannte Volksdeutsche, von<br />

denen immer noch mehr als zwei Millionen <strong>in</strong> der Gulag-<br />

Sowjetunion lebten. Seit dem Ende dieses Vielvölker-<br />

Gefängnisses, wie ich dieses Land aus baltischer Sicht nenne,<br />

s<strong>in</strong>d bis heute immer noch erstaunlich viele im heutigen<br />

Russland geblieben, aber zahlreiche andere s<strong>in</strong>d schon<br />

ausgereist <strong>und</strong> haben sich vor allem im neuen <strong>und</strong><br />

wiedervere<strong>in</strong>igten Deutschland niedergelassen. Das lag auch<br />

deshalb nahe, weil sie sofort die deutsche Nationalität <strong>und</strong><br />

damit auch das sofortige Niederlassungsrecht bekamen.<br />

Bei mir selbst gab es noch e<strong>in</strong>e persönliche Vorgeschichte: Ich<br />

276


habe ganz oben unter "Der Autor" erwähnt, dass me<strong>in</strong>e Mutter<br />

aus F<strong>in</strong>nland stammte. Obwohl ich nie direkt bei ihr aufwuchs,<br />

bekam ich von ihr über die beiden f<strong>in</strong>nisch-sowjetischen Kriege<br />

zwischen den Jahren 1939 <strong>und</strong> 1944 genug zu hören. So<br />

erzählte sie mir auch, dass e<strong>in</strong>mal nur sehr wenig fehlte, um<br />

zusammen mit ihrer damaligen Busenfre<strong>und</strong><strong>in</strong> von e<strong>in</strong>em<br />

Tiefflieger tödlich getroffen zu werden, aber die beiden konnten<br />

gerade noch rechtzeitig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Graben spr<strong>in</strong>gen. Es wurde nie<br />

so richtig bekannt, dass die sowjetischen Militärpiloten sich<br />

e<strong>in</strong>en Spass daraus machten, Zivilpersonen zu jagen, <strong>und</strong> zwar<br />

nicht nur <strong>in</strong> F<strong>in</strong>nland, sondern auch <strong>in</strong> anderen Ländern, am<br />

meisten aber <strong>in</strong> Deutschland <strong>in</strong> den letzten paar<br />

Kriegsmonaten. Das wurde auch deshalb <strong>in</strong> den Medien nie<br />

erwähnt, weil die Gulag-Sowjetunion zu den «Siegern» des<br />

Zweiten Weltkriegs gehörte; dementsprechend sanfter wurde<br />

sie offiziell behandelt <strong>und</strong> auch im Westen von erstaunlich<br />

vielen hofiert, am meisten natürlich von den L<strong>in</strong>ken bis<br />

L<strong>in</strong>ksextremen.<br />

Dazu kam noch, dass zwei ihrer Brüder <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Bruder ihres<br />

Vaters <strong>in</strong> der f<strong>in</strong>nischen Armee mitkämpften. Alle drei<br />

überlebten die beiden Kriege - den W<strong>in</strong>terkrieg von 1939/40<br />

<strong>und</strong> den Fortsetzungskrieg von 1941 bis 1944 -, aber nur ihr<br />

Onkel kam unversehrt zurück, wohl auch deshalb, weil er nicht<br />

mehr so jung war wie viele andere <strong>und</strong> deshalb nicht mehr <strong>in</strong><br />

den vordersten L<strong>in</strong>ien e<strong>in</strong>gesetzt wurde. Während der jüngere<br />

Bruder den Rest se<strong>in</strong>es Lebens mit Granatsplittern <strong>in</strong> der Brust<br />

verbr<strong>in</strong>gen musste, weil diese nie ganz herausoperiert werden<br />

konnten, so dass er vor allem beim Sport treiben immer wieder<br />

Schmerzen spürte, blieb der ältere auf e<strong>in</strong>em Ohr taub. Dafür<br />

konnte er noch von Glück reden, dass die Sowjets ihn nach<br />

e<strong>in</strong>er erstaunlich kurzen Gefangenschaft wieder freiliessen, wie<br />

ich e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte später vom Sohn des Onkels me<strong>in</strong>er<br />

Mutter erfuhr, der demzufolge ihr Cous<strong>in</strong> war. Es gab sogar<br />

e<strong>in</strong>e Aufnahme, die diesen Mann mit e<strong>in</strong>em sowjetischen<br />

Soldaten zeigte. Vielleicht half es ihm, dass er sehr<br />

277


sprachbegabt war <strong>und</strong> sicher auch e<strong>in</strong> wenig Russisch sprach;<br />

jedenfalls konnte er sehr gut Deutsch, wie ich zu hören bekam.<br />

Im Gegensatz zu den beiden anderen habe ich ihn aber nie<br />

persönlich kennen gelernt, weil er schon früh im Alter von erst<br />

42 Jahren starb. Da ich selbst also schon als kle<strong>in</strong>er Bub e<strong>in</strong>e<br />

solche Prägung mitbekommen hatte, konnte ich mir gar nicht<br />

vorstellen, dass auch die Russen gewöhnliche Menschen wie<br />

wir im Westen waren. Die allgeme<strong>in</strong>e Angst vor e<strong>in</strong>em<br />

Riesenangriff aus dem Osten setzte auch mir derart zu, dass<br />

ich e<strong>in</strong>mal sogar davon träumte.<br />

Was unsere Schule betrifft, fand sich zum Glück e<strong>in</strong>e Lösung,<br />

die ke<strong>in</strong>e politischen Probleme bescheren konnte. Wer im<br />

wahrsten S<strong>in</strong>n des Wortes wie e<strong>in</strong>e Nadel im Heuhaufen<br />

gef<strong>und</strong>en wurde, war weder e<strong>in</strong> Russe noch e<strong>in</strong>e Russ<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />

weder e<strong>in</strong> Volksdeutscher noch e<strong>in</strong>e Volksdeutsche, sondern<br />

e<strong>in</strong> Schweizer namens Kübler, der nach dem, was er uns bei<br />

e<strong>in</strong>er kurzen Vorstellung sagte, viele Jahre lang <strong>in</strong> Moskau<br />

gelebt <strong>und</strong> dort Deutsch unterrichtet hatte. Es konnte auch se<strong>in</strong>,<br />

dass er von e<strong>in</strong>er Familie stammte, die schon seit dem Beg<strong>in</strong>n<br />

des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts oder noch früher <strong>in</strong> Russland lebte,<br />

wie es Tausende von denen gab <strong>und</strong> die auch die Wirren des<br />

Ersten Weltkriegs, des Bürgerkriegs <strong>und</strong> des Zweiten<br />

Weltkriegs irgendwie überlebt hatten. Ich er<strong>in</strong>nere mich noch<br />

gut daran, dass ich zu Beg<strong>in</strong>n der Siebzigerjahre, als ich aus<br />

Interesse manchmal die Gottesdienste der damals noch sehr<br />

kle<strong>in</strong>en russisch-orthodoxen Kirche <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> besuchte, mehrere<br />

von denen sah, die selbst von sich sagten, sie seien eigentlich<br />

Schweizer <strong>und</strong> Deutsche, aber <strong>in</strong> Russland aufgewachsen, <strong>und</strong><br />

dementsprechend sprachen sie diese Sprache fabelhaft gut.<br />

Dieser Herr Kübler, der aus irgende<strong>in</strong>em Gr<strong>und</strong> wieder <strong>in</strong> die<br />

Schweiz zurückgekehrt war, unterrichtete also Russisch, aber<br />

schon im zweiten Jahr. Wir waren also nicht die Pionierklasse,<br />

was ich aber erst viele Jahre später <strong>in</strong> der gleichen<br />

Schulchronik gelesen habe, die mir se<strong>in</strong>en Namen enthüllte.<br />

278


Das Pilotprojekt war schon e<strong>in</strong> Jahr zuvor über die Bühne<br />

gegangen, ohne dass sich das richtig herumgesprochen hatte,<br />

<strong>und</strong> da es sich bewährt hatte <strong>und</strong> auffallend viele Schüler<strong>in</strong>nen<br />

<strong>und</strong> Schüler diese St<strong>und</strong>en besucht hatten <strong>und</strong> vor allem bei<br />

ihm geblieben waren, wurde die Option mit diesem <strong>Lehrer</strong> um<br />

e<strong>in</strong> weiteres Jahr verlängert. Eigentlich sprach sich das erst<br />

jetzt richtig herum, so dass ke<strong>in</strong> Ger<strong>in</strong>gerer als Pieps es für<br />

richtig fand, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er Physik-St<strong>und</strong>en extra noch<br />

Propaganda zu betreiben <strong>und</strong> den Besuch des Russisch-<br />

Unterrichts wärmstens zu empfehlen. Wer von unserer Klasse<br />

tatsächlich teilnahm, waren nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung neben der<br />

Schüler<strong>in</strong>, mit der ich mich immer gut verstand, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em<br />

anderen Mädchen sowie e<strong>in</strong>em der beiden Klassengenies aber<br />

nur noch ich, also waren wir ganze vier. Dieses andere<br />

Mädchen war nicht das Gleiche, das wie oben erwähnt als<br />

e<strong>in</strong>ziges <strong>in</strong> der ganzen Schule gleich fünf Fremdsprachen<br />

belegte, also auch die drei klassischen Sprachen.<br />

Die Erwartungen waren also ungeheuer hoch, als dieser <strong>Lehrer</strong><br />

an e<strong>in</strong>em Montagabend, der extra für diesen Kurs von zwei<br />

St<strong>und</strong>en freigehalten wurde, das Zimmer betrat.<br />

Dementsprechend war es gerammelt voll; wir zählten sicher<br />

etwa dreissig Leute, darunter leider auch die Drohne, was mir<br />

wie e<strong>in</strong>e Überwachung vorkam - auch deshalb habe ich ihr <strong>in</strong><br />

diesem Buch diesen Spitznamen gegeben. Nachdem ich auf<br />

irgende<strong>in</strong>e Weise gehört hatte, dass sie sich vorher bereits e<strong>in</strong><br />

wenig mit Sanskrit <strong>und</strong> Armenisch - vermutlich Alt-Armenisch,<br />

das besser zu ihr passte - herumgeschlagen hatte, versuchte<br />

sie jetzt also ihr Glück im Russischen. Was das Sanskrit betrifft,<br />

wusste ich viele Jahre später mehr als sie: Das Alfabet,<br />

welches das gleiche ist, das auch das H<strong>in</strong>di, das Marathi <strong>und</strong><br />

das Nepali verwenden, ist zwar wirklich schwer zu meistern,<br />

aber die Grammatik ist nicht schwerer als die im Late<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />

Altgriechischen <strong>und</strong> sogar leichter als im Hebräischen.<br />

Immerh<strong>in</strong> habe ich auch <strong>in</strong> diese Sprache e<strong>in</strong>fache Texte<br />

übersetzt, aber nur mit dem late<strong>in</strong>ischen Alfabet <strong>und</strong><br />

279


überwiegend Texte, die ich selbst verfasst habe - <strong>und</strong> das ohne<br />

irgende<strong>in</strong> offizielles Sprachen-Studium <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Universität.<br />

Nachdem Kübler sich gesetzt hatte, bestand se<strong>in</strong>e erste Aktion<br />

dar<strong>in</strong>, dass er e<strong>in</strong> Lehrbuch aus se<strong>in</strong>er Tasche zog <strong>und</strong> dieses<br />

als das Buch vorstellte, mit dem wir fortan arbeiten würden. Es<br />

trug den Titel "Russisch für Sie", das ich noch heute für das<br />

beste <strong>und</strong> geeignetste dieser Sprache halte. Das kann ich<br />

beurteilen, weil diese Sprache mich seitdem nie mehr ganz<br />

losgelassen hat <strong>und</strong> ich dementsprechend auch noch viele<br />

andere Lehrbücher angeschaut habe. Dazu gehörte auch e<strong>in</strong><br />

Arbeitsheft mit dem gleichen Titel, das wir genauso<br />

mitbenützten.<br />

Als Zweites tat Kübler, was eigentlich erwartet werden konnte:<br />

Da der E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e solche Sprache, die e<strong>in</strong> ganz anderes<br />

Alfabet hat als die meisten westlichen Sprachen - nur das<br />

Irische kennt noch e<strong>in</strong> eigenes keltisches Alfabet, das aber nur<br />

im <strong>in</strong>ternen Umgang verwendet wird <strong>und</strong> damit nicht <strong>in</strong> der<br />

Europäischen Union, wo es e<strong>in</strong>e der gegenwärtig 24<br />

Amtssprachen ist -, schrieb Kübler jeden e<strong>in</strong>zelnen Buchstaben<br />

vorn auf e<strong>in</strong>e Wandtafel, <strong>und</strong> zwar alle heute vorhandenen 33<br />

Buchstaben mit der Gross- <strong>und</strong> Kle<strong>in</strong>schreibung, also<br />

<strong>in</strong>sgesamt 66. Allerd<strong>in</strong>gs betraf das nur die verb<strong>und</strong>ene Schrift,<br />

die es heute im Gegensatz zu der im Deutschen, wo sie<br />

allmählich abgeschafft wird, immer noch gibt <strong>und</strong> auch immer<br />

geben wird. Hätte er auch die Druckbuchstaben mitschreiben<br />

wollen, hätte er also nicht weniger als 132 schreiben müssen,<br />

<strong>und</strong> dafür war die Tafel wirklich zu kle<strong>in</strong>. Eigentlich enthielt das<br />

russische Alfabet bis zur Revolution im Jahr 1917 noch drei<br />

Buchstaben mehr, aber die e<strong>in</strong>zig wirkliche gute Tat der<br />

Bolschewisten bestand dar<strong>in</strong>, dass sie diese drei Buchstaben,<br />

die auch noch für phonetische Verwirrung gesorgt hatten,<br />

abschafften <strong>und</strong> gewissermassen <strong>in</strong>s schon bestehende Alfabet<br />

e<strong>in</strong>bauten. Ich schreibe das deshalb, weil der Doppelvokal "jo",<br />

den wir heute als "ë" kennen, früher anders geschrieben <strong>und</strong><br />

280


als E<strong>in</strong>ziger neu geschaffen wurde; also wurden genau<br />

genommen nur zwei alte Buchstaben elim<strong>in</strong>iert.<br />

Von diesem Wissen waren wir natürlich noch weit entfernt, als<br />

wir diese Buchstaben lasen, die für uns bis dah<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Buch mit<br />

sieben oder noch mehr Siegeln gewesen waren. Immerh<strong>in</strong><br />

entdeckten wir aber schon <strong>in</strong> der gleichen St<strong>und</strong>e, dass die<br />

Vokale mit denen im Deutschen praktisch identisch s<strong>in</strong>d,<br />

dagegen nicht mehrere Konsonanten wie etwa das B, das im<br />

Russischen e<strong>in</strong> W ist, oder das H, das im Russischen e<strong>in</strong> N ist.<br />

Nachdem wir also jeden e<strong>in</strong>zelnen Buchstaben genau<br />

angeschaut hatten, gelang es den meisten im Verlauf der<br />

nächsten paar Lektionen erstaunlich gut, die ersten Wörter zu<br />

lesen. Dabei entdeckten wir, dass diese Sprache nicht wenige<br />

Wörter aufweist, die e<strong>in</strong>deutig e<strong>in</strong>en deutschen Ursprung<br />

haben, so etwa "Butterbrod" oder "Galstuk" (Halstuch). Wir<br />

wussten noch nicht <strong>und</strong> konnten es auch noch nicht wissen,<br />

dass die Ähnlichkeit daherkam, weil se<strong>in</strong>erzeit vor allem die<br />

deutsche Zar<strong>in</strong> Kathar<strong>in</strong>a, die Nachfolger<strong>in</strong> von Peter, der vom<br />

Deutschen ebenfalls viel gehalten hatte, Zehntausende von<br />

deutschen Siedlern <strong>in</strong>s Land geholt hatte, am meisten<br />

Handwerker <strong>und</strong> Bauern, die natürlich auch ihre eigenen Wörter<br />

mitgebracht hatten.<br />

Am meisten fiel uns auf, dass es den Hauchlaut H im<br />

Russischen nicht gibt, so dass an se<strong>in</strong>er Stelle alles wie e<strong>in</strong><br />

«Ch» ausgesprochen wird. E<strong>in</strong> paar Jahrzehnte später, als<br />

nach dem Zerfall der Gulag-Sowjetunion auch die ersten<br />

Lehrbücher für Ukra<strong>in</strong>isch <strong>und</strong> Weissrussisch herauskamen, fiel<br />

mir zusätzlich auf, dass es <strong>in</strong> diesen beiden Sprachen sehr<br />

wohl e<strong>in</strong> H neben dem «Ch» gibt <strong>und</strong> dass das eigentliche<br />

Markenzeichen des Weissrussischen sogar das völlige Fehlen<br />

e<strong>in</strong>es G ist. Es wird zwar so wie im Russischen geschrieben,<br />

aber im Gegensatz zu diesem immer wie e<strong>in</strong> H ausgesprochen,<br />

während es sich im Ukra<strong>in</strong>ischen gleich verhalten würde, wenn<br />

es dort für das G ke<strong>in</strong>en eigenen Sonderbuchstaben gäbe, der<br />

281


mit e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Haken über dem G gekennzeichnet, aber<br />

auch nicht immer so geschrieben wird.<br />

Heute ist das alles auch im Westen bekannt, aber vor e<strong>in</strong>em<br />

halben Jahrh<strong>und</strong>ert war das hier noch e<strong>in</strong> unbekanntes<br />

Gelände, von dem ziemlich sicher auch Kübler nichts wusste.<br />

Das erstaunt auch nicht angesichts der Tatsache, dass das<br />

Russische genauso wie zuvor im Zarenreich <strong>und</strong> heute <strong>in</strong> der<br />

Russischen Föderation nicht nur die dom<strong>in</strong>ierende Sprache <strong>in</strong><br />

der ganzen Gulag-Sowjetunion war, ohne die niemand<br />

aufsteigen konnte - erst recht nicht im besetzten Baltikum, mit<br />

dem ich mich wegen me<strong>in</strong>er eigenen Herkunft <strong>und</strong> durch<br />

persönliche Kontakte mit Esten immer besonders verb<strong>und</strong>en<br />

fühlte -, <strong>und</strong> dass es auch den Ruf hat, von diesen drei<br />

ostslawischen Sprachen e<strong>in</strong>deutig den schönsten Klang zu<br />

haben. Dazu kommen noch zwei Mischsprachen, die <strong>in</strong> der<br />

Ukra<strong>in</strong>e "Surschik" <strong>und</strong> <strong>in</strong> Weissrussland "Trassjanka" genannt<br />

werden; während das erstere "Mehlmischung" bedeutet, drückt<br />

das letztere locker übersetzt e<strong>in</strong> Heu von schlechter Qualität<br />

aus. Gerade daran s<strong>in</strong>d die ethnischen Russen zu erkennen,<br />

weil es nur wenigen von ihnen gel<strong>in</strong>gt, re<strong>in</strong>es Ukra<strong>in</strong>isch oder<br />

Weissrussisch zu sprechen, während umgekehrt alle Ukra<strong>in</strong>er<br />

<strong>und</strong> Weissrussen von Anfang an zweisprachig aufwachsen,<br />

aber oft auch nicht ganz akzentfrei. In diesem Punkt haben sie<br />

gegenüber den "re<strong>in</strong>en" Russen e<strong>in</strong>en Vorteil, obwohl <strong>in</strong> den<br />

Städten noch heute - mehr als e<strong>in</strong> Vierteljahrh<strong>und</strong>ert nach dem<br />

Ende der Gulag-Sowjetunion - das Russische dom<strong>in</strong>iert <strong>und</strong><br />

auch aus den Medien nie ganz verdrängt werden konnte, nicht<br />

e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Westukra<strong>in</strong>e, wo die meisten nationalstolzen<br />

Ukra<strong>in</strong>er leben. Zwei weitere Kennzeichen, die das Ukra<strong>in</strong>ische<br />

<strong>und</strong> Weissrussische vom "re<strong>in</strong>en" Russischen unterscheiden,<br />

s<strong>in</strong>d das Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Konjugation für "haben" - aber <strong>in</strong><br />

der Gegenwart wie auch im Russischen ke<strong>in</strong>e für "se<strong>in</strong>" - <strong>in</strong><br />

allen Zeiten <strong>und</strong> auffallend viele Wörter, die vom Polnischen<br />

stammen, so auch die Monatsnamen. Ansonsten s<strong>in</strong>d die<br />

Unterschiede zwischen diesen drei Sprachen nicht allzu gross.<br />

282


Wieder zurück zum Russisch-Unterricht bei Kübler: Mit der Zeit<br />

gelang es uns nicht nur, e<strong>in</strong>zelne Wörter zu lesen, sondern<br />

auch ganze Sätze zu bilden, aber nur e<strong>in</strong>fache, <strong>und</strong> so lag es<br />

nahe, dass wir bald e<strong>in</strong>mal auch Wörter selbst schrieben. Und<br />

jetzt kommt das mit dem "Bölleli": Bei mehreren Buchstaben ist<br />

es notwendig, vor dem Ansetzen unten noch e<strong>in</strong> Bällchen zu<br />

schreiben, damit es ke<strong>in</strong>e Missverständnisse mit anderen<br />

Buchstaben geben kann. Das betrifft vor allem das M <strong>und</strong> das<br />

L, <strong>und</strong> zwar sowohl <strong>in</strong> der Gross- als auch <strong>in</strong> der<br />

Kle<strong>in</strong>schreibung. Das erklärte Kübler zwar hervorragend, aber<br />

als wir nachher mit dem Schreiben begannen <strong>und</strong> er aufs<br />

Geratewohl zwischen den Bänken herumschlenderte, sagte er<br />

plötzlich: "Aber ich sprach doch von e<strong>in</strong>em Bölleli."<br />

Offensichtlich hatte er entdeckt, dass jemand e<strong>in</strong>en solchen<br />

Buchstaben nicht so wie gerade erklärt geschrieben hatte. Im<br />

Gegensatz zu anderen <strong>Lehrer</strong>n sprach er diese Worte jedoch<br />

geradezu liebevoll aus, was e<strong>in</strong> wohlwollender Gegensatz zum<br />

Beispiel zu Tobis Zornesausbrüchen war.<br />

Noch e<strong>in</strong>e besondere Szene ist mir <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung geblieben:<br />

Als er schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der ersten St<strong>und</strong>en darauf h<strong>in</strong>wies, dass<br />

es sehr wichtig war, bei gleich kl<strong>in</strong>genden oder sogar<br />

identischen Wörtern die richtige Betonung zu f<strong>in</strong>den, führte er<br />

das Beispiel mit "utscheníki" <strong>und</strong> "utschébniki" auf. Das erstere<br />

bedeutet «Schüler» <strong>und</strong> das letztere "Lehrbücher" <strong>in</strong> der<br />

Mehrzahlform, <strong>und</strong> er brachte diese Geschichte mehrmals mit<br />

Genuss, weil diese Verwechslung ansche<strong>in</strong>end immer wieder<br />

vorgekommen war, so dass jemand e<strong>in</strong>en Haufen von Schülern<br />

mit "mílie utschébniki" statt mit "mílie utscheníki" ansprach, sie<br />

also als liebe Lehrbücher bezeichnete. E<strong>in</strong> anderes Beispiel<br />

habe ich später, als ich mich mit dem Russischen noch etwas<br />

näher befasste, selbst entdeckt: "Múka" bedeutet e<strong>in</strong>e Mücke,<br />

dagegen "muká" e<strong>in</strong>e Qual.<br />

Auch dieses Beispiel mit "utscheníki" <strong>und</strong> "utschébniki" zeigte<br />

uns deutlich, dass Kübler das Russische nicht nur bloss<br />

283


unterrichtete, sondern uns auch deutlich spüren liess, dass er<br />

für diese Sprache <strong>und</strong> überhaupt für alles, was mit Russland zu<br />

tun hatte, e<strong>in</strong>e tiefe Leidenschaft empfand, also ähnlich wie<br />

Bouton für das Französische <strong>und</strong> Italienische sowie Kasi für das<br />

Englische. Allerd<strong>in</strong>gs legte er schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der ersten St<strong>und</strong>en<br />

Wert auf die Feststellung, dass ihn nur die Sprache<br />

<strong>in</strong>teressierte, aber nicht die Politik, <strong>und</strong> er wusste sehr wohl,<br />

warum er diese Worte sagte. Das war auch deshalb wichtig,<br />

weil ich es zwar erst e<strong>in</strong> paar Jahre später erfuhr, aber doch<br />

schon ahnte, dass die Russisch-Lehrbücher, die im Bereich der<br />

Gulag-Sowjetunion <strong>und</strong> ihrer Vasallenstaaten wie der DDR<br />

gedruckt <strong>und</strong> verwendet wurden, nicht nur Sprachlehrbücher,<br />

sondern auch vollgespickt mit politischer Propaganda waren.<br />

Das bestätigten mir später vor allem e<strong>in</strong> paar DDR-Schweizer -<br />

also Doppelbürger, die deshalb, weil sie auch die<br />

schweizerische Staatsangehörigkeit besassen, frei hatten<br />

ausreisen dürfen -, aber auch mehrere Lehrbücher, die ich<br />

später selbst kaufte, als ich mich mit dem Russischen <strong>und</strong><br />

zugleich mit dem Polnischen, Tschechischen, Slowakischen<br />

<strong>und</strong> Rumänischen, für die <strong>in</strong> der DDR ähnliche Bücher gedruckt<br />

wurden, etwas näher befasste. Allerd<strong>in</strong>gs gehört das von<br />

Kübler vorgeschlagene Buch "Russisch für Sie" nicht zu diesen<br />

Propagandabüchern, genauso wenig wie die verschiedenen<br />

Langenscheidts-Lehrbücher <strong>und</strong> das e<strong>in</strong>er gewissen N<strong>in</strong>a<br />

Potapowa, die schon <strong>in</strong> den Sechzigerjahren e<strong>in</strong> Lehrbuch<br />

herausgab, das als das erste im Westen erschienene gilt.<br />

Dementsprechend war dieses Buch das erste, das ich noch vor<br />

dem Beg<strong>in</strong>n dieses Russisch-Kurses <strong>in</strong> die Hände bekam.<br />

Obwohl ich mich mit den Buchstaben noch nicht näher befasst<br />

<strong>und</strong> sie nur e<strong>in</strong> wenig angeschaut hatte, konnte ich von e<strong>in</strong>em<br />

kle<strong>in</strong>en Vorteil profitieren, als die St<strong>und</strong>en bei Kübler begannen.<br />

Da wir <strong>in</strong> den ersten paar Wochen damit beschäftigt waren, uns<br />

die Buchstaben <strong>und</strong> das Lesen richtig anzueignen, kamen wir<br />

gar nicht dazu, <strong>in</strong>s eigentliche Wesen des Russischen näher<br />

284


e<strong>in</strong>zusteigen. Es half uns auch nicht die Erleichterung darüber,<br />

dass es genauso wie im Late<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>en bestimmten Artikel <strong>und</strong><br />

zudem wie oben erwähnt zum<strong>in</strong>dest im Präsens, also <strong>in</strong> der<br />

Gegenwart, ke<strong>in</strong>e Konjugation für die Verben "se<strong>in</strong>" <strong>und</strong><br />

"haben" gibt. Während die erstere e<strong>in</strong>fach ausgelassen werden<br />

kann, muss die letztere mit e<strong>in</strong>er Konstruktion von "u + Genitiv<br />

des Personalpronomens + jest" umschrieben werden, <strong>und</strong> bei<br />

e<strong>in</strong>er Verne<strong>in</strong>ung muss der Genitiv immer stehen. Dagegen gibt<br />

es für "se<strong>in</strong>" <strong>in</strong> den anderen Zeiten sehr wohl e<strong>in</strong>e eigene<br />

Konjugation, während für "haben" die gleiche Konstruktion wie<br />

im Präsens verwendet wird, aber mit anderen Verbformen, die<br />

ich hier natürlich nicht alle aufführen kann. Es gibt zwar e<strong>in</strong><br />

eigenes Verb für «haben», aber dieses «imjét» kommt nur dann<br />

zum Zug, wenn e<strong>in</strong> Besitz besonders betont werden soll.<br />

Die erste Schwierigkeit, die für die meisten e<strong>in</strong>e Hürde hätte<br />

werden können, betraf die Kasus, also die Fälle, die im<br />

Gegensatz zum Deutschen noch zwei mehr aufweisen, <strong>und</strong><br />

zwar den Lokativ (Ortsfall) <strong>und</strong> den Instrumental, der ausdrückt,<br />

womit etwas getan wird. Wer Late<strong>in</strong> lernte, hatte <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong>en<br />

kle<strong>in</strong>en Vorteil, als diese Sprache den Ablativ kennt, der bei der<br />

Bezeichnung e<strong>in</strong>es genauen Standortes mit der russischen<br />

Denkweise übere<strong>in</strong>stimmt, während bei der Bezeichnung,<br />

woher jemand oder etwas kommt, im Gegensatz zum Late<strong>in</strong> der<br />

Genitiv stehen muss. Dazu gesellt sich bei den männlichen<br />

Hauptwörtern im Akkusativ noch die Unterscheidung zwischen<br />

belebten <strong>und</strong> nicht belebten Wörtern; die belebten wie etwa e<strong>in</strong><br />

Mann oder e<strong>in</strong> H<strong>und</strong>, der als solcher empf<strong>und</strong>en wird, müssen<br />

im Genitiv stehen, während die unbelebten <strong>und</strong> alle weiblichen<br />

<strong>und</strong> sächlichen Hauptwörter im Akkusativ stehen, aber nur<br />

dann, wenn e<strong>in</strong> Satz ke<strong>in</strong>e Verne<strong>in</strong>ung enthält. Bei e<strong>in</strong>er<br />

Verne<strong>in</strong>ung müssen sämtliche männlichen <strong>und</strong> sächlichen<br />

Hauptwörter auch hier im Genitiv stehen, aber die weiblichen<br />

nicht immer. Es ist klar, dass ich all diese Fe<strong>in</strong>heiten hier nur<br />

andeuten, aber nicht näher behandeln kann.<br />

285


Wenn wir schon die Kasus nicht richtig behandeln konnten,<br />

dann erst recht auch nicht das sogenannte Aspektdenken, das<br />

es <strong>in</strong> den westlichen Sprachen nur noch im Neugriechischen<br />

gibt, aber nicht auf die genau gleiche Weise. Nicht nur das<br />

Russische, sondern auch alle anderen slawischen Sprachen<br />

haben für fast jedes Verb e<strong>in</strong> sogenanntes Aspektpaar, das<br />

e<strong>in</strong>erseits für e<strong>in</strong>e abgeschlossene <strong>und</strong> andererseits für e<strong>in</strong>e<br />

nicht abgeschlossene Handlung verwendet wird. E<strong>in</strong>es der<br />

klassischen Lehrbeispiele war <strong>in</strong> allen Russisch-Lehrbüchern<br />

schon immer dieses:<br />

ja pisál pismó (Mann), ja pisála pismó (Frau) =<br />

ich schrieb, ich habe e<strong>in</strong>en Brief geschrieben (Handlung noch<br />

nicht abgeschlossen, also habe ich immer wieder daran<br />

geschrieben)<br />

ja napisál pismó (Mann), ja napisála pismó (Frau) =<br />

ich schrieb (<strong>und</strong> zwar fertig), ich habe den Brief (fertig)<br />

geschrieben<br />

Aber auch: Ich hatte den Brief (fertig) geschrieben.<br />

Dazu gibt es auch noch e<strong>in</strong>e sächliche Variante, die auf «-o»<br />

endet, aber nur dann vorkommt, wenn ke<strong>in</strong> Personalpronomen<br />

verwendet wird:<br />

Ditjá pisálo.<br />

Das K<strong>in</strong>d schrieb,<br />

das K<strong>in</strong>d hat geschrieben.<br />

Ditjá napisálo.<br />

Das K<strong>in</strong>d schrieb (fertig),<br />

das K<strong>in</strong>d hat (fertig) geschrieben,<br />

das K<strong>in</strong>d hatte (fertig) geschrieben.<br />

In der Mehrzahl gibt es im Russischen sowie im Ukra<strong>in</strong>ischen<br />

<strong>und</strong> Weissrussischen für beide Geschlechter nur e<strong>in</strong>e Form,<br />

während <strong>in</strong> den west- <strong>und</strong> südslawischen Sprachen noch<br />

genauer unterschieden wird:<br />

Mi pisáli pismó.<br />

Wir schrieben,<br />

Mi napisáli pismó.<br />

Wir schrieben (fertig),<br />

286


wir haben geschrieben.<br />

wir haben (fertig) geschrieben,<br />

wir hatten (fertig) geschrieben.<br />

Auch bei der Zukunft ist Vorsicht geboten:<br />

ja búdu pisát = ich werde schreiben (irgendwann <strong>und</strong> nicht<br />

bestimmt, wie lange ich<br />

schreibe)<br />

ja napischú = ich werde schreiben (e<strong>in</strong>e abgeschlossene<br />

Handlung <strong>in</strong>begriffen)<br />

Was beim letzteren formal e<strong>in</strong>e Konjugation der Gegenwart ist -<br />

ja napischú -, bedeutet <strong>in</strong> Wirklichkeit e<strong>in</strong>e abgeschlossene<br />

Handlung <strong>in</strong> der Zukunft, bei der es sicher ist, dass sie e<strong>in</strong>mal<br />

vollendet ist. Die gleiche Vorsicht gilt natürlich auch dann, wenn<br />

e<strong>in</strong> Verb mit e<strong>in</strong>em Modalverb - können, müssen, sollen, wollen<br />

- direkt verb<strong>und</strong>en wird:<br />

ja chatschú pisát = ich will schreiben (irgendwann <strong>und</strong> ohne e<strong>in</strong><br />

bestimmtes Ziel)<br />

ja chatschú napisát = ich will schreiben (etwas Bestimmtes zu<br />

e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

Zeitpunkt - <strong>und</strong> ich will<br />

das fertig schreiben)<br />

Dass es zur Kennzeichnung des vollendeten Aspekts nicht nur<br />

die Vorsilbe «na-» gibt, zeigt e<strong>in</strong> weiteres Beispiel mit dem Verb<br />

«djélat» (machen, tun), das <strong>in</strong> den Russisch-Lehrbüchern<br />

ebenfalls häufig vorkommt:<br />

ja djélal (Mann), ja djélala (Frau)<br />

ich machte, ich habe gemacht<br />

ja sdjélal (Mann), ja sdjélala (Frau)<br />

ich machte (fertig),<br />

287<br />

Ditjá djélalo.<br />

Das K<strong>in</strong>d machte,<br />

das K<strong>in</strong>d hat gemacht.<br />

Ditjá sdjélalo.<br />

Das K<strong>in</strong>d machte (fertig),


ich habe (fertig) gemacht,<br />

ich hatte (fertig) gemacht<br />

mi djélali<br />

wir machten, wir haben gemacht<br />

ja búdu djélat<br />

ich werde (irgendwann) machen<br />

ja chatschú djélat<br />

ich will (irgendwann) machen<br />

das K<strong>in</strong>d hat (fertig)<br />

gemacht,<br />

das K<strong>in</strong>d hatte (fertig)<br />

gemacht.<br />

mi sdjélali<br />

wir machten (fertig),<br />

wir haben (fertig)<br />

gemacht,<br />

wir hatten (fertig)<br />

gemacht<br />

ja sdjélaju<br />

ich werde (sicher)<br />

machen<br />

Aber: ja djélaju = ich<br />

mache<br />

ja chatschú sdjélat<br />

ich will (sicher) machen<br />

Gerade dieses Aspektdenken, das für die weniger<br />

Sprachbegabten fast nicht zu verstehen ist, macht die<br />

slawischen Sprachen so schwer, <strong>und</strong> dazu kommt eben auch<br />

das Kasussystem, das dadurch, dass neben den Haupt- <strong>und</strong><br />

Eigenschaftswörtern auch noch die Personalpronom<strong>in</strong>a,<br />

Possessivpronom<strong>in</strong>a, Eigennamen <strong>und</strong> Zahlen dekl<strong>in</strong>iert<br />

werden müssen, wie e<strong>in</strong> <strong>und</strong>urchdr<strong>in</strong>gliches Gestrüpp<br />

daherkommt <strong>und</strong> mehrere 100'000 Ausnahmen kennt - aber ich<br />

übertreibe jetzt natürlich e<strong>in</strong> wenig. Ich weiss das alles, weil ich<br />

es erst viel später kennen gelernt habe, als ich mich<br />

unabhängig vom Notendruck e<strong>in</strong>er Schule oder Universität <strong>in</strong><br />

aller Ruhe mit dem Russischen <strong>und</strong> den anderen slawischen<br />

Sprachen näher beschäftigen konnte.<br />

288


Obwohl wir <strong>in</strong> den St<strong>und</strong>en mit Kübler eigentlich immer an der<br />

Oberfläche blieben <strong>und</strong> als E<strong>in</strong>ziges nur das Lesen gelernt<br />

hatten, fühlten sich schon nach wenigen Wochen mehrere<br />

Leute überfordert, so dass die Reihen sich bald lichteten, <strong>und</strong><br />

kurz vor den Weihnachten des Jahres 1971 war gerade noch<br />

etwa die Hälfte übriggeblieben. Leider gehörte ich selbst ab<br />

dem nächsten Jahr ebenfalls zu denen, die nicht mehr <strong>in</strong> die<br />

Russisch-St<strong>und</strong>en g<strong>in</strong>gen, aber nicht, weil ich nicht mehr wollte,<br />

geschweige denn mich überfordert fühlte. Ich hatte ab diesem<br />

Zeitpunkt ges<strong>und</strong>heitliche Probleme <strong>und</strong> wurde zudem bei den<br />

naturwissenschaftlichen Fächern immer schlechter, so dass ich<br />

es für besser hielt, diese Lektionen nicht mehr zu besuchen,<br />

bevor der Rektor <strong>und</strong> der ganze Rest der <strong>Lehrer</strong>schaft noch auf<br />

mich losg<strong>in</strong>gen. Zudem war die Drohne immer noch dabei, aber<br />

auch sie hörte bald auf, wie ich später über irgende<strong>in</strong>en Kanal<br />

erfuhr, an den ich mich heute nicht mehr er<strong>in</strong>nere. Als kle<strong>in</strong>er<br />

Trost redete ich mir genauso wie beim Italienischen <strong>und</strong><br />

Spanischen e<strong>in</strong>, dass ich diese Sprache früher oder später<br />

schon noch irgendwie lernen würde, <strong>und</strong> ich habe auch hier<br />

Recht bekommen. Ich kam im neuen Jahr für zwei Wochen<br />

noch e<strong>in</strong>mal zurück, um zu sehen, wie viel ich verloren hatte,<br />

<strong>und</strong> als Kübler sah, wie gut ich mich immer noch schlug, sagte<br />

er: "Jetzt haben Sie so lange gefehlt, aber Sie können es immer<br />

noch."<br />

E<strong>in</strong> paar Wochen später stellte es sich als richtig heraus, dass<br />

ich mich dazu entschlossen hatte, die Russisch-St<strong>und</strong>en nicht<br />

mehr zu besuchen. Plötzlich kam der Rektor auf mich zu <strong>und</strong><br />

fragte mich direkt, ob ich immer noch <strong>in</strong> diese St<strong>und</strong>en g<strong>in</strong>g.<br />

Hätte ich diese Frage bejaht, hätte er das Recht gehabt, mich<br />

auszuschliessen, weil ich <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> den meisten anderen<br />

Fächern zu wenig gute Noten schrieb. Auch ich wusste, dass<br />

nur gute Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler dazu befugt waren, solche<br />

Kurse zu belegen; also hatte ich nichts zu melden.<br />

So kam es nicht e<strong>in</strong>mal mehr zu e<strong>in</strong>em richtigen Abschied mit<br />

289


Kübler, den ich als auffallend warmherzigen <strong>Lehrer</strong> kennen<br />

gelernt habe, auch wenn ich mit ihm nach dem Ende e<strong>in</strong>er<br />

Lektion nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges kurzes Gespräch führen konnte. Ich<br />

weiss nicht mehr, wie ich das geschafft hatte, aber plötzlich<br />

sprachen wir erstaunlich offen mite<strong>in</strong>ander. Dabei entdeckte<br />

ich, dass er nach so vielen Jahren <strong>in</strong> Russland ke<strong>in</strong>en re<strong>in</strong>en<br />

Dialekt mehr sprach. Was er sagte, klang zwar nach<br />

Ostschweiz, aber gemischt mit viel anderem. Nachdem der<br />

vorgesehene e<strong>in</strong>jährige Kurs beendet war, sickerte es nie so<br />

richtig durch, ob er mit e<strong>in</strong>er neuen Klasse begann oder mit der<br />

ziemlich zusammengeschrumpften alten weiterfuhr oder gar<br />

beide unterrichtete, aber ich erfuhr e<strong>in</strong> paar Jahre später, dass<br />

er die Schule für immer verlassen hatte, <strong>und</strong> auch von ihm habe<br />

ich nie wieder etwas gehört oder gelesen.<br />

Obwohl ich die Russisch-St<strong>und</strong>en, <strong>in</strong> denen es ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige<br />

Prüfung gab <strong>und</strong> für deren Besuch auch ke<strong>in</strong> Diplom<br />

ausgehändigt wurde, gegen me<strong>in</strong>en eigenen Willen vorzeitig<br />

verlassen musste, hat es sich gelohnt. Dass ich heute das<br />

Russische ziemlich gut spreche <strong>und</strong> schreibe <strong>und</strong> zudem auch<br />

<strong>in</strong> den anderen slawischen Sprachen gute Kenntnisse habe,<br />

verdanke ich auch diesem <strong>Lehrer</strong>, der damals die ersten<br />

Samen gestreut hat, aber das konnten wir damals beide noch<br />

nicht wissen.<br />

Rasu<br />

Nachdem ich wie schon mehrmals angedeutet den Lift hatte<br />

nehmen müssen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Klasse abgestiegen war, bekam ich<br />

zwei weitere neue <strong>Lehrer</strong>. E<strong>in</strong>er von ihnen war Rasu, der nach<br />

dreie<strong>in</strong>halb Jahren Tobi me<strong>in</strong> Mathematiklehrer wurde <strong>und</strong> es<br />

ebenfalls <strong>in</strong> sich hatte, aber auf e<strong>in</strong>e ganz andere Weise. Se<strong>in</strong><br />

Spitzname, den er schon <strong>in</strong> den ersten Tagen nach se<strong>in</strong>em<br />

E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> diese Schule bekam, wurde von se<strong>in</strong>em<br />

Familiennamen Rasumowski abgeleitet, der <strong>in</strong> der Schule aber<br />

Rasumowsky geschrieben wurde, also mit e<strong>in</strong>em "y" am<br />

Schluss.<br />

290


Im Gegensatz zu Kübler, der Russisch unterrichtete, aber e<strong>in</strong><br />

Schweizer war, verhielt es sich bei Rasu gerade umgekehrt:<br />

Se<strong>in</strong>e Eltern oder Grosseltern - ganz genau konnten wir es nie<br />

erfahren, weil er sich <strong>in</strong> dieser Beziehung immer bedeckt hielt -<br />

stammten tatsächlich aus Russland, doch er selbst hatte mit<br />

diesem Land <strong>und</strong> der Sprache, die Kübler so leidenschaftlich<br />

unterrichtete, nichts zu tun. Noch bevor ich ihn als neuen<br />

Mathematiklehrer bekam, hatte ich <strong>in</strong>direkt schon vorzeitig mit<br />

ihm zu tun, <strong>und</strong> zwar durch se<strong>in</strong>e jüngere Schwester, die schon<br />

vor ihm <strong>in</strong> diese Schule e<strong>in</strong>getreten war <strong>und</strong> mit der ich<br />

mehrmals von <strong>Trogen</strong> nach <strong>Zürich</strong> fuhr <strong>und</strong> manchmal auch<br />

noch zurück, wenn wir uns im Hauptbahnhof <strong>Zürich</strong> durch e<strong>in</strong>en<br />

Zufall trafen, denn wir machten nie etwas ab - so nahe war<br />

unser Kontakt auch wieder nicht. Sie bestand ihre<br />

Maturaprüfungen gerade vor den Herbstferien bei me<strong>in</strong>em<br />

Klassenwechsel; danach setzte sich die Familientradition mit<br />

ihm fort, der allerd<strong>in</strong>gs zu diesem Zeitpunkt <strong>in</strong> dieser Schule<br />

bereits unterrichtete.<br />

Schon kurz nach se<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>tritt bekam Rasu e<strong>in</strong>en Ruf, bei<br />

dem es e<strong>in</strong>en von aussen erschaudern musste. Es hiess von<br />

ihm, die Prüfungen seien derart schwer, dass es fast nicht<br />

möglich war, e<strong>in</strong>e genügende Note zu schreiben, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er der<br />

Schüler, der e<strong>in</strong>e Klasse unter mir war <strong>und</strong> den ich fast zwanzig<br />

Jahre später <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wiederholungskurs der Armee wieder<br />

traf, schob sogar ihm die Hauptschuld dafür zu, dass er die<br />

Schule bald wieder verlassen musste, <strong>und</strong> zwar schon damals,<br />

weil ich zu ihm e<strong>in</strong>en guten Kontakt hatte - <strong>und</strong> übrigens führte<br />

auch se<strong>in</strong> Familienname e<strong>in</strong> "von" davor. Angesichts dieses<br />

schlechten Rufes erstaunte es mich, dass alle Schüler<strong>in</strong>nen<br />

<strong>und</strong> Schüler immer noch am Leben blieben, aber als ich das<br />

Zimmer betrat, <strong>in</strong> dem ich die erste Lektion mit Rasu haben<br />

sollte, konnte mich nach dreie<strong>in</strong>halb Jahren mit Tobi nichts<br />

mehr erschrecken.<br />

Trotzdem muss ich bekennen, dass ich e<strong>in</strong> etwas mulmiges<br />

291


Gefühl im Magen hatte, als Rasu das Zimmer betrat. Me<strong>in</strong> Herz<br />

klopfte zwar nicht heftig <strong>und</strong> me<strong>in</strong>e Knie zitterten nicht so wie<br />

bei Bouton, aber ich machte mich auf e<strong>in</strong>iges gefasst. Ich kann<br />

aber noch heute bezeugen, dass alles nur halb so wild war, weil<br />

Rasu mit e<strong>in</strong>em Stil unterrichtete, der nicht auf das Leben<br />

anderer abzielte. Er unterrichtete zwar genauso trocken, wie es<br />

dieses Fach selbst ist, aber er war e<strong>in</strong> wohltuender Gegensatz<br />

zu Tobi, bei dem wir jederzeit mit e<strong>in</strong>em Anfall rechnen<br />

mussten. Ich bekam sogar den E<strong>in</strong>druck, dass ich mit dem<br />

Stoff, der nicht aus so vielen Zyl<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> auch aus weniger<br />

Trigonometrie bestand als im Vorjahr, eigentlich gut mithalten<br />

konnte, aber das war halt nur der E<strong>in</strong>druck, <strong>und</strong> das bezog sich<br />

auch auf den Unterricht selbst. Zwar bemühte ich mich, so gut<br />

wie möglich mitzuhalten, aber es fehlte immer das gewisse<br />

Etwas, <strong>und</strong> das setzte sich auch bei den Ex fort. Wenn er die<br />

Prüfungszettel verteilte <strong>und</strong> ich dann die Aufgaben durchlas,<br />

sah es zwar nicht allzu schwer aus, aber auch das war nur der<br />

erste E<strong>in</strong>druck. Auch bei ihm gelang es mir nie, e<strong>in</strong>e<br />

genügende Note zu schreiben, aber es war nach me<strong>in</strong>er<br />

Er<strong>in</strong>nerung wenigstens immer e<strong>in</strong>e zwischen e<strong>in</strong>er 3 <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er<br />

4.<br />

Wer übrigens regelmässig am besten abschnitt, war ke<strong>in</strong>er der<br />

Burschen, sondern e<strong>in</strong> Mädchen, das die Mathematik<br />

leidenschaftlich liebte <strong>und</strong> auch nie e<strong>in</strong>en Hehl daraus machte.<br />

Das widersprach den allgeme<strong>in</strong>en Aussagen, dass die<br />

Mathematik <strong>und</strong> auch sonst die naturwissenschaftlichen Fächer<br />

dem männlichen Geschlecht viel mehr liegen als dem<br />

weiblichen. So passte es zum Gesamtbild, dass es <strong>in</strong> der<br />

Parallelklasse der Oberrealschule jahrelang e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges<br />

Mädchen gab, das jedoch bis zum Bestehen der<br />

Maturaprüfungen eisern durchhielt - beide gehörten also<br />

offensichtlich zu den Ausnahmen.<br />

Ich habe nie erfahren, ob Rasu wusste, dass ich mit se<strong>in</strong>er<br />

Schwester e<strong>in</strong>en guten Kontakt gehabt hatte, aber das trug<br />

292


vielleicht doch omenhaft dazu bei, dass ich von ihm wegen<br />

me<strong>in</strong>er schwachen Leistungen nie angegriffen wurde, <strong>und</strong> das<br />

betraf auch den ganzen Rest der Klasse mitsamt allen <strong>Lehrer</strong>n<br />

<strong>und</strong> sogar der Drohne, was ich ihnen allen noch heute hoch<br />

anrechne. Das war e<strong>in</strong> schöner Gegensatz zu me<strong>in</strong>er ersten<br />

Klasse, <strong>in</strong> der kurz vor me<strong>in</strong>em Wechsel e<strong>in</strong>es der beiden<br />

Klassengenies noch me<strong>in</strong>te, es mache sich halt nicht gut, wenn<br />

man so viel fehle, <strong>und</strong> e<strong>in</strong> anderer, der später e<strong>in</strong> Rechtsanwalt<br />

wurde, sogar noch hämisch sagte, Matura bedeute reif <strong>und</strong> ich<br />

habe halt bewiesen, dass ich nicht reif sei - dabei waren wir nur<br />

drei Jahre zuvor im Konfirmandenunterricht noch <strong>in</strong> der<br />

gleichen Klasse gewesen, aber so christlich konnte er nachher<br />

nicht mehr denken. Es war se<strong>in</strong> Glück, dass ich mich<br />

beherrschen konnte <strong>und</strong> auf dem Weg war, e<strong>in</strong> frommer Mann<br />

zu werden, der die Gewalt verabscheute, sonst hätte ich ihm<br />

e<strong>in</strong>e geklebt, aber er wurde später vom Leben selbst bestraft:<br />

Er heiratete zwar e<strong>in</strong>e Frau, die ebenfalls <strong>in</strong> dieser Klasse<br />

gewesen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e <strong>Lehrer</strong><strong>in</strong> geworden war, aber e<strong>in</strong>e geraume<br />

Zeit später verliess sie ihn, um mit e<strong>in</strong>em anderen Mann e<strong>in</strong><br />

neues Leben zu beg<strong>in</strong>nen. Ich gebe zu, dass ich e<strong>in</strong><br />

Schmunzeln nicht verbergen konnte, als ich diese Nachricht las,<br />

die natürlich nicht so direkt <strong>in</strong> den Zeitungen stand, aber auch<br />

ich konnte e<strong>in</strong>s <strong>und</strong> e<strong>in</strong>s zusammenzählen. E<strong>in</strong> ranghoher<br />

Angestellter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kantonalen Verwaltung kann sich im<br />

heutigen Internet-Zeitalter eben nicht mehr so gut verstecken<br />

wie die meisten anderen.<br />

Ich frage mich noch heute, wie es dazu kam, dass wir<br />

ausgerechnet bei Rasu darüber sprachen, wie unser Leben<br />

nach den Maturaprüfungen aussehen könnte. Es ergab sich<br />

e<strong>in</strong>fach so, nachdem e<strong>in</strong> Schüler bemerkt hatte, dass wir eben<br />

nicht <strong>in</strong> jedem Fach gleich gut se<strong>in</strong> konnten <strong>und</strong> die Fakultät,<br />

die jeder <strong>und</strong> jede von uns e<strong>in</strong>mal belegen würde, uns ziemlich<br />

stark <strong>in</strong>teressieren würde - jawohl, genau das waren se<strong>in</strong>e<br />

Worte, daran er<strong>in</strong>nere ich mich noch heute gut. Ich weiss aber<br />

immer noch ebenso gut, was Rasu darauf sagte: "Das ist e<strong>in</strong>e<br />

293


grosse Illusion." Darauf ergänzte er, dass jemand, der zum<br />

Beispiel Deutsch studieren wolle, sich noch darüber w<strong>und</strong>ern<br />

würde, dass auch noch H<strong>und</strong>erte von althochdeutschen<br />

Vokabeln gelernt werden müssten, für die es auch noch e<strong>in</strong>e<br />

Spezialprüfung gebe. Offensichtlich kannte er jemanden, der <strong>in</strong><br />

diese Lage geraten war, sonst hätte er das kaum erfahren.<br />

Dazu kommt noch etwas Erstaunliches: Ausgerechnet Rasu,<br />

der <strong>in</strong> der Schule ke<strong>in</strong>en so guten Ruf hatte, machte das, was<br />

alle anderen <strong>Lehrer</strong> mit uns nie gemacht hatten: Er unternahm<br />

mit uns gegen das Ende der fünften Klasse e<strong>in</strong>en privaten<br />

Ausflug <strong>in</strong>s Grüne, also ausserhalb der offiziellen Schulzeit<br />

gegen den Abend nach dem Ende der Nachmittagsst<strong>und</strong>en. Ich<br />

weiss nicht mehr, woh<strong>in</strong> es g<strong>in</strong>g, aber ich er<strong>in</strong>nere mich noch<br />

daran, dass es e<strong>in</strong> Restaurant <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Nachbardorf war. Am<br />

Ende unseres Treffens war es zwar nicht so spät geworden,<br />

dass wir ke<strong>in</strong>en Bus mehr hätten benützen können; nur die<br />

<strong>Trogen</strong>er Bahn wäre zu weit weg gewesen. Deshalb packte er<br />

kurzentschlossen alle knapp zwanzig Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler<br />

- ich übertreibe jetzt natürlich e<strong>in</strong> wenig, aber wir waren<br />

tatsächlich e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Klasse - <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Auto <strong>und</strong> fuhr uns damit<br />

nach <strong>Trogen</strong> zurück. Da jemand kurz vor diesem akrobatischen<br />

E<strong>in</strong>stieg gesagt hatte, die Polizei könnte uns erwischen, sagte<br />

er schon nach kurzer Fahrt trocken: "Ich weiss gar nicht, was<br />

ihr alle habt - ich sehe weit <strong>und</strong> breit ke<strong>in</strong>en Polizisten." Es wäre<br />

auch deshalb schwer gewesen, uns zu erwischen, weil nicht nur<br />

<strong>in</strong> <strong>Trogen</strong>, wo wir das mit Sicherheit wussten, sondern auch <strong>in</strong><br />

den benachbarten kle<strong>in</strong>en Dörfern meistens nur e<strong>in</strong> Polizist<br />

angestellt war. So war es wenig wahrsche<strong>in</strong>lich, dass wir<br />

unserem e<strong>in</strong>zigen Dorfpolizisten, der den Ruf hatte, dass er<br />

sich immer besonders gern mit se<strong>in</strong>er Uniform zeigte,<br />

ausgerechnet jetzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Nachtst<strong>und</strong>e über den Weg<br />

laufen würden. Zudem waren es ja nur e<strong>in</strong> paar Kilometer, aber<br />

ich b<strong>in</strong> seitdem nie mehr wie e<strong>in</strong>e Sard<strong>in</strong>e so herumgefahren<br />

<strong>und</strong> könnte es auch nicht, weil ich heute teilweise unter<br />

Platzangst leide <strong>und</strong> deshalb nicht mehr mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

294


Menschenmasse sitzen könnte - <strong>und</strong> zudem hätte auch me<strong>in</strong><br />

Herzle<strong>in</strong> etwas dagegen.<br />

Zum Thema Auto noch dies: Es war klar, dass die meisten<br />

<strong>Lehrer</strong> e<strong>in</strong>en eigenen Wagen hatten, aber weniger klar, dass<br />

schon e<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong> oder e<strong>in</strong> Schüler e<strong>in</strong>en besass.<br />

Tatsächlich gab es jedoch mehrere unter uns, die natürlich alle<br />

aus gutbetuchten Familien stammten <strong>und</strong> deshalb auch das<br />

nötige Geld hatten, um schon <strong>in</strong> diesem jungen Alter<br />

Autofahrst<strong>und</strong>en zu nehmen. Wer anders konnte das schon<br />

tun? Ich staune noch heute darüber, dass ausgerechnet diese<br />

paar wenigen nie damit prahlten, dass sie im Gegensatz zu uns<br />

schon e<strong>in</strong>en eigenen Wagen hatten, aber auch das gehörte zu<br />

dem, was ich weiter oben als unseren besonderen <strong>Trogen</strong>er<br />

Familiengeist bezeichnet habe. Heute wäre das sicher anders,<br />

erst recht nach dem, was ich schon mehrmals gehört habe,<br />

wonach es <strong>in</strong> verschiedenen fe<strong>in</strong>en Büros <strong>und</strong> Geschäften fast<br />

e<strong>in</strong>e Pflicht ist, mit e<strong>in</strong>em eigenen Wagen <strong>und</strong> noch dazu mit<br />

e<strong>in</strong>em möglichst fe<strong>in</strong>en Schlitten zu ersche<strong>in</strong>en, damit man<br />

nicht ausgelacht wird. Da ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en jungen Jahren noch an<br />

das Gute <strong>in</strong> den Menschen glaubte <strong>und</strong> deshalb oft auch allzu<br />

gutgläubig <strong>und</strong> naiv durch das Leben stolperte, s<strong>in</strong>d mir diese<br />

Klassenunterschiede nie richtig bewusst geworden. Daran<br />

änderte sich auch nichts e<strong>in</strong> paar Jahre später, als ich die<br />

Dolmetscherschule <strong>Zürich</strong> besuchte, wo sich auffallend viele<br />

Damen mit auffallend teuren Pelzmänteln zeigten, <strong>und</strong> damals<br />

gab es die sogenannten unechten noch fast nicht - doch die<br />

zum Teil knallharten Prüfungen mussten sie auch dort genauso<br />

wie die Leute <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> aus piekfe<strong>in</strong>en Familien immer noch<br />

selbst schreiben.<br />

E<strong>in</strong> paar Jahre nach me<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong> bekam ich<br />

vom e<strong>in</strong>zigen ehemaligen Schüler, zu dem ich noch Kontakt<br />

hatte, e<strong>in</strong>e sensationelle Nachricht zu hören, die ich schon bei<br />

der Drohne erwähnt habe: Er heiratete tatsächlich diese<br />

<strong>Lehrer</strong><strong>in</strong>; also war er der Mann, der sich dazu h<strong>in</strong>gegeben <strong>und</strong><br />

295


diesen Opfergang auf sich genommen hatte. Wie schon<br />

erwähnt hielt diese Ehe aber nicht allzu lange, was sicher mit<br />

dazu beigetragen hat, dass er im Gegensatz zur Drohne <strong>und</strong> zu<br />

den meisten anderen <strong>Lehrer</strong>kollegen nicht <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> geblieben<br />

ist. Auch über ihn habe ich trotz des Internets seitdem nichts<br />

mehr gehört oder gelesen.<br />

Fässler<br />

Neben Rasu war dieser <strong>Lehrer</strong> der zweite, den ich nach<br />

me<strong>in</strong>em Abstieg <strong>in</strong> die fünfte Klasse neu bekam, <strong>und</strong> wie dieser<br />

gehörte auch er zu den jüngeren Lehrkräften <strong>und</strong> hatte auch er<br />

e<strong>in</strong>en Ruf, <strong>und</strong> zwar den, dass er e<strong>in</strong> wenig seltsam war, was<br />

auch immer darunter verstanden werden konnte. Wie ich es<br />

oben bei Flade geschrieben habe, s<strong>in</strong>d die meisten Appenzeller<br />

an ihren Familiennamen zu erkennen, ganz gleich, ob sie <strong>in</strong><br />

ihrem Heimatkanton aufwachsen oder nicht, weil ihre<br />

Bürgerorte, die es <strong>in</strong> der Schweiz im Gegensatz zu Deutschland<br />

<strong>und</strong> Österreich <strong>und</strong> zum Südtirol immer noch gibt, weiter die<br />

gleichen s<strong>in</strong>d. Dabei können auch noch die Ausserrhödler von<br />

den Innerrhödlern gut unterschieden werden, weil beide<br />

Halbkantone noch ihre besonderen Eigennamen haben, wie ich<br />

das oben bei Flade schon erwähnt habe.<br />

Der Name Fässler deutet es an: Dieser <strong>Lehrer</strong> war e<strong>in</strong>er vom<br />

Halbkanton Appenzell-Innerrhoden, wie er offiziell so vornehm<br />

heisst, <strong>und</strong> das ist bei ihm wörtlich zu nehmen. Dieser noch<br />

heute streng katholische Halbkanton wurde vor allem lange<br />

belächelt <strong>und</strong> nie so richtig ernst genommen, weil er erst im<br />

späten Jahr 1991 - aber immerh<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jubiläumsjahr für<br />

die Eidgenossenschaft, was gut passte - noch als letzter<br />

Kanton das Frauenstimmrecht e<strong>in</strong>geführt hat, aber nur deshalb,<br />

weil das B<strong>und</strong>esgericht ihn nach der letzten Landsgeme<strong>in</strong>de,<br />

bei der die E<strong>in</strong>führung des Frauenstimmrechts noch e<strong>in</strong>mal wie<br />

so oft zuvor abgelehnt worden war, ihn dazu zwang. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

verhielt es sich auch im reformierten Bruderhalbkanton<br />

296


Appenzell-Ausserrhoden, <strong>in</strong> dem ich <strong>in</strong> den Jahren 1970 <strong>und</strong><br />

1972 zwei Landsgeme<strong>in</strong>den noch direkt miterlebt habe - <strong>in</strong> den<br />

geraden Jahren fand sie <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> statt <strong>und</strong> <strong>in</strong> den ungeraden<br />

im etwas entfernten Dorf H<strong>und</strong>wil -, nicht viel anders. Dort<br />

wurde das Frauenstimmrecht zwar noch im Rahmen e<strong>in</strong>er<br />

Landsgeme<strong>in</strong>de knapp e<strong>in</strong>geführt, aber auch erst im Jahr 1989.<br />

Ich schreibe deshalb knapp, weil ich es direkt im Fernsehen sah<br />

<strong>und</strong> somit selbst erkennen konnte, wie wenig für e<strong>in</strong> weiteres<br />

Scheitern gefehlt hatte. Dementsprechend waren nachher auch<br />

viele Männerstimmen zu hören: «Dia hönd doch pschesse!»<br />

(«Die haben doch beschissen!»)<br />

Durch e<strong>in</strong>e weitere Volksabstimmung - <strong>und</strong> diesmal an der Urne<br />

- wurde bekanntlich noch kurz vor der Jahrtausendwende<br />

entschieden, die Landsgeme<strong>in</strong>de abzuschaffen, unter anderem<br />

auch deshalb, weil es sich herausgestellt hatte, dass nicht<br />

wenige Gewerbetreibende, deren politische Ges<strong>in</strong>nung durch<br />

das Hochhalten des rechten Armes bei gewissen<br />

Abstimmungsvorlagen deutlich zu erkennen war, immer<br />

weniger Aufträge bekamen, <strong>und</strong> zwar nicht nur von politischen<br />

Gegnern, sondern auch von solchen, die sich von denen<br />

be<strong>in</strong>flussen liessen. Das hätte eigentlich schon früher erkannt<br />

werden können, aber auch das änderte nichts daran, dass es<br />

die seit Jahrh<strong>und</strong>erten durchgeführte Landsgeme<strong>in</strong>de, die so<br />

liebevoll "Landsgmäänd" genannt wurde, <strong>in</strong> diesem Halbkanton<br />

heute nicht mehr gibt.<br />

Dass diese nichts mit irgende<strong>in</strong>er Rückständigkeit zu tun haben<br />

muss, zeigen die anderen Kantone <strong>und</strong> Halbkantone, <strong>in</strong> denen<br />

sie noch heute besteht: Neben Appenzell-Innerrhoden auch<br />

noch <strong>in</strong> Glarus, Nidwalden <strong>und</strong> Obwalden - <strong>und</strong> überall auch mit<br />

den Frauen, ohne dass es deswegen irgendwelche Probleme<br />

gegeben hat. Die an der Urne entschiedene Abschaffung der<br />

ausserrhodischen Landsgeme<strong>in</strong>de war an sich nicht so<br />

tragisch, aber damit verb<strong>und</strong>en sehr wohl die Tatsache, dass<br />

das traditionelle fromme Landsgeme<strong>in</strong>delied, das bis zum Jahr<br />

297


1989 von e<strong>in</strong>em riesigen Männerchor <strong>und</strong> danach von e<strong>in</strong>em<br />

gemischten Chor aus Tausenden von Kehlen <strong>in</strong>brünstig<br />

gesungen wurde, ebenfalls abgeschafft wurde. Das mag zwar<br />

all jene freuen, die schon immer gegen alles Fromme waren, so<br />

dass ich sie genauso wie den oben vorgestellten Deutschlehrer<br />

schon seit Jahrzehnten ironisch als «progressiv» bezeichne,<br />

aber es ist damit auch e<strong>in</strong> grosses Stück Kulturgut verloren<br />

gegangen, <strong>und</strong> auf diese Pflege legen ja auch die<br />

«Progressiven» immer Wert, wie sie behaupten.<br />

Angesichts des Rufes der Rückständigkeit, den der Halbkanton<br />

Appenzell-Innerrhoden zum Teil sogar im Bruderhalbkanton<br />

hatte, war es erstaunlich, dass gerade dieser e<strong>in</strong>en so fe<strong>in</strong>en<br />

<strong>und</strong> kultivierten Herrn wie diesen Peter Fässler hervorgebracht<br />

hat, den ich <strong>in</strong> diesem Buch als E<strong>in</strong>zigen neben unserem<br />

Englisch-<strong>Lehrer</strong> Hans Wärtli mit se<strong>in</strong>em vollen Namen nenne,<br />

weil ich auch ihn nur loben kann. Obwohl er selbst sich mit<br />

Faessler schrieb - also mit e<strong>in</strong>em «a» <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em «e» - <strong>und</strong><br />

dieser Name auch <strong>in</strong> den verschiedenen Schulchroniken so<br />

ersche<strong>in</strong>t, behalte ich <strong>in</strong> diesem Buch die offizielle Schreibweise<br />

bei, die nach me<strong>in</strong>em Wissen auch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er <strong>Trogen</strong>er<br />

Schulzeit so verwendet wurde.<br />

Als Erstes erkannte ich sofort, dass von diesem seltsamen Ruf,<br />

den er hatte, überhaupt nichts stimmte, aber dafür erkannte ich<br />

etwas anderes nicht: Obwohl wir auch <strong>in</strong> dieser Schule mehrere<br />

Innerrhödler mit diesem Namen hatten, fiel es mir nicht auf,<br />

dass auch dieser <strong>Lehrer</strong> von dort stammte, weil er stets so fe<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> kultiviert redete, wie es auch se<strong>in</strong>em Auftreten entsprach.<br />

Zudem hörte ich nie genau zu, wenn er Dialekt sprach, aber<br />

das war eben nur ausserhalb der Schulst<strong>und</strong>en möglich, <strong>und</strong><br />

wir bekamen ihn dann nicht oft zu Gesicht. Gerade deshalb b<strong>in</strong><br />

ich noch heute nicht sicher, ob Fässler diesen typischen<br />

<strong>in</strong>nerrhodischen Dialekt sprach, der sich vom ausserrhodischen<br />

vor allem dadurch unterscheidet, dass noch mehr durch die<br />

Nase geredet <strong>und</strong> das R oft nicht richtig ausgesprochen,<br />

298


sondern nur angedeutet wird. Es verhält sich damit also ähnlich<br />

wie <strong>in</strong> allen ch<strong>in</strong>esischen Dialekten <strong>und</strong> <strong>in</strong> den meisten<br />

<strong>in</strong>dischen Sprachen, <strong>in</strong> denen diese Aussprache nicht nur beim<br />

R, sondern auch bei allen anderen Konsonanten vorkommt <strong>und</strong><br />

als retroflex bezeichnet wird.<br />

Es passte zu dieser fe<strong>in</strong>en <strong>und</strong> kultivierten Bildung, dass<br />

Fässler Deutsch <strong>und</strong> Geschichte unterrichtete, aber wir hatten<br />

ihn nur beim erstgenannten Fach. Er wurde also wie oben<br />

angedeutet <strong>in</strong>nerhalb von nur fünfe<strong>in</strong>halb Jahren schon me<strong>in</strong><br />

siebter Deutschlehrer, womit ich wenigstens hier e<strong>in</strong>en<br />

Weltrekord aufgestellt habe, der ziemlich sicher noch heute<br />

besteht. Allerd<strong>in</strong>gs unterschied er sich <strong>in</strong> noch e<strong>in</strong>em Punkt von<br />

se<strong>in</strong>en sechs Vorgängern: Anders als bei ihnen gestaltete auch<br />

er se<strong>in</strong>en Unterricht wie oben bei Handsch<strong>in</strong> erwähnt so, dass<br />

er sich <strong>in</strong> jeder St<strong>und</strong>e zwischen uns setzte <strong>und</strong> damit<br />

gleichsam als e<strong>in</strong> «Primus <strong>in</strong>ter pares», also als der Erste unter<br />

Gleichen wie im Römischen Reich, den Stoff sehr lebendig<br />

vermitteln konnte, <strong>und</strong> wir lernten bei ihm tatsächlich auch auf<br />

diese Weise e<strong>in</strong>iges.<br />

Da ich bereits e<strong>in</strong>e Stufe höher gewesen war als diese neue<br />

Klasse, fühlte ich mich sicher, <strong>und</strong> ich gehörte <strong>in</strong> diesem Fach<br />

auch wirklich zu den Besten. Allerd<strong>in</strong>gs unterlief auch mir<br />

e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Fehler, den ich bis heute noch nicht vergessen habe.<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich nicht mehr, welchen Text wir behandelten,<br />

aber umso mehr an me<strong>in</strong>e Worte: "Er machte e<strong>in</strong>en gefürchigen<br />

Ausdruck." Gefürchig? Wie war ich bloss auf dieses Wort<br />

gekommen, das <strong>in</strong> der Schriftsprache nicht e<strong>in</strong>mal als typischer<br />

Helvetismus gerade noch anerkannt <strong>und</strong> durchgewunken wird?<br />

Ich wusste selbst, dass etwas nicht stimmen konnte. Das<br />

wusste auch Fässler, der sofort fragte: "Und wie heisst das<br />

richtige Wort?" Pflicht- <strong>und</strong> schuldbewusst antwortete ich ohne<br />

Zögern: "Er machte e<strong>in</strong>en furchterregenden Ausdruck." Mit<br />

dieser Antwort nickte er zufrieden.<br />

299


Im Gegensatz zu se<strong>in</strong>en sechs Vorgängern schaffte es Fässler,<br />

uns die Fe<strong>in</strong>heiten der deutschen Grammatik, von der wir <strong>in</strong><br />

dieser Klasse natürlich schon e<strong>in</strong>iges kannten, auf e<strong>in</strong>e<br />

besondere Weise beizubr<strong>in</strong>gen, <strong>und</strong> nicht nur <strong>in</strong> der gerade<br />

beschriebenen Szene. Es brauchte dafür ke<strong>in</strong> zackiges<br />

Auftreten wie bei Marxer <strong>und</strong> Voser, ke<strong>in</strong>e Stilfibel wie beim<br />

Herrn Doktor aus Wien, ke<strong>in</strong> Referieren im Stehen wie beim<br />

Progressiven, ke<strong>in</strong> formales Abspulen des Stoffes vorn am<br />

Tisch sitzend wie bei Specker <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e immer schwer<br />

e<strong>in</strong>zustufende Lektion wie bei Schmuh. Er hatte se<strong>in</strong>en ganz<br />

eigenen Stil, der sich <strong>in</strong> Fe<strong>in</strong>heiten direkt aus dem Schulalltag<br />

herausgegriffen ausdrückte. Wie hätte ich sonst erfahren, dass<br />

<strong>in</strong> der Berl<strong>in</strong>er M<strong>und</strong>art der Dativ meistens den Akkusativ<br />

ersetzt? Das geschah, als das gleiche Mädchen, das die<br />

Mathematik so leidenschaftlich liebte, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Satz, an den ich<br />

mich nicht mehr er<strong>in</strong>nere, den Akkusativ aus Versehen mit<br />

e<strong>in</strong>em Dativ verwechselte. Prompt entgegnete Fässler mit<br />

e<strong>in</strong>em kaum verborgenen Schmunzeln: "So spricht man <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong>." E<strong>in</strong> paar Monate später bekam ich se<strong>in</strong>e Worte<br />

bestätigt, als ich im Fernsehen e<strong>in</strong> Kabarett-Programm aus<br />

West-Berl<strong>in</strong> sah, das noch e<strong>in</strong>e Insel mitten im sozialistischen<br />

Meer war. Da sang e<strong>in</strong> Mann diese Worte: "Ick liebe dir, ick<br />

liebe dir." Zudem erfuhren wir erst durch Fässler, dass der<br />

sächsische Dialekt <strong>in</strong> Deutschland, der im Westen <strong>in</strong> den<br />

Jahrzehnten der Trennung <strong>in</strong> zwei Staaten noch nicht so viel<br />

wie heute gehört werden konnte, die gleiche Rolle spielt, die <strong>in</strong><br />

der Schweiz das Appenzellische <strong>in</strong> beiden Varianten <strong>und</strong> der<br />

Dialekt der Stadt Basel <strong>in</strong>nehaben, also immer wieder zu<br />

Lachkrämpfen führen, wie ich das oben bei Specker erwähnt<br />

habe.<br />

Am besten <strong>und</strong> schönsten <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung habe ich Fässler<br />

jedoch wegen des Literatur-Stoffes, den er gerade <strong>in</strong> diesen<br />

wenigen Monaten behandelte: Es war die Barock-Literatur,<br />

dessen eigentliches Markenzeichen das Sonett ist, also das<br />

aus vierzehn Zeilen bestehende Kurzgedicht, das se<strong>in</strong>e<br />

300


esonderen Regeln hat: Die beiden oberen Strophen enthalten<br />

je vier Zeilen <strong>und</strong> die beiden unteren je drei. Dabei werden von<br />

den beiden oberen Strophen je vier <strong>und</strong> von den beiden<br />

unteren je drei Zeilen gereimt. Was auf den ersten Blick<br />

schwierig sche<strong>in</strong>t, erweist sich für solche, die wirklich dichten<br />

können, mit der Zeit als ke<strong>in</strong> unüberw<strong>in</strong>dbares H<strong>in</strong>dernis. Bis<br />

ich Fässler als Deutschlehrer bekam, hatte ich von e<strong>in</strong>em<br />

Sonett noch nie etwas gehört, weil ke<strong>in</strong>er der sechs Vorgänger<br />

auch nur andeutungsweise davon gesprochen hatte, aber dafür<br />

tat er es umso mehr.<br />

Ich halte es für ke<strong>in</strong>en Zufall, dass gerade Fässsler uns <strong>in</strong> diese<br />

etwas verträumte Dichterwelt e<strong>in</strong>führte, die im Barock so viele<br />

hervorragende <strong>und</strong> zum grössten Teil auch noch fromme<br />

Männer hervorgebracht hat: Flem<strong>in</strong>g, Gryphius, Günther,<br />

Hofmannswaldau, Opitz <strong>und</strong> wie sie alle heissen. Der<br />

Frömmste von allen war sicher Andreas Gryphius, der im Jahr<br />

1636 mit erst zwanzig Jahren mitten im 30-jährigen Krieg über<br />

das ganze damit verb<strong>und</strong>ene Elend e<strong>in</strong> Sonett schrieb, das<br />

e<strong>in</strong>em noch heute zu Herzen geht. Dabei verwendete er auch <strong>in</strong><br />

diesem das Wort, das unter den frommen Barockdichtern<br />

neben «Liebe» das meistgeschriebene war: Seelenschatz -<br />

damit war Jesus Christus geme<strong>in</strong>t. Auf der letzten Zeile steht<br />

dieser bemerkenswerte Satz, der für die heutige Zeit noch viel<br />

mehr zutrifft:<br />

… dass auch der Seelenschatz so vielen abgezwungen.<br />

Damit drückte er aus, dass er den schon damals vorhandenen<br />

grossen Abfall vom christlichen Glauben, der sich auch <strong>in</strong><br />

diesem Krieg <strong>in</strong>mitten des «christlichen» Abendlandes zeigte,<br />

als noch schlimmer empfand als das, was im Krieg selbst<br />

geschah, weil das nur die Ernte dieses Abfalls war.<br />

Dass ich seit dieser Zeit gerade für die Sonette e<strong>in</strong>e solche<br />

Schwäche habe <strong>und</strong> mehr als h<strong>und</strong>ert von ihnen geschrieben<br />

301


habe, führe ich auch auf die Liebe zurück, die Fässler gerade<br />

für die Barock-Literatur empfand. Daran änderte sich später<br />

auch nichts, als e<strong>in</strong> bekannter Schriftsteller - der Vater des bei<br />

Heihei erwähnten Klassenkollegen, der zu ihm e<strong>in</strong>en kurz<br />

anhaltenden Kontakt herstellte - mich nach dem Lesen e<strong>in</strong>iger<br />

me<strong>in</strong>er Gedichte fragte: "Warum halten Sie an diesen alten<br />

Formen fest?" Für mich waren <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d es ke<strong>in</strong>e alten Formen,<br />

weil sie auch noch heute verwendet werden können. Ich gehe<br />

sogar noch weiter <strong>und</strong> behaupte, dass alle, die von sich sagen,<br />

sie können dichten, das am besten dadurch beweisen, dass sie<br />

e<strong>in</strong>mal auch e<strong>in</strong> Sonett schreiben - sauber gereimt <strong>und</strong> ohne<br />

holperigen Stil wie se<strong>in</strong>erzeit bei den nur halbwegs gelungenen<br />

Dichtversuchen im "Monumentum" <strong>und</strong> im "Spick".<br />

Er unterrichtete nicht nur Grammatik auf se<strong>in</strong>e besondere<br />

Weise <strong>und</strong> führte uns nicht nur <strong>in</strong> die fromme Barock-Literatur<br />

e<strong>in</strong>, sondern politisierte mit uns manchmal auch, <strong>in</strong>dem er sich<br />

genauso wie <strong>in</strong> den anderen St<strong>und</strong>en mitten unter uns setzte.<br />

Eigentlich gehörte so etwas ja auch zum Deutschunterricht, weil<br />

das <strong>in</strong> allen anderen Fächern natürlich nicht möglich war -<br />

jedenfalls nicht auf diese Weise wie <strong>in</strong> der eigenen<br />

Muttersprache -, aber er nahm sich dafür wenigstens mehr Zeit<br />

als se<strong>in</strong> Vorgänger Schmuh. Ich er<strong>in</strong>nere mich noch gut daran,<br />

dass e<strong>in</strong>mal das Thema "Moderne Kriegsführung" behandelt<br />

wurde, <strong>und</strong> da konnte so richtig erkannt werden, dass auch er<br />

<strong>in</strong> der Wirklichkeit lebte. Diesen e<strong>in</strong>en Satz von ihm habe ich bis<br />

heute nie vergessen: "Bei e<strong>in</strong>er biologischen Kriegsführung<br />

kümmern sich die Bakterien verdammt wenig um<br />

Landesgrenzen." Darauf wurde es noch furchterregender, als er<br />

ergänzte: "Es gibt heute sogar saubere Atombomben, wie es<br />

heisst." Obwohl der Kalte Krieg, der <strong>in</strong> diesen Jahren unser<br />

Denken noch stark mitprägte, heute nicht mehr auf die gleiche<br />

Weise herrscht, ist die Welt auch nach dem Fallen des Eisernen<br />

Vorhangs um ke<strong>in</strong>en Deut sicherer geworden, ja, sie ist im<br />

Gegenteil sogar schlimmer geworden. Gerade der put<strong>in</strong>istische<br />

Angriffskrieg auf die Ukra<strong>in</strong>e, der am 24. Februar 2022 begann<br />

302


<strong>und</strong> nicht nur bei den verbündeten Serben, die ich schon seit<br />

vielen Jahren als Balkan-Russen bezeichne, <strong>und</strong> nicht nur <strong>in</strong><br />

den drei verbündeten Schurkenstaaten Ch<strong>in</strong>a, Nordkorea <strong>und</strong><br />

Iran sowie <strong>in</strong> den «progressiven» late<strong>in</strong>amerikanischen Staaten<br />

Nicaragua, Kuba <strong>und</strong> Venezuela, sondern auch <strong>in</strong> Westeuropa<br />

<strong>und</strong> vor allem <strong>in</strong> Deutschland <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Schweiz sowohl bei<br />

L<strong>in</strong>ken als auch bei Rechten auf erstaunlich viel Verständnis<br />

stösst, lässt uns sogar nach der Zeit zurücksehnen, <strong>in</strong> der die<br />

gegenseitige Blockierung durch die USA <strong>und</strong> die Sowjetunion -<br />

das Wort «Gulag» unterschlage ich für e<strong>in</strong>mal, weil nur ich<br />

dieses mitverwende - wenigstens <strong>in</strong> Europa noch e<strong>in</strong>en grossen<br />

Krieg verh<strong>in</strong>dert hat.<br />

Leider gehörte auch Fässler, dem ich so vieles zu verdanken<br />

habe, zu den paar wenigen, die ihre Versetzung <strong>in</strong> den<br />

Ruhestand nicht mehr erleben konnten, <strong>und</strong> auch bei ihm<br />

fehlten genauso wie bei Schorsch II nur noch wenige Monate.<br />

Ob er wie dieser <strong>und</strong> auch Marxer vielleicht an e<strong>in</strong>er Krankheit<br />

gelitten hatte oder nicht, habe ich nie erfahren, <strong>und</strong> auch diese<br />

Todesnachricht konnte ich nur dank des Internets lesen, das<br />

vieles von dem enthüllt, was während Jahrzehnten verborgen<br />

geblieben ist. Die auffallend warmen Worte, die als Nachruf auf<br />

se<strong>in</strong> Ableben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der alljährlich ersche<strong>in</strong>enden<br />

Schulchroniken standen, entsprachen dem, wie er gelebt hatte:<br />

Fe<strong>in</strong> <strong>und</strong> kultiviert <strong>und</strong> immer auch e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen<br />

Traumwelt lebend.<br />

--------------------------------------------------------------------------<br />

Das waren alle <strong>Lehrer</strong> <strong>und</strong> die e<strong>in</strong>e <strong>Lehrer</strong><strong>in</strong>, mit denen ich es<br />

direkt <strong>in</strong> den Schulst<strong>und</strong>en zu tun hatte. Von den fest<br />

angestellten <strong>Trogen</strong>er <strong>Lehrer</strong>n fehlen hier nur zwei: Der e<strong>in</strong>e,<br />

der <strong>in</strong> der Handelsschule Staatsk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> die Handelsfächer<br />

unterrichtete, <strong>und</strong> der andere, der das <strong>in</strong> der Unterstufe mit<br />

Deutsch <strong>und</strong> Französisch besorgte <strong>und</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Zeit dort oben<br />

auch noch der Leiter des Knabenkonvikts <strong>und</strong> zudem im Jahr<br />

303


1972 der Hauptregisseur des bekannten Theaterstücks<br />

"Herkules <strong>und</strong> der Stall des Augias" von Friedrich Dürrenmatt<br />

war. In diesem wirkte an den beiden Schülerabenden auch die<br />

Kolleg<strong>in</strong>, mit der ich mich immer gut verstand, wieder e<strong>in</strong>mal mit<br />

<strong>und</strong> spielte dabei gleich die Figur der Deianeira, also die<br />

weibliche Hauptrolle neben Herkules. Mit diesen beiden<br />

<strong>Lehrer</strong>n hatte ich auch deshalb nie zu tun, weil sie mich nie<br />

grüssten - schliesslich kannten sie mich <strong>in</strong> dieser Schule mit<br />

etwa 430 Auszubildenden ja nicht -, so dass ich mich<br />

folgerichtig ebenfalls so verhielt.<br />

Von diesem Konviktleiter wurde auch noch die wenig ruhmvolle<br />

Geschichte erzählt, dass er e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>em Schüler e<strong>in</strong>e so<br />

schwere Ohrfeige gab, dass dieser <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Krankenhaus<br />

gebracht werden musste - ob <strong>in</strong>s <strong>Trogen</strong>er M<strong>in</strong>i-Krankenhaus<br />

oder anderswo, habe ich nie genau erfahren. Ich habe ebenso<br />

wenig gehört, ob dieser <strong>Lehrer</strong>, den ich auch aus diesem Gr<strong>und</strong><br />

nie besonders sympathisch fand, für diese Ohrfeige bestraft<br />

wurde, auch wenn nicht auszuschliessen war, dass er von<br />

diesem Schüler provoziert worden war - <strong>und</strong> welcher andere<br />

Schüler hätte es schon gewagt, gegen den <strong>Lehrer</strong><br />

auszusagen? Wenn es wirklich darauf ankam, schauten doch<br />

alle nur für sich selbst; solche Solidaritätsaktionen, die heute<br />

manchmal vorkommen, waren damals auch unter den<br />

progressiv angehauchten Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schülern noch<br />

völlig unbekannt. Heute wäre es aber nicht mehr möglich, wie<br />

dieser <strong>Lehrer</strong> ungestraft davonzukommen, weil die<br />

Schülerschaft nicht mehr so geschlagen werden darf, wie ich<br />

das <strong>in</strong> der Primarschule bei e<strong>in</strong>em anderen Schüler e<strong>in</strong>mal auf<br />

e<strong>in</strong>e besonders brutale Weise selbst erlebt habe, ja, es verhält<br />

sich heute <strong>in</strong> vielen Fällen <strong>in</strong> der Beziehung genau umgekehrt,<br />

als nicht wenige <strong>Lehrer</strong> schon wegen e<strong>in</strong>er angeblichen<br />

sexuellen Belästigung unschuldig angeklagt worden s<strong>in</strong>d. Auch<br />

dies ist e<strong>in</strong> Kennzeichen der heutigen Zeit, <strong>in</strong> der die <strong>Lehrer</strong><br />

genauso wie die B<strong>und</strong>esräte nicht mehr als halbe Herrgötter<br />

gelten.<br />

304


Die beiden Frauen, die Spanisch <strong>und</strong> Stenografie<br />

unterrichteten, kann ich erst recht nicht vorstellen, weil sie nur<br />

selten zu sehen waren <strong>und</strong> ich nicht e<strong>in</strong>mal genau wusste, wer<br />

sie waren. Auch den Musiklehrer Stanischew, Juons<br />

vorübergehenden Nachfolger, <strong>und</strong> den Aushilfslehrer Höhener,<br />

der uns <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der dritten Klasse wie oben<br />

erwähnt e<strong>in</strong> paar Wochen lang Geschichte unterrichtete, weil<br />

Bartli aus irgende<strong>in</strong>em Gr<strong>und</strong> abwesend war, stelle ich hier<br />

nicht vor, weil wir sie zu wenig lange hatten. Das Gleiche gilt<br />

noch mehr für den anderen Aushilfslehrer Alig, der wie bei<br />

Heihei erwähnt Chemie unterrichtete <strong>und</strong> wegen se<strong>in</strong>es<br />

besonders guten Aussehens e<strong>in</strong> Mädchenschwarm war, den<br />

unsere Klasse aber nie hatte.<br />

Dagegen stelle ich jetzt noch vier andere <strong>Lehrer</strong> vor, bei denen<br />

ich zwar nie Unterricht hatte, mit denen ich es aber trotzdem<br />

mehr oder weniger direkt zu tun bekam, so dass ich es für gut<br />

halte, auch über sie etwas zu schreiben.<br />

----------------------------------------------------------------------<br />

Knall<br />

Dieses auffallend kle<strong>in</strong> gewachsene Männchen, das uns noch<br />

nicht ausgewachsenen Jugendlichen kaum überragte, hatte<br />

ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>en Knall, wie es se<strong>in</strong> Familienname<br />

auszudrücken sche<strong>in</strong>t. Er trug diesen Spitznamen schon seit<br />

Jahrzehnten, weil er offiziell Knellwolf hiess, also auch e<strong>in</strong><br />

echter Appenzeller war. Zudem hätte sich dieses Wort "Knall"<br />

kaum durchsetzen können, wenn es alle<strong>in</strong> mit dem bekannten<br />

deutschen Ausdruck zu tun gehabt hätte, weil längst nicht alle<br />

Wörter <strong>und</strong> Ausdrücke, die im nördlichen Nachbarland zum<br />

normalen Alltag gehörten <strong>und</strong> immer noch gehören, auch <strong>in</strong> den<br />

verschiedenen schweizerdeutschen Dialekten e<strong>in</strong>en Platz<br />

gef<strong>und</strong>en hätten. Es gab dafür ganz e<strong>in</strong>fach genug andere<br />

Möglichkeiten, woran sich auch bis heute noch nichts geändert<br />

hat.<br />

305


Knall war das genaue Gegenteil von e<strong>in</strong>em Knall; schliesslich<br />

war auch er e<strong>in</strong> <strong>Lehrer</strong> oder genauer e<strong>in</strong> solcher gewesen <strong>und</strong><br />

hätte sich schon <strong>in</strong> der Mitte der Fünfzigerjahre zur Ruhe<br />

setzen können, aber auch er gehörte zu denen, die es e<strong>in</strong>fach<br />

nicht lassen konnten. Bis dah<strong>in</strong> war er genauso wie Keller <strong>in</strong><br />

<strong>Zürich</strong> überwiegend Turnlehrer gewesen <strong>und</strong> nach dem<br />

Erreichen des 65. Altersjahres unterrichtete er dieses Fach<br />

noch m<strong>in</strong>destens zehn weitere Jahre, bis auch er e<strong>in</strong>sah, dass<br />

er dafür e<strong>in</strong> wenig zu alt geworden war. Als ich <strong>in</strong> diese Schule<br />

e<strong>in</strong>trat, zählte er bereits 78 Jahre; er unterrichtete zwar nicht<br />

mehr, aber er liess es sich nicht nehmen, als Haus- <strong>und</strong><br />

Platzwart dafür zu sorgen, dass die e<strong>in</strong>zige Turnhalle <strong>und</strong> der<br />

e<strong>in</strong>zige Sportplatz, die uns zur Verfügung standen, immer<br />

sauber gehalten wurden. Natürlich besorgte er das nicht alle<strong>in</strong>,<br />

aber ich habe nie herausgef<strong>und</strong>en, wer se<strong>in</strong>e Helfer waren. Er<br />

leistete also für die Schule sehr nützliche Dienste,<br />

dementsprechend wurde er von allen geschätzt. Erst bei<br />

me<strong>in</strong>en Recherchen zu diesem Buch habe ich zudem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Schulchronik entdeckt, dass er schon <strong>in</strong> der Zeit des Ersten<br />

Weltkriegs, als er bereits als Turnlehrer unterrichtete, nach<br />

langen Überzeugungskämpfen dafür sorgte, dass auch die<br />

Mädchen das Recht bekamen, an Turnst<strong>und</strong>en teilzunehmen,<br />

allerd<strong>in</strong>gs schon damals von den Burschen getrennt.<br />

<strong>Me<strong>in</strong>e</strong> allererste <strong>und</strong> zugleich auch allerletzte direkte<br />

Begegnung mit ihm verlief jedoch nicht so erfreulich. Es wurde<br />

<strong>in</strong> dieser Schule nicht nur viel Fussball gespielt, was jedes Jahr<br />

mit dem schuleigenen Turnier se<strong>in</strong>en Höhepunkt erreichte,<br />

sondern auch viel Leichtathletik betrieben. Es gab sogar<br />

regelrechte Schulmeisterschaften, bei denen ich überall<br />

hervorragend abschnitt, aber auch <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> schaffte ich es nie,<br />

e<strong>in</strong>en Wettkampf als Erster zu beenden, sondern blieb<br />

ungewollt me<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>ie treu <strong>und</strong> wurde jedes Mal wie gewohnt<br />

Zweiter, Dritter oder Vierter. Ich schaffte es aber immerh<strong>in</strong><br />

jedes Mal unter die besten vier; so verhielt es sich später auch<br />

<strong>in</strong> der Armee, wenn wir unsere Wettkämpfe austrugen, die so<br />

306


aussahen, dass unsere Kondition geprüft wurde. So wurde ich<br />

beim ersten <strong>Trogen</strong>er Wettkampf, an dem ich teilnahm, <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Mehrkampf der Kategorie Jahrgang 1953 zwar auch nur<br />

Vierter, aber die drei anderen vor mir waren derart gut, dass es<br />

mir von vornhere<strong>in</strong> klar schien, dass ich sie nicht schlagen<br />

konnte.<br />

Der eigentliche Ärger war <strong>in</strong> diesem Mehrkampf dr<strong>in</strong>nen<br />

verpackt. Da gab es e<strong>in</strong>e Woche später für jede e<strong>in</strong>zelne<br />

Diszipl<strong>in</strong> noch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>zelwettkampf, für den jemand nur<br />

zugelassen wurde, wenn e<strong>in</strong>e bestimmte Limite übertroffen<br />

worden war. Von dieser wussten wir jedoch nichts Genaues,<br />

doch als diese Qualifikationsliste dann aufgehängt wurde,<br />

musste ich erstaunt <strong>und</strong> zugleich verärgert feststellen, dass ich<br />

mich nur im Weitsprung für den F<strong>in</strong>al qualifiziert hatte, aber<br />

nicht auch noch im 100-Meter-Lauf, wie ich das erhofft hatte. Im<br />

Weitsprung, die me<strong>in</strong>e stärkste Diszipl<strong>in</strong> war, erlebte ich e<strong>in</strong>en<br />

kle<strong>in</strong>en Höhepunkt, weil ich zum ersten Mal die fünf Meter<br />

übertraf <strong>und</strong> sogar alle me<strong>in</strong>e drei Sprünge über dieser Grenze<br />

endeten, an der ich <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> immer gescheitert war. Diesmal<br />

schaffte ich im ersten Sprung gleich 5,01 Meter, im zweiten<br />

5,29 <strong>und</strong> im dritten sogar 5,31 Meter, was ich noch heute genau<br />

weiss. Natürlich war das gemessen an der Elite lächerlich<br />

wenig, aber ich war e<strong>in</strong> untra<strong>in</strong>ierter <strong>und</strong> noch nicht<br />

ausgewachsener Bursche von erst fünfzehne<strong>in</strong>halb Jahren;<br />

also konnte auch noch nicht allzu viel erwartet werden. Da die<br />

Limite im Mehrkampf nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung genau fünf Meter<br />

betrug, hatte ich mich ohne grosse Probleme für den F<strong>in</strong>al<br />

qualifiziert.<br />

Der grosse Ärger kam im 100-Meter-Lauf. Da dieser auf e<strong>in</strong>er<br />

ungeeigneten harten Betonbahn ausgetragen wurde, auf dem<br />

die meisten wie oben beim Doktor Stilfibel erwähnt zur Schule<br />

g<strong>in</strong>gen, hatte ich mit dem Rennen so viel Mühe, dass ich erst<br />

nach 12,9 Sek<strong>und</strong>en im Ziel ankam. Da ich an der Leichtathletik<br />

wie oben bei Keller erwähnt sehr <strong>in</strong>teressiert war, wusste ich<br />

307


zwar, dass im Jahr 1896, bei den allerersten Olympischen<br />

Spielen der Neuzeit <strong>in</strong> Athen, der Erste <strong>in</strong> dieser Diszipl<strong>in</strong> nach<br />

genau 12 Sek<strong>und</strong>en das Ziel erreicht hatte, aber ich sagte mir<br />

schon damals, dass bei der Zeitmessung etwas nicht hatte<br />

stimmen können. Tatsächlich las ich sehr viele Jahre später,<br />

dass die F<strong>in</strong>alisten auf e<strong>in</strong>er auffallend weichen Bahn hatten<br />

laufen müssen, so dass e<strong>in</strong>e schnellere Zeit gar nicht möglich<br />

gewesen war; der Weltrekord, der allerd<strong>in</strong>gs noch nicht offiziell<br />

geführt wurde, stand schon <strong>in</strong> jenem Jahr bei 10,8 Sek<strong>und</strong>en.<br />

Und jetzt kommt es: Als ich auf dem gleichen Anschlagbrett las,<br />

dass die Limite auf 12,8 Sek<strong>und</strong>en angesetzt worden war,<br />

ärgerte ich mich fürchterlich darüber, dass ich den F<strong>in</strong>al so<br />

knapp verpasst hatte. Allerd<strong>in</strong>gs war es ke<strong>in</strong> echter F<strong>in</strong>al mit<br />

acht Läufern, wie das <strong>in</strong> den Stadien üblich ist - bis zum Jahr<br />

1960, bei den Olympischen Sommerspielen <strong>in</strong> Rom, waren es<br />

sogar nur sechs gewesen -, weil auf unserer sogenannten<br />

Rennbahn immer nur zwei mite<strong>in</strong>ander rennen konnten. Es war<br />

mir klar, dass ich nie hätte gew<strong>in</strong>nen können, weil ich schon<br />

beim Mehrkampf gesehen hatte, dass e<strong>in</strong> paar e<strong>in</strong>deutig<br />

schneller liefen, aber ich wäre halt trotzdem gern dabei<br />

gewesen. E<strong>in</strong> H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>schmuggeln, an das ich noch dachte, war<br />

nicht möglich, weil alle Qualifizierten auf e<strong>in</strong>er Liste e<strong>in</strong>getragen<br />

waren <strong>und</strong> jeder E<strong>in</strong>zelne sich zu Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es Wettkampfs<br />

anmelden musste. Wer den 100-Meter-Lauf gewann, war der<br />

Bursche mit dem oben erwähnten Spitznamen «Lupo» aus der<br />

Parallelklasse der Oberrealschule, der noch e<strong>in</strong> paar Monate<br />

jünger war als ich <strong>und</strong> diese schwere Bahn <strong>in</strong> genau 11<br />

Sek<strong>und</strong>en h<strong>in</strong>unterstampfte, also gar noch schneller lief als der<br />

damals bestehende Weltrekord der Frauen. Damit stellte er den<br />

Schulrekord e<strong>in</strong>, aber aus irgende<strong>in</strong>em Gr<strong>und</strong>, den wir nie<br />

erfahren haben, wurde diese Zeit trotzdem nicht als<br />

Egalisierung dieses Rekords anerkannt.<br />

Ich war also nur für den Weitsprung qualifiziert. Auch hier war<br />

es mir von vornhere<strong>in</strong> klar, dass ich nicht gew<strong>in</strong>nen konnte, weil<br />

308


ich schon im Mehrkampf gesehen hatte, dass e<strong>in</strong> paar deutlich<br />

weiter sprangen, aber ich wollte wenigstens me<strong>in</strong>en eigenen<br />

persönlichen Rekord verbessern. Gerade dieser Plan wurde<br />

jedoch durch Knall vereitelt, weil er nach jedem me<strong>in</strong>er sechs<br />

Sprünge nach langem Zögern behauptete, ich habe<br />

übergetreten. Ich ärgerte mich noch monatelang darüber <strong>und</strong><br />

sagte ungeniert, dass er e<strong>in</strong>deutig zu alt gewesen war, um alles<br />

deutlich zu sehen, aber er mass nicht alle<strong>in</strong>, sondern<br />

zusammen mit e<strong>in</strong>em anderen; also musste e<strong>in</strong> Teil se<strong>in</strong>er<br />

Behauptungen wohl stimmen. Natürlich hätte ich e<strong>in</strong> paar<br />

Sicherheitssprünge h<strong>in</strong>legen können, aber dann wäre ich weit<br />

unter fünf Meter gelandet <strong>und</strong> damit <strong>in</strong> der Schule ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>e Lachnummer geworden, wie ich glaubte, weil nachher alle<br />

Ergebnislisten ebenfalls öffentlich aufgehängt wurden. Zudem<br />

liess das auch me<strong>in</strong> Ehrgeiz nicht zu; ich hatte immer den<br />

Willen zum Siegen oder m<strong>in</strong>destens zu den Besten zu gehören,<br />

wenn e<strong>in</strong> Sieg von vornhere<strong>in</strong> nicht möglich schien.<br />

E<strong>in</strong> paar Tage später, als alle sich am Anschlagbrett darüber<br />

<strong>in</strong>formieren konnten, wie jeder E<strong>in</strong>zelne abgeschnitten hatte -<br />

dabei gab es nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung noch ke<strong>in</strong>e Schul-<br />

Meisterschaft für Mädchen -, musste ich mich nochmals ärgern,<br />

weil me<strong>in</strong> Name nicht elim<strong>in</strong>iert worden war, wie ich es erhofft<br />

hatte, sondern ganz unten mitaufgeführt wurde … mit e<strong>in</strong>er 0<br />

ganz h<strong>in</strong>ten. Ich weiss nicht mehr, wer diesen Wettkampf<br />

gewonnen hat, aber ich er<strong>in</strong>nere mich noch daran, dass er bei<br />

weitem den Schulrekord verfehlt hat, der bei 6,60 Metern stand<br />

<strong>und</strong> noch <strong>in</strong> den Dreissigerjahren erzielt worden war.<br />

Gemessen an der Weltelite schien das e<strong>in</strong>e lächerlich ger<strong>in</strong>ge<br />

Weite zu se<strong>in</strong>, aber nicht <strong>in</strong> der damaligen Zeit, weil der<br />

Weltrekordhalter Jesse Owens kurz zuvor nur etwa e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb<br />

Meter weiter gesprungen war, <strong>und</strong> auch unser schuleigener<br />

Rekordhalter war e<strong>in</strong> weitgehend untra<strong>in</strong>ierter Bursche<br />

gewesen, soweit es mir bekannt war.<br />

Im gleichen Jahr gab es auch noch e<strong>in</strong>en 600-Meter-Lauf, aber<br />

309


nur für die Burschen; schliesslich mass damals auch bei der<br />

Elite die längste Laufstrecke bei den Frauen nur 800 Meter, was<br />

heute völlig unvorstellbar ist. Bei dieser Diszipl<strong>in</strong> gab es ke<strong>in</strong>e<br />

Limite, es konnte also jeder Freiwillige teilnehmen. Wenn ich<br />

mich richtig er<strong>in</strong>nere, gab es zwei oder drei Vorläufe, <strong>und</strong> erst<br />

e<strong>in</strong> paar Tage später sollte der F<strong>in</strong>al stattf<strong>in</strong>den, der dann aber<br />

aus irgende<strong>in</strong>em Gr<strong>und</strong>, den wir nie erfuhren, nicht mehr<br />

ausgetragen wurde. Da ich immer noch ehrgeizig war <strong>und</strong><br />

zudem sah, dass viele Mädchen r<strong>und</strong> herum standen - darunter<br />

auch e<strong>in</strong>es, das mir besonders gefiel, aber es war nicht jenes,<br />

von dem ich oben bei Juon geschrieben habe -, wollte ich es<br />

besonders gut machen. Bevor das Rennen begann, bei dem<br />

mehrmals um den Fussballplatz gelaufen werden musste - wie<br />

viele Male genau, weiss ich heute nicht mehr -, wurde noch<br />

jeder e<strong>in</strong>zelne Läufer e<strong>in</strong>em bestimmten anderen vorgestellt,<br />

der für ihn die Zeit stoppen sollte. Tatsächlich wurde jeder von<br />

ihnen mit e<strong>in</strong>er Stoppuhr ausgerüstet, wie sie bei den offiziellen<br />

Läufen <strong>in</strong> den Stadien noch üblich waren, als auf den<br />

sogenannten Hühnerleitern beim Ziel noch mehrere hübsch<br />

aufe<strong>in</strong>andergereiht sassen, aber das verschwand nach der<br />

E<strong>in</strong>führung der elektronischen Zeitmessung bald von der<br />

Bildfläche.<br />

Ich gab also me<strong>in</strong> Bestes, um das Rennen zu gew<strong>in</strong>nen <strong>und</strong><br />

auch diesem Mädchen zu gefallen, wie ich glaubte, <strong>und</strong> führte<br />

das Feld auch tapfer lange an, aber ich unterschätzte die<br />

Distanz von immerh<strong>in</strong> 600 Metern, die damals immer noch als<br />

e<strong>in</strong>e Mittelstreckendiszipl<strong>in</strong> gegolten hätte, wenn es e<strong>in</strong>e<br />

offizielle Diszipl<strong>in</strong> gewesen wäre. Schon zwei Jahre zuvor - bei<br />

den Wettkämpfen auf der Sportanlage Sihlhölzli, wo unsere<br />

Klasse wie bei Keller erzählt das so wichtige Staffelrennen<br />

gewann - hatte ich gesehen, wie schwer e<strong>in</strong> solcher Lauf<br />

werden konnte. Ich weiss noch heute, dass e<strong>in</strong>er aus der dritten<br />

Klasse, der bei e<strong>in</strong>em Rennen über 1'000 Metern allen anderen<br />

weit vorauslief, das Ziel nach 3,07 M<strong>in</strong>uten erreichte, aber fast<br />

auf dem Zahnfleisch. Der damalige Weltrekord stand bei dieser<br />

310


nur selten gelaufenen Diszipl<strong>in</strong> bei 2:16,2 M<strong>in</strong>uten. Da ich wie<br />

schon erwähnt jahrelang verschiedene Rekordlisten führte <strong>und</strong><br />

immer wieder neu korrigierte, ist mir das noch bis heute im<br />

Gedächtnis geblieben.<br />

Da ich dieses Rennen über 600 Meter wegen me<strong>in</strong>er<br />

Unerfahrenheit also nicht allzu klug e<strong>in</strong>geteilt hatte, kam bald,<br />

was noch kommen musste: Ich wurde auf den letzten zwanzig<br />

Metern von e<strong>in</strong>em anderen Läufer überspurtet, dessen<br />

Familiennamen ich noch heute kenne, aber nicht mehr den<br />

Vornamen. Wieder e<strong>in</strong>mal wurde ich nur Zweiter, aber das wäre<br />

mir eigentlich gleich gewesen, wenn nachher e<strong>in</strong> anderer, der<br />

wusste, wie ehrgeizig ich war, mich deswegen nicht mehrmals<br />

hochgenommen hätte. Ich weiss nicht mehr, ob es im<br />

darauffolgenden Jahr noch weitere solche Rennen über diese<br />

Distanz gegeben hat, weil auch nie darüber geredet wurde <strong>und</strong><br />

ich nach me<strong>in</strong>er enttäuschenden Erfahrung auch ke<strong>in</strong>e Lust<br />

mehr gehabt hätte, daran teilzunehmen. Dafür weiss ich umso<br />

mehr, dass zwei Jahre später gleich direkt e<strong>in</strong> F<strong>in</strong>al stattfand,<br />

also ohne, dass sich irgendjemand über e<strong>in</strong>en Vorlauf hatte<br />

qualifizieren müssen.<br />

Im Gegensatz zum Rennen zwei Jahre zuvor war es mir<br />

diesmal von vornhere<strong>in</strong> klar, dass ich im besten Fall nur Dritter<br />

werden konnte, weil ganz vorn zwei liefen, von denen ich<br />

wusste, dass sie sehr gut <strong>und</strong> kaum zu schlagen waren. Der<br />

e<strong>in</strong>e, der standesgemäss auch gewann, war der spätere<br />

Direktor von Swiss-Ski, der unser bester Sportler war <strong>und</strong> oft<br />

auch abends spät mit e<strong>in</strong>er Taschenlampe noch tra<strong>in</strong>ierte, <strong>und</strong><br />

der andere war e<strong>in</strong>er aus me<strong>in</strong>er Klasse - der Gleiche, welcher<br />

der Mannschaft «Ausland 13» angehörte. Ich konzentrierte<br />

mich also von Anfang an darauf, den dritten Platz zu halten,<br />

<strong>und</strong> bekam dabei erstaunlicherweise auch Unterstützung von<br />

e<strong>in</strong> paar Mädchen, die von draussen mehrmals "Hopp Juha!"<br />

riefen. Das war das e<strong>in</strong>zige Mal, dass ich so etwas erlebte, aber<br />

es half mir tatsächlich. Kurz bevor wir das Ziel erreichten,<br />

311


merkte ich, dass zwei andere sowohl l<strong>in</strong>ks als auch rechts<br />

versuchten, mich noch zu überholen, <strong>und</strong> ich musste mich<br />

gewaltig anstrengen <strong>und</strong> schaffte es gerade noch. Nachher<br />

musste ich mich fast übergeben, weil mir so speiübel war, aber<br />

ich hatte me<strong>in</strong> Ziel erreicht, <strong>und</strong> nur das zählte für mich.<br />

E<strong>in</strong> Jahr nachdem ich die Endläufe über 100 Meter so knapp<br />

verpasst hatte, wurde diese Diszipl<strong>in</strong> aus e<strong>in</strong>em Gr<strong>und</strong>, den wir<br />

nie erfahren haben, durch e<strong>in</strong>en Lauf über nur 80 Meter ersetzt,<br />

aber auch dieser hatte es <strong>in</strong> sich, weil er ebenfalls e<strong>in</strong>e Limite<br />

hatte, an der ich bei jedem Versuch <strong>in</strong> jedem Jahr scheiterte:<br />

Ich lief immer genau zehn Sek<strong>und</strong>en, aber es gelang mir nie,<br />

diese Zeit zu unterbieten, so sehr ich mich auch anstrengte.<br />

Wer hier der Schnellste war, habe ich nie herausbekommen,<br />

auch deshalb nicht, weil ab dem Beg<strong>in</strong>n der Siebzigerjahre<br />

zum<strong>in</strong>dest offiziell ke<strong>in</strong>e Rekordlisten mehr geführt wurden;<br />

sicher ist jedoch, dass «Lupo», der diese Schule immer moch<br />

besuchte, auch jetzt wieder zu den Schnellsten gehörte.<br />

Daneben wurden auch noch andere Diszipl<strong>in</strong>en betrieben, die<br />

aber wegen der Läufe fast unterg<strong>in</strong>gen. So weiss ich noch<br />

heute gut, dass ich e<strong>in</strong>mal sogar e<strong>in</strong>en Speer warf <strong>und</strong> dabei<br />

fast dreissig Meter erreichte, während ich im Kugelstossen e<strong>in</strong>e<br />

Kugel, die vier Kilo schwer war - also e<strong>in</strong>e solche, die sowohl <strong>in</strong><br />

jener Zeit als auch heute von den Frauen verwendet wird -,<br />

über mehr als neun Meter stiess, genauer zwischen 9,20 <strong>und</strong><br />

9,30 Meter, aber die ganz genaue Weite weiss ich nicht mehr.<br />

Natürlich war das im Vergleich zu den Frauen, die diesen Sport<br />

ausüben <strong>und</strong> von denen viele mehr als zehn Meter weiter<br />

stossen als ich <strong>in</strong> jenem Jahr, e<strong>in</strong>e lächerlich kurze Weite, aber<br />

man konnte von e<strong>in</strong>em untra<strong>in</strong>ierten 16-jährigen Burschen, der<br />

an diesem Tag zum ersten <strong>und</strong> auch letzten Mal e<strong>in</strong> solche<br />

Kugel <strong>in</strong> den Händen hatte, auch nicht mehr erwarten.<br />

Was den Hochsprung betrifft, gab es zwar e<strong>in</strong>e solche Anlage,<br />

aber ich betrieb diese Diszipl<strong>in</strong> auch deshalb nicht mehr richtig,<br />

312


weil die Er<strong>in</strong>nerungen an den verkrampften Wettkampf <strong>in</strong><br />

<strong>Zürich</strong>, bei dem ich erst im allerletzten Versuch 1,35 Meter<br />

geschafft hatte, immer noch frisch waren, <strong>und</strong> zudem hatte ich<br />

die harten Sandgruben satt. Allerd<strong>in</strong>gs wurde der Hochsprung<br />

immer noch betrieben - von anderen, bei denen sogar e<strong>in</strong> paar<br />

Aufnahmen gemacht wurden, die ich erst e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte<br />

später zu Gesicht bekam, als sich mit dem ehemaligen<br />

Schlagzeuger unserer Schülerband aus verschiedenen<br />

Gründen wieder e<strong>in</strong> Kontakt ergab. Das war umso<br />

erstaunlicher, als wir <strong>in</strong> unserer <strong>Trogen</strong>er Zeit nur zweimal kurz<br />

mite<strong>in</strong>ander schwatzten, <strong>und</strong> der eigentliche Witz der<br />

Geschichte war, dass er sich genauso wie T<strong>in</strong>o nicht mehr an<br />

mich er<strong>in</strong>nerte, als unser Kontakt begann, der von mir<br />

e<strong>in</strong>gefädelt worden war. Ich frage mich noch heute, wie es<br />

diese Burschen, die tatsächlich mit dem neu e<strong>in</strong>geführten Flop<br />

den Hochsprung betrieben, wie es diese Aufnahmen zeigen,<br />

geschafft hatten, sich nicht die Hälse zu brechen, aber ich<br />

nehme an, dass sie besondere Schutzmatten verwenden<br />

durften, die nicht zu sehen s<strong>in</strong>d. Der Hochsprung wurde also<br />

noch tra<strong>in</strong>iert, aber er war <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er <strong>Trogen</strong>er Zeit nie<br />

obligatorisch. Es fehlte sowieso die Zeit, um alles betreiben zu<br />

können. Wenn überhaupt jemand auf unserem Sportplatz<br />

tra<strong>in</strong>ierte, der nicht unbeschränkt benützt werden durfte, waren<br />

es fast nur solche, die noch von e<strong>in</strong>er grossen Karriere als<br />

Fussballer träumten, aber zu diesen zählte ich mich nie; ich<br />

spielte zwar immer gern Fussball, doch <strong>in</strong> diesem Bereich hatte<br />

ich ke<strong>in</strong>e ehrgeizigen Ziele, weil ich hier me<strong>in</strong>e beschränkten<br />

Fähigkeiten gut genug kannte.<br />

In me<strong>in</strong>en ersten <strong>Trogen</strong>er Jahren wurden also noch<br />

Schulrekorde geführt, aber erstaunlicherweise nur bei den<br />

Burschen; dementsprechend gab es nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung<br />

nur für sie richtige Schul-Meisterschaften. Auch <strong>in</strong> dieser<br />

Beziehung zeigte es sich offen, dass man bei den Mädchen<br />

noch nicht so weit war. Die Rekorde über 100 Meter <strong>und</strong> im<br />

Weitsprung habe ich schon erwähnt, <strong>und</strong> daneben wurde auch<br />

313


e<strong>in</strong>er im Hochsprung geführt, der bei 1,80 Metern stand.<br />

Während ich den Rekordhalter über die Spr<strong>in</strong>tdistanz, der Luigi<br />

hiess <strong>und</strong> deshalb den oben erwähnten Spitznamen «Lupo»<br />

bekam - er war genauso wie ich e<strong>in</strong> halber Schweizer, hatte<br />

aber e<strong>in</strong>e italienische Mutter -, persönlich kannte <strong>und</strong> auch <strong>in</strong><br />

späteren Jahren noch zweimal auf der Strasse traf, kannte ich<br />

von jenem im Weitsprung wenigstens se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>zwischen<br />

ebenfalls verstorbenen Sohn, der von W<strong>in</strong>terthur kam <strong>und</strong> nach<br />

guter alter Familientradition diese Schule ebenfalls besuchte. Er<br />

war es, der den oben erwähnten Vornamen Tilo trug, der so<br />

deutlich war, dass er ke<strong>in</strong>en Spitznamen brauchte, aber leicht<br />

mit «T<strong>in</strong>o» verwechselt werden konnte.<br />

Auch den Rekordhalter im Hochsprung kannte ich persönlich,<br />

weil er <strong>in</strong> der gleichen Pension wie ich wohnte, aber nur e<strong>in</strong><br />

paar Wochen, weil unsere Schlummermutter ihn nach e<strong>in</strong>em<br />

Streit, den er vor allen anderen am Tisch ausgetragen hatte, zu<br />

me<strong>in</strong>er grossen Überraschung schon e<strong>in</strong>en Tag später<br />

ausschloss, doch erst nachdem sie direkt unter dem Zimmer,<br />

das ich mit e<strong>in</strong>em anderen teilte, noch st<strong>und</strong>enlang mit ihm<br />

diskutiert hatte. Im Vergleich zu diesem Schüler, der nachher <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er anderen Pension unterkam <strong>und</strong> die Maturaprüfungen<br />

bestand, waren drei andere, von denen zwei nach diesem<br />

Rauswurf e<strong>in</strong>zogen, für me<strong>in</strong>en Geschmack viel schlimmer, <strong>und</strong><br />

dabei hatte e<strong>in</strong>er der beiden Neuen sogar noch das Recht<br />

bekommen, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Zimmer oben e<strong>in</strong>en Dalmat<strong>in</strong>erh<strong>und</strong><br />

namens Extor unterzubr<strong>in</strong>gen, der allerd<strong>in</strong>gs nach e<strong>in</strong>em Jahr<br />

starb - wohl auch wegen dieser wirklich seltsamen Haltung. Da<br />

er auffallend lange dort oben verbr<strong>in</strong>gen musste, heulte er<br />

natürlich immer wieder, so dass es bei uns unten jedes Mal<br />

hiess: "Extor s<strong>in</strong>gt wieder e<strong>in</strong> Liedchen." Wenn ich mich richtig<br />

er<strong>in</strong>nere, g<strong>in</strong>g manchmal sogar e<strong>in</strong>er von uns mit dem H<strong>und</strong><br />

Gassi, wenn se<strong>in</strong> Besitzer verh<strong>in</strong>dert war, aber meistens<br />

besorgte er das selbst. Sowohl mit ihm als auch mit den beiden<br />

anderen muss unsere Schlummermutter jedoch gewaltige<br />

Probleme gehabt haben, sonst hätte sie e<strong>in</strong>er Gruppe von uns,<br />

314


mit der sie sich besser verstand, im Frühl<strong>in</strong>g 1972, als alle drei<br />

zusammen auszogen, nicht diese bemerkenswerten Worte<br />

gesagt: "Ich b<strong>in</strong> sehr erleichtert, dass gerade die drei, die mich<br />

gehasst haben, jetzt endlich ausgezogen s<strong>in</strong>d."<br />

Wieder zurück zur Leichtathletik: Natürlich wurde auch noch e<strong>in</strong><br />

Rekord über die 600 Meter geführt. Ich er<strong>in</strong>nere mich nicht<br />

mehr an den Namen des Rekordhalters, aber auch nicht mehr<br />

an die genaue Zeit; ich weiss nur noch, dass sie zwischen 1,20<br />

<strong>und</strong> 1,30 M<strong>in</strong>uten stand. Daneben wurde auch noch e<strong>in</strong> Rekord<br />

über 100 Meter Hürden geführt, der genauso wie jener im<br />

Weitsprung noch aus den Dreissigerjahren stammte; als ich <strong>in</strong><br />

diese Schule e<strong>in</strong>trat, war diese Diszipl<strong>in</strong> viele Jahre zuvor<br />

bereits abgeschafft worden. Ich er<strong>in</strong>nere mich zwar nicht mehr<br />

an die genaue Zeit, aber wenigstens noch an den Namen des<br />

Rekordhalters. Das erwähne ich auch deshalb, weil wir <strong>in</strong> der<br />

sechsten Klasse e<strong>in</strong>mal die Gelegenheit bekamen, e<strong>in</strong>e Gruppe<br />

von ehemaligen Schülern zu treffen, die über ihre Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> ihr späteres Studium <strong>und</strong> Berufsleben erzählten. E<strong>in</strong>er war<br />

sogar extra aus dem kle<strong>in</strong>en Staat Texas angereist, wie er ihn<br />

ironisch nannte, <strong>und</strong> e<strong>in</strong> anderer war eben der Rekordhalter<br />

über diese Diszipl<strong>in</strong> - <strong>und</strong> wenn er es doch nicht war, trug er<br />

wenigstens den gleichen Familiennamen. Heute b<strong>in</strong> ich selbst<br />

im gleichen Alter, das diese Herren vor mehr als fünfzig Jahren<br />

hatten - aber eben, ich habe halt ke<strong>in</strong>e steile akademische<br />

Laufbahn h<strong>in</strong>gelegt, b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> reicher Geschäftsmann <strong>und</strong> auch<br />

ke<strong>in</strong> bekannter Spitzensportler, Filmschauspieler oder Sänger<br />

geworden; also b<strong>in</strong> ich für e<strong>in</strong>en solchen Erfahrungsaustausch<br />

für jene, die das entscheiden, auch trotz dieses<br />

Er<strong>in</strong>nerungsbuches, das ich als E<strong>in</strong>ziger verfasst habe, zu<br />

wenig <strong>in</strong>teressant.<br />

Daneben wurde nicht nur Leichtathletik betrieben <strong>und</strong> Fussball<br />

gespielt, sondern auch noch Handball, aber nur am Rande.<br />

Was viel mehr zum Zug kam, war Basketball, für den sogar<br />

jedes Jahr um die Jahreswende e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Turnier veranstaltet<br />

315


wurde. Dabei kam unsere Mannschaft, die aus verschiedenen<br />

Klassen zusammengestellt wurde, zweimal sogar <strong>in</strong> den F<strong>in</strong>al -<br />

<strong>und</strong> verlor auch zweimal ziemlich deutlich. Ich wäre also wieder<br />

zweimal Zweiter geworden, aber ich verpasste beide F<strong>in</strong>alspiele<br />

aus ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen.<br />

Es gab wie oben im Vorwort erwähnt sogar drei schuleigene<br />

Sportvere<strong>in</strong>e: E<strong>in</strong>en Fussballclub <strong>Trogen</strong> (FCT), e<strong>in</strong>en Skiclub<br />

<strong>Trogen</strong> (SCT), der neben dem offiziellen <strong>und</strong> nicht nur aus<br />

Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schülern bestehenden Skiclub <strong>Trogen</strong>-Gäbris<br />

(SCTG) existierte, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en Kantonsschul-Turnvere<strong>in</strong> (KTV),<br />

der nicht mit dem bei Durisch erwähnten KVT verwechselt<br />

werden durfte. Mit den beiden Letztgenannten hatte ich nie<br />

etwas zu tun, weil ich genauso wie von den Comitia-Leuten<br />

nicht gefragt wurde, ob ich ihnen beitreten wolle. Dafür hatte ich<br />

umso mehr mit dem FCT zu tun, der nur deshalb nicht offiziell<br />

e<strong>in</strong>getragen war, weil er an ke<strong>in</strong>er Meisterschaft teilnahm; die<br />

paar Grümpelturniere, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>e Mannschaft von uns<br />

mitspielte - zweimal war auch ich selbst dabei -, zählten nicht<br />

dazu, weil diese nur Schul-Meisterschaften waren.<br />

Ich weiss das alles auch deshalb noch so gut, weil ich<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Jahr lang für die F<strong>in</strong>anzen dieses M<strong>in</strong>i-Vere<strong>in</strong>s<br />

zuständig war <strong>und</strong> <strong>in</strong> diesem e<strong>in</strong>en Jahr dafür sorgen musste,<br />

dass am Auffahrtstag nach dem Fussballturnier für den<br />

Tanzabend genügend Getränke zur Verfügung standen, <strong>und</strong><br />

manchmal schenkte ich auch selbst aus. Ich staune noch heute<br />

darüber, dass ich das schaffte <strong>und</strong> überhaupt dazu fähig war.<br />

Die Getränke bestellte ich im grössten Lebensmittelgeschäft<br />

von <strong>Trogen</strong>, das direkt gegenüber dem Café Oberson lag, <strong>und</strong><br />

ich weiss noch heute gut, dass ich nur dafür schauen musste,<br />

dass die Harrassen mit den Flaschen bis zur Turnhalle h<strong>in</strong>unter<br />

transportiert wurden, aber selbst musste ich nicht mit anpacken.<br />

Ich habe es oben angedeutet: Da dieser Vere<strong>in</strong> so kle<strong>in</strong> war,<br />

konnte er sich auf die Dauer nicht halten; heute gibt es ihn<br />

genauso wie den KTV nicht mehr, dagegen sehr wohl noch den<br />

SCT.<br />

316


Wie ich es oben schon erwähnt habe, wurden fast jedes Jahr<br />

auch Skirennen ausgetragen; ob diese nur vom schuleigenen<br />

SCT oder auch mit Hilfe des offiziellen SCTG organisiert<br />

wurden, habe ich nie genau erfahren, weil ich zu diesen Leuten<br />

ke<strong>in</strong>en Kontakt hatte. Diese Rennen waren deshalb noch<br />

möglich, weil der Gäbris dafür noch genug Schnee hatte <strong>und</strong><br />

wir zudem auch noch e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Skilift benützen konnten,<br />

aber ich nahm an diesen nie teil. Ich schaute zwar immer gern<br />

Rennen im Fernsehen, aber selbst h<strong>in</strong>unterzudonnern oder sich<br />

um Slalomstangen zu w<strong>in</strong>den war nichts für mich. Dafür nahm<br />

ich zu Beg<strong>in</strong>n des Jahres 1969, also mit fünfzehn Jahren, an<br />

e<strong>in</strong>em Langlauf-Rennen <strong>in</strong> der Nähe von <strong>Trogen</strong> teil, <strong>und</strong><br />

solange ich dort wohnte, war es auch das e<strong>in</strong>zige. Es hatten<br />

sich nur fünf Schüler angemeldet, was wohl mit e<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong> dafür<br />

war, dass nachher ke<strong>in</strong> solches Rennen mehr organisiert<br />

wurde. Auch hier war es mir genauso wie beim 600-Meter-Lauf<br />

zweie<strong>in</strong>halb Jahre später von vornhere<strong>in</strong> klar, dass ich gegen<br />

zwei von ihnen ke<strong>in</strong>e Chance hatte <strong>und</strong> nur daran denken<br />

konnte, den dritten Rang zu erzielen. E<strong>in</strong>er dieser beiden war<br />

der Gleiche, der den oben geschilderten F<strong>in</strong>al über 600 Meter<br />

gewann <strong>und</strong> später der Direktor von Swiss-Ski wurde, <strong>und</strong><br />

schon kurz nach me<strong>in</strong>em Start hörte ich von h<strong>in</strong>ten, wie e<strong>in</strong>er<br />

von ihnen rief oder genauer befahl: "Würdest du bitte Platz<br />

machen!" Also tat ich wie geheissen, <strong>und</strong> schon zogen die<br />

beiden an mir vorbei <strong>und</strong> machten den Sieg unter sich aus.<br />

Ich weiss noch heute gut, dass diesmal nicht unser Superläufer<br />

gewann, sondern der andere, der die dritte Sek<strong>und</strong>arklasse<br />

besuchte <strong>und</strong> deshalb die Schule kurz darauf verliess.<br />

Wenigstens konnte ich wie geplant den dritten Platz erreichen,<br />

was eigentlich nicht allzu schwer war, weil die beiden anderen,<br />

die ich schlagen konnte, zwei aus me<strong>in</strong>er Klasse waren. Der<br />

e<strong>in</strong>e von ihnen war Tobis älterer Sohn, der mich kurz nach<br />

me<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> diese Schule wie oben erwähnt fast als<br />

E<strong>in</strong>ziger auffallend fre<strong>und</strong>lich begrüsste, <strong>und</strong> der andere sagte<br />

schon damals immer, er wolle e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Chirurg werden. Erst<br />

317


vor kurzem habe ich ausserhalb des Internets über e<strong>in</strong>en<br />

anderen Kontakt erfahren, dass er dieses Ziel zwar nicht<br />

erreicht hat, aber trotzdem e<strong>in</strong> Arzt geworden ist. Zu beiden<br />

hatte ich dank des Internet-Portals StayFriends, von dem ich<br />

mich aus verschiedenen Gründen aber wieder abgemeldet<br />

habe, e<strong>in</strong>en neuen lockeren Kontakt, der <strong>in</strong>zwischen aber<br />

wieder versandet ist.<br />

Wieder zurück zu Knall: Genauso wie Keller <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> war er<br />

unsere graue Em<strong>in</strong>enz im H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>. Auch wenn er nicht<br />

immer gesehen wurde, wussten wir alle, dass er immer dabei<br />

war, weil er auch im hohen Alter immer noch sportbegeistert<br />

war <strong>und</strong> sich nichts entgehen lassen wollte. Dass er immer gern<br />

unter jungen Leuten war, zeigte er auch dadurch, dass es ihm<br />

nichts ausmachte, an den Tanzabenden mitten unter uns zu<br />

verkehren <strong>und</strong> die zum Teil überlaute Musik auf sich<br />

e<strong>in</strong>dröhnen zu lassen. Dabei hatte er als E<strong>in</strong>ziger der <strong>Lehrer</strong>,<br />

die ich <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> kennen lernte, nicht nur den Zweiten, sondern<br />

auch noch den Ersten Weltkrieg als Erwachsener miterlebt; er<br />

war also auch <strong>in</strong> dieser Beziehung unserem noch amtierenden<br />

Rektor voraus, der <strong>in</strong> den Jahren des Ersten Weltkriegs noch<br />

e<strong>in</strong> Jugendlicher gewesen war.<br />

Diese Aufgeschlossenheit <strong>und</strong> Offenheit gegenüber der<br />

Jugend, aber natürlich auch se<strong>in</strong>e stets gute Arbeit als<br />

Hauswart wurden im Herbst 1970 an e<strong>in</strong>em Tanzabend belohnt.<br />

Ausgerechnet an diesem Tag feierte er se<strong>in</strong>en 80. Geburtstag,<br />

was auch über das Mikrofon laut verkündet wurde. Darauf<br />

bekam er e<strong>in</strong>en auffallend lauten Beifall, der von Herzen kam.<br />

Ich selbst klatschte zwar nicht mit wie wenige Monate zuvor bei<br />

Juon an den beiden Schülerabenden, an denen ich mitgewirkt<br />

hatte, aber ich nahm ihm diese Geschichte mit den Nullern im<br />

Weitsprung auch nicht mehr übel. Nachher lebte er noch sechs<br />

weitere Jahre, also brachte es auch er auf fast neunzig.<br />

318


Remo<br />

Mit diesem ebenso kle<strong>in</strong> gewachsenen Herrn wie Knall beg<strong>in</strong>ne<br />

ich den Reigen der drei <strong>Lehrer</strong>, die im Gegensatz zu diesem<br />

noch aktiv unterrichteten, aber nicht unsere Klasse. Se<strong>in</strong><br />

Familienname <strong>und</strong> auch se<strong>in</strong>e Aussprache deuteten an, dass er<br />

nicht von der Schweiz stammte, <strong>und</strong> tatsächlich war er e<strong>in</strong><br />

Franzose - oder genauer e<strong>in</strong> Elsässer, wie es hiess. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

sprach er nicht re<strong>in</strong>en Elsässer Dialekt, wie ich e<strong>in</strong>mal<br />

herausfand, als ich es das e<strong>in</strong>zige Mal direkt mit ihm zu tun<br />

hatte. Ich glaube noch heute, dass se<strong>in</strong>e Muttersprache - oder<br />

bestbeherrschte Sprache, wie es heute heisst - Französisch<br />

war <strong>und</strong> er selbst der M<strong>in</strong>derheit der sogenannten echten<br />

Franzosen <strong>in</strong>nerhalb des Elsass angehörte. Das Gleiche galt<br />

auch für Lothr<strong>in</strong>gen, wo e<strong>in</strong> Bekannter von mir aufgewachsen<br />

ist, der mir e<strong>in</strong>mal sagte, dass dort noch vor vierzig Jahren<br />

mehr Deutsch als Französisch gesprochen wurde. Gerade<br />

deshalb hat auch er davon profitiert; jedenfalls spricht er<br />

hervorragend Deutsch, wenn auch mit e<strong>in</strong>em starken<br />

französischen Akzent.<br />

Genau das Gleiche traf auf Remo zu. Da er also vom Elsass<br />

stammte, hatte er gleich zwei Vorteile aufzuweisen: E<strong>in</strong>erseits<br />

hatte auch er so wie alle anderen <strong>Lehrer</strong> <strong>in</strong> dieser Schule<br />

Deutsch als Gr<strong>und</strong>lage, andererseits aber auch Französisch,<br />

was er denn auch gut ausnützte. So unterrichtete er<br />

Französisch, <strong>und</strong> zwar als e<strong>in</strong>ziges Fach <strong>und</strong> ziemlich <strong>in</strong>tensiv.<br />

Dementsprechend waren se<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>en streng, wie es immer<br />

hiess, aber nur aus der Sicht der Oberrealschüler, die im<br />

Bereich der Sprachen angeblich e<strong>in</strong> bisschen weniger streng<br />

bewertet wurden als die Gymnasiasten. Ich habe nie mit<br />

Sicherheit herausgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> auch nie danach gefragt, ob er<br />

aus diesem Gr<strong>und</strong> fast nur die Oberrealschüler unterrichtete. Im<br />

"Monumentum", von dem ich oben geschrieben habe, kamen<br />

E<strong>in</strong>zelheiten vor, die nur solche wissen konnten, die bei ihm<br />

selbst Unterricht gehabt hatten, aber es ist anzunehmen, dass<br />

319


die Gymnasiasten zwar die Hauptarbeit an diesem Werk<br />

verrichtet hatten, aber nicht ohne die Hilfe <strong>und</strong> das Mitwissen<br />

von Oberrealschülern.<br />

Gerade deshalb, weil von diesen, deren Schwergewicht auf der<br />

Mathematik <strong>und</strong> den naturwissenschaftlichen Fächern lag, nicht<br />

erwartet werden durfte, dass sie auch im Französischen<br />

glänzten, zog sich der Unterricht bei Remo regelmässig<br />

schleppend dah<strong>in</strong>; jedenfalls habe ich es nie anders gehört.<br />

Dafür soll er sich umso mehr tierisch gefreut haben, wenn sich<br />

e<strong>in</strong>mal jemand freiwillig meldete, um etwas zu sagen, weil das<br />

aus se<strong>in</strong>er Sicht immer e<strong>in</strong> Höhepunkt war. Die negative Seite<br />

ist die, dass es von ihm immer hiess, er würde sich auffallend<br />

viel die Haare kratzen <strong>und</strong> anderes tun, das ich hier lieber nicht<br />

erwähne. Trotzdem soll er immer wieder dieses oder ähnliches<br />

ausgerufen haben: "Messieurs, vous n'avez vraiment pas<br />

d'éducation!" ("<strong>Me<strong>in</strong>e</strong> Herren, Sie haben wahrhaftig ke<strong>in</strong>e<br />

Erziehung!"). Zugleich soll er immer wieder "ihr Seggel!" gesagt<br />

haben - e<strong>in</strong>e Verballhornung e<strong>in</strong>es typisch schweizerischen<br />

Kraftausdrucks, den ich lieber nicht genau wiedergebe, aber es<br />

hiess andererseits, dass er das selten wirklich bös, sondern<br />

manchmal sogar fast liebevoll me<strong>in</strong>te. Der weniger schöne<br />

Gipfel war jedoch, dass er e<strong>in</strong>en Schüler immer als "Facteur"<br />

ansprach, weil dessen Vater im Nachbardorf Speicher "nur" e<strong>in</strong><br />

Briefträger war.<br />

Warum ich überhaupt etwas über Remo schreibe, mit dem ich<br />

eigentlich nie zu tun hatte, liegt <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>zigen<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung, die ich mit ihm hatte. Ich weiss nicht mehr<br />

genau, warum es dazu kam, dass er mich von se<strong>in</strong>em Auto aus<br />

bös anschnauzte, als ich an e<strong>in</strong>em Samstag mit vielen anderen<br />

<strong>in</strong> der <strong>Trogen</strong>er Bahn sass, um wieder e<strong>in</strong>mal nach St.Gallen<br />

<strong>und</strong> von dort aus nach <strong>Zürich</strong> zu fahren. Die Bahn stand gerade<br />

still - doch nicht <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> selbst, sondern etwas ausserhalb <strong>in</strong><br />

der Nähe des Nachbardorfes Speicher, wie ich noch heute<br />

weiss -, also musste auch se<strong>in</strong> Auto stillstehen. Nachdem ich<br />

320


also schwer gesündigt hatte, kurbelte er das Fenster herunter<br />

<strong>und</strong> fauchte mich an, <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mischung aus<br />

Hochdeutsch <strong>und</strong> Elsässisch. Dann fuhr er weiter <strong>und</strong> ich wurde<br />

von mehreren Mitschülern hochgenommen, <strong>in</strong>dem sie sagten:<br />

"Oh je, du Armer! Jetzt bekommst du ke<strong>in</strong>e guten Noten mehr."<br />

Ich konnte sie wieder beruhigen, als ich ihnen sagte, dass ich<br />

nicht zu ihm <strong>in</strong> die Französisch-St<strong>und</strong>en g<strong>in</strong>g, sondern zu<br />

Bouton.<br />

Das war also die e<strong>in</strong>zige Szene, <strong>in</strong> der ich es mit Remo direkt<br />

zu tun bekam, aber <strong>in</strong>direkt setzte sich unser Kontakt fort, <strong>und</strong><br />

zwar durch se<strong>in</strong>en Sohn, der diese Schule ebenfalls besuchte<br />

<strong>und</strong> drei Klassen unter mir <strong>und</strong> damit der E<strong>in</strong>zige unter den<br />

«Jungen» war, mit dem ich direkt zu tun hatte. Mit diesem kam<br />

ich erstaunlich gut aus, unsere Wege kreuzten sich immer<br />

wieder <strong>und</strong> jedes Mal begrüsste er mich auffallend fre<strong>und</strong>lich.<br />

Trotzdem reichte unser Kontakt nie so weit, dass ich e<strong>in</strong>mal<br />

direkt se<strong>in</strong>em Vater vorgestellt wurde, geschweige denn das<br />

Haus besuchen konnte, <strong>in</strong> dem die Familie wohnte, ja, ich habe<br />

auch se<strong>in</strong>en Vornamen nie gekannt, aber ihn auch nie danach<br />

gefragt. Die meisten <strong>Lehrer</strong> besassen e<strong>in</strong> eigenes Häuschen,<br />

aber ob auch er e<strong>in</strong>es hatte, wusste ich damals nicht mit<br />

Sicherheit. Erst vor kurzem, als ich wie oben erwähnt wieder<br />

neue Kontakte zu ehemaligen Mitschülern bekam, habe ich<br />

erfahren, dass auch er e<strong>in</strong>e Pension führte; also hatte er sicher<br />

e<strong>in</strong> eigenes Heim.<br />

Bei all se<strong>in</strong>er Intelligenz <strong>und</strong> Bildung hatte Remo nie daran<br />

gedacht, dass e<strong>in</strong>es Tages e<strong>in</strong>e Retourkutsche auf ihn<br />

zukommen könnte, aber genau das traf e<strong>in</strong>: Noch bevor das<br />

"Monumentum", <strong>in</strong> dem er ebenfalls überwiegend schlecht<br />

dargestellt wurde, <strong>in</strong> der Schule verteilt wurde, sprayten e<strong>in</strong><br />

paar Maturanden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Nacht- <strong>und</strong> Nebelaktion auf dem<br />

e<strong>in</strong>zigen Weg zwischen den drei Schulhäusern für alle gut<br />

sichtbar Worte auf den Boden, die er oft gesagt haben soll: Ich<br />

werde Sie quäle, bis Sie Blut pisse. Tatsächlich sprach er das<br />

321


"n" am Schluss nie aus, wie es hiess, aber auch das war e<strong>in</strong>e<br />

Mischung aus Hochdeutsch <strong>und</strong> Elsässisch. Die Worte wurden<br />

zwar schnell wieder weggewischt, aber der Schaden war<br />

bereits angerichtet - von diesem Tag an war Remo im wahrsten<br />

S<strong>in</strong>n des Wortes gekennzeichnet. Der Schock war für ihn derart<br />

gross, dass er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er St<strong>und</strong>e sogar we<strong>in</strong>te, wie es ebenfalls<br />

hiess. Von diesem Zeitpunkt an soll er viel zahmer <strong>und</strong> lieber<br />

gewesen se<strong>in</strong>, aber weil ich ihn selbst nie im Unterricht erlebt<br />

habe, kann ich das nicht bestätigen.<br />

Obwohl seit diesem Tag mehr als e<strong>in</strong> halbes Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

vergangen ist, habe ich auch das nie vergessen. Viele von uns<br />

fanden schon damals, dass diese Aktion der Maturanden, zu<br />

denen auch der im Vorwort erwähnte Guy mit se<strong>in</strong>er lauten<br />

Röhre gehörte <strong>und</strong> die sich nachher davonmachen konnten,<br />

völlig daneben war, ja, ich sage noch heute, dass sie auch feige<br />

war, <strong>und</strong> es spricht für sich, dass es gerade <strong>in</strong> der<br />

Maturandenklasse von 1970 unter den Gymnasiasten neben<br />

diesem Guy auch noch andere Grossmäuler gab. Es ist zwar<br />

berechtigt, <strong>Lehrer</strong> zu kritisieren, wenn sie offensichtliche Fehler<br />

begehen, aber sie auf diese Weise blosszustellen, sagt vieles<br />

auch über Charaktere aus. Dazu gehörte auch, dass Remo im<br />

"Monumentum" als Franke <strong>und</strong> nicht als Elsässer bezeichnet<br />

wurde, <strong>und</strong> das war ke<strong>in</strong> Druckfehler. Zu diesem Zeitpunkt hatte<br />

diese Klasse die oben bei Schorsch II erwähnte Maturawoche<br />

auf dem Gäbris bereits h<strong>in</strong>ter sich gebracht, so dass der<br />

<strong>Lehrer</strong>konvent von dieser pe<strong>in</strong>lichen Verwechslung noch nichts<br />

wissen konnte, aber im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> kann ich die <strong>Lehrer</strong><br />

teilweise auch verstehen: Wer im eigenen deutschen<br />

Sprachraum nicht e<strong>in</strong>mal fähig ist, e<strong>in</strong>en Franken von e<strong>in</strong>em<br />

Elsässer zu unterscheiden - das wäre schon damals auch ohne<br />

Internet <strong>und</strong> YouTube möglich gewesen, schliesslich gab es <strong>in</strong><br />

dieser Richtung genug Radio- <strong>und</strong> Fernsehprogramme, <strong>und</strong><br />

zudem hätten auch damals Fragen nichts gekostet -, kann auch<br />

<strong>in</strong> London se<strong>in</strong>en persönlichen geistigen Horizont nicht<br />

erweitern.<br />

322


Bei diesem ganzen Theater im wahrsten S<strong>in</strong>n des Wortes g<strong>in</strong>g<br />

fast unter, dass Remo wirklich auch etwas konnte. Da es der<br />

Leiter des Knabenkonvikts immer wieder verstand, sich <strong>in</strong> den<br />

Vordergr<strong>und</strong> zu drängen, glaubten neben mir tatsächlich noch<br />

viele andere, dass dieser im Jahr 1970 der Hauptregisseur des<br />

Stücks "Britannicus" war, von dem ich oben bei Juon<br />

geschrieben habe. In Wirklichkeit war es Remo, der als e<strong>in</strong><br />

halber Franzose e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Wettbewerbsvorteil hatte,<br />

obwohl angenommen werden konnte, dass der andere, der ab<br />

dem Jahr 1972 se<strong>in</strong>en Posten übernahm - im Vorjahr fiel das<br />

Theaterstück wegen der bei Pieps <strong>und</strong> Schmuh erwähnten<br />

Kantate ja aus -, als Französischlehrer die Orig<strong>in</strong>alsprache<br />

dieses Stücks ebenfalls gut genug kannte.<br />

Da Remo etwa das Alter von Sulz <strong>und</strong> Durisch hatte <strong>und</strong> damit<br />

zu den jüngeren <strong>Lehrer</strong>n gehörte, lebte auch er<br />

dementsprechend länger als die älteren Kollegen, <strong>und</strong> auch er<br />

ist wie die meisten anderen <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> hängen geblieben - <strong>und</strong><br />

auch er als e<strong>in</strong> KVT-Mitglied. Was aus se<strong>in</strong>em Sohn geworden<br />

ist, mit dem ich mich immer so gut verstand, habe ich nie genau<br />

erfahren, obwohl ich heute se<strong>in</strong>en Vornamen, nach dem ich ihn<br />

damals nie fragte, dank der oben erwähnten neuen Kontakte<br />

auch kenne.<br />

Satan<br />

Dieser Spitzname, den ich selbst nie hörte, der aber schon<br />

lange vor me<strong>in</strong>er <strong>Trogen</strong>er Zeit erschaffen worden war, mag<br />

sehr hart se<strong>in</strong>, doch wer mit diesem <strong>Lehrer</strong> e<strong>in</strong>mal näher zu tun<br />

hatte, konnte das e<strong>in</strong> Stück weit verstehen. Auf den ersten Blick<br />

sah er mit se<strong>in</strong>en harten Gesichtszügen <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er dicken Brille<br />

tatsächlich etwas furchterregend aus, zweitens hatte er auch<br />

e<strong>in</strong>e hart kl<strong>in</strong>gende Stimme <strong>und</strong> drittens war er unser Rektor,<br />

nachdem er viele Jahre lang auch das Knabenkonvikt geleitet<br />

hatte. Es war also nicht mit ihm zu spassen, er konnte auch<br />

ohne grosse Armee-Karriere energisch führen.<br />

323


Allerd<strong>in</strong>gs gab es bei ihm, der genauso wie Bartli <strong>und</strong> Heihei<br />

se<strong>in</strong>e Maturaprüfungen <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> bestanden hatte, auch e<strong>in</strong>e<br />

andere Seite, die ich auch deshalb zu sehen bekam, weil<br />

unsere Pension direkt unter se<strong>in</strong>em Haus lag. Deshalb weiss<br />

ich, dass auch er zusammen mit se<strong>in</strong>er Ehefrau e<strong>in</strong>e Pension<br />

führte, <strong>und</strong> ich kann bezeugen, dass alle vier Burschen, die dort<br />

wohnten, nicht nur überlebt, sondern auch allesamt ihre<br />

Maturaprüfungen <strong>in</strong> dieser Kantonsschule bestanden haben.<br />

E<strong>in</strong>er von ihnen wurde später e<strong>in</strong> Psychologe, der <strong>in</strong> der Nähe<br />

des Stadtzentrums von <strong>Zürich</strong> e<strong>in</strong>e Praxis führte. Als ich dort<br />

zeitweise als Briefträger arbeitete, bekam ich ihn e<strong>in</strong>mal direkt<br />

zu Gesicht, aber er erkannte mich nicht mehr, auch deshalb<br />

nicht, weil wir ja nicht im gleichen Haus gewohnt hatten <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />

der Zwischenzeit viele Jahre vergangen waren.<br />

Wir bekamen zu den vier Burschen, die <strong>in</strong> Satans Pension<br />

wohnten, auch deshalb viel Kontakt, weil sie immer zu uns<br />

kommen mussten, wenn sie e<strong>in</strong>mal im Fernsehen e<strong>in</strong>en Film<br />

schauen wollten. Wer mit diesem Rektor näher zu tun hatte,<br />

konnte es nachvollziehen, warum er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Haus ke<strong>in</strong>en<br />

solchen Apparat duldete, aber solange se<strong>in</strong>e Schüler weiter<br />

gute Noten schrieben, hatte auch er gegen diese Gastbesuche<br />

nichts e<strong>in</strong>zuwenden. Was mich selbst betrifft, machte ich mit<br />

ihm <strong>in</strong>sgesamt gute Erfahrungen, natürlich auch deshalb, weil<br />

me<strong>in</strong>e Noten abgesehen von der Arithmetik, me<strong>in</strong>em<br />

schwächsten Fach <strong>in</strong> der zweiten Klasse, <strong>in</strong>sgesamt noch gut<br />

waren, <strong>und</strong> auch später, als ich vor allem <strong>in</strong> der Mathematik <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong> der Physik schwächelte, sah er noch ke<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong>, mich <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Rektorzimmer zusammenzustauchen, solange ich<br />

immer noch knapp durchkam.<br />

Was er unterrichtete, waren vor allem <strong>in</strong> den unteren Klassen<br />

Deutsch, Geschichte <strong>und</strong> Late<strong>in</strong>, <strong>und</strong> oft sprang er auch im<br />

Französischen <strong>und</strong> Italienischen e<strong>in</strong>, wenn es gerade e<strong>in</strong>e<br />

Lücke gab. Er konnte also wirklich etwas, so dass ich es<br />

manchmal bedauerte, dass ich nie <strong>in</strong> den Genuss se<strong>in</strong>er<br />

324


St<strong>und</strong>en kam. Allerd<strong>in</strong>gs drang auch aus se<strong>in</strong>em Schulzimmer<br />

nicht allzu viel - bis auf e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Geschichte, die mich noch<br />

heute schmunzeln lässt: In e<strong>in</strong>er Late<strong>in</strong>st<strong>und</strong>e ergab es sich,<br />

dass der Schüler, der den im Vorwort erwähnten Spitznamen<br />

«Killer» trug <strong>und</strong> den ich näher kannte, den dieser <strong>Lehrer</strong><br />

jedoch weniger gern mochte, an Stelle von "oppidum" (Stadt)<br />

"oppium" sagte. Da er aus verschiedenen unklaren Gründen<br />

den Ruf hatte, dass er sowohl Haschisch als auch Opium nicht<br />

abgeneigt wäre, wenn er es konsumieren könnte - <strong>und</strong> das als<br />

Sohn e<strong>in</strong>es Arztes -, kam diese falsche Aussprache dem Satan<br />

gerade recht, um zu entgegnen: "Das gehört bei dir natürlich<br />

dazu."<br />

Es war mit ihm also wirklich nicht zu spassen, vor allem nicht<br />

beim Thema Drogen, das <strong>in</strong> diesen Jahren allmählich aufkam,<br />

sogar <strong>in</strong> unserem <strong>Trogen</strong>er Paradies. Das zeigte er am meisten<br />

dann, als im November 1970 e<strong>in</strong> schuleigenes Musikfestival<br />

durchgeführt wurde, bei dem sich ausgerechnet der Schüler<br />

zeigte, der nur wenige Tage zuvor wegen Konsums von<br />

Haschisch, den er nicht e<strong>in</strong>mal bestritt, von der Kantonsschule<br />

verwiesen worden war. Ich habe diese Szene selbst nicht<br />

gesehen, aber es wurde später erzählt, dass beim Satan wenig<br />

gefehlt hatte, um mit e<strong>in</strong>em Stock auf diesen Burschen<br />

e<strong>in</strong>zuschlagen. Angesichts der riesigen Rauschgiftwelle, die<br />

seitdem über die ganze Welt gezogen ist, kann ich se<strong>in</strong>e Wut<br />

jedoch gut verstehen, <strong>und</strong> ich verstand ihn teilweise schon<br />

damals. Er hatte noch die viel zitierte gute alte Zeit erlebt -<br />

jedenfalls aus Schweizer Sicht mit der doppelten Verschonung<br />

von den beiden Weltkriegen -, so dass er es als se<strong>in</strong>e Pflicht<br />

sah, die negativen Auswüchse der modernen Zeit von unserer<br />

Schule fernzuhalten.<br />

Wie ernst dieses Thema war, zeigte sich auch dar<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong><br />

Liebespaar, das e<strong>in</strong> Gymnasium <strong>in</strong> St.Gallen besuchte, nur<br />

wegen ihrer Liebe, also nicht wegen Konsums von Haschisch,<br />

von der Schule verwiesen wurde. Da e<strong>in</strong> solcher Fall<br />

325


schweizweit der erste bekannte war, wurde er auch bei uns<br />

heiss diskutiert, <strong>und</strong> es dauerte e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte, bis das<br />

betreffende Mädchen, das e<strong>in</strong> wenig älter war als ich, sich den<br />

Medien offenbarte oder genauer offenbaren durfte <strong>und</strong> dabei<br />

bekannte, dass sie nachher noch viele Jahre lang als<br />

Abgestempelte hatte leiden müssen. Aufgr<strong>und</strong> dieses Vorfalls<br />

<strong>in</strong> St. Gallen mussten natürlich auch unsere wenigen Pärchen<br />

aufpassen. Solange es jedoch nie zu weit g<strong>in</strong>g - was auch<br />

immer darunter verstanden werden konnte - <strong>und</strong> die beiden<br />

noch genügende Noten schrieben, konnte auch der Satan<br />

nichts ausrichten. Er war zwar der Hausherr, aber auch er<br />

konnte nicht eigenmächtig entscheiden, sondern brauchte<br />

immer auch die Zustimmung des <strong>Lehrer</strong>konvents; das war<br />

jedoch e<strong>in</strong>e leichte Formsache, weil diese Herren sich wie oben<br />

erwähnt zue<strong>in</strong>ander wie Logenbrüder verhielten.<br />

Gerade bei diesen Musikfestivals, wie wir sie nannten, zeigte es<br />

sich immer wieder, dass es an ihm ke<strong>in</strong> Vorbeikommen gab. Er<br />

hatte es richtiggehend zu e<strong>in</strong>em Hobby entwickelt, sich immer<br />

wieder unter die Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler zu mischen <strong>und</strong> mit<br />

Adleraugen darauf zu achten, dass sich zwei körperlich nicht zu<br />

nahekamen, jedenfalls nicht <strong>in</strong> aller Öffentlichkeit. Meistens<br />

musste er nur dabeistehen <strong>und</strong> scharf schauen, <strong>und</strong> schon war<br />

jeder Widerstand <strong>und</strong> jeder Gedanke an irgendetwas<br />

"Unzüchtiges" gebrochen. Gerade deshalb erhielt er im<br />

"Monumentum", von dem ich weiter oben geschrieben habe,<br />

den Spitznamen "Walthar Absolutus" - Walter war tatsächlich<br />

se<strong>in</strong> Vorname, das kann ich hier enthüllen.<br />

Se<strong>in</strong>e Herrschaft endete im Oktober 1971, als er den Posten<br />

des Rektors aufgab <strong>und</strong> vielleicht auch aufgeben musste;<br />

schliesslich war er zu diesem Zeitpunkt schon fast 70-jährig,<br />

also arbeitete auch er weit über die offizielle Pensionierung<br />

h<strong>in</strong>aus. Er war der letzte Rektor, unter dem die Schule etwa zur<br />

Hälfte noch aus auswärtigen Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schülern<br />

bestand. Erst unter se<strong>in</strong>em Nachfolger, den ich gleich unten<br />

326


vorstellen werde, setzte die oben erwähnte allmähliche<br />

Appenzellisierung der Schule e<strong>in</strong> - <strong>und</strong> zwar auf die von mir<br />

beschriebene Weise <strong>und</strong> nicht so, wie es <strong>in</strong> den heutigen<br />

Schulschroniken steht. Schliesslich wurde das noch <strong>in</strong> den<br />

ersten paar Berichten nach me<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong> so<br />

geschrieben <strong>und</strong> zudem hatte ich immer noch me<strong>in</strong>e eigenen<br />

Quellen, so auch me<strong>in</strong>e ehemalige Schlummermutter, die<br />

erstaunlicherweise immer genau darüber <strong>in</strong>formiert war, was im<br />

Dorf <strong>und</strong> damit auch <strong>in</strong> der Schule ablief. Wer so wie sie immer<br />

wieder dafür sorgen musste, dass ihr Haus mit Lebensmitteln<br />

beliefert wurde, hatte natürlich viele Kontakte.<br />

Er war übrigens der e<strong>in</strong>zige <strong>Lehrer</strong>, dessen Ehefrau auch<br />

immer wieder im Gespräch war. Ich konnte nie nachvollziehen,<br />

warum auch sie immer den Ruf hatte, dass mit ihr nicht zu<br />

spassen war. Da sie mir als Hausherr<strong>in</strong> der direkt benachbarten<br />

Pension immer wieder über den Weg lief, ergaben sich natürlich<br />

immer wieder Blickkontakte, aber wir wechselten jedes Mal nur<br />

Grussworte. Ich kann bezeugen, dass sie nicht so gefährlich<br />

war, sondern mir immer fre<strong>und</strong>lich zulächelte, wobei sie ihre<br />

teilweise fletschenden Zähne auch dann nicht verbergen<br />

konnte.<br />

Der Boss<br />

Warum dieser <strong>Lehrer</strong>, der genauso wie Bartli, Heihei <strong>und</strong> Satan<br />

se<strong>in</strong>e Maturaprüfungen <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> bestanden hatte, mit diesem<br />

Spitznamen betitelt wurde, den ich selbst aber nie hörte, hatte<br />

gleich zwei Gründe: Erstens wurde er im Oktober 1971 der<br />

Nachfolger Satans als Rektor, so dass ich es von diesem<br />

Zeitpunkt an auch mit ihm direkt zu tun bekam, <strong>und</strong> zweitens<br />

liess se<strong>in</strong> persönliches Auftreten unmissverständlich darauf<br />

schliessen, dass er immer klar zeigte, wo <strong>und</strong> wie es mit ihm<br />

langg<strong>in</strong>g, viel klarer als se<strong>in</strong>e Kollegen, von denen es nur Tobi<br />

<strong>in</strong> dieser Beziehung mit ihm aufnehmen konnte. Genauso wie<br />

dieser unterrichtete er Mathematik <strong>und</strong> Darstellende Geometrie,<br />

327


<strong>und</strong> nach allem, was ich zu hören bekam, muss auch er e<strong>in</strong>e<br />

Kapazität gewesen se<strong>in</strong>, dem niemand etwas vormachen<br />

konnte.<br />

Da die Wahl zum Rektor der e<strong>in</strong>zigen Kantonsschule natürlich<br />

e<strong>in</strong> kantonales Ereignis war, wurde das <strong>in</strong> den Medien<br />

dementsprechend gemeldet, aber damit er überhaupt gewählt<br />

werden konnte, musste zuerst noch der Regierungsrat, also die<br />

Regierung dieses kle<strong>in</strong>en Halbkantons, die Zustimmung geben;<br />

auch dies war jedoch nur e<strong>in</strong>e kurze Formsache, obwohl es dort<br />

ke<strong>in</strong>e solche Logenbruderschaft gab wie <strong>in</strong> dieser Schule. Bei<br />

dieser Meldung wurde auch noch stolz ergänzt, dass der Boss,<br />

der natürlich mit e<strong>in</strong>er grossen Aufnahme gezeigt wurde, <strong>in</strong> der<br />

Armee den Rang e<strong>in</strong>es Obersten bekleidete, was damals noch<br />

als viel galt. Ehrlich gesagt konnte ich mir das nie so richtig<br />

vorstellen, genauso wenig wie das Gerücht, dass er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

jungen Jahren e<strong>in</strong> hervorragender Leichtathlet gewesen war.<br />

Immerh<strong>in</strong> kannte ich ihn immer nur kle<strong>in</strong> <strong>und</strong> r<strong>und</strong>lich, aber <strong>in</strong><br />

den Schulchroniken wurde wenigstens die Geschichte mit dem<br />

Rang e<strong>in</strong>es Obersten bestätigt, <strong>und</strong> zudem war er im<br />

Aktivdienst, wie der Wehrdienst <strong>in</strong> der Schweiz während des<br />

Zweiten Weltkriegs noch heute so bezeichnet wird, als e<strong>in</strong><br />

Artillerie-Offizier selbst dabei gewesen.<br />

Ich schreibe über den Boss nicht nur deshalb, weil ich ihn noch<br />

als Rektor erlebte <strong>und</strong> auch bei ihm genauso wie beim Satan<br />

m<strong>in</strong>destens zweimal im Jahr im Büro ersche<strong>in</strong>en musste, um<br />

von ihm gelobt oder zusammengestaucht zu werden, sondern<br />

auch wegen e<strong>in</strong>er besonderen persönlichen Geschichte, die mit<br />

ihm verb<strong>und</strong>en ist. Kurz bevor ich nach <strong>Trogen</strong> verpflanzt<br />

wurde, stand nämlich auch se<strong>in</strong>e Pension zur Auswahl, aber<br />

nur die se<strong>in</strong>e <strong>und</strong> jene, <strong>in</strong> die ich später tatsächlich e<strong>in</strong>gezogen<br />

b<strong>in</strong>. Warum jemand auf <strong>Trogen</strong> gekommen war, lag dar<strong>in</strong>, dass<br />

<strong>in</strong> der Mitte der Fünfzigerjahre - nach der Scheidung me<strong>in</strong>er<br />

Eltern - davon die Rede war, mich im K<strong>in</strong>derdorf Pestalozzi<br />

oberhalb dieses Dorfes unterzubr<strong>in</strong>gen. Das war auch deshalb<br />

328


e<strong>in</strong> Thema geworden, weil me<strong>in</strong>e biologische Mutter nach<br />

dieser Scheidung zuerst den Plan hatte, nach F<strong>in</strong>nland<br />

zurückzukehren, mich aber nicht dort etwa e<strong>in</strong> halbes Jahr lang<br />

bei e<strong>in</strong>er Pflegefamilie unterbrachte, sondern <strong>in</strong> Schweden,<br />

genauer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kle<strong>in</strong>stadt im Norden von Stockholm, wo ihre<br />

Schwester wohnte, die e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>heimischen geheiratet hatte. In<br />

der Zwischenzeit ist dieser Ort, der direkt neben e<strong>in</strong>em See<br />

liegt, so dass me<strong>in</strong>e dort lebenden Cous<strong>in</strong>s im Gegensatz zu<br />

mir, der sieben Jahre lang auf dem Pfannenstiel aufwuchs, sich<br />

schon früh mit Leichtigkeit das Schwimmen beibr<strong>in</strong>gen konnten,<br />

schon längst <strong>in</strong> die Hauptstadt e<strong>in</strong>geme<strong>in</strong>det worden, also<br />

ähnlich wie <strong>in</strong> den Dreissigerjahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Schwamend<strong>in</strong>gen, wo ich e<strong>in</strong> Vierteljahrh<strong>und</strong>ert lang gewohnt<br />

habe.<br />

Wie ich viele Jahre später erfuhr, schloss mich diese Familie so<br />

stark <strong>in</strong>s Herz, dass die Leute mich eigentlich gern adoptiert<br />

hätten, doch dann änderte me<strong>in</strong>e biologische Mutter ihre<br />

Me<strong>in</strong>ung <strong>und</strong> kehrte wieder <strong>in</strong> die Schweiz zurück, was zugleich<br />

bedeutete, dass diese Familie, von der ich später nie<br />

Genaueres erfuhr, mich ziehen lassen musste; vor allem die<br />

Mutter soll sehr gewe<strong>in</strong>t haben. Als wäre es ihnen pe<strong>in</strong>lich<br />

gewesen, hielten sich me<strong>in</strong>e biologischen Eltern dar<strong>in</strong> bedeckt<br />

<strong>und</strong> wollten mir nie etwas darüber erzählen. So habe ich auch<br />

nur durch e<strong>in</strong>en Zufall davon erfahren, als die beiden über<br />

diese Zeit redeten, <strong>und</strong> als ich me<strong>in</strong>en Vater viele Jahre später<br />

darauf ansprach, unterschlug er mir ebenfalls, dass <strong>in</strong> den<br />

Scheidungsdokumenten nicht nur der Name dieser Familie<br />

verzeichnet war, sondern auch noch die genaue Adresse.<br />

Irgendwann kam die ganze Geschichte aufgr<strong>und</strong> von alten<br />

Dokumenten, die mir gezeigt wurden, doch noch ans Licht - <strong>und</strong><br />

ich war darüber entsetzt, was die beiden sich geleistet <strong>und</strong> mir<br />

verschwiegen hatten, aber ich erspare der Leserschaft weitere<br />

E<strong>in</strong>zelheiten.<br />

Dieser Besuch im K<strong>in</strong>derdorf Pestalozzi, wo für mich e<strong>in</strong> Platz<br />

329


gesucht wurde, ist e<strong>in</strong>e der ersten schwachen Er<strong>in</strong>nerungen <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>em Leben, aber ich erfuhr auch diese Geschichte erst viele<br />

Jahre später. Als e<strong>in</strong>es der ganz wenigen K<strong>in</strong>der hätte ich<br />

sogar die Chance gehabt, sowohl im f<strong>in</strong>nischen Haus mit dem<br />

Namen "Jukola" als auch im schweizerischen - tatsächlich gab<br />

es dort auch Schweizer K<strong>in</strong>der - untergebracht zu werden. Ich<br />

wurde schliesslich nicht aufgenommen, weil ich ke<strong>in</strong>e Vollwaise<br />

war <strong>und</strong> damit nicht den Statuten entsprach, die kurz nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg geschrieben worden waren, sondern immer<br />

noch me<strong>in</strong>e Eltern hatte, wenn auch nur nom<strong>in</strong>ell.<br />

Das war dann der Beg<strong>in</strong>n me<strong>in</strong>er Karriere <strong>in</strong> zwei<br />

verschiedenen K<strong>in</strong>derheimen, wobei ich an das erste <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong>-<br />

Oerlikon, das später e<strong>in</strong> noch heute bestehender K<strong>in</strong>derhort<br />

geworden ist, <strong>in</strong>sgesamt gute Er<strong>in</strong>nerungen habe. Auch dort<br />

gab es e<strong>in</strong>e besondere Hausangestellte, die Anna hiess <strong>und</strong> für<br />

mich e<strong>in</strong>e ähnliche Rolle spielte wie die bei Juon erwähnte im<br />

zweiten K<strong>in</strong>derheim, das mir trotz dieser Ersatzmutter vor allem<br />

nach ihrem Wegzug weniger Glück beschert hat. So weiss ich<br />

noch heute gut, dass diese mich kurz nach der Versetzung <strong>in</strong>s<br />

zweite K<strong>in</strong>derheim e<strong>in</strong>mal sogar besuchte, doch dann verloren<br />

sich unsere Wege, <strong>und</strong> da ich nie erfahren habe, welches ihr<br />

Familienname war, konnte ich sie später nie mehr f<strong>in</strong>den. Es<br />

war deshalb nicht möglich, im ersten K<strong>in</strong>derheim zu bleiben,<br />

weil die K<strong>in</strong>der dort nur bis zum achten Altersjahr bleiben<br />

durften, aber spätestens dann gehen mussten; so war auch ich<br />

an me<strong>in</strong>em letzten Tag siebene<strong>in</strong>halbjährig, wie ich noch heute<br />

weiss. E<strong>in</strong>e andere gute Seele war <strong>in</strong> dieser Zeit me<strong>in</strong>e<br />

K<strong>in</strong>dergärtner<strong>in</strong>, die wir Fräule<strong>in</strong> Diener nannten <strong>und</strong> von der<br />

ich immerh<strong>in</strong> noch e<strong>in</strong>e Aufnahme habe - allerd<strong>in</strong>gs nicht mit ihr<br />

alle<strong>in</strong>, sondern zusammen mit allen anderen K<strong>in</strong>dern mitsamt<br />

mir selbst. Auch von dieser Frau hat sich jede Spur verloren.<br />

Ich hatte nom<strong>in</strong>ell also immer noch me<strong>in</strong>e Eltern, die sich<br />

wegen mir immer wieder zusammenraufen mussten, <strong>und</strong> so<br />

ergab es sich, dass wir zusammen nach <strong>Trogen</strong> fuhren, um die<br />

330


eiden <strong>in</strong> Frage kommenden Pensionen anzuschauen. Da me<strong>in</strong><br />

Vater noch nicht Auto fahren konnte - das lernte er erst e<strong>in</strong> paar<br />

Jahre später mit bereits mehr als vierzig Jahren - <strong>und</strong> die Fahrt<br />

mit dem Zug zwar möglich, aber etwas umständlich <strong>und</strong> zudem<br />

teuer gewesen wäre, musste uns jemand h<strong>in</strong>fahren. Wer das<br />

besorgte, war der Sohn der Schlummermutter, bei der ich e<strong>in</strong><br />

paar Wochen später e<strong>in</strong>zog. Zusammen mit se<strong>in</strong>er Ehefrau <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>er etwa zweijährigen Tochter, die ebenfalls vorn sass - das<br />

war damals noch erlaubt -, sassen wir drei zusammengepfercht<br />

h<strong>in</strong>ten st<strong>und</strong>enlang im Wagen, bis wir <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> ankamen, <strong>und</strong><br />

umgekehrt war es natürlich gleich. Auf welche Weise me<strong>in</strong>e<br />

Eltern diesen Mann kennen gelernt hatten, ist immer e<strong>in</strong><br />

Geheimnis geblieben, aber ich habe sie auch nie danach<br />

gefragt.<br />

Nachdem wir zuerst mit me<strong>in</strong>er späteren Schlummermutter <strong>und</strong><br />

nach dem Mittagessen auch mit dem Boss <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Ehefrau<br />

e<strong>in</strong> ausführliches Gespräch geführt hatten, entschieden wir uns<br />

alle drei e<strong>in</strong>stimmig für die erste Option, aber er liess sich<br />

später nie etwas anmerken, als wäre ihm diese Wahl<br />

gleichgültig gewesen. Jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeig<strong>in</strong>g,<br />

spazierte er pfeifend an mir vorbei, aber auch an allen anderen.<br />

Da wir uns nicht näher kennen gelernt hatten, bestand bei mir<br />

auch ke<strong>in</strong>e Grusspflicht; dementsprechend gab es zwischen<br />

uns <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en drei ersten <strong>Trogen</strong>er Jahren noch ke<strong>in</strong>en<br />

Kontakt, solange er noch nicht unser Rektor war.<br />

Auch über den Mann, der uns nach <strong>Trogen</strong> fuhr <strong>und</strong> von dort<br />

wieder zurückbrachte, gibt es e<strong>in</strong>e besondere Geschichte zu<br />

erzählen: Weiter oben habe ich geschrieben, dass me<strong>in</strong>e<br />

Schlummermutter zwar e<strong>in</strong>e Schweizer<strong>in</strong> war, aber viele Jahre<br />

lang <strong>in</strong> Deutschland gelebt hatte, vor allem <strong>in</strong> Dresden, wo sie<br />

die britisch-amerikanische Bombennacht im Februar 1945<br />

überlebt hatte. Genauso wie der spätere Fussball-<br />

B<strong>und</strong>estra<strong>in</strong>er Helmut Schön hatte sie das Glück, dass sie <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Aussenbezirk lebte, der nicht so zerstört wurde wie das<br />

331


Stadtzentrum. Sie war noch verheiratet, <strong>und</strong> zwar mit e<strong>in</strong>em<br />

schweizerischen Geschäftsmann, dem damit die E<strong>in</strong>berufung <strong>in</strong><br />

die Wehrmacht erspart blieb. Die Ehe g<strong>in</strong>g nach ihren Worten<br />

gerade auch durch diesen Krieg <strong>in</strong> die Brüche, aber sie verfügte<br />

nach ihrer Rückkehr <strong>in</strong> die Schweiz zum Glück immer noch<br />

über so viel Geld, dass sie <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> e<strong>in</strong> Haus kaufen <strong>und</strong> dort<br />

e<strong>in</strong> neues Leben beg<strong>in</strong>nen konnte.<br />

Und jetzt kommt die besondere Geschichte: Als diese Frau<br />

nach der Bombennacht auf den Strassen schaute, ob sie<br />

irgendwie helfen könne, sah sie plötzlich e<strong>in</strong>en etwa<br />

dreijährigen Jungen auf e<strong>in</strong>er Strasse liegen. Er hatte se<strong>in</strong>e<br />

Eltern <strong>und</strong> Geschwister verloren <strong>und</strong> konnte sich an nichts mehr<br />

er<strong>in</strong>nern, auch später nicht, wenn er darauf angesprochen<br />

wurde. Da sie immer noch verheiratet war, konnte sie ihn ohne<br />

Schwierigkeiten adoptieren <strong>und</strong> <strong>in</strong> die Schweiz mitnehmen, <strong>und</strong><br />

später kam noch e<strong>in</strong> zweiter Adoptivsohn dazu, der mit uns <strong>in</strong><br />

der gleichen Pension wohnte. Diese doppelte Adoption kam<br />

auch deshalb zustande, weil die Frau aus verschiedenen<br />

Gründen ke<strong>in</strong>e eigenen biologischen K<strong>in</strong>der haben konnte.<br />

Dazu kam noch e<strong>in</strong> Mädchen, das <strong>in</strong> der Pension ebenfalls e<strong>in</strong><br />

eigenes Zimmer hatte, <strong>und</strong> diese Geschichte klang nicht nur<br />

verrückt, sondern war es auch. Es hatte nämlich noch se<strong>in</strong>e<br />

Eltern, die sogar <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> selbst wohnten, aber aus<br />

irgende<strong>in</strong>em geheimnisvollen Gr<strong>und</strong> wollte dieses Mädchen,<br />

das e<strong>in</strong> paar Jahre älter war als ich, um ke<strong>in</strong>en Preis bei ihnen<br />

wohnen. Also durfte sie unter uns weilen, aber ich gehe noch<br />

heute davon aus, dass ihre Eltern ihr E<strong>in</strong>verständnis gegeben<br />

hatten, weil die Volljährigkeit damals erst mit zwanzig Jahren<br />

erreicht wurde. Nach ihrem Auszug aus der Pension hiess es,<br />

sie sei nach Australien ausgewandert, aber richtig bestätigt<br />

wurde das auch von der Schlummermutter nie, weil auch sie<br />

das nie genau erfahren hatte.<br />

Welche besondere soziale Ader unsere Schlummermutter<br />

332


hatte, bewies sie nach den Frühl<strong>in</strong>gsferien des Jahres 1972<br />

dadurch, dass sie zum ersten Mal auch Beh<strong>in</strong>derte aufnahm,<br />

<strong>und</strong> gleich drei junge taubstumme Burschen auf e<strong>in</strong>mal, mit<br />

denen ich gut zurechtkam. Ich glaube noch heute, dass <strong>in</strong><br />

diesen Monaten die ersten Samen gestreut wurden, dank<br />

denen ich e<strong>in</strong> paar Jahrzehnte später die oben erwähnten<br />

Taxifahrten mit Beh<strong>in</strong>derten ausführen konnte, denn für diese<br />

besondere Arbeit s<strong>in</strong>d nicht alle geeignet. Zudem hatten wir<br />

jahrelang zwei Frauen, die im <strong>Trogen</strong>er Taubstummenheim<br />

wohnten, wie es damals noch genannt wurde, <strong>und</strong> wie oben<br />

erwähnt immer wieder mit Hand anlegten, um die Hausherr<strong>in</strong> zu<br />

unterstützen. Dass ich auch mit diesen beiden immer gut<br />

zurechtkam, zeigte sich sogar nach me<strong>in</strong>em Wegzug von<br />

<strong>Trogen</strong>, wenn ich e<strong>in</strong>en Besuch machte <strong>und</strong> sie mich jedes Mal<br />

voller Freude begrüssten. Beide schrieben e<strong>in</strong> sehr gutes<br />

Deutsch; das konnte ich an den Karten erkennen, die sie mir<br />

jeweils schrieben, wenn ich Geburtstag hatte - ich fand das<br />

immer besonders süss.<br />

Die gleiche Freude erlebte ich auch mit dem Besitzer der<br />

e<strong>in</strong>zigen Papeterie <strong>und</strong> dem Besitzer des grössten<br />

Lebensmittelgeschäfts <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong>; beide lagen direkt<br />

nebene<strong>in</strong>ander <strong>und</strong> erst noch direkt gegenüber dem Café<br />

Oberson. In den viere<strong>in</strong>halb Jahren me<strong>in</strong>er Schulzeit hatte ich<br />

bei ihnen so oft etwas gekauft, dass wir uns e<strong>in</strong> wenig kennen<br />

lernten. Als ich bei e<strong>in</strong>em me<strong>in</strong>er späteren Besuche <strong>in</strong> beiden<br />

Läden vorbeikam, zeigten beide echte Freude, <strong>und</strong> im<br />

Lebensmittelgeschäft bekam ich sogar zu hören: «So, s<strong>in</strong>d Sie<br />

auch wieder e<strong>in</strong>mal bei uns!» Da dieser Mann mich als K<strong>in</strong>d<br />

noch nicht gekannt hatte, duzte er mich im Gegensatz zu Tobi<br />

nie.<br />

Ich erwähne die Frühl<strong>in</strong>gsferien des Jahres 1972 deshalb<br />

bewusst, weil e<strong>in</strong>e Aufnahme von Beh<strong>in</strong>derten <strong>in</strong> unsere<br />

Pension vorher nicht möglich gewesen wäre. Angesichts der<br />

Arroganz, die der Sohn e<strong>in</strong>er reichen Auslandschweizerfamilie<br />

333


aus Costa Rica vor allem mich immer wieder spüren liess -<br />

weiter unten werde ich noch mehr von ihm schreiben -, wäre<br />

e<strong>in</strong>e solche Konfrontation nicht möglich gewesen. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

wäre es auch mit «Ali», se<strong>in</strong>em Vorgänger, von dem ich weiter<br />

oben schon geschrieben habe, kaum besser gelaufen. Nach<br />

me<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong>, also e<strong>in</strong> Jahr später, nahm<br />

unsere Schlummermutter zum ersten Mal auch noch e<strong>in</strong>en<br />

Burschen auf, der ke<strong>in</strong>e Schule mehr besuchte, sondern e<strong>in</strong>e<br />

Berufslehre begonnen hatte. Ich lernte ihn nur dank me<strong>in</strong>er<br />

paar wenigen Besuche persönlich kennen, doch da ich ihn nie<br />

direkt fragte, welchen Beruf er lernte, habe ich das natürlich<br />

auch nie erfahren.<br />

Wieder zurück zum Boss: In den drei ersten Jahren me<strong>in</strong>es<br />

<strong>Trogen</strong>er Dase<strong>in</strong>s hatte ich mit ihm also nie direkt zu tun, aber<br />

umso mehr dann, als er unser Rektor geworden war.<br />

Dummerweise begann me<strong>in</strong> Absturz, den Tobi mit <strong>in</strong>direkten<br />

Worten angedeutet hatte, gerade nach se<strong>in</strong>er<br />

Machtübernahme; also hätte das Tim<strong>in</strong>g, wie das heute so<br />

modern heisst, nicht schlechter se<strong>in</strong> können. So ist es klar,<br />

dass ich von ihm mit ke<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Lobeswort überschüttet<br />

werden konnte, sondern immer e<strong>in</strong>e Rüge entgegennehmen<br />

musste, aber er hatte ja Recht. <strong>Me<strong>in</strong>e</strong> Noten wurden <strong>in</strong>sgesamt<br />

immer schlechter - nur <strong>in</strong> den Fächern Deutsch, Geschichte,<br />

Geografie, Zeichnen <strong>und</strong> Turnen sowie <strong>in</strong> den modernen<br />

Fremdsprachen war ich noch genügend.<br />

Gerade weil ich so schlecht geworden war, durfte ich es mir<br />

nicht mehr erlauben, freiwillige Zusatzfächer zu belegen. Da<br />

achtete der Boss sehr genau darauf, dass alles se<strong>in</strong>e Ordnung<br />

hatte. Deshalb musste ich mit schwerem Herzen auf die<br />

Weiterführung des Russisch-Kurses verzichten, wie ich es oben<br />

beschrieben habe. Er hatte das Recht, mir diese Frage zu<br />

stellen, ob ich diese St<strong>und</strong>en weiter besuchte, weil er nun<br />

e<strong>in</strong>mal der Hausherr war, so dass er auch <strong>in</strong> dieser Beziehung<br />

immer zum Rechten schaute. Gerade hier zeigte es sich, dass<br />

334


die Prägung als Oberst immer wieder durchschimmerte, <strong>und</strong> da<br />

e<strong>in</strong> Offizier damals erst mit 55 Jahren aus der Armee entlassen<br />

wurde - heute können die meisten etwas früher abtreten, vor<br />

allem die unteren vom Leutnant bis zum Major -, war er ja<br />

immer noch dabei.<br />

Wenige Wochen nach dieser Szene ergab sich mit ihm<br />

nochmals e<strong>in</strong>e, die mich noch heute schmunzeln lässt. Diesmal<br />

war es <strong>in</strong>mitten der Schülermassen, als er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Pause direkt<br />

auf mich zukam <strong>und</strong> forsch fragte: «Besch gescht im 'Oberson'<br />

gsee?» ("Bist du gestern im 'Oberson' gewesen?"). Damit<br />

me<strong>in</strong>te er unser schon mehrmals erwähntes Stammcafé, wo<br />

sich viele Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler immer wieder trafen. Es<br />

gab zwar noch e<strong>in</strong> paar andere, aber dieses war e<strong>in</strong>deutig das<br />

meistbesuchte, weil es auch am besten gelegen war. Nach so<br />

vielen Jahren <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> verstand ich <strong>in</strong>zwischen zwar jede<br />

Nuance im Appenzeller Dialekt, aber ich verstand ihn deshalb<br />

nicht sofort, weil dieses Wort "gescht" zwei Bedeutungen hat:<br />

E<strong>in</strong>erseits bedeutet es "Gäste", aber andererseits auch<br />

"gestern". Auf <strong>Zürich</strong>deutsch würde diese Frage ohne<br />

Missverständnisse so lauten: "Bisch geschter im 'Oberson'<br />

gsii?" Da ich also nicht genau wusste, was er wollte, fragte ich<br />

keck zurück: "Gescht?" Da er wohl dachte, ich verstehe se<strong>in</strong>en<br />

Dialekt zu wenig gut, half er auf Hochdeutsch <strong>und</strong> zudem<br />

demonstrativ langsam nach: "Ges-tern." Obwohl ich zuerst<br />

ziemlich überrascht reagiert hatte, konnte ich für e<strong>in</strong>mal<br />

gekonnt zurückschlagen, <strong>in</strong>dem ich ihm nochmals keck diese<br />

Antwort gab: "Ich habe anderes zu tun, als <strong>in</strong>s 'Oberson' zu<br />

gehen." Damit war er zufrieden <strong>und</strong> er zog wortlos weiter.<br />

Was das Duzen betrifft, hielt es der Boss genau gleich wie Tobi:<br />

Er duzte auch ab der vierten Klasse munter weiter, ganz sicher<br />

bei jenen, die so wie ich schwächere Schüler waren. Ich glaube<br />

aber noch heute, dass gewisse Söhne <strong>und</strong> Töchter aus fe<strong>in</strong>en<br />

Familien, die es eben auch gab, von ihm mehr Respekt<br />

erfuhren <strong>und</strong> deshalb von ihm standesgemäss gesiezt wurden,<br />

335


aber ich habe das nie bestätigt bekommen.<br />

Auf jeden Fall sass diese Antwort mit dem "Oberson"; fortan<br />

liess mich der Boss <strong>in</strong> Ruhe, aber die Zeit lief für mich trotzdem<br />

bald ab. Er war der letzte <strong>Lehrer</strong>, mit dem ich es direkt zu tun<br />

hatte, so dass es naheliegt, dass ich ihn auch zuletzt vorgestellt<br />

habe. Ich er<strong>in</strong>nere mich noch heute gut an die St<strong>und</strong>e mitten im<br />

April des Jahres 1973, als ich noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Rektorzimmer vortraben musste. Die Gegensätze hätten nicht<br />

grösser sei können: Auf der e<strong>in</strong>en Seite sass der Rektor, der<br />

sich nur e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre nach der Wahl zu diesem Posten mit<br />

knapp über fünfzig Jahren auf dem Höhepunkt se<strong>in</strong>er<br />

pädagogischen Laufbahn befand - <strong>und</strong> auf der anderen Seite<br />

sass e<strong>in</strong> gescheiterter Schüler, der sich mit neunzehne<strong>in</strong>halb<br />

Jahren auf dem Tiefpunkt se<strong>in</strong>es Lebens befand. Ich erlebte<br />

später zwar noch mehrere andere Tiefschläge, aber ich b<strong>in</strong><br />

noch bis heute immer wieder zum Schluss gekommen, dass<br />

dieser e<strong>in</strong>deutig der tiefste war. Zum Glück sah ich selbst das<br />

damals nicht so, weil ich fest daran glaubte, dass es schon<br />

irgendwie weitergehen würde, aber es hat sich trotzdem immer<br />

wieder gezeigt, dass letztlich me<strong>in</strong> ganzes Leben davon abh<strong>in</strong>g.<br />

Es gab bei dieser letzten Begegnung nicht mehr viel zu sagen,<br />

er musste mich weder loben noch zusammenstauchen. Er<br />

sagte mir nur noch, es sei alles für die Katze gewesen, wie er<br />

mir das schon beim ersten Gespräch e<strong>in</strong> paar Monate zuvor<br />

angekündigt hatte, aber eigentlich wäre ich ja gescheit genug.<br />

Immerh<strong>in</strong> hat me<strong>in</strong> späterer Werdegang bis zum Verfassen<br />

e<strong>in</strong>es Lehrbuches für Altgriechisch, das ich mir selbst<br />

angeeignet habe, <strong>und</strong> auch e<strong>in</strong>es solchen für Vulgärlate<strong>in</strong>, das<br />

<strong>in</strong> dieser Form bisher noch nie erschienen ist, se<strong>in</strong>e Worte<br />

widerlegt, aber das konnten damals weder er noch ich selbst<br />

wissen. Immerh<strong>in</strong> gaben wir uns am Schluss noch versöhnlich<br />

die Hand, wir hatten ja nichts Persönliches gegene<strong>in</strong>ander.<br />

336


In der Mitte der Achtzigerjahre wurde auch er <strong>in</strong> den Ruhestand<br />

versetzt, wobei er gleichzeitig auch das Amt des Rektors<br />

aufgab, das er bis zu diesem Zeitpunkt noch ausgeübt hatte.<br />

Genauso wie mancher andere Kollege tat er trotzdem noch dies<br />

<strong>und</strong> das, aber eben <strong>in</strong> aller Ruhe, wie es ihm entsprach. Es war<br />

klar, dass er weiter <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> wohnte, <strong>und</strong> auch er erreichte e<strong>in</strong><br />

Alter von über neunzig Jahren. Im Gegensatz zu allen anderen<br />

Kollegen war das Echo <strong>in</strong> den Medien nach se<strong>in</strong>em Ableben<br />

riesengross, schliesslich war er als ehemaliger Rektor e<strong>in</strong>e<br />

echte Persönlichkeit gewesen.<br />

--------------------------------------------------------------------------<br />

Am Schluss dieses zweiten Teils halte ich es für gut, alle<br />

Kosenamen aufzuführen, die im "Monumentum" vorkamen,<br />

wenn ich sie hier schon teilweise erwähnt habe. Abgesehen<br />

von den beiden Rektoren stehen sie auch hier <strong>in</strong> der gleichen<br />

chronologischen Reihenfolge wie oben:<br />

Satan = Abt Walthar Absolutus<br />

Boss = Pater Ernestus Rot<strong>und</strong>ulus Mathematicus<br />

Guschti = Pater Augustavulus, Pater Augustulus<br />

Schorsch II = Pater Georgus P<strong>in</strong>ctor (p<strong>in</strong>ctor = Maler)<br />

Flade = Pater Nikolaus Rusticus (rusticus = wegen se<strong>in</strong>es stets<br />

bodenständigens Auftretens als echter Appenzeller)<br />

Köbi = Pater Jakobus Gymnasticus<br />

Zeno = Pater Xenophon Mugiens (mugiens = wegen se<strong>in</strong>er<br />

lauten <strong>und</strong> manchmal auch brüllenden Stimme)<br />

Bartli = Pater Bartholomäus<br />

Pieps = Pater Physicus Cirpens (cirpens = wegen se<strong>in</strong>er<br />

auffallend hohen Stimme)<br />

Tobi = Pater Tobias Iratus (iratus = zornig)<br />

Bouton = Pater Butonis Movens (movens = wegen se<strong>in</strong>er<br />

ständig wippenden Be<strong>in</strong>e)<br />

Kasi = Pater Kasimir Scotus (Scotus = Schotte)<br />

Heihei = Pater Serpens Chemicus<br />

337


Die Drohne = Mater Spirans (spirans = wegen ihrer „atmenden“<br />

Stimme)<br />

Schmuh = Pater Gerardus Progressivulus Bil<strong>in</strong>guis (bil<strong>in</strong>guis =<br />

zweisprachig)<br />

Remo = Pater Raim<strong>und</strong>us<br />

Es fällt auf, dass längst nicht alle vorkommen, die ich <strong>in</strong> diesem<br />

Buch vorgestellt habe. Wer ke<strong>in</strong>en solchen "Ehrentitel"<br />

bekommen hat, war entweder e<strong>in</strong> vorübergehender<br />

Aushilfslehrer oder zum Zeitpunkt, als das «Monumentum»<br />

erschien - im Herbst 1970 -, noch gar nicht oder zu wenig lange<br />

dabei oder wurde wie Sulz, Durisch <strong>und</strong> Juon schlicht<br />

«vergessen».<br />

Da ich e<strong>in</strong>en Teil der <strong>Lehrer</strong> mit ihrem offiziellen Familiennamen<br />

erwähnt habe, weil sie ke<strong>in</strong>en Spitznamen hatten <strong>und</strong> ich sie<br />

irgendwie benennen musste, sche<strong>in</strong>t es mir richtig <strong>und</strong> fair, <strong>in</strong><br />

alfabetischer Reihenfolge - also ohne irgende<strong>in</strong>e Bewertung -<br />

auch alle anderen aufzuführen. Ich tue es aber auf e<strong>in</strong>e Art,<br />

dass nur jene, die sie ebenfalls kannten, herausf<strong>in</strong>den können,<br />

wer sie wirklich waren <strong>und</strong> wer von ihnen was unterrichtete.<br />

In <strong>Zürich</strong> hiessen sie Aerni, Blaser, Bohnenblust, Christ, Dorigo,<br />

Egli, Frank, Gemmi, Keller, Marxer, Oetiker, Roth, Schibler <strong>und</strong><br />

Voser.<br />

In <strong>Trogen</strong> hiessen sie Aeschlimann, Altorfer, Dulk, Durisch,<br />

Engler, Ess, Falkner, Fässler, Frischknecht, Frohne, Fuhrer,<br />

Goetz, Handsch<strong>in</strong>, Heierli, Hess, Hohl, Juon, Knellwolf, Knöpfli,<br />

Kübler, Kuhn, Meier, Rasumowsky, Schläpfer, Schlegel,<br />

Schwarz, Sieg, Specker, Unger, Wärtli, Weisshaupt, Widmer<br />

<strong>und</strong> Zehnhoff.<br />

--------------------------------------------------------------------------<br />

338


Nachwort<br />

Das waren also me<strong>in</strong>e <strong>Lehrer</strong> <strong>und</strong> die e<strong>in</strong>zige <strong>Lehrer</strong><strong>in</strong>, die me<strong>in</strong><br />

Leben vor e<strong>in</strong>em halben Jahrh<strong>und</strong>ert stark mitgeprägt haben,<br />

sogar noch stärker als me<strong>in</strong>e biologischen Eltern, aber auch<br />

deshalb, weil ich bei diesen beiden wie oben erwähnt nicht<br />

direkt aufgewachsen b<strong>in</strong>. Ich musste also auch die<br />

Kantonsschule <strong>Trogen</strong> vorzeitig verlassen, aber nicht, weil<br />

irgendjemand schuldig war, sondern weil ich es selbst verbockt<br />

hatte, wie das heute so modern heisst. Gerade auch deshalb,<br />

weil ich ke<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen <strong>Lehrer</strong> irgende<strong>in</strong>e Schuld zuschob,<br />

schätzte mich me<strong>in</strong>e Schlummermutter noch mehr als sonst<br />

schon, <strong>und</strong> ich weiss noch gut, dass sie über die Nachricht,<br />

dass ich def<strong>in</strong>itiv gehen musste, echte Betroffenheit zeigte.<br />

Das traf jedoch nicht auf die Schülerschaft zu, ja, nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong><br />

der Pension fand irgende<strong>in</strong>er e<strong>in</strong> gutes oder wenigstens<br />

halbwegs tröstendes Wort. Obwohl ich nach viere<strong>in</strong>halb Jahren<br />

<strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> bei fast allen bekannt war <strong>und</strong> es sich deshalb<br />

schnell herumsprach, dass ich me<strong>in</strong>e Koffer packen musste,<br />

raffte sich nur e<strong>in</strong>er dazu auf, noch kurz bei mir<br />

vorbeizukommen, um sich von mir zu verabschieden. Ich halte<br />

es für ke<strong>in</strong>en Zufall, dass es ausgerechnet derjenige war, der<br />

wenige Wochen zuvor <strong>in</strong> Heihis St<strong>und</strong>e neben mir der E<strong>in</strong>zige<br />

gewesen war, der sich bei der Unterschriftenaktion für e<strong>in</strong>e<br />

starke Armee nicht sofort hatte weichklopfen lassen <strong>und</strong><br />

deshalb se<strong>in</strong>e Unterschrift nicht gegeben hatte. Zudem spielte<br />

wohl auch e<strong>in</strong> Künstlerblut mit, weil se<strong>in</strong> Vater e<strong>in</strong> schon<br />

damals bekannter Schriftsteller war <strong>und</strong> ich wie oben bei<br />

Fässler erwähnt dank dieses Klassenkollegen e<strong>in</strong> paar Jahre<br />

später zu diesem e<strong>in</strong>en Kontakt herstellen konnte. Da ich ihm<br />

geschrieben hatte, dass er die paar Gedichte, die ich ihm zum<br />

Lesen gab, behalten dürfe, behielt er sie denn auch, aber es<br />

erstaunte mich, dass er mich fragte, warum ich an den alten<br />

Formen festhalte. Trotzdem wünschte er mir weiter viel Glück<br />

<strong>und</strong> vermerkte am Schluss noch, dass er sich über die<br />

339


Zusendung me<strong>in</strong>er Gedichte sehr gefreut habe, aber seitdem<br />

habe ich auch von ihm nie mehr etwas gehört.<br />

Wenige Tage nach diesem überraschenden Besuch des<br />

Klassenkollegen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Pensionszimmer wurde es mir so<br />

richtig bewusst, welche St<strong>und</strong>e für mich geschlagen hatte. Da<br />

die Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler ihre Zeugnisse immer <strong>in</strong> der<br />

reformierten Kirche, <strong>in</strong> der <strong>in</strong> jedem April e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />

schul<strong>in</strong>terne Schlussfeier abgehalten wurde, persönlich abholen<br />

mussten, blieb mir nichts anderes übrig, als dort noch e<strong>in</strong>mal zu<br />

ersche<strong>in</strong>en. Im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> betrachtet hätte ich mir diesen Gang<br />

ersparen können, weil das Zeugnis mir sicher nachgeschickt<br />

worden wäre, aber damals war ich noch viel zu brav <strong>und</strong> zu<br />

gutgläubig <strong>und</strong> hatte noch nicht das heutige<br />

Selbstbewusstse<strong>in</strong>, mit dem wiederum andere Probleme haben.<br />

Als ich oben von der Tribüne aus zuschauen <strong>und</strong> vor allem<br />

zuhören musste, wie drei aus me<strong>in</strong>er ersten Klasse, die schon<br />

seit Monaten nicht mehr mit mir sprachen, vorn e<strong>in</strong>en Sketch<br />

vortrugen, der humorvoll se<strong>in</strong> sollte <strong>und</strong> trotzdem schräg geriet,<br />

viel Beifall bekamen, gab es mir fast e<strong>in</strong>en Stich <strong>in</strong>s Herz.<br />

Zusätzlich entdeckte ich von oben mitten im Publikum die<br />

Mutter des e<strong>in</strong>en, den ich nur e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre zuvor sogar bei<br />

sich zu Hause hatte besuchen können - <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit, als ich e<strong>in</strong><br />

noch besserer Schüler gewesen war, so dass er noch mit mir<br />

gesprochen hatte. Da diese Frau schon an jenem Tag deutlich<br />

gezeigt hatte, wie stolz sie auf ihren Sohn war, erstaunte es<br />

mich nicht, dass sie auch jetzt, wenige Monate vor den<br />

Maturaprüfungen, so strahlte. Ich weiss nicht mehr, wer am<br />

Schluss dieser Veranstaltung die Zeugnisse unserer Klasse<br />

verteilte, aber ich er<strong>in</strong>nere mich noch gut an die letzte Szene:<br />

Kaum hatte ich me<strong>in</strong> Zeugnis <strong>in</strong> den Händen, bekam ich noch<br />

e<strong>in</strong>en kurzen Blickkontakt zu e<strong>in</strong>er Mitschüler<strong>in</strong> dieser Klasse,<br />

aber ich verabschiedete mich nicht von ihr <strong>und</strong> nickte ihr nicht<br />

e<strong>in</strong>mal zu, obwohl ich mit ihr immer gut ausgekommen war,<br />

aber auch nie näher mit ihr zu tun gehabt hatte. Dieser<br />

340


Abschied von <strong>Trogen</strong>, wo ich eigentlich noch gern geblieben<br />

wäre <strong>und</strong> die Schule abgeschlossen hätte, war so bitter, dass<br />

ich nach diesem kurzen Blickkontakt sofort nach draussen g<strong>in</strong>g<br />

<strong>und</strong> zur Pension zurückkehrte, <strong>und</strong> fast alle von dort habe ich<br />

seitdem nie mehr gesehen.<br />

Dieser Kontakt zum Schüler, der sich als E<strong>in</strong>ziger persönlich<br />

von mir verabschiedete, versandete zwar genauso wie alle<br />

anderen, aber ich traf ihn durch Zufall noch zweimal auf der<br />

Strasse, als er noch <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> wohnte. Später wurde er e<strong>in</strong><br />

Forstwart, also das Gleiche, was „Beno“ immer hatte studieren<br />

wollen, <strong>und</strong> unsere Wege verloren sich erst recht, nachdem er<br />

von <strong>Zürich</strong> weggezogen war <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Nähe von W<strong>in</strong>terthur e<strong>in</strong><br />

neues Leben begonnen hatte. Ich hatte wie schon mehrmals<br />

erwähnt noch e<strong>in</strong>en zweiten Kontakt zu e<strong>in</strong>em der beiden<br />

Mitschüler <strong>in</strong> der Pension, mit denen ich mich immer gut<br />

verstanden hatte, aber auch dieser verlor sich e<strong>in</strong> paar Jahre<br />

später, nachdem se<strong>in</strong> Vater, den ich ebenfalls persönlich<br />

gekannt hatte, zu Beg<strong>in</strong>n der Achtzigerjahre gestorben war.<br />

Se<strong>in</strong>e Familie war die E<strong>in</strong>zige, die ich <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> manchmal<br />

besuchen konnte, solange ich noch <strong>in</strong> diese Schule g<strong>in</strong>g.<br />

Ganz oben habe ich geschrieben, dass ich mit der <strong>Lehrer</strong>schaft<br />

<strong>in</strong>sgesamt immer gut ausgekommen b<strong>in</strong>, aber nicht mit allen<br />

Schülern. Damit me<strong>in</strong>e ich nicht das Mädchen, das fast me<strong>in</strong>e<br />

erste Liebe wurde, aber e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Burschen, von<br />

denen e<strong>in</strong> paar für kurze Zeit sogar <strong>in</strong> der gleichen Pension<br />

wohnten. Da ich zeitweise zum Teil immer noch unbeholfen <strong>und</strong><br />

tolpatschig war, machte es ihnen Spass, mir immer wieder<br />

zuzusetzen <strong>und</strong> mich sogar auszulachen. Der schlimmste von<br />

allen war der oben kurz erwähnte Auslandschweizer, der den<br />

gleichen Familiennamen wie unser Russisch-<strong>Lehrer</strong> trug <strong>und</strong><br />

direkt nach "Alis" Weggang <strong>in</strong> unsere Pension e<strong>in</strong>trat <strong>und</strong> mir<br />

schon <strong>in</strong> den ersten Tagen zeigte, dass ich für ihn das<br />

H<strong>in</strong>terletzte war. Als Sohn e<strong>in</strong>er reichen Familie mehrsprachig<br />

<strong>in</strong> Brasilien <strong>und</strong> Costa Rica aufgewachsen, liess er mich immer<br />

341


wieder spüren, um wie viel besser als ich er doch war. Daran<br />

änderte sich nicht e<strong>in</strong>mal dann etwas, als ich e<strong>in</strong>es Tages von<br />

irgendwoher plötzlich e<strong>in</strong>e Gitarre geschenkt bekam. Da ich mir<br />

das Spielen nicht selbst beibr<strong>in</strong>gen konnte - übrigens noch bis<br />

heute nicht -, war ich so dumm <strong>und</strong> naiv, um sie ihm vorerst nur<br />

auszuleihen <strong>und</strong> später sogar ganz zu schenken. Von diesem<br />

Tag an war von se<strong>in</strong>em Zimmer ganz oben zu hören, wie er<br />

sich das Gitarrespielen selbst beibrachte <strong>und</strong> dabei mit e<strong>in</strong>er<br />

fürchterlichen Stimme ungeniert laut sang. Ob es überhaupt<br />

stimmte, dass auch er dieses Instrument noch nicht spielen<br />

konnte, als ich es ihm vorerst nur auslieh, oder ob er mich<br />

schlicht nur angelogen hatte, konnte ich nie herausf<strong>in</strong>den. Auf<br />

jeden Fall konnte er tatsächlich etwas <strong>und</strong> auch sonst war er<br />

immer e<strong>in</strong> so guter Schüler, dass er später die Maturaprüfungen<br />

fast spielend schaffte, <strong>in</strong> der ETH studierte <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e eigene<br />

Firma gründete, die im Gegensatz zu vielen anderen nicht<br />

Konkurs gegangen ist, sondern noch heute existiert.<br />

Ich hatte also nicht nur mit mehreren <strong>Lehrer</strong>n negative<br />

Erlebnisse - vor allem das, als die Drohne mich für e<strong>in</strong>e Woche<br />

vom Unterricht ausschloss -, sondern auch mit Schülern, <strong>und</strong><br />

aufgr<strong>und</strong> der obigen Worte ist es logisch, dass ich die<br />

negativsten gerade mit diesem hatte, der <strong>in</strong> der gleichen<br />

Pension wohnte. Als ich e<strong>in</strong>mal im Chemie-Labor Heihei<br />

irgendetwas fragte, sah er wieder se<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>e gekommen, um<br />

mir e<strong>in</strong>es auszuwischen, <strong>und</strong> so sagte er zu e<strong>in</strong>em direkt neben<br />

ihm stehenden anderen Auslandschweizer, der <strong>in</strong> Barcelona<br />

aufgewachsen war <strong>und</strong> ähnliche Allüren zeigte, auffallend laut:<br />

"Como él es tonto!" ("Wie blöd er ist!"). Darauf fragte der<br />

andere: "El no comprende eso?" ("Versteht er das nicht?"). Und<br />

er antwortete siegesbewusst: "No, él no comprende español."<br />

("Ne<strong>in</strong>, er versteht ke<strong>in</strong> Spanisch.") Da hatte er sich aber<br />

gründlich getäuscht. Ich hatte diese Sprache zwar nie gelernt,<br />

aber ich verstand trotzdem vieles oder konnte m<strong>in</strong>destens den<br />

S<strong>in</strong>n der Worte verstehen. Wäre ich damals so schlagfertig<br />

gewesen, wie ich es heute b<strong>in</strong>, hätte ich ihm sofort die<br />

342


entsprechende rhetorische Antwort geben können.<br />

Da er sich derart auf mich e<strong>in</strong>geschossen hatte, ist es klar, dass<br />

ich mir auch die Erlebnisse mit ihm dementsprechend besser<br />

e<strong>in</strong>prägen konnte. Dazu gehört auch die kle<strong>in</strong>e Musikparty, die<br />

wir e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Pension im grössten Zimmer ganz oben<br />

hatten. An diesem Samstagabend, an dem wir so wie immer<br />

genügend Zeit hatten, war eigentlich vorgesehen, dass er sich<br />

mit e<strong>in</strong>em der e<strong>in</strong>geladenen Mädchen, die ich nicht näher<br />

kannte, etwas befassen sollte. Gerade dann war er, der sonst<br />

immer e<strong>in</strong>e laute Röhre führte, vor allem wenn es gegen mich<br />

g<strong>in</strong>g, nicht e<strong>in</strong>mal fähig, mit ihr zu sprechen, sondern sass nur<br />

st<strong>und</strong>enlang fast Rücken an Rücken mit ihr, <strong>und</strong> am Schluss<br />

gab er ihr bloss die Hand <strong>und</strong> sagte e<strong>in</strong> leises "Tschau" - dieses<br />

Mädchen tat mir ehrlich leid. Ich erzähle das auch deshalb, weil<br />

er e<strong>in</strong> paar Jahre später zu me<strong>in</strong>er grossen Überraschung<br />

tatsächlich heiratete, wie ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeitungsanzeige lesen<br />

konnte, <strong>und</strong> ansche<strong>in</strong>end ist er mit dieser Frau bis heute gut<br />

gefahren, ja, er hat mit ihr sogar drei Söhne gezeugt.<br />

Es ist nichts anderes als logisch, dass auch er e<strong>in</strong>er der drei<br />

oben Erwähnten war, die <strong>in</strong> unserer Pension wohnten <strong>und</strong><br />

unserer Schlummermutter offensichtlich derart zusetzten, dass<br />

sie e<strong>in</strong> paar von uns im Frühl<strong>in</strong>g 1972 kurz vor den Ferien, als<br />

gleich alle drei auszogen, die bei Knall zitierten Worte sagte, sie<br />

sei sehr erleichtert, dass gerade die drei, die sie gehasst hätten,<br />

jetzt ausgezogen seien - <strong>und</strong> erst nachher war es ihr möglich,<br />

wie oben erwähnt drei Beh<strong>in</strong>derte aufzunehmen. Ich staune<br />

noch heute darüber, dass sie es nicht fertiggebracht hatte,<br />

dieses e<strong>in</strong>gebildete Bürschchen auf die gleiche Weise<br />

auszuschliessen wie den Rekordhalter im Hochsprung e<strong>in</strong> paar<br />

Jahre zuvor, aber es spielte wohl auch mit, dass dieser nicht so<br />

offen vor allen diskutierte wie se<strong>in</strong>erzeit der andere. Im<br />

Gegensatz zu den beiden anderen verliess er jedoch nicht die<br />

Schule <strong>und</strong> damit auch <strong>Trogen</strong>, sondern wechselte nur die<br />

Pension <strong>und</strong> bestand e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre später die<br />

343


Maturaprüfungen ebenfalls.<br />

Dass er sich nicht allzu stark verändert hatte, zeigte er etwa vier<br />

Jahre nach me<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong>, als wir uns durch<br />

e<strong>in</strong>en Zufall über den Weg liefen, das heisst, ich sah ihn gar<br />

nicht richtig, sondern hörte nur, wie jemand mich von h<strong>in</strong>ten<br />

ansprach. Als ich darauf reagierte, war er schon an mir<br />

vorbeigegangen, <strong>und</strong> ich sah nur noch, dass er mich von vorn<br />

komisch begrüsste, <strong>in</strong>dem er nur mit dem Kopf nickte, <strong>und</strong><br />

schon war er wieder weg. Da er nach se<strong>in</strong>em Studium nicht<br />

wieder <strong>in</strong> se<strong>in</strong> costaricanisches Paradies zurückkehrte, sondern<br />

hierblieb, hätten wir uns fast immer wieder über den Weg laufen<br />

können. Ich habe viele Jahre später entdeckt, dass wir lange<br />

Zeit nur wenige Kilometer vone<strong>in</strong>ander entfernt wohnten, ich<br />

wie oben erwähnt <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong>-Schwamend<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

der Nachbardörfer.<br />

Was noch den dritten Schüler betrifft, mit dem me<strong>in</strong>e<br />

Schlummermutter zeitweise - aber wenigstens nicht immer -<br />

nicht klarkam, hatte ich mit ihm, der den Familiennamen Barth<br />

trug, aber mit dem noch heute bekannten Kirchenmann Karl<br />

Barth nicht verwandt war, schon vom ersten Tag an Probleme,<br />

so dass e<strong>in</strong>mal für e<strong>in</strong>e Schlägerei nur wenig fehlte. Dabei<br />

spielte es für mich ke<strong>in</strong>e Rolle, dass er von Basel kam;<br />

schliesslich stammten nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung auch Schorsch I<br />

<strong>und</strong> Keller von dieser Stadt, <strong>und</strong> ich verstand mich mit dem<br />

oben im Vorwort erwähnten Terangi, den auch er kannte,<br />

besonders gut - zudem achtete ich damals noch nicht so stark<br />

auf die verschiedenen Dialekte. Da die viel zitierte Chemie<br />

zwischen uns von Anfang an nicht stimmte, g<strong>in</strong>gen wir uns<br />

selbst <strong>in</strong>nerhalb des gleichen Hauses so weit wie möglich aus<br />

dem Weg, <strong>und</strong> es änderte sich auch nichts daran, dass wir bei<br />

der Konfirmation im April 1970 auf die gleiche Aufnahme<br />

kamen, die auf der Treppe h<strong>in</strong>ter der reformierten Kirche<br />

gemacht wurde, weil wir nun e<strong>in</strong>mal zusammen konfirmiert<br />

wurden. Deshalb war es umso seltsamer, aber auch besser,<br />

344


dass wir den Konfirmandenunterricht nicht zusammen besucht<br />

hatten, weil der Pfarrer mehrere Klassen gehabt hatte.<br />

Er zahlte es mir auf e<strong>in</strong>e besonders heimtückische Weise heim,<br />

dass wir nie Fre<strong>und</strong>e oder wenigstens Kollegen wurden:<br />

Obwohl er wusste, dass se<strong>in</strong> Vater ihn an jedem Donnerstag<br />

um die gleiche Zeit kurz nach dem Mittagessen anrief, <strong>und</strong><br />

zugleich wusste, dass ich nach dem Räumen des Speisesaals<br />

fast immer noch etwas Fernsehen schaute, verzog er sich<br />

geradezu bösartig immer <strong>in</strong>s oberste Zimmer, das e<strong>in</strong>er<br />

bewohnte, mit dem er sich gut verstand. Es nützte nichts, von<br />

unten nach oben zu rufen, weil er das nicht hören konnte oder<br />

wollte; also musste ich jedes Mal h<strong>in</strong>aufsteigen. Es war ebenso<br />

seltsam, dass er nach se<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong> genau e<strong>in</strong><br />

Jahr später auftauchte <strong>und</strong> sogar e<strong>in</strong> Wochenende im<br />

Gästezimmer schlafen durfte, das auch ich bei me<strong>in</strong>en späteren<br />

wenigen Besuchen benützte - ausgerechnet am gleichen<br />

Wochenende, als ich im Zimmer direkt nebenan me<strong>in</strong>e Sachen<br />

packte. Sogar dann zeigte er mir, wie wenig er von mir hielt: Er<br />

sprach mit mir ke<strong>in</strong> Wort, ja, schaute mich nicht e<strong>in</strong>mal an.<br />

Wenige Monate später hörte ich von der Schlummermutter bei<br />

e<strong>in</strong>em me<strong>in</strong>er Besuche, dass se<strong>in</strong> Vater, der genauso seltsam<br />

gewesen war wie er, sich das Leben genommen hatte. Was aus<br />

ihm selbst <strong>und</strong> auch aus dem Dritten im B<strong>und</strong>e geworden ist,<br />

der vorübergehend den oben erwähnten Dalmat<strong>in</strong>er namens<br />

Extor im Haus hatte unterbr<strong>in</strong>gen dürfen, mit dem ich selbst<br />

jedoch nie Probleme hatte, konnte ich nie erfahren. Auch diese<br />

zwei s<strong>in</strong>d im Dunkel der Geschichte verschw<strong>und</strong>en.<br />

Als ich etwa e<strong>in</strong> halbes Jahr nach me<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong><br />

mit e<strong>in</strong>er guten Bekannten, die mehr als zehn Jahre älter <strong>und</strong><br />

damit auch viel erfahrener war, über me<strong>in</strong>e negativen<br />

Erlebnisse <strong>in</strong> der Pension sprach, sagte sie treffend: "Ihr wart<br />

doch alle noch K<strong>in</strong>der." Ja, das waren wir, aber doch auch<br />

schon halbe Erwachsene, <strong>und</strong> deshalb taten auffallend viele<br />

schon so, als wüssten sie alles, <strong>und</strong> zu diesen gehörte vor<br />

345


allem der spätere ETH-Student. Ich habe später auch noch<br />

andere ehemalige <strong>Trogen</strong>er Schüler persönlich getroffen, aber<br />

im Gegensatz zu diesem war ihnen deutlich anzumerken, dass<br />

sie tatsächlich erwachsen geworden waren.<br />

Heute, nach so vielen Jahrzehnten, die fast alle W<strong>und</strong>en heilen<br />

liessen, halte ich es so, wie die noch heute weltberühmte Edith<br />

Piaf e<strong>in</strong>st gesungen hat: „C’est payé, balayé, oublié - je me fous<br />

du passé.“ («Es ist bezahlt, weggewischt, vergessen - ich<br />

kümmere mich nicht mehr um die Vergangenheit.»). Ich habe<br />

den zweiten Teil dieses Satzes bewusst locker übersetzt, weil<br />

se<strong>in</strong> tiefer S<strong>in</strong>n <strong>in</strong>s Vulgäre reicht, aber das zweite <strong>und</strong> dritte<br />

Wort des ersten Teils treffen nicht zu. Tatsächlich habe ich<br />

praktisch nichts vergessen, sonst hätte ich über me<strong>in</strong>e <strong>Lehrer</strong><br />

<strong>und</strong> auch über die beiden Mitbewohner der Pension, mit denen<br />

ich mich nie verstand, nicht so ausführlich schreiben können.<br />

Es hilft mir jedoch immer wieder, was ich e<strong>in</strong>mal von e<strong>in</strong>em<br />

frommen Mann gelesen habe: „Wenn schon der Gottessohn<br />

unsere Sünden vergeben konnte <strong>und</strong> noch heute kann, können<br />

wir das ruhig auch tun.“ In diesem S<strong>in</strong>n habe ich tatsächlich<br />

allen vergeben, sogar diesen beiden, die ich hier besonders<br />

<strong>und</strong> sogar mit Namen erwähnt habe, auch wenn es wegen<br />

dieser Zeilen nicht so sche<strong>in</strong>en mag.<br />

Ich f<strong>in</strong>de es nur schade, dass so gut wie alle nachher nicht<br />

mehr miterlebt haben, was aus mir geworden ist, <strong>und</strong> da mich<br />

auch niemand gefragt hat, weil ich ihnen gleichgültig war,<br />

konnten sie das auch nie sehen: Aus e<strong>in</strong>em schüchternen<br />

Buben, der im K<strong>in</strong>dergarten we<strong>in</strong>te, als er von der<br />

K<strong>in</strong>dergärtner<strong>in</strong> zum ersten Mal direkt angesprochen wurde,<br />

<strong>und</strong> aus e<strong>in</strong>em unbeholfenen <strong>und</strong> tolpatschigen Burschen, der<br />

manchmal vor lauter Unsicherheit nicht deutlich sprechen<br />

konnte <strong>und</strong> deshalb immer wieder auch ausgelacht wurde, ist<br />

e<strong>in</strong> selbstbewusster, welt- <strong>und</strong> redegewandter sowie<br />

vielsprachiger Mann geworden, mit dem sich niemand mehr<br />

anlegt. Das haben nicht zuletzt auch Armee-Offiziere <strong>und</strong><br />

346


Polizisten erfahren müssen, wenn ich me<strong>in</strong> geschliffenes<br />

M<strong>und</strong>werk e<strong>in</strong>setzte, aber ohne sie zu beleidigen. Aus dem<br />

stets unterschätzten <strong>und</strong> oft auch ausgelachten Stump ist halt<br />

doch noch etwas geworden.<br />

Dazu gehört auch dies: Ich konnte das Gymnasium zwar nicht<br />

abschliessen <strong>und</strong> habe auch später nie mehr versucht, die<br />

Matura noch nachzuholen, obwohl ich immer wieder dazu<br />

aufgefordert wurde - <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>eswegs nur von me<strong>in</strong>en<br />

biologischen Eltern <strong>und</strong> vor allem von der Mutter, die mich kurz<br />

nach me<strong>in</strong>em Ausschluss von <strong>Trogen</strong> offen als e<strong>in</strong>zigen<br />

Versager <strong>in</strong> ihrer Familie bezeichnete, was aber nicht e<strong>in</strong>mal<br />

stimmte, <strong>und</strong> mich im Gr<strong>und</strong>e noch bis zu ihrem Ableben immer<br />

als e<strong>in</strong>en solchen sah, obwohl sie das nie mehr so direkt sagte<br />

wie an jenem Tag. Ich habe jedoch damit Recht bekommen,<br />

dass ich der Me<strong>in</strong>ung war, ich könne me<strong>in</strong> Leben ganz gut auch<br />

ohne e<strong>in</strong> Maturazeugnis <strong>und</strong> ohne e<strong>in</strong>en akademischen<br />

Abschluss meistern. Vier Jahrzehnte später bestätigte der<br />

Klassenlehrer me<strong>in</strong>er jüngeren Tochter, die ebenfalls e<strong>in</strong><br />

Gymnasium besuchte <strong>und</strong> dieses im Gegensatz zu mir auch<br />

erfolgreich abschliessen konnte, me<strong>in</strong>e Worte <strong>in</strong> Bezug auf das<br />

Akademikertum. Am E<strong>in</strong>führungstag für die neuen Schüler<strong>in</strong>nen<br />

<strong>und</strong> Schüler sagte er im Wissen darum, dass nicht alle e<strong>in</strong>en<br />

Abschluss schaffen, auf dem Rednerpult ungeniert, dass<br />

jemand nicht unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en akademischen Titel brauche, um<br />

glücklich zu werden. Als ich ganze vier Jahre später nach den<br />

erfolgreichen Maturaprüfungen me<strong>in</strong>er Tochter endlich die<br />

Gelegenheit bekam, mit ihm darüber zu sprechen, sagte er mir,<br />

dass er wegen dieser E<strong>in</strong>stellung von verschiedenen<br />

<strong>Lehrer</strong>kollegen zum Teil sogar angefe<strong>in</strong>det worden war. Leider<br />

bewahrheitete sich auch bei ihm das oben zitierte Sprichwort,<br />

dass die Guten nicht immer lange leben, weil er nur wenige<br />

Monate nach unserem Gespräch plötzlich an e<strong>in</strong>em Herz<strong>in</strong>farkt<br />

verschied.<br />

Nach e<strong>in</strong>em vorübergehenden Abtauchen <strong>in</strong> die Welt der<br />

347


Produktion - eigentlich e<strong>in</strong> kapitalistisches Wort, das aber auch<br />

die Kommunisten <strong>und</strong> Sozialisten viel verwendeten -, <strong>in</strong> der ich<br />

im Gegensatz zu den meisten «Studierten» die Welt <strong>und</strong> die<br />

Denkweise der Arbeiter <strong>und</strong> e<strong>in</strong>fachen Angetellten nicht nur bei<br />

kurzen Ferienjobs, sondern auch aus eigener längerer<br />

Anschauung richtig kennen lernte, kehrte ich auf me<strong>in</strong>e eigene<br />

Weise wieder zum Studieren zurück. Es dauerte zwar e<strong>in</strong> paar<br />

Jahre, bis ich me<strong>in</strong> Leben auf e<strong>in</strong>er ganz anderen Spur, als sie<br />

für mich ursprünglich vorgesehen war, etwas umgestellt hatte,<br />

aber es gelang mir doch noch, e<strong>in</strong>en zu mir passenden Beruf<br />

zu erlernen, <strong>in</strong> dem ich mich bewähren konnte <strong>und</strong> auch<br />

tatsächlich bewährt habe.<br />

E<strong>in</strong>es hat mich jedoch immer gewurmt: Da jemand <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong><br />

trotz aller schönen Erlebnisse ohne e<strong>in</strong> Abschlusszeugnis <strong>in</strong><br />

Form e<strong>in</strong>er Matura oder e<strong>in</strong>es Handelsdiploms nie so richtig<br />

dazugehörte, schwor ich mir schon kurz nach dem Wegzug von<br />

der Schule, dass ich mich dort erst wieder zeigen würde, wenn<br />

es mir gelungen war, auf irgende<strong>in</strong>e Weise bekannt zu werden -<br />

sie sollten alle sehen, dass auch ich zu etwas fähig war. Schon<br />

damals schrieb ich viel <strong>und</strong> hatte auch noch Musikprojekte,<br />

aber es ist mir bis heute nie gelungen, was ich damals vorhatte.<br />

Deshalb besuchte ich <strong>in</strong> den ersten paar Jahren zwar noch<br />

me<strong>in</strong>e ehemalige Schlummermutter e<strong>in</strong> paar Mal, aber ich<br />

zeigte mich nie mehr an e<strong>in</strong>em Schülerabend <strong>und</strong> <strong>in</strong>formierte<br />

mich auch nie - auch deshalb nicht, weil es ja noch ke<strong>in</strong> Internet<br />

oder andere nützliche Netzwerke gab. So ist die Frage für<br />

immer unbeantwortet geblieben, ob Tobi mich immer noch so<br />

wie früher mit e<strong>in</strong>em fast fröhlichen „Grüezi Juha!“ begrüsst<br />

hätte <strong>und</strong> wie alle anderen, die mich gekannt hatten, auf mich<br />

reagiert hätten.<br />

E<strong>in</strong> Trost, wenn nicht gar e<strong>in</strong>e Genugtuung ist mir jedoch<br />

geblieben: Von sämtlichen Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schülern, mit<br />

denen ich es <strong>in</strong> beiden Schulen zu tun hatte, ist es niemandem<br />

gelungen, irgendwie bekannt zu werden, ob sie das<br />

348


Rampenlicht nun gesucht hatten oder nicht. Auch die <strong>Trogen</strong>er<br />

Burschen mit den lautesten Röhren s<strong>in</strong>d irgendwo im<br />

Nirgendwo verschw<strong>und</strong>en, weil ich von den meisten auch mit<br />

Hilfe des Internets wenig bis nichts herausgef<strong>und</strong>en habe. Die<br />

drei e<strong>in</strong>zigen Ausnahmen haben den Weg an die Sonne auch<br />

nur dank des Sports gef<strong>und</strong>en, aber <strong>in</strong>zwischen s<strong>in</strong>d auch sie<br />

schon fast vergessen. Was die anderen betrifft, haben sie zwar<br />

zum grössten Teil studiert <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en akademischen Beruf<br />

ergriffen, standen also lebenslang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em höheren Ansehen<br />

als ich, aber sie haben es nicht entscheidend weitergebracht.<br />

Jetzt, da fast alle von uns, die noch heute leben, pensioniert<br />

s<strong>in</strong>d, zeigt sich das erst recht. Ich habe das <strong>in</strong> den drei Chören<br />

gesehen, <strong>in</strong> denen ich bis vor kurzem mitgesungen habe: Wenn<br />

jemand e<strong>in</strong>mal pensioniert ist, fragt niemand mehr danach, was<br />

er oder sie früher gemacht hat. So wurde ich nie gefragt <strong>und</strong><br />

auch ich fragte niemanden, mit der Zeit enthüllt sich sowieso<br />

fast alles von selbst. Trotzdem ärgerte es mich, dass ich es mir<br />

jahrzehntelang gefallen lassen musste, dass ich bei<br />

Stellenbewerbungen immer wieder gefragt wurde, warum ich<br />

damals das Gymnasium nicht abgeschlossen hatte. Aber wie<br />

hat doch Edith Piaf so passend gesungen: Je me fous du<br />

passé.<br />

Die beiden e<strong>in</strong>zigen Ausnahmen von denen, die ich <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong><br />

persönlich kannte, die aber nicht durch den Sport bekannt<br />

wurden, haben e<strong>in</strong>e Karriere h<strong>in</strong>gelegt, denen ich sie ehrlich<br />

gönne, weil sie ke<strong>in</strong>e laute Röhre führten <strong>und</strong> zu mir immer<br />

fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> anständig waren. Der e<strong>in</strong>e, den ich erst <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

zweiten Klasse richtig kennen lernte, wurde später e<strong>in</strong><br />

bekannter Kunstmaler, dem ich im Niederdorf, wo ich <strong>in</strong> den<br />

Siebziger- <strong>und</strong> Achtzigerjahren noch viel verkehrte, immer<br />

wieder begegnete, weil er direkt nebenan wohnte, <strong>und</strong> der<br />

später ab der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre fast dreissig<br />

Jahre lang <strong>in</strong> New York lebte. Ich sage noch heute, dass wir<br />

zwei uns auch wegen des geme<strong>in</strong>samen Künstlerbluts, das ich<br />

oben im Zusammenhang mit dem Sohn des bekannten<br />

349


Schriftstellers erwähnt habe, immer gut verstanden haben.<br />

Der andere, der e<strong>in</strong>e Klasse über mir war, schaffte später dank<br />

se<strong>in</strong>er Erf<strong>in</strong>dung der sogenannten MST-Schuhe, denen e<strong>in</strong><br />

paar Jahre später auch noch die KyBoots folgten, e<strong>in</strong>e<br />

wirtschaftliche Weltkarriere. Was aussergewöhnlich kl<strong>in</strong>gt, ist <strong>in</strong><br />

Wirklichkeit e<strong>in</strong> anderes Sortiment von Turnschuhen <strong>und</strong><br />

«Sportstiefeln», die zwar bei den meisten Spitzensportlern<br />

beliebt, aber bei vielen anderen auch umstritten s<strong>in</strong>d. Da ich<br />

selbst bis heute nie solche getragen habe, kann ich nicht<br />

beurteilen, ob sie wirklich besser als die anderen Modelle s<strong>in</strong>d,<br />

aber sie s<strong>in</strong>d auf jeden Fall viel teurer. Auch auf diese Weise<br />

hat er es zu e<strong>in</strong>em Millionär gebracht <strong>und</strong> gleich noch e<strong>in</strong>mal<br />

gezeigt, wie viel positive Energie <strong>in</strong> ihm steckte: Zuerst verlor er<br />

aus verschiedenen Gründen se<strong>in</strong> ganzes Vermögen … <strong>und</strong><br />

wenige Jahre später war er schon wieder e<strong>in</strong> Millionär, auch<br />

dank der KyBoots, se<strong>in</strong>em zweiten «Baby», wie das heute so<br />

modern heisst. Im Gegensatz zu den meisten anderen<br />

millionenschweren Geschäftsleuten sorgt er jedoch dafür, dass<br />

e<strong>in</strong> Teil des Gew<strong>in</strong>ns aus e<strong>in</strong>er Stiftung regelmässig an<br />

Bedürftige gespendet wird - nicht zuletzt auch dank se<strong>in</strong>er<br />

christlichen Überzeugung, die <strong>in</strong> der heutigen «modernen» <strong>und</strong><br />

«aufgeklärten» Welt nicht mehr viel zählt.<br />

Viel <strong>in</strong>teressanter ist für mich, dass er aufgr<strong>und</strong> des Kontaktes<br />

zum oben erwähnten Koreaner, den ich ebenfalls kannte, der<br />

im K<strong>in</strong>derdorf Pestalozzi wohnte <strong>und</strong> zusammen mit ihm <strong>in</strong> der<br />

gleichen Klasse die Maturaprüfungen bestand, kurz darauf<br />

Koreanistik studierte, <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> Korea selbst, wo er lange<br />

auch als e<strong>in</strong> erfolgreicher Geschäftsmann lebte. Wenn von den<br />

ostasiatischen Sprachen die Rede ist, haben die meisten schon<br />

immer ans Ch<strong>in</strong>esische - genauer ans Mandar<strong>in</strong>-Ch<strong>in</strong>esische -<br />

<strong>und</strong> ans Japanische gedacht, <strong>und</strong> tatsächlich habe ich im<br />

Verlauf me<strong>in</strong>es Lebens, <strong>in</strong> dem ich es mit Leuten aus aller Welt<br />

zu tun hatte, auch e<strong>in</strong>e Frau aus <strong>Zürich</strong> selbst kennen gelernt,<br />

die sowohl S<strong>in</strong>ologie als auch Japanologie studiert hatte. Dabei<br />

350


konnte sie nach ihren Worten Japanisch besser als Ch<strong>in</strong>esisch,<br />

obwohl dieses den Ruf hat, viel leichter zu se<strong>in</strong>. Im Bereich der<br />

Grammatik stimmt das, aber nicht beim Alfabet, weil auch noch<br />

heute etwa 5'000 «Buchstaben» oder genauer<br />

Bilderkomb<strong>in</strong>ationen gelernt werden müssen, um e<strong>in</strong>e Zeitung<br />

lesen zu können, während das Japanische, das eigentlich drei<br />

Alfabete zusammen verwendet - neben dem Katakana, das<br />

überwiegend bei Eigennamen <strong>und</strong> Fremdwörtern zum Zug<br />

kommt, auch noch das Hiragana <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e vom Ch<strong>in</strong>esischen<br />

stammende Schrift, die «Kanji» genannt wird -, mit knapp unter<br />

2'000 auskommt.<br />

Da Korea als Ganzes schon immer im Schatten zwischen den<br />

beiden Giganten Ch<strong>in</strong>a <strong>und</strong> Japan gestanden ist <strong>und</strong> deshalb<br />

auch die koreanische Sprache im Vergleich zum Ch<strong>in</strong>esischen<br />

<strong>und</strong> Japanischen immer e<strong>in</strong> Stiefk<strong>in</strong>d-Dase<strong>in</strong> geführt hat,<br />

sche<strong>in</strong>t es logisch zu se<strong>in</strong>, dass wirklich brauchbare Lehrbücher<br />

erst nach der Jahrtausendwende erschienen s<strong>in</strong>d. Deshalb<br />

f<strong>in</strong>de ich es umso aussergewöhnlicher, dass jemand, den ich<br />

persönlich kannte, sich schon vor dieser Zeit <strong>in</strong>tensiv mit dieser<br />

Sprache beschäftigt hat, die <strong>in</strong> der Grammatik mit dem<br />

Japanischen erstaunlich viele Geme<strong>in</strong>samkeiten teilt, aber<br />

phonetisch ganz anders kl<strong>in</strong>gt <strong>und</strong> sowieso e<strong>in</strong>en ganz anderen<br />

Wortschatz aufweist. Obwohl se<strong>in</strong> Alfabet im Ruf steht, leicht<br />

erlernbar zu se<strong>in</strong>, <strong>und</strong> ich das auch bestätigen kann, habe ich<br />

mir nie die Mühe genommen, es richtig zu lernen, weil die<br />

weisen Worte e<strong>in</strong>es Kollegen, der diese schon vor mehr als<br />

vierzig Jahren sagte, halt doch stimmen: «In e<strong>in</strong>e Sprache<br />

kommst du erst dann wirklich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, wenn du sie brauchst». Da<br />

ich das Koreanische eben nie wirklich brauchte, habe ich das<br />

Alfabet auch nie richtig gelernt, aber das betrifft auch das<br />

Ch<strong>in</strong>esische <strong>und</strong> Japanische, von dem ich wenigstens das<br />

Katakana <strong>und</strong> das Hiragana lesen kann, wenn ich die<br />

entsprechenden Spicks zur Verfügung habe. Von diesen beiden<br />

Giganten-Sprachen kenne ich nur je zwei Zeichen: Das für<br />

e<strong>in</strong>en Menschen, das <strong>in</strong> beiden Sprachen identisch ist, sowie im<br />

351


Ch<strong>in</strong>esischen das, was alles enthält, das mit Ch<strong>in</strong>a zu tun hat<br />

(Ch<strong>in</strong>a, Ch<strong>in</strong>ese, Ch<strong>in</strong>es<strong>in</strong>, ch<strong>in</strong>esisch), <strong>und</strong> im Japanischen<br />

das, was alles enthält, was mit Japan zu tun hat (Japan,<br />

Japaner, Japaner<strong>in</strong>, japanisch) - aber immerh<strong>in</strong> das, es s<strong>in</strong>d<br />

zugleich die zwei wichtigsten Zeichen.<br />

Ich weiss das alles, weil ich mich seit den Neunzigerjahren<br />

auch mit den asiatischen Sprachen <strong>und</strong> besonders mit denen<br />

im Osten dieses Riesenkont<strong>in</strong>ents <strong>in</strong>tensiv beschäftige <strong>und</strong><br />

neben vielen europäischen Sprachen auch <strong>in</strong> die drei oben<br />

erwähnten <strong>und</strong> zudem <strong>in</strong>s Mongolische, Thailändische,<br />

Vietnamesische <strong>und</strong> Indonesische (genauer <strong>in</strong>s Bahasa<br />

Indonesia, der offiziellen Landessprache) e<strong>in</strong>fache<br />

Übersetzungen angefertigt habe - allerd<strong>in</strong>gs nur mit dem<br />

late<strong>in</strong>ischen Alfabet, wie ich betonen muss. Die sechs fremden<br />

Alfabete, die ich gelernt habe - das kyrillische, griechische,<br />

hebräische, arabische, armenische <strong>und</strong> georgische - nützen mir<br />

mit dem Laptop nur dann, wenn ich Texte lese, <strong>und</strong> auch nur<br />

dann, wenn bei den zwei semitischen Sprachen die<br />

Vokalzeichen verwendet werden, die zum Beispiel <strong>in</strong> den<br />

Zeitungen <strong>und</strong> im Fernsehen nicht vorkommen, <strong>und</strong> bei den<br />

beiden Letztgenannten muss ich manchmal auch noch spicken,<br />

wie ich offen zugebe. Noch etwas zum Koreanischen: Wenn es<br />

überhaupt e<strong>in</strong>en Beweis dafür braucht, dass ich auch diese<br />

Sprache e<strong>in</strong> wenig kenne, kann ich hier erwähnen, dass der<br />

Firmenname «Kybun», der die oben erwähnten teuren «Stiefel»<br />

verkauft, ans Wort «Kibun» er<strong>in</strong>nert, das auch «Gibun»<br />

geschrieben wird <strong>und</strong> grob umschrieben das bedeutet, was<br />

heute auch im Westen allgeme<strong>in</strong> als «Gesicht» im Verhalten<br />

der Menschen zue<strong>in</strong>ander bezeichnet wird.<br />

Bei me<strong>in</strong>er jahrelangen <strong>in</strong>tensiven Beschäftigung auch mit den<br />

ostasiatischen Sprachen ist mir e<strong>in</strong>es besonders aufgefallen:<br />

Obwohl sie verschiedenen Sprachfamilien angehören, haben<br />

sie alle e<strong>in</strong>e Denkweise, die zu fast h<strong>und</strong>ert Prozent identisch<br />

ist, während die sogenannten <strong>in</strong>dogermanischen oder<br />

352


<strong>in</strong>doeuropäischen Sprachen, für deren Entwicklung aus e<strong>in</strong>er<br />

geme<strong>in</strong>samen Muttersprache aber bis heute jeder klare Beweis<br />

fehlt, viel weiter ause<strong>in</strong>anderstehen, zum Beispiel die keltischen<br />

von den <strong>in</strong>dischen Sprachen - aber auch die romanischen von<br />

den germanischen <strong>und</strong> diese beiden wiederum von den<br />

slawischen Sprachen, deren Aspektsystem ich weiter oben<br />

erklärt habe. Diese Theorie über das sogenannte<br />

Indogermanische oder Indoeuropäische, von dem ich bei<br />

Schorsch I zum ersten Mal gehört habe, hängt eben auch eng<br />

mit der Evolutionstheorie zusammen, so dass es ke<strong>in</strong> Zufall ist,<br />

dass gerade diese beiden Weltanschauungen im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert fast zur gleichen Zeit entstanden s<strong>in</strong>d - aber um<br />

diese ganzen Zusammenhänge näher zu behandeln, wäre e<strong>in</strong><br />

eigenes Buch notwendig.<br />

----------------------------------------------------------------------------<br />

Was die Ehemaligen betrifft, die ich persönlich gekannt habe,<br />

gibt es noch e<strong>in</strong>e hübsche kle<strong>in</strong>e Geschichte zu erzählen: Mehr<br />

als zwanzig Jahre nach me<strong>in</strong>em unfreiwilligen Wegzug von<br />

<strong>Trogen</strong> traf ich <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> bei e<strong>in</strong>em Parkplatz <strong>in</strong> der Nähe<br />

me<strong>in</strong>es damaligen Arbeitsplatzes durch Zufall e<strong>in</strong>en Mann, der<br />

mir auf den ersten Blick bekannt vorkam. Ich musste jedoch<br />

genauer h<strong>in</strong>schauen, um ihn wieder zu erkennen, weil se<strong>in</strong>e<br />

Haare <strong>in</strong>zwischen stark angegraut waren. Es stellte sich<br />

heraus, dass es der Gleiche war, der mit mir damals <strong>in</strong> der<br />

Pension gewohnt <strong>und</strong> dessen Eltern <strong>und</strong> Geschwister ich<br />

persönlich gekannt hatte. Nachdem ich ihm <strong>in</strong> Kurzform erzählt<br />

hatte, was aus mir geworden <strong>und</strong> was alles schiefgelaufen war,<br />

sagte er diese bemerkenswerten Worte: „Aber du bist ja<br />

trotzdem glücklich geworden.“<br />

Dazu passt noch e<strong>in</strong>e weitere Geschichte mit dem gleichen<br />

ehemaligen Schüler: Als ich zu ihm noch Kontakt hatte, erzählte<br />

er mir e<strong>in</strong>mal, dass dieser «Tell», den ich oben erwähnt habe,<br />

der Kantonsschule e<strong>in</strong>en Besuch abgestattet hatte <strong>und</strong> sich<br />

353


dabei wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>dergarten vorgekommen war. Darauf gab<br />

er die treffende Antwort: "So s<strong>in</strong>d wir alle auch gewesen, wir<br />

s<strong>in</strong>d ganz e<strong>in</strong>fach älter geworden." Genau so war es, wie<br />

Dorigo zu sagen pflegte - besser hätte es niemand anders<br />

ausdrücken können.<br />

Es würde eigentlich naheliegen, dass ich auch noch erzähle,<br />

was aus denen geworden ist, die mit mir <strong>in</strong> die gleiche Klasse<br />

g<strong>in</strong>gen, soweit es mir überhaupt bekannt ist. Ich verzichte<br />

jedoch darauf, erstens weil ich <strong>in</strong> diesem Buch vor allem me<strong>in</strong>e<br />

ehemaligen <strong>Lehrer</strong> vorstellen wollte <strong>und</strong> zweitens weil aus den<br />

meisten tatsächlich das geworden ist, was ich bei Schorsch I<br />

<strong>und</strong> auch weiter unten angedeutet habe: Architekten, Ärzte,<br />

Forstwarte, Hoteliers, Ingenieure, Journalisten, <strong>Lehrer</strong>,<br />

Ökonomen, Psychologen, Rechtsanwälte, Tierärzte <strong>und</strong><br />

Zahnärzte <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er wie bei Roth erwähnt sogar e<strong>in</strong> Pfarrer,<br />

aber ich weiss das auch trotz des Internets nur von etwa e<strong>in</strong>em<br />

Drittel mit Sicherheit.<br />

Bei vier von ihnen, die aber nicht <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Klasse g<strong>in</strong>gen,<br />

mache ich e<strong>in</strong>e Ausnahme, weil alle e<strong>in</strong>en bemerkenswerten<br />

Wandel vollzogen haben. Geme<strong>in</strong>sam war ihnen, dass sie<br />

auffallend lange Haare trugen, das aber auch durften, weil sie<br />

genügende Noten schrieben <strong>und</strong> die Schule mit dem<br />

Maturazeugnis verlassen haben. Weiter haben sie geme<strong>in</strong>sam,<br />

dass aus ke<strong>in</strong>em das geworden ist, was aufgr<strong>und</strong> ihrer langen<br />

Haare <strong>und</strong> ihres sonstigen Auftretens hätte vermutet werden<br />

können. Da zwei von ihnen <strong>in</strong> unserer Pension wohnten, lernte<br />

ich diese natürlich etwas besser als die beiden anderen<br />

kennen. Der e<strong>in</strong>e war der Gleiche, der wie oben erzählt nach<br />

e<strong>in</strong>em mehrstündigen Auftritt als Gastsänger unserer<br />

schuleigenen Band drei Tage lang heiser war. Trotz se<strong>in</strong>es<br />

stets progressiven Auftretens wetterte er, der aus e<strong>in</strong>em<br />

begüterten Haus stammte, immer wieder gegen die "Sozis", auf<br />

die er sich richtiggehend e<strong>in</strong>geschossen hatte. Deshalb<br />

erstaunte es mich nicht, als ich von jenem, zu dem ich nachher<br />

354


noch Kontakt hatte, die Nachricht bekam, dass er e<strong>in</strong> Offizier<br />

geworden war. Das war bei ihm wenigstens noch<br />

standesgemäss <strong>und</strong> nicht so schizohaft wie bei e<strong>in</strong>em späteren<br />

Bekannten, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Gymnasium die<br />

Maturaprüfungen bestand <strong>und</strong> den ich kurz darauf an e<strong>in</strong>em<br />

me<strong>in</strong>er ersten Arbeitsplätze kennen lernte. Damals trug er<br />

Haare, die fast bis zum H<strong>in</strong>tern reichten <strong>und</strong> die er trotzdem<br />

nicht so wie viele andere Männer zusammenband, <strong>und</strong> etwa e<strong>in</strong><br />

Vierteljahrh<strong>und</strong>ert später kreuzten sich unsere Wege wieder.<br />

Dann hatte er fast e<strong>in</strong>e Glatze, für die er natürlich nichts konnte,<br />

aber was mich völlig verblüffte, war se<strong>in</strong> Stolz, mit dem er<br />

erzählte, dass er <strong>in</strong> der Armee nicht nur e<strong>in</strong> Offizier, sondern<br />

auch noch e<strong>in</strong> guter Ausbilder geworden war.<br />

Weniger standesgemäss war das, was der andere bot, der <strong>in</strong><br />

unserer Pension wohnte. Da <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Zimmer e<strong>in</strong> grosses<br />

Porträt von Che Guevara h<strong>in</strong>g, der heute genauso wie se<strong>in</strong><br />

Kumpan Fidel Castro viel kritischer beurteilt wird als <strong>in</strong> den<br />

stürmischen Sechziger- <strong>und</strong> Siebzigerjahren, als die<br />

Kommunisten <strong>und</strong> Sozialisten e<strong>in</strong>en weltweiten Siegeszug<br />

feiern konnten, hätte es mich sehr erstaunt, wenn ich rechtzeitig<br />

erfahren hätte, was er schon <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> tat, <strong>und</strong> ich hätte<br />

wirklich e<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong> gehabt, um jemanden immer wieder<br />

hochzunehmen. Wer es wirklich wollte, konnte freiwillig an den<br />

Jungschützenkursen teilnehmen, die nach der Abschaffung des<br />

Obligatoriums weiter angeboten wurden, aber da ich nie gefragt<br />

wurde <strong>und</strong> auch ke<strong>in</strong> Interesse hatte, hörte ich nie davon. Trotz<br />

se<strong>in</strong>er armeekritischen Haltung liess es sich dieser Guevara-<br />

Anhänger nicht nehmen, dort immer mitzuschiessen <strong>und</strong> sogar<br />

noch gut abzuschneiden, aber auch dies hatte e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Logik: Wenn es gegen die angeblichen Faschisten,<br />

Feudalisten, Imperialisten, Konterrevolutionäre, Neonazis,<br />

Reaktionäre, Revanchisten <strong>und</strong> Revisionisten <strong>und</strong> was auch<br />

immer g<strong>in</strong>g, kannten auch die progressivsten L<strong>in</strong>ken, die sich<br />

teilweise noch als Pazifisten bezeichneten, ke<strong>in</strong>e Skrupel mehr,<br />

um zu den Waffen zu greifen, <strong>und</strong> so ist es noch bis heute<br />

geblieben.<br />

355


Den sanftmütigsten Wandel vollzog der Dritte im B<strong>und</strong>e der<br />

langhaarigen Progressiven, die ich hier noch kurz vorstelle: Er<br />

war e<strong>in</strong> Mitglied unserer schuleigenen Musikband <strong>und</strong> bekehrte<br />

sich nicht zuletzt auch durch den E<strong>in</strong>fluss e<strong>in</strong>er Schüler<strong>in</strong>, die<br />

diese Schule ebenfalls besuchte, die ich jedoch nie persönlich<br />

kennen lernte, schon kurz nach den bestandenen<br />

Maturaprüfungen zu den Mormonen. Mehr als dreissig Jahre<br />

später wurde er zum Bischof des Pfahls gewählt, <strong>in</strong> dem er<br />

arbeitete <strong>und</strong> diente. In der Sondersprache der Mormonen, die<br />

ich <strong>in</strong> den Neunzigerjahren durch verschiedene persönliche<br />

Kontakte etwas näher kennen lernte, bedeuten diese Worte auf<br />

die offiziellen Kirchen übertragen, dass er zum Pfarrer oder<br />

Priester e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de gewählt wurde. Da es bei diesen<br />

jedoch e<strong>in</strong>en Turnus gibt, übte er diese Tätigkeit nur e<strong>in</strong> paar<br />

Jahre aus, bis wieder e<strong>in</strong> anderer se<strong>in</strong>en Posten übernahm<br />

oder genauer übernehmen durfte.<br />

Geradezu pervers empf<strong>in</strong>de ich aber noch heute, was aus dem<br />

vierten Progressivulus geworden ist, der sich auffallend viel <strong>in</strong><br />

Szene gesetzt hat. Als ich nicht e<strong>in</strong>mal fünfzehn Jahre nach<br />

me<strong>in</strong>em Wegzug von <strong>Trogen</strong> zeitweise als Briefträger im<br />

Stadtbezirk arbeitete, <strong>in</strong> dem er wohnte, entdeckte ich aufgr<strong>und</strong><br />

der Post, die er bekam, dass er jetzt für die Militärjustiz<br />

arbeitete, nachdem auch er <strong>in</strong> unserer <strong>Trogen</strong>er Zeit noch<br />

gegen alles geschossen hatte, was für se<strong>in</strong>en Geschmack nicht<br />

modern genug gewesen war. Ich dachte zwar noch daran, dass<br />

er von Bern deshalb so viel Post bekam, weil er<br />

Wehrdienstverweigerer verteidigte, aber verschiedene<br />

E<strong>in</strong>zelheiten zwischen den Zeilen auf den Umschlägen haben<br />

mich dann doch zu e<strong>in</strong>em anderen Schluss geführt. Das war für<br />

mich auch e<strong>in</strong>e Erklärung dafür, dass er mich im Jahr 1972, als<br />

wir <strong>in</strong> Speicher unseren sogenannten Stellungstag hatten,<br />

heftig anschnauzte, als ich ihm scherzhaft sagte, wir könnten<br />

die Dienstbüchle<strong>in</strong>, die wir bekommen hatten, gleich wieder<br />

verbrennen. Es war wirklich nur e<strong>in</strong> Scherz, weil es auch mir<br />

klar war, dass e<strong>in</strong>e solche Aktion e<strong>in</strong>em Todesurteil gleichkam,<br />

356


doch er war halt schon damals der typische trockene Jurist, der<br />

er später wurde, <strong>und</strong> verstand deshalb me<strong>in</strong>e Ironie nicht.<br />

Was diesen Stellungstag betrifft, der noch heute auch als<br />

Aushebungstag bezeichnet wird, erlebte ich auch <strong>in</strong> diesem<br />

Bereich, dass im Appenzellischen halt e<strong>in</strong>iges anders lief als <strong>in</strong><br />

anderen Kantonen. Wir waren etwa dreissig Burschen, <strong>und</strong> da<br />

für jeden Bereich nur wenige Plätze zur Verfügung standen <strong>und</strong><br />

zudem jeder nach dem Alfabet aufgerufen wurde, konnten sich<br />

jene, die mit ihren Namen weit h<strong>in</strong>ten standen, leicht<br />

ausrechnen, dass sie ihr «Wunschdepartement» - e<strong>in</strong> typisch<br />

schweizerisches Wort für die Bereiche der Landesregierung -<br />

nicht bekommen würden. Da ich Stump heisse <strong>und</strong> damit<br />

ebenfalls weit h<strong>in</strong>ten stand, war für mich dementsprechend<br />

auch schon alles weg, was als etwas Besseres galt. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

hatte ich zuvor auch ke<strong>in</strong>e besonderen Wünsche auf dem Zettel<br />

geschrieben, den jeder ausfüllen musste. Wer konnte schon mit<br />

erst achtzehn Jahren wissen, was es <strong>in</strong> der Armee alles gab?<br />

Das grösste H<strong>in</strong>dernis war jedoch, dass ich mich genauso wie<br />

die meisten anderen nicht für e<strong>in</strong>en Fahrerposten bewerben<br />

konnte, was später <strong>in</strong> der RS <strong>und</strong> <strong>in</strong> den WK <strong>und</strong> EK, die ich<br />

absolvierte, etwas besonders Privilegiertes war - aber wer hatte<br />

schon <strong>in</strong> diesen jungen Jahren e<strong>in</strong>en Führerausweis erwerben<br />

können? Das war <strong>in</strong> der Kantonsschule nur für die Söhne aus<br />

reichen Familien möglich; dass es auch solche gab, habe ich<br />

oben bei Rasu schon geschrieben.<br />

Als schliesslich die Reihe an mir war, konnte ich nur noch<br />

zwischen e<strong>in</strong>em Füsilier <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Mitrailleur wählen. Ich<br />

entschied mich für den «Füsel», wie das noch heute so heisst,<br />

weil ich mir leicht ausrechnen konnte, dass e<strong>in</strong><br />

Masch<strong>in</strong>engewehr für me<strong>in</strong>en geplagten Rücken zu schwer se<strong>in</strong><br />

könnte, <strong>und</strong> habe damit Recht bekommen. Das bedeutete<br />

allerd<strong>in</strong>gs nicht, dass wir bei den Märschen nicht auch<br />

Lafettenrohre mittragen mussten, wie die MG-Rohre hiessen,<br />

aber immerh<strong>in</strong> konnte ich im Jahr 1991 <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em allerletzten<br />

357


Dienst - im dritten EK, den es heute <strong>in</strong> dieser Form nicht mehr<br />

gibt -, noch e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Erfolg verbuchen: Nachdem ich bei<br />

den wenigen Versuchen, die uns Füsilieren gewährt worden<br />

waren, noch gescheitert war, schaffte ich es bei der letzten<br />

Gelegenheit endlich, e<strong>in</strong> Masch<strong>in</strong>engewehr so zu bedienen,<br />

dass ich damit auch hätte schiessen können, aber natürlich<br />

habe ich auch das <strong>in</strong>zwischen wieder vergessen.<br />

Was jetzt diesen betrifft, der mich am Stellungstag so<br />

anschnauzte, gelang ihm später noch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale<br />

politische Karriere, aber ich gehe auf diese nicht näher e<strong>in</strong>, weil<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Lebenslauf darüber auch nichts steht, was er <strong>in</strong> den<br />

Achtzigerjahren trieb, als ich ihm die oben erwähnte Militärpost<br />

brachte - er hat offensichtlich doch etwas zu verbergen. So ist<br />

es auch bezeichnend, dass dieser Lebenslauf ziemlich<br />

verschwommen <strong>und</strong> zudem nur auf Englisch zu lesen ist, das<br />

im Gegensatz zum Deutschen, wo alles ganz genau<br />

ausgedrückt werden kann, mit etlichen Wörtern mehrere<br />

Deutungen zulässt. Interessant ist auch, dass er im Gegensatz<br />

zu den beiden oben Erwähnten auf der «Heldenliste», welche<br />

die Kantonsschule <strong>Trogen</strong> für all jene führt, die später irgendwie<br />

bekannt wurden, nicht verzeichnet ist. Dass aber auch dort gern<br />

mit fremden Federn geschmückt wird, zeigt sich dar<strong>in</strong>, dass der<br />

e<strong>in</strong>zige Nobelpreisträger auf dieser Liste besonders<br />

herausgestrichen wird, obwohl er hier nur zwei Jahre lang zur<br />

Schule g<strong>in</strong>g - also noch weniger lang als ich - <strong>und</strong> die<br />

Maturaprüfungen später an e<strong>in</strong>em anderen Ort bestanden hat.<br />

Der vierte Progressivulus, den ich hier besonders vorstelle,<br />

hatte also offensichtlich die Seite gewechselt, wie die e<strong>in</strong>fachen<br />

Angestellten ganz unten zu sagen pflegten, als ich bei der Post<br />

arbeitete <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er der Gewerkschafter, der vorher den M<strong>und</strong><br />

voll genommen hatte, das Angebot bekam, sehr viel weiter<br />

aufzusteigen - allerd<strong>in</strong>gs mit der Auflage verb<strong>und</strong>en, dass er<br />

fortan die Gewerkschaftsarbeit e<strong>in</strong>stellte. Ich habe das<br />

mehrmals so erlebt <strong>und</strong> vergesse auch deshalb nie, wie es<br />

358


jemand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Spielfilm, an dessen Titel ich nicht mehr<br />

er<strong>in</strong>nere, treffend formuliert: «Wenn du unbequeme<br />

Gewerkschafter zum Schweigen br<strong>in</strong>gen willst, musst du sie<br />

entweder befördern oder wärmstens an e<strong>in</strong>e andere Firma<br />

weiterempfehlen.» Tatsächlich hat es bis heute nur wenige<br />

gegeben, die bei solchen Angeboten noch widerstehen konnten<br />

<strong>und</strong> sich auf diese Weise nicht kaufen liessen.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs kam das auch <strong>in</strong> den oberen Stockwerken vor: Als<br />

kurz nach der Jahrtausendwende bei der Post auch im oberen<br />

Kader, wie wir es nannten, e<strong>in</strong> paar Stellen abgebaut werden<br />

mussten, wurde e<strong>in</strong>er von ihnen mit besonders warmen Worten<br />

an e<strong>in</strong>e Grossbank vermittelt, wo er auch als nicht gelernter<br />

Bankier ziemlich weit oben unterkam. Noblesse oblige (Adel<br />

verpflichtet), wie das Sprichwort auch <strong>in</strong> der Arbeitswelt treffend<br />

heisst. Dazu kam auch, dass die vom oberen Kader noch ihre<br />

eigenen Aufenthaltsräume hatten, die von den gewöhnlichen<br />

Sterblichen weiter unten nie betreten werden durften, auch<br />

nicht von denen, die so wie ich dem unteren Kader angehörten,<br />

aber die weiter oben ebenfalls nicht duzen durften. Da ich es im<br />

letzten Jahr me<strong>in</strong>er Tätigkeit noch bis dort h<strong>in</strong>aufgebracht hatte,<br />

bekam ich dar<strong>in</strong> noch e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>blick. Allerd<strong>in</strong>gs wurde ich<br />

wegen me<strong>in</strong>er nicht vorhandenen Fähigkeit zum Schleimen ke<strong>in</strong><br />

Vollmitglied des Kaders, sondern blieb offiziell nur e<strong>in</strong>er mit<br />

Ablöserfunktionen, weil es gerade zu wenig fähige Leute hatte,<br />

so dass man auf mich angewiesen war.<br />

Gerade dies habe ich schon <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en <strong>Trogen</strong>er Jahren<br />

erkannt, <strong>und</strong> das setzte sich später <strong>in</strong> der Armee <strong>und</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en<br />

verschiedenen beruflichen Tätigkeiten <strong>und</strong> am deutlichsten bei<br />

der Post fort: Nicht alle sprechen mit e<strong>in</strong>em, vor allem nicht mit<br />

e<strong>in</strong>em, der weiter unten e<strong>in</strong>gestuft ist. Das musste ich, der <strong>in</strong><br />

der ersten Hälfte me<strong>in</strong>es Lebens noch an das Gute <strong>in</strong> den<br />

Menschen geglaubt habe, immer wieder erfahren. Dabei<br />

müssen ja alle Menschen essen, tr<strong>in</strong>ken, schlafen <strong>und</strong> aufs WC<br />

gehen; also s<strong>in</strong>d eigentlich alle gleich, <strong>und</strong> zwar über alle<br />

359


Klassen, Nationen <strong>und</strong> Rassen h<strong>in</strong>weg.<br />

E<strong>in</strong>es dieser Müsterchen erlebte ich dann, als ich als Ablöser<br />

Tätigkeiten ausüben durfte, die den Mitgliedern des unteren<br />

Kaders vorbehalten waren, mit denen die Mitglieder des oberen<br />

Kaders wie erwähnt nur sprachen, wenn sie es für<br />

unumgänglich hielten, aber immerh<strong>in</strong> sprachen sie manchmal<br />

mit uns, doch nie mit dem e<strong>in</strong>fachen Fussvolk weiter unten, das<br />

bei den Sortiergestellen <strong>und</strong> Masch<strong>in</strong>en effektiv arbeitete.<br />

Warum ich das erwähne, liegt dar<strong>in</strong> begründet, dass ich <strong>in</strong><br />

jedem der Büros, <strong>in</strong> denen die weiter oben eigentlich arbeiten<br />

sollten, m<strong>in</strong>destens drei bis vier sitzen sah, von denen die e<strong>in</strong>en<br />

Zeitungen lasen <strong>und</strong> die anderen vor e<strong>in</strong>em Computer sassen -<br />

<strong>und</strong> alle konnten das als e<strong>in</strong>en Teil ihrer Arbeit bezeichnen,<br />

aber ich wusste es besser.<br />

Geradezu lustig wurde es, als mir e<strong>in</strong>mal das Verteilen der<br />

<strong>in</strong>ternen Hauspost anvertraut wurde: Da konnte ich e<strong>in</strong>iges<br />

sehen, so auch e<strong>in</strong> eigenes Fach für e<strong>in</strong>e gewöhnliche<br />

Sortierfrau, nur weil sie die Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> e<strong>in</strong>es der oberen<br />

Vorgesetzten war, der allerd<strong>in</strong>gs nach me<strong>in</strong>em Wegzug wegen<br />

Alkoholproblemen irgendwoh<strong>in</strong> versetzt wurde, wie ich später<br />

zu hören bekam. So konnte ich auch nicht mehr sehen, ob<br />

diese Frau dann noch ihr eigenes Fach behalten durfte.<br />

Interessanterweise stellte es sich nachträglich heraus, dass sie<br />

ausgerechnet die Tochter e<strong>in</strong>es Kollegen war, mit dem ich mich<br />

immer gut verstanden hatte, als wir noch <strong>in</strong> der gleichen<br />

Abteilung gewesen waren.<br />

Solange die Hauspost von 6 bis 7 Uhr morgens verteilt wurde,<br />

gab es ke<strong>in</strong>e Probleme, weil locker durchmarschiert werden<br />

konnte, aber als der Beg<strong>in</strong>n der Arbeitszeit aus Spargründen<br />

auf 7 Uhr verlegt wurde, gab es schon die ersten Probleme.<br />

Jetzt bekam ich es direkt mit denen vom oberen Kader zu tun,<br />

die dann zu «arbeiten» begannen; auch mit mir sprachen sie<br />

nie <strong>und</strong> natürlich grüssten sie mich auch nie, obwohl sie<br />

360


wussten, wer ich war, weil jemand von ganz unten - also von<br />

der Produktionsabteilung bei den Sortiergestellen <strong>und</strong><br />

Masch<strong>in</strong>en - von vornhere<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Zutrittsberechtigung gehabt<br />

hätte. Als e<strong>in</strong>er der erlauchten Herren here<strong>in</strong>kam, sagte auch er<br />

wie üblich nicht «guten Morgen», sondern konzentrierte sich nur<br />

auf se<strong>in</strong> Fach, <strong>und</strong> als er sah, dass noch nicht alles verteilt war,<br />

fragte er bloss: «Ist die Hauspost noch nicht verteilt?»<br />

Schlagfertig gab ich zurück: «Es ist halt schwierig, wenn man<br />

erst um sieben Uhr beg<strong>in</strong>nt.» Da er von der Verlegung der<br />

Anfangszeit ebenfalls gehört hatte, sagte er nichts weiter,<br />

sondern schnappte sich e<strong>in</strong>e der Tageszeitungen, die für die<br />

Mitglieder der erlauchten Gesellschaft reserviert waren, <strong>und</strong><br />

g<strong>in</strong>g wortlos davon.<br />

Das war nur e<strong>in</strong>e der vielen Episoden, die ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em<br />

Berufsleben erfuhr, aber ich habe von verschiedenen Seiten<br />

gehört, dass dies <strong>in</strong> fast allen anderen Bereichen ebenfalls so<br />

vorkommt, sei es bei Banken oder Versicherungen oder wo<br />

auch immer. Es gibt überall solche, die glauben, sie seien<br />

gleicher als die anderen, obwohl sie zum Teil nicht e<strong>in</strong>mal so<br />

gebildet s<strong>in</strong>d, dass sie so stolz se<strong>in</strong> können. So hatten auch die<br />

meisten Mitglieder des oberen Kaders bei uns gar ke<strong>in</strong>e<br />

akademische Bildung, sondern waren als Quere<strong>in</strong>steiger aus<br />

anderen Berufen gekommen, waren also nicht e<strong>in</strong>mal<br />

betriebs<strong>in</strong>tern während vielen Jahren aufgestiegen, wie das<br />

e<strong>in</strong>st üblich gewesen war.<br />

Das bestätigte mir e<strong>in</strong>er, der zuerst studiert, aber se<strong>in</strong> Studium<br />

genauso wie andere Bekannte nicht abgeschlossen hatte; er<br />

gehörte selbst dem oberen Kader an <strong>und</strong> zählte von denen zu<br />

den ganz wenigen, mit denen ich mich immer gut verstand.<br />

Noch heute habe ich nicht vergessen, dass er mir e<strong>in</strong>mal diese<br />

bemerkenswerten Worte sagte: «Je gebildeter jemand ist, desto<br />

schlechter stehen bei uns die Aufstiegschancen, vor allem für<br />

die Akademiker.» Das hat gesessen - auch diese Worte<br />

er<strong>in</strong>nerten mich an die Jahre <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong>, wo ich vor allem unter<br />

361


den Burschen mehrere mit solchen Starallüren zu sehen <strong>und</strong><br />

vor allem zu hören bekam. Wie ich es weiter oben bei Doktor<br />

Am geschrieben habe, waren die <strong>Trogen</strong>er Jahre für mich auch<br />

e<strong>in</strong> Vor-Spiegelbild für spätere Zeiten, <strong>in</strong> denen auch <strong>in</strong> der<br />

Armee <strong>und</strong> vor allem im Berufsleben immer wieder solche<br />

Figuren vorkamen.<br />

----------------------------------------------------------------------------<br />

Obwohl me<strong>in</strong>e <strong>Trogen</strong>er Zeit nicht mit e<strong>in</strong>em erfolgreichen<br />

Abschluss gekrönt wurde, haben sich <strong>in</strong>sgesamt gute <strong>und</strong> zum<br />

Teil sogar schöne Er<strong>in</strong>nerungen erhalten, was auch dieses<br />

Buch zeigt. Zudem habe ich auch viel Glück gehabt, wenn ich<br />

an e<strong>in</strong> besonders tragisches Ereignis denke, das ich bis heute<br />

nie vergessen konnte: Nicht e<strong>in</strong>mal drei Monate nach me<strong>in</strong>em<br />

Wegzug von <strong>Trogen</strong> stürzte e<strong>in</strong>er unserer ehemaligen Schüler,<br />

der im Herbst 1971 die Maturaprüfungen bestanden hatte <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>er der Co-Autoren des „Spick“ gewesen war, bei e<strong>in</strong>em<br />

Spritzflug mit e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Privatflugzeug zusammen mit drei<br />

Kommilitonen tödlich ab. Da damals der sogenannte<br />

Personenschutz noch nicht so weit reichte wie heute, wurden<br />

nicht nur die Namen <strong>und</strong> das Alter, sondern auch noch die<br />

Wohnorte dieser vier <strong>in</strong> den Zeitungen veröffentlicht.<br />

Ich wusste natürlich sofort Bescheid <strong>und</strong> telefonierte noch am<br />

gleichen Abend <strong>in</strong> die Pension, um mit dem Gleichen zu<br />

sprechen, den ich mehr als zwanzig Jahre später auf der<br />

Strasse wieder traf. Es stellte sich heraus, dass nicht nur er<br />

davon bereits erfahren hatte, sondern auch die ganze Schule,<br />

<strong>und</strong> als ich fast zwei Jahre später e<strong>in</strong>e Ehemalige aus me<strong>in</strong>er<br />

ersten Klasse ebenfalls durch e<strong>in</strong>en re<strong>in</strong>en Zufall traf, erzählte<br />

sie mir sofort davon. Dieses Ereignis war tatsächlich vielen von<br />

uns <strong>in</strong> die Knochen gefahren <strong>und</strong> war umso tragischer, als<br />

dieser Schüler nach den Maturaprüfungen gerade erst die RS<br />

abgeschlossen <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Jura-Studium begonnen hatte. Das<br />

wusste ich deshalb, weil se<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Klasse g<strong>in</strong>g -<br />

362


<strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> die erste - <strong>und</strong> mir immer wieder freimütig von ihm<br />

erzählte, wenn ich sie fragte, wie es ihm g<strong>in</strong>g. Wie ich später<br />

erfuhr, befand sie sich zum Zeitpunkt dieses Unglücks mit<br />

me<strong>in</strong>er ehemaligen Klasse gerade auf der Maturareise <strong>in</strong><br />

Amsterdam, <strong>und</strong> wenn ich es nicht falsch verstanden habe,<br />

wurde nicht abgewartet, bis sie von dort zurückkam, sondern<br />

sie wurde sofort <strong>in</strong>formiert.<br />

Diese Tragödie war jedoch nicht die e<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> dieser Familie.<br />

Nur drei Jahre zuvor - genauer im April 1970, also noch <strong>in</strong> den<br />

Frühl<strong>in</strong>gsferien - war die ältere Schwester dieses Mädchens im<br />

Alter von knapp siebzehn Jahren an Leukämie gestorben, die<br />

damals noch völlig unheilbar war <strong>und</strong> auch noch nicht so<br />

h<strong>in</strong>ausgezögert werden konnte wie heute. Sie war e<strong>in</strong> Jahr älter<br />

als ich <strong>und</strong> pikanterweise die Vorgänger<strong>in</strong> ihrer Schwester, also<br />

die Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> des gleichen ehemaligen Schülers, der mit dem<br />

Privatflugzeug tödlich verunglückt war. Ich er<strong>in</strong>nere mich noch<br />

gut, wie die beiden <strong>in</strong> der <strong>Trogen</strong>er Bahn <strong>und</strong> an den<br />

Schülerabenden allen unmissverständlich zeigten, wie sehr sie<br />

sich liebten. Dieses frühe Ableben, das später <strong>in</strong> der<br />

Schulchronik noch besonders erwähnt wurde, war der e<strong>in</strong>zige<br />

von mir erlebte Todesfall <strong>in</strong> dieser Schule, wenn ich davon<br />

absehe, dass im Oktober 1971 e<strong>in</strong> ehemaliger Bewohner des<br />

K<strong>in</strong>derdorfes Pestalozzi, zu dem wir immer e<strong>in</strong>en lockeren<br />

Kontakt hatten, tödlich verunglückte, als er se<strong>in</strong>en Wagen direkt<br />

<strong>in</strong> die <strong>Trogen</strong>er Bahn steuerte. Fast noch mehr als an diesen<br />

Unfall er<strong>in</strong>nere ich mich jedoch an die Worte, die e<strong>in</strong>es der<br />

beiden Klassengenies - der Gleiche, der me<strong>in</strong> Nachlassen <strong>in</strong><br />

der Schule mit den hämischen Worten kommentierte, es mache<br />

sich halt nicht gut, wenn man so viel fehle - ungeniert <strong>und</strong><br />

pietätlos sagte, er sei selbst schuld. So e<strong>in</strong>er wurde später e<strong>in</strong><br />

Arzt <strong>und</strong> sogar e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>derarzt! Dass dieser junge Mann<br />

vielleicht e<strong>in</strong>en Schwächeanfall erlitten hatte <strong>und</strong> gerade<br />

deshalb den Wagen nicht mehr richtig hatte steuern können,<br />

war diesem späteren Mediz<strong>in</strong>er, der schon damals für diesen<br />

Bereich viel Interesse zeigte, nicht <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n gekommen.<br />

363


Wieder zurück zum ehemaligen Schüler, der im Juli 1973 mit<br />

dem Privatflugzeug tödlich verunglückte: Erst e<strong>in</strong> Jahr nach<br />

dem Ableben se<strong>in</strong>er ersten Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> kam ihre Schwester zu<br />

uns <strong>in</strong> die Schule <strong>und</strong> viele konnten es nicht verstehen, dass er<br />

ausgerechnet mit ihr bald e<strong>in</strong>e neue B<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g, aber es<br />

ergab sich halt e<strong>in</strong>fach so. Im gleichen Frühl<strong>in</strong>g kam zugleich<br />

auch die dritte Schwester dieser Familie <strong>in</strong> unsere Schule; sie<br />

gehörten also zu den wenigen Familien, die es sich wie ganz<br />

oben erwähnt leisten konnten, gleich zwei K<strong>in</strong>der nach <strong>Trogen</strong><br />

zu schicken. Ich er<strong>in</strong>nere mich auch deshalb an diese<br />

E<strong>in</strong>zelheiten, weil ich an diesem Mädchen ebenfalls <strong>in</strong>teressiert<br />

war <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Jahr nach der Tragödie mit jenem, das ich <strong>in</strong> Juons<br />

St<strong>und</strong>en kennen gelernt hatte, nicht viel fehlte, um sie als<br />

Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> zu gew<strong>in</strong>nen. Wir kamen uns am Tanzabend nach<br />

dem Fussball-Turnier etwas näher, aber ich war immer noch<br />

etwas zu unbeholfen <strong>und</strong> nach me<strong>in</strong>er ersten schlechten<br />

Erfahrung auch noch zu unsicher, um etwas zu wagen. So<br />

versandete dieser Kontakt wieder <strong>und</strong> es entwickelte sich e<strong>in</strong>e<br />

lockere Fre<strong>und</strong>schaft ausgerechnet zum Schüler, der <strong>in</strong> der<br />

Mannschaft «Ausland 13» spielte <strong>und</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Klasse g<strong>in</strong>g,<br />

aber auch diese Romanze dauerte nur wenige Wochen.<br />

Zum Schluss me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerungen kommt noch e<strong>in</strong>e weitere<br />

hübsche Geschichte: Als e<strong>in</strong>er unserer Chöre sich vor e<strong>in</strong> paar<br />

Jahren zu e<strong>in</strong>em lockeren Grillabend traf <strong>und</strong> wir am Tisch über<br />

dieses <strong>und</strong> jenes plauderten <strong>und</strong> dabei auch unser Alter e<strong>in</strong><br />

Thema wurde, weil die meisten von uns über 60-jährig waren<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong> paar sogar die 70 <strong>und</strong> 80 überschritten hatten, sagte<br />

e<strong>in</strong>e Frau treffend: „Wir können ja alle froh se<strong>in</strong>, dass wir<br />

überhaupt so alt werden durften.“ Wie Recht sie hatte!<br />

----------------------------------------------------------------------------<br />

Als Ergänzung halte ich es noch für gut, e<strong>in</strong> wenig näher<br />

darüber zu <strong>in</strong>formieren, wie die beiden von mir besuchten<br />

Schulen aussahen.<br />

364


Das Literargymnasium <strong>Zürich</strong>berg war <strong>und</strong> ist e<strong>in</strong> so kle<strong>in</strong>es<br />

Gebäude, dass der Platz nicht für alle Fächer reichte; so<br />

mussten wir immer wieder für bestimmte St<strong>und</strong>en zum nebenan<br />

gelegenen Gebäude des Realgymnasiums wechseln. Es<br />

fanden also ähnlich wie <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> immer wieder riesige<br />

Völkerwanderungen statt, <strong>und</strong> zudem mussten wir dabei immer<br />

e<strong>in</strong>e Strasse überqueren, die aber wenig befahren wurde <strong>und</strong><br />

deshalb nicht so gefährlich war wie viele andere <strong>in</strong> der Nähe.<br />

Folgende <strong>Lehrer</strong> hatten ihre Zimmer oder Ateliers <strong>in</strong><br />

alfabetischer Reihenfolge dort: Aerni, Arm<strong>in</strong>, Frank, Gemmi,<br />

Roth <strong>und</strong> se<strong>in</strong> Stellvertreter Dorigo.<br />

Wie oben geschrieben bestanden die beiden ersten Klassen <strong>in</strong><br />

diesen beiden Schulen aus je vier Parallelklassen, doch ab der<br />

dritten Klasse gab es nach der Neubildung e<strong>in</strong>er Spezialklasse<br />

für jene, die Altgriechisch belegten, faktisch sieben gleiche<br />

Klassen des Realgymnasiums. Wir hatten jedoch ke<strong>in</strong>en<br />

Kontakt zu denen, die offiziell schon ab der ersten Klasse als<br />

Realgymnasiasten galten, aber wir wussten natürlich<br />

vone<strong>in</strong>ander. Dagegen sahen wir die Burschen der drei<br />

Parallelklassen, die offiziell genauso wie wir bis zum Ende der<br />

zweiten Klasse als Literargymnasiasten galten, immer wieder,<br />

sonst hätte sich diese Fe<strong>in</strong>dschaft zu denen im C gar nie<br />

ergeben können.<br />

Das heute bestehende Gymnasium Rämibühl mit den<br />

verschiedenen Unterabteilungen, die es <strong>in</strong> unserer Zeit noch<br />

nicht gab, befand sich erst noch im Bau. Die beiden Gebäude,<br />

<strong>in</strong> denen ich zur Schule g<strong>in</strong>g, s<strong>in</strong>d zwar immer noch<br />

Lehrstätten, aber es wird heute dort etwas anderes unterrichtet.<br />

So gilt das e<strong>in</strong>e, das früher als Literargymnasium bezeichnet<br />

wurde, als e<strong>in</strong> Sem<strong>in</strong>ar, was auch immer darunter verstanden<br />

werden kann, weil dieses Wort <strong>in</strong> der heutigen Zeit für alles<br />

Mögliche <strong>und</strong> Unmögliche verwendet wird. Dementsprechend<br />

war ich selbst schon bei e<strong>in</strong>em Wahl-Sem<strong>in</strong>ar dabei, als ich<br />

mich vor den Kantonsratswahlen im Jahr 1991 auf die Liste<br />

365


e<strong>in</strong>er Partei hatte setzen lassen <strong>und</strong> e<strong>in</strong> paar Dutzend sich an<br />

e<strong>in</strong>em Samstag mehrere St<strong>und</strong>en lang wahlpsychologisch<br />

vorbereiteten. Zudem nahm ich mehrmals sogar an S<strong>in</strong>g-<br />

Sem<strong>in</strong>aren teil, bei denen sich viele von uns trafen, um e<strong>in</strong>en<br />

halben Samstag lang <strong>und</strong> manchmal zusätzlich auch e<strong>in</strong>en<br />

halben Sonntag lang mite<strong>in</strong>ander zu proben, wie das im Chor-<br />

Jargon so heisst.<br />

In <strong>Trogen</strong> gab es neben dem Gymnasium <strong>und</strong> der<br />

Oberrealschule bis zum Ende der dritten Klasse auch noch e<strong>in</strong>e<br />

Sek<strong>und</strong>arschule sowie von der dritten bis zur fünften Klasse<br />

e<strong>in</strong>e Handelsschule, die offiziell als Merkantilabteilung<br />

bezeichnet wurde. Dementsprechend war die Kurzform für<br />

diese Abteilung e<strong>in</strong> M, während die Sek<strong>und</strong>arschule als S, das<br />

Gymnasium als G <strong>und</strong> die Oberrealschule als R bezeichnet<br />

wurden. Offiziell wurde nicht zwischen e<strong>in</strong>em Literar- <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Realgymnasium unterschieden, weil es für jeden Jahrgang ja<br />

nur e<strong>in</strong>e Klasse gab, aber sehr wohl <strong>in</strong>offiziell. So wurden die<br />

paar wenigen, die das Altgriechische belegten, als<br />

Literargymnasiasten bezeichnet, während alle anderen als<br />

Realgymnasiasten galten, so auch ich. Das war aber nur <strong>in</strong> den<br />

Schulchroniken so, im schulischen Volksm<strong>und</strong> bekam ich diese<br />

beiden Wörter nie zu hören.<br />

Ich hatte zwar auch zu den Sek<strong>und</strong>ar- <strong>und</strong> Handelsschülern<br />

sowie zu den Oberrealschülern viele Kontakte, aber nicht zu<br />

ihren <strong>Lehrer</strong>n, vor allem nicht zum e<strong>in</strong>zigen Handelslehrer <strong>und</strong><br />

zum Leiter des Knabenkonvikts, der nur <strong>in</strong> der Sek<strong>und</strong>arschule<br />

unterrichtete. Gerade deshalb habe ich diese beiden, mit denen<br />

ich nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Grusskontakt pflegte, wie oben erwähnt<br />

auch nicht porträtiert. Mit Knall, Remo, Satan <strong>und</strong> dem Boss<br />

war es etwas anders, weil ich mit ihnen wenigstens direkt zu tun<br />

hatte.<br />

Was die Sek<strong>und</strong>arschule betrifft, gibt es noch dies zu<br />

erwähnen: Sie wurde nicht nur von Burschen <strong>und</strong> Mädchen<br />

366


esucht, die <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong> selbst wohnten, sondern auch von<br />

solchen, die von den beiden nahe gelegenen<br />

Nachbargeme<strong>in</strong>den Wald <strong>und</strong> Rehetobel kamen, <strong>und</strong> so ist es<br />

auch noch heute. Während Wald, das später bei me<strong>in</strong>en<br />

Erzählungen über die <strong>Trogen</strong>er Jahre von me<strong>in</strong>en Zuhörern<br />

immer wieder mit dem gleichnamigen Dorf im Zürcher Oberland<br />

verwechselt wurde, zwar näher lag, aber von unserer Pension<br />

aus nicht gesehen werden konnte, hatte ich auf das etwas<br />

weiter gelegene Rehetobel <strong>in</strong> den viere<strong>in</strong>halb Jahren <strong>in</strong> <strong>Trogen</strong><br />

e<strong>in</strong>en herrlichen Ausblick: Ich konnte es von me<strong>in</strong>em Zimmer<br />

aus direkt sehen. Allen drei Geme<strong>in</strong>den ist geme<strong>in</strong>sam, dass<br />

sie auf mehr als 900 Metern Höhe liegen <strong>und</strong> damit etwa gleich<br />

hoch s<strong>in</strong>d wie die beiden «Gebirgsketten» Albis <strong>und</strong><br />

Pfannenstiel, die westlich <strong>und</strong> östlich des <strong>Zürich</strong>sees liegen <strong>und</strong><br />

damit den <strong>Zürich</strong>see gewissermassen e<strong>in</strong>rahmen. Auch<br />

deshalb war die <strong>Trogen</strong>er Luft für uns alle so ges<strong>und</strong>, wie ich es<br />

oben geschrieben habe.<br />

---------------------------------------------------------------------------<br />

Im Jahr 1974, also genau e<strong>in</strong> Jahr nach me<strong>in</strong>em Wegzug von<br />

<strong>Trogen</strong> <strong>und</strong> nicht schon <strong>in</strong> den Sechzigerjahren, wie das<br />

fälschlicherweise im Internet steht - damals begannen zwar die<br />

ersten Diskussionen, aber es wurde noch nichts Festes<br />

beschlossen -, wurde für die ganze Schweiz e<strong>in</strong> neues<br />

Schulsystem e<strong>in</strong>geführt, <strong>und</strong> zwar mit den Maturatypen A, B, C,<br />

D <strong>und</strong> E:<br />

Typus A: Late<strong>in</strong> <strong>und</strong> Französisch sowie Altgriechisch<br />

obligatorisch; Englisch, Italienisch <strong>und</strong> Spanisch<br />

konnten freiwillig belegt werden, ansonsten blieb das<br />

Lernprogramm gleich.<br />

Typus B: Late<strong>in</strong> <strong>und</strong> Französisch sowie e<strong>in</strong>e der drei oben<br />

erwähnten Fremdsprachen obligatorisch; ke<strong>in</strong><br />

Altgriechisch, alle anderen Fächer gleich wie beim<br />

Typus A.<br />

367


Typus C: Die ehemalige Oberrealschule, das genau gleiche<br />

Lernprogramm wie vorher.<br />

Typus D: Etwas Neues, das sogenannte neusprachliche<br />

Gymnasium - zum ersten Mal e<strong>in</strong> Gymnasium ohne<br />

obligatorisches Late<strong>in</strong>, aber dafür waren neben<br />

Französisch noch m<strong>in</strong>destens zwei andere moderne<br />

Fremdsprachen obligatorisch; auch hier konnte<br />

zwischen Englisch, Italienisch <strong>und</strong> Spanisch gewählt<br />

werden, ansonsten blieb alles gleich wie bei den<br />

Typen A <strong>und</strong> B.<br />

Typus E: E<strong>in</strong> zweiter neuer Typus, das sogenannte<br />

Wirtschaftsgymnasium mit drei modernen<br />

Fremdsprachen <strong>und</strong> e<strong>in</strong> paar Handelsfächern.<br />

Nach me<strong>in</strong>en Informationen galt der Maturatypus E als<br />

besonders schwer, weil das Wissensspektrum viel breiter war;<br />

wer die Abschlussprüfungen bestand, konnte sich deshalb als<br />

jemand betrachten. Ich kannte diese Unterschiede auch<br />

deshalb so gut, weil ich später verschiedene Kontakte zu<br />

jungen Männern hatte, die alle e<strong>in</strong>en dieser Typen belegten.<br />

Kurz vor der Jahrtausendwende wurden auch diese<br />

Lernrichtungen wieder abgeschafft <strong>und</strong> durch neue<br />

Bezeichnungen ersetzt, welche die modernen Verfe<strong>in</strong>erungen<br />

widerspiegeln. So wurden auch Informatik- <strong>und</strong><br />

Psychologiest<strong>und</strong>en e<strong>in</strong>geführt, aber die revolutionärste<br />

Erneuerung bestand sicher dar<strong>in</strong>, dass das Französische<br />

seitdem nicht mehr überall obligatorisch ist. Es ist also möglich<br />

geworden, nur noch Englisch, Italienisch <strong>und</strong> Spanisch<br />

zusammen zu belegen, aber nach me<strong>in</strong>em Wissen taten <strong>und</strong><br />

tun das nur wenige, weil es immer noch als schick gilt,<br />

Französisch zu können, <strong>und</strong> diese Sprache zudem für solche,<br />

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die später e<strong>in</strong>e politische Laufbahn <strong>in</strong> B<strong>und</strong>esbern e<strong>in</strong>schlagen<br />

wollen, immer noch unumgänglich ist. Auch me<strong>in</strong>e jüngere<br />

Tochter, die vor dieser Wahl stand, entschied sich neben<br />

Englisch <strong>und</strong> Spanisch auch noch für diese Sprache. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

wurde dadurch, dass bei ihrem Typus zwischen Italienisch <strong>und</strong><br />

Spanisch gewählt werden konnte, gerade das letztere als<br />

sogenanntes Hauptfach bestimmt, <strong>und</strong> sie hatte das Glück,<br />

dass gerade diese Sprache ihr am besten lag. Auch dies zeigt<br />

die gewaltigen Umwälzungen <strong>in</strong> den Gymnasien im Verlauf des<br />

letzten halben Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

E<strong>in</strong>es ist aber immer noch gleich: Auch heute ist <strong>in</strong> der Schweiz<br />

im Gegensatz zu Deutschland <strong>und</strong> Österreich die beste Note<br />

e<strong>in</strong>e 6 <strong>und</strong> die schlechteste e<strong>in</strong>e 1, während die 4 weiter die<br />

magische Grenze zwischen genügend <strong>und</strong> ungenügend<br />

geblieben ist.<br />

ENDE<br />

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