FREIHEIT PUR - Blogsport
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Wenn wir unter ›Anarchie‹ einmal die landläufige negative Bedeutung verstehen wollen,<br />
nämlich Chaos, so haben wir sie heute: weltweit und flächendeckend. Ein System, in dem genug<br />
Nahrung produziert wird und wo dennoch täglich Zigtausende Menschen verhungern, ist<br />
ein Irrsinn. Ein System, das periodisch organisierte Massenmorde anordnet, ist unmenschlich.<br />
Ein System, das diesen Planeten zunehmend ausplündert und unbewohnbar macht, ist<br />
selbstmörderisch. Ein System, das zehn Prozent der Menschheit Reichtum beschert und die<br />
große Mehrheit der Ärmsten immer weiter ausplündert, ist niederträchtig. Ein System, das<br />
seine Bürger nur dadurch davon abhalten kann, sich gegenseitig umzubringen, indem es sie<br />
wiederum selbst mit dem Tod bedroht, ist eine moralische Bankrotterklärung.<br />
Wenn Anarchisten in einer Diskussion ein solches System ernsthaft vorschlügen, würden<br />
sie mit Recht ausgelacht. Man müßte sie Zyniker* nennen. Aber dieses System haben wir<br />
heute überall, es herrscht auf jedem Stückchen Land dieser Erde, und wir leben mittendrin.<br />
Es ist das staatliche System, das unterm Strich völlig versagt und weltweit ein Chaos von unvorstellbarem<br />
Ausmaß hervorbringt. Wir nehmen es nur nicht wahr, denn wir sind gewohnt,<br />
in zweierlei Maß zu denken. Vergessen wir nicht: Staat existiert nicht nur in unseren liberalen,<br />
westlichen Demokratien, in denen es sich zugegebenermaßen besser leben läßt – Staat,<br />
das ist auch Bangladesch und Burkina Faso, Haiti und Laos, Ruanda und Kambodscha. Idi<br />
Amin und Helmut Kohl, Saddam Hussein und Boris Jelzin, Hitler und Kennedy sind letztlich<br />
Vertreter derselben Struktur. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Regimen sind keine<br />
prinzipiellen Unterschiede, sie sind andere Erscheinungsformen ein und derselben Idee: der<br />
Staatlichkeit.<br />
Der Staat als Interessengeflecht<br />
Derartige Kritik am Staat und seinen Organen ist typisch für den Anarchismus. Für ihn ist<br />
der Staat nicht zufällig in die eine oder andere Unzulänglichkeit unserer Gesellschaft verwickelt,<br />
sondern von vornherein der falsche Denkansatz, eine untaugliche Organisationsstruktur.<br />
Er ist gewiß nicht die ›Ursache allen Übels‹, aber er bündelt viele Übel, repräsentiert<br />
und verstärkt sie, erzeugt viele der Probleme erst, die er dann zu bekämpfen vorgibt. Vor<br />
allem aber stehen Staaten jeder tiefgreifenden sozialen Änderung als Hindernis entgegen,<br />
denn der Staat ist ein Selbstzweck. Er will um jeden Preis überleben und darin ist er zäh und<br />
anpassungsfähig. Das Beispiel zahlloser Revolutionen, die mit freiheitlichen Ansprüchen<br />
angetreten waren, eine bessere Gesellschaft aufzubauen und zu neuer Diktatur wurden,<br />
zeigt, wie hartnäckig sich Staatlichkeit, Zentralismus, Hierarchie und Bürokratie einnisten.<br />
Sie kämpfen äußerst erfolgreich um ihr Überleben und überwuchern alles Positive, fressen<br />
und verdauen es. Gustav Landauer hat dieses Dilemma in den drastischen Satz gebracht:<br />
»Wer vom Staat ißt, stirbt daran.« Allerdings ist der ›der Staat‹ weder ein Phantom* noch<br />
ein gefräßiges Fabeltier. Er ist ein ausgesprochen komplexes* Gebilde aus Interessen, von<br />
denen die jeweilige Regierung eigentlich nur eine Riege relativ machtloser Repräsentanten<br />
ist. Wirtschaftliche Interessen und politische Macht sind ebenso Bestandteile des ›Gebildes<br />
Staat‹ wie psychologische, ideologische, nationalistische, religiöse oder militärische Komponenten.<br />
Alle sind miteinander verflochten und voneinander abhängig. Anarchisten haben<br />
deshalb nicht bestimmte Regierungen, Präsidenten oder Könige bekämpft; ihr Gegner war<br />
immer ›der Staat an sich‹ in allen seinen Facetten*.<br />
Der Staat im Kopf<br />
Da viele Menschen den Staat ebenfalls als alltäglichen Unterdrücker erleben, stellt sich die<br />
Frage, warum sie trotzdem so staatstreu bleiben. Zum einen gelingt es hervorragend, Zorn<br />
zu kanalisieren. Die Medien spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Meinung wird bei uns<br />
täglich produziert, millionenfach und sehr erfolgreich. Schuld wird dabei im Detail gesucht,<br />
in Pannen, bei Minderheiten oder irgendwelchen ›schlechten Menschen‹. Die öffentliche<br />
Meinung‹ redet uns ein, eine Nation sei eine ›Gemeinschaft‹, wir alle seien gleich, und der<br />
Staat spiele lediglich den unparteiischen Schiedsrichter. So werden die ungeheuren sozialen<br />
Unterschiede in einem jeden Staat vertuscht, und die Privilegien der wirklich Mächtigen<br />
verdeckt. Andererseits tragen wir aber alle mehr oder weniger auch einen ›Staat im Kopf‹ mit<br />
uns herum. Es ist, als hätten wir die Staatlichkeit mit Löffeln gefressen: der Glaube an die<br />
Allmacht der Obrigkeit steht im umgekehrten Verhältnis zum Vertrauen in unsere eigenen<br />
Fähigkeiten. Der Staat hält uns in dem Glauben, daß er und nur er in der Lage wäre, mit seinem<br />
Apparat, seinen Spezialisten und Fachleuten die komplexen Probleme der Menschheit<br />
in den Griff zu bekommen. Immer mehr Menschen erkennen zwar, daß das nicht stimmt,<br />
aber es fehlt die Alternative, und das macht mutlos. Und es mangelt an Freiräumen zum<br />
Experimentieren, an Modellen zum Anregen, Erfahrungen, die aus dem Experiment neue<br />
Gesellschaften entstehen lassen – Gesellschaften ohne Staat.<br />
Anarchistische Staatskritik ist sehr alt und in vielem geradezu prophetisch. Es ist, als hätten<br />
Anarchisten die staatlichen Abscheulichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts von Auschwitz<br />
über Hiroshima bis Kambodscha vorausgesehen. In einer Zeit, als alle Welt glühenden<br />
Patriotismus pflegte, und die Nation das Höchste war, schrieb Pierre-Joseph Proudhon die<br />
folgenden bissigen Worte, die bis heute nichts an Aktualität verloren haben:<br />
»Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert,<br />
dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert,<br />
eingeschätzt, abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden durch Leute, die weder<br />
das Recht noch das Wissen noch die Kraft dazu haben … Regiert sein heißt, bei jeder Handlung,<br />
bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfaßt, taxiert, gestempelt,<br />
vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizenziert, autorisiert, befürwortet, ermahnt,<br />
behindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden. Es heißt, unter dem Vorwand der<br />
öffentlichen Nützlichkeit und im Namen des Allgemeininteresses ausgenutzt, verwaltet,<br />
geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepreßt, getäuscht, bestohlen zu<br />
werden; schließlich bei dem geringsten Wort der Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht,<br />
beleidigt, verfolgt, mißhandelt, niedergeschlagen, entwaffnet, geknebelt, eingesperrt,<br />
füsiliert, beschossen, verurteilt, verdammt, deportiert, geopfert, verkauft, verraten und<br />
obendrein verhöhnt, verspottet, beschimpft und entehrt zu werden. Das ist die Regierung,<br />
das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre Moral. [ …] Die Regierung des Menschen über den<br />
Menschen ist die Sklaverei. Wer immer die Hand auf mich legt, um über mich zu herrschen,<br />
ist ein Usurpator und ein Tyrann. Ich erkläre ihn zu meinem Feinde.«<br />
Proudhon war einer, der wissen mußte wovon er sprach: Im Frankreich des 19. Jahrhunderts<br />
war er sowohl Abgeordneter der Nationalversammlung als auch Gefängnisinsasse …<br />
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