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Das Lexikon - Auflösung lexikalischer Ambiguitäten

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<strong>Das</strong> <strong>Lexikon</strong> - <strong>Auflösung</strong> <strong>lexikalischer</strong> <strong>Ambiguitäten</strong> ∗<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Markus Bader<br />

9. Februar 2004<br />

1 Einführung: Der Zugriff ins <strong>Lexikon</strong> 2<br />

1.1 Abbildung des sensorischen Inputs auf Einträge im mentalen <strong>Lexikon</strong> . . . . . . 2<br />

2 Lexikalische Ambiguität 2<br />

2.1 Arten <strong>lexikalischer</strong> Ambiguität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2<br />

2.2 Dimensionen des lexikalischen Abrufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

2.2.1 Serieller vs. Paralleler Abruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

2.2.2 Einkapselung vs. Interaktion - die Rolle des Kontexts . . . . . . . . . . . 3<br />

2.3 Lexikalischer Abruf und Priming: Swinney (1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4<br />

2.3.1 Priming . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4<br />

2.3.2 Priming und lexikalische Ambiguität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4<br />

2.3.3 Cross-Modal-Priming . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />

2.4 Lexikalischer Abruf, Kontext und Frequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6<br />

2.4.1 Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

2.4.2 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

2.4.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

2.4.4 Ambiguität ohne Kontext: Ordered Access . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />

2.4.5 Ambiguität im Kontext: Re-ordered Access . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

2.5 Zusammenfassung: <strong>Auflösung</strong> <strong>lexikalischer</strong> <strong>Ambiguitäten</strong> . . . . . . . . . . . . . 9<br />

3 Die Rolle der Phonologie beim Lesen 10<br />

3.1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />

3.2 Homophon - Homograph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

3.3 A rows is a rose!? Van Orden (1987) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

3.4 Blickbewegungen und Phonologie: Folk & Morris (1995) . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

3.5 Zusammenfassung: Phonologie beim Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

4 Zusammenfassung 14<br />

∗ Fehler, Kommentare, Anregungen bitte an markus.bader@uni-konstanz.de schicken<br />

1


1 EINFÜHRUNG: DER ZUGRIFF INS LEXIKON 2<br />

1 Einführung: Der Zugriff ins <strong>Lexikon</strong><br />

1.1 Abbildung des sensorischen Inputs auf Einträge im mentalen<br />

<strong>Lexikon</strong><br />

Beim Abruf eine Wortes aus dem <strong>Lexikon</strong> können drei Teilaufgaben unterschieden werden.<br />

1. Access: mapping of the speech signal onto the representations of word forms in the mental<br />

lexicon :- in terms of these representation the mental lexicon is accessed.<br />

2. Selection: after accessing word forms from the sensory input, the system has to discriminate<br />

between them, selecting the word form that best matches the input<br />

3. Integration: concerns the relationsship of the recognition process to higher-level representations<br />

of the utterance<br />

Im folgenden wollen wir nur ein spezielles Problem betrachten, dass sich beim <strong>Lexikon</strong>zugriff<br />

stellt: der Umgang mit <strong>lexikalischer</strong> Ambiguität.<br />

2 Der lexikalische Abruf und das Problem der lexikalischen<br />

Ambiguität<br />

2.1 Arten <strong>lexikalischer</strong> Ambiguität<br />

Es gibt unterschiedliche Arten von <strong>lexikalischer</strong> Ambiguität. Zwei wichtige Fälle sind die folgenden.<br />

(1) Homonymie<br />

Fritz und Maria waren froh, als sie die Bank erblickten.<br />

(2) Wortartenambiguität (zugleich Homonomy)<br />

Peter versuchte pünktlich zu ...<br />

a. ... kommen.<br />

b. ... der Party zu kommen.<br />

In der Psycholinguistik hat man primär untersucht, wie das menschliche Sprachverarbeitungssystem<br />

mit dem Problem umgeht, das durch die Existenz von homonymen Wörtern gestellt<br />

wird. In der Computerlinguistik dagegen spielt auch das Problem der Wortartambiguität eine<br />

große Rolle; es ist intensiv erforscht worden, wie man als Vorstufe zur syntaktischen Analyse<br />

Wörtern ihre korrekte Wortart zuweisen kann.<br />

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Wörtern, die homonym sind, aber von der<br />

gleichen Wortart, und Wörtern, die homonym sind, aber von unterschiedlichen Wortarten.<br />

Wortartambiguitäten sind meistens in einem sehr lokalen Kontext auflösbar. Homonymie ohne<br />

Wortartambiguität ist dagegen häufig nur aufgrund des globalen Kontexts auflösbar. Diesen<br />

Unterschied zeigen auch die beiden Beispiele (1) und (2). Die Ambiguität des Wortes zu wird<br />

sofort mit dem nächsten Wort aufgelöst: Folgt dem zu ein Verb, muss es sich um die Infinitivmarkierung<br />

handeln; folgt dem zu ein Artikel, muss es sich um eine Präposition handeln. Die<br />

Ambiguität des Wortes Bank dagegen wird innerhalb von Satz (1) überhaupt nicht aufgelöst.<br />

Ob mit Bank ein Sitzmöbel oder ein Geldinstitut gemeint ist, könnte nur durch den größeren<br />

Kontext entschieden werden, in dem man (1) äußert.


2 LEXIKALISCHE AMBIGUITÄT 3<br />

Im folgenden werden wir uns aus Zeitgründen nur mit einigen psycholinguistischen Fragestellungen<br />

bezüglich der Behandlung von Homonymie beim lexikalischen Abruf beschäftigen.<br />

2.2 Dimensionen des lexikalischen Abrufs<br />

2.2.1 Serieller vs. Paralleler Abruf<br />

Es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten, das Problem der lexikalischen Ambiguität beim<br />

Zugriff ins mentale <strong>Lexikon</strong> zu behandeln. Zum einen kann man sich vorstellen, dass einfach alle<br />

lexikalischen Einträge abgerufen werden, die mit einer gegebenen Wortform kompatibel sind. In<br />

diesem Falle ist die Auswahl der korrekten Bedeutung nicht mehr Bestandteil der lexikalischen<br />

Verarbeitung selbst, sondern Bestandteil späterer Integrationsprozesse. Diese Vorgehensweise<br />

wird als paralleler <strong>lexikalischer</strong> Abruf bezeichnet:<br />

(3) Paralleler <strong>lexikalischer</strong> Abruf (exhaustive access)<br />

Zunächst werden alle Bedeutungen eines ambigen Wortes aktiviert; erst in einem zweiten<br />

Schritt wird eine davon ausgewählt.<br />

Die Alternative zum parallelen lexikalischen Abruf ist der serielle lexikalische Abruf.<br />

Serieller Abruf meint, dass nur einer der mit einer ambigen Wortform kompatiblen <strong>Lexikon</strong>einträge<br />

abgerufen wird. Dies setzt voraus, dass der Prozess des lexikalischen Zugriffs über Entscheidungsprozeduren<br />

verfügt, die angeben, welcher <strong>Lexikon</strong>eintrag gewählt werden soll. <strong>Das</strong><br />

einfachste Entscheidungskriterium besteht darin, <strong>Lexikon</strong>einträge entsprechend der Frequenz<br />

abzurufen, mit der sie zuvor benötigt wurden.<br />

(4) Serieller <strong>lexikalischer</strong> Abruf (non-exhaustive access)<br />

Die einzelnen Bedeutungen eines ambigen Wortes werden nacheinander aktiviert, beispielsweise<br />

entsprechend ihrer Frequenz. Nur falls die zuerst aktivierte Bedeutung nicht<br />

passt, wird eine andere aktiviert.<br />

2.2.2 Einkapselung vs. Interaktion - die Rolle des Kontexts<br />

Weiter oben haben wir gesehen, dass typischerweise ein größerer Kontext notwendig ist, um<br />

zwischen den beiden Bedeutungen eines homonymen Wortes zu entscheiden. Zwei desambiguierende<br />

Kontexte für unser Beispiel in (1) werden in (5) gegeben.<br />

(5) a. Die Wanderung war extrem anstrengend. Fritz und Maria waren froh, als sie endlich<br />

eine Bank erblickten.<br />

b. <strong>Das</strong> Bargeld war plötzlich alle. Fritz und Maria waren froh, als sie endlich eine<br />

Bank erblickten.<br />

Es scheint klar zu sein, dass wir Bank je nach vorangehendem Kontext unterschiedlich verstehen.<br />

Die Frage ist, an welchem Punkt während des Verstehensprozesses der Kontext zur<br />

Auswahl der korrekten Bedeutung von Bank führt.<br />

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten:<br />

• Ein Möglichkeit ist, dass im <strong>Lexikon</strong> zunächst alle Wortbedeutungen aktiviert und an die<br />

postlexikalischen, höheren Integrationsprozesse verfügbar gemacht werden. Es ist dann<br />

Aufgabe dieser Integrationsprozesse, die am besten in den schon bestehenden Kontext<br />

passende Bedeutung auszuwählen und anschließend zu integrieren.


2 LEXIKALISCHE AMBIGUITÄT 4<br />

• Ein andere Möglichkeit ist, dass der Kontext bereits während des lexikalischen Zugriffs<br />

selbst aktiv wird. Denkbar ist beispielsweise, dass überhaupt nur das in den Kontext<br />

passende Wort aktiviert und abgerufen wird. Die späteren Intergrationsprozesse erhielten<br />

dann von vornherein die kontextuell passende Bedeutung vom <strong>Lexikon</strong> geliefert und<br />

müssten diese nicht selber bestimmen.<br />

Die beiden soeben skizzierten Möglichkeiten, wie der Kontext die Auswahl der korrekten<br />

Bedeutung steuern kann, illustrieren die beiden Konzepte der informationellen Einkapselung<br />

und der interaktiven Verarbeitung.<br />

(6) Informationelle Einkapselung<br />

Ein Prozess ist informationell eingekapselt, wenn er keine andere Information verarbeiten<br />

kann außer (i) seinem Input und (ii) Information, die in ihm selbst enthalten ist.<br />

(7) Interaktive Verarbeitung<br />

Von interaktiver Verarbeitung spricht man, wenn zwei oder mehr Prozesse frei untereinander<br />

Information austauschen können.<br />

Falls das mentale <strong>Lexikon</strong> informationell eingekapselt wäre, müsste der lexikalische Zugriff<br />

vollständig auf der Basis von <strong>lexikalischer</strong> Information ablaufen. Wissen über den Kontext, in<br />

dem ein Wort geäußert wird, gehört nicht zum lexikalischen Wissen. Also kann ein informationell<br />

eingekapseltes <strong>Lexikon</strong> keine Information aus dem Kontext aufnehmen, um die kontextuell<br />

angemessene Bedeutung eines ambiges Wortes abzurufen, und folglich wird der lexikalische<br />

Abruf entsprechend der ersten der beiden oben skizzierten Möglichkeiten verlaufen.<br />

Die zweite Möglichkeit illustriert das Konzept der interaktiven Verarbeitung: lexikalische<br />

Information und kontextuelle Information interagieren, so dass bereits während des lexikalischen<br />

Abrufs für ein ambiges Wort die korrekte Lesart gewählt werden kann.<br />

2.3 Lexikalischer Abruf und Priming: Swinney (1979)<br />

Ein klassisches Experiment zum Thema Homonymie und <strong>Lexikon</strong>abruf stammt von Swinney<br />

(1979). Swinney hat in seinem Experiment untersucht, ob der Zugriff ins mentale <strong>Lexikon</strong> seriell<br />

oder parallel erfolgt, und welchen Einfluß der Kontext dabei hat. Dabei hat er sich des sog.<br />

Priming-Effektes bedient.<br />

2.3.1 Priming<br />

Unter Priming versteht man den Befund, dass die Verarbeitung eines Wortes beschleunigt<br />

wird, wenn zuvor ein semantisch verwandtes Wort verarbeitet wurde. Bei der lexikalischen<br />

Entscheidungsaufgabe beispielsweise sind die Reaktionszeiten für ein Wort kürzer, wenn direkt<br />

davor ein semantisch verwandtes Wortes präsentiert wurde. Muss man z.B. entscheiden, ob die<br />

Buchstabenkette nurse ein Wort der englischen Sprache ist, so benötigt die korrekte positive<br />

Entscheidung weniger Zeit, wenn man zuvor entschieden hat, ob doctor ein Wort ist, als wenn<br />

man zuvor entschieden hat, ob cat ein Wort ist (vgl. (8)).<br />

(8) a. Prime-Wort: doctor - Zielwort: nurse<br />

b. Prime-Wort: cat - Zielwort: nurse<br />

2.3.2 Priming und lexikalische Ambiguität<br />

Ebenso wie das deutsche Wort Wanze ist das englische Wort bug mehrdeutig und bezeichnet<br />

entweder ein Insekt oder ein Abhörgerät. Unter ersterer Bedeutung ist bug beispielsweise mit


2 LEXIKALISCHE AMBIGUITÄT 5<br />

dem Wort Ameise/ant semantisch verwandt, unter der zweiten Bedeutung dagegen mit einem<br />

Wort wie Spion/spy. Dies wird schematisch in (9) gezeigt.<br />

(9) Insekt −→ Ameise/ant<br />

↗<br />

Wanze/bug<br />

↘<br />

Abhörgerät −→ Spion/spy<br />

Die Idee von Swinney (1979) war es, unter Ausnutzung des einige Jahre zuvor entdeckten<br />

Priming-Effektes zu untersuchen, ob der lexikalische Zugriff seriell oder parallel erfolgt. Konkret<br />

hat er gefragt, ob beide Bedeutungen eines ambigen Wortes ein nachfolgendes semantischverwandtes<br />

Wort primen.<br />

Diese Frage hat Swinney (1979) in einer Cross-Modal-Priming-Studie untersucht.<br />

2.3.3 Cross-Modal-Priming<br />

Cross-Modal-Priming funktioniert wie folgt:<br />

• Die Versuchsperson sitzt vor einem Bildschirm und hört einen Satz.<br />

• An einer bestimmten Stelle im Satz erscheint eine Buchstabenkette, für die zu entscheiden<br />

ist, ob es sich dabei um ein Wort handelt oder nicht.<br />

<strong>Das</strong> Experiment wird als ,,cross-modal” bezeichnet, weil es die beiden Modalitäten des<br />

Hörens und Lesens kombiniert.<br />

Zusätzlich zur Frage, ob der lexikalische Zugriff seriell oder parallel erfolgt, wollte Swinney<br />

auch wissen, welche Rolle der Kontext für den lexikalischen Zugriff spielt. Deshalb hat er ambige<br />

Wörter in zwei Arten von Kontexten eingebettet, neutrale Kontexte und favorisierende<br />

Kontexte. Dies wird für das Wort bug in (10) gezeigt.<br />

(10) ∆ = Position, an dem das visuelle Wort eingeblendet wird<br />

a. Neutraler Kontext<br />

Rumor had it that, for years, the government building had been plagued with<br />

problems. The man was not surprised when he found several bugs ∆ in the corner<br />

of his room.<br />

b. Favorisierender Kontext (biasing context)<br />

Rumor had it that, for years, the government building had been plagued with<br />

problems. The man was not surprised when he found several spiders, roaches, and<br />

other bugs ∆ in the corner of his room.<br />

Für jedes der ambigen Wörter, die Swinney untersucht hat (bug ist nur ein Beispiel von mehreren!)<br />

gab es drei verschiedene Wörter, die visuell für die lexikalische Entscheidungsaufgabe<br />

präsentiert wurden. Diese werden wiederum für das Wort bug in (11) gezeigt.<br />

(11) Visuelles Zielwort zum ambigen Wort bug für die lexikalische Entscheidung<br />

a. kontextuell verwandt: ANT (contextually related)<br />

b. kontextuell unangemessen: SPY (contextually inappropriate)<br />

c. ohne Zusammenhang: SEW (unrelated)<br />

Zusätzlich wurden natürlich auch Nichtwörter präsentiert. Andernfalls hätten die Versuchspersonen<br />

in Swinneys Experiment ja einfach durchgehend die ,,ja”-Taste drücken können, ohne<br />

überhaupt darauf zu achten, was für eine Buchstabenkette auf dem Bildschirm erschienen ist.


2 LEXIKALISCHE AMBIGUITÄT 6<br />

Die Ergebnisse für das Cross-Modal-Priming-Experiment von Swinney werden in Tabelle 1<br />

gezeigt.<br />

Tabelle 1: Mean reaction times in ms<br />

Visually presented words<br />

Context Contextually Contextually<br />

Condition Related inappropriate Unrelated<br />

Biasing Context 890 910 960<br />

Neutral context 916 925 974<br />

• Es gibt Priming sowohl für kontextuell verwandte als auch für kontextuell unangemessene<br />

Zielwörter.<br />

• Dies gilt sowohl für den neutralen als auch für den favorisierenden Kontext.<br />

Wie oben erläutert wurde, wurden die Zielwörter für die lexikalische Entscheidungsaufgabe<br />

unmittelbar nach dem ambigen Primewort auf dem Bildschirm präsentiert. In einem weiteren<br />

Experiment, das hier nicht diskutiert wurde, hat sich außerdem gezeigt, dass es bereits drei<br />

Silben nach dem Primewort Priming nur noch für kontextuell verwandte Wörter gibt.<br />

Daraus hat Swinney die folgenden Schlussfolgerungen gezogen:<br />

• Der lexikalische Zugriff erfolgt parallel (exhaustive access).<br />

• Der lexikalische Zugriff ist informationell eingekapselt.<br />

• Nach erfolgtem lexikalischen Zugriff wird die kontextuell passende Bedeutung innerhalb<br />

kürzester Zeit in die schon bestehende Repräsentation integriert, während die nichtpassende<br />

Bedeutung wieder de-aktiviert wird.<br />

2.4 Lexikalischer Abruf, Kontext und Frequenz<br />

Aufbauend auf den Ergebnissen von Swinney (1982) sind Duffy, Morris und Rayner (1988) der<br />

Frage, wie lexikalische <strong>Ambiguitäten</strong> beim Sprachverstehen verarbeitet werden, in einem Leseexperiment<br />

mit Messung von Blickbewegungen nachgegangen. Wie bei Swinney haben Duffy<br />

et al. (1988) gefragt, ob der lexikalische Zugriff seriell oder parallel erfolgt, und welche Rolle<br />

der Kontext dabei spielt. Zusätzlich haben Duffy et al. in ihrem Experiment berücksichtigt,<br />

dass sich die beiden Lesarten eines ambigen Wortes hinsichtlich ihrer Frequenz unterscheiden<br />

können.<br />

Die Studie von Duffy, Morris & Rayner (1988) hat also die folgenden beiden Faktoren<br />

manipuliert:<br />

• Kontext: Der auflösende Kontext kann dem ambigen Wort vorangehen oder folgen.<br />

• Frequenz: Die beiden Bedeutungen eines ambigen Wortes können ungefähr gleichfrequent<br />

sein, oder eine Bedeutung ist wesentlich frequenter als die andere.<br />

Um die Rolle der Frequenz zu untersuchen, wurden lexikalisch ambige Wörter in zwei Klassen<br />

eingeteilt:


2 LEXIKALISCHE AMBIGUITÄT 7<br />

• Ausgewogene Wörter (Equibiased words) pitcher: ,,Krug” oder ,,Spieler beim Baseball”;<br />

beide ungefähr gleich frequent<br />

• Nicht-ausgewogene Wörter (Non-equibiased words) port: ,,Hafen” (frequent) oder<br />

,,Portwein” (infrequent)<br />

2.4.1 Material<br />

Die Sätze in (12) und (13) zeigen ein komplettes Beispiel für das Material, das die Versuchspersonen<br />

in der Studie von Duffy & al. (1988) lesen mussten. Die lexikalisch ambigen Zielwörter<br />

sind fettgedruckt. Die Wörter in Klammern sind eindeutige Kontrollwörter. Während des Vesuchs<br />

wurde entweder das Zielwort oder das Kontrollwort präsentiert.<br />

(12) Context after<br />

a. Equibiased<br />

Of course the pitcher (whiskey) was often forgotten because it was kept on the<br />

back of a high shelf.<br />

b. Non-equibiased<br />

Last night the port (soup) was a great success when she finally served it to her<br />

guests.<br />

(13) Context before<br />

a. Equibiased<br />

Because it was kept on the back of a high shelf, the pitcher (whiskey) was often<br />

forgotten.<br />

b. Non-equibiased<br />

When she finally served it to her guests, the port (soup) was a great success.<br />

Man beachte, dass der Nebensatz im Falle der nichtausgewogenen (non-equibiased) Wörter<br />

zugunsten der selteneren Bedeutung desambiguiert. Dies ist für die Interpretation der folgenden<br />

Ergebnisse essentiell.<br />

2.4.2 Auswertung<br />

Für Auswertungzwecke definiert man verschiedene Regionen, über die die Ergebnisse des Blickbewegungsmessapparates<br />

gemittelt werden:<br />

Of course the pitcher was often forgotten<br />

Zielwort Region nach dem Zielwort<br />

because it was kept on the back of a high shelf.<br />

Disambiguierende Region<br />

Bei Studien, die Blickbewegungen messen, fallen sehr viele Daten an. Es gibt verschiedene<br />

Maße, die aus den Rohdaten berechnet werden können. Im folgenden werden die beiden Maße<br />

Gaze Duration und Mean time per character benutzt:<br />

Gaze Duration: The gaze duration on a target word was calculated by summing all consecutive<br />

fixations made on the target word beginning with the first fixation on the word and<br />

ending with the last fixation before the eyes moved on to another word.<br />

Mean time per character: Gesamtzeit aller Fixationen nach ,,Betreten” einer Region bis<br />

zum endgültigen ,,Verlassen”.


2 LEXIKALISCHE AMBIGUITÄT 8<br />

2.4.3 Ergebnisse<br />

Die Tabellen 2, 3 und 4 zeigen die Ergebnisse, die Duffy et al. für die drei oben definierten<br />

Auswertungsregionen erhalten haben. Diese Ergebnisse werden im folgenden getrennt nach Art<br />

des Kontextes besprochen.<br />

Tabelle 2: Mean Gaze Duration (in ms) on Target Words<br />

Position of disambiguating clause<br />

Before After<br />

Ambiguous Control Ambiguous Control<br />

Equibiased 264 264 279 261<br />

Non-equibiased 276 255 261 259<br />

Tabelle 3: Mean time (in ms per character) spent on the post-target region<br />

Position of disambiguating clause<br />

Before After<br />

Ambiguous Control Ambiguous Control<br />

Equibiased 51 50 35 35<br />

Non-equibiased 59 54 33 34<br />

Tabelle 4: Mean time (in ms per character) spent on the disambiguating region<br />

Position of disambiguating clause<br />

Before After<br />

Ambiguous Control Ambiguous Control<br />

Equibiased 36 36 57 50<br />

Non-equibiased 37 36 68 54<br />

2.4.4 Ambiguität ohne Kontext: Ordered Access<br />

Für lexikalisch ambige Wörter, die ohne vorherigen Kontext gelesen werden, lassen sich die<br />

Ergebnisse von Duffy et al. (1988) wie folgt zusammenfassen (siehe die rechte Seite der Tabellen<br />

2, 3 und 4, unter der Überschrift ,,after”).<br />

Ausgewogene ambige Wörter: Die Lesezeiten für ausgewogene ambige Wörter sind höher<br />

als für entsprechende eindeutige Kontrollwörter. Die Lesezeiten in der desambiguierenden<br />

Region sind leicht erhöht.<br />

Nicht-ausgewogene ambige Wörter: Die Lesezeiten für nicht-ausgewogene ambige Wörter<br />

sind nicht höher als für entsprechende eindeutige Kontrollwörter. Dafür gibt es in der<br />

desambiguierenden Region eine deutliche Erhöhung der Lesezeit (zur Erinnerung: Desambiguierung<br />

erfolgte stets zugunsten der selteneren Lesart).<br />

Auf der Grundlage der Ergebnisse haben Duffy et al. (1988) die Hypothese des geordneten<br />

Zugriffs (ordered access) aufgestellt.


2 LEXIKALISCHE AMBIGUITÄT 9<br />

(14) Geordneter <strong>lexikalischer</strong> Zugriff<br />

Beim lexikalischen Zugriff werden <strong>Lexikon</strong>einträge entsprechend ihrer Frequenz verfügbar.<br />

Die Hypothese des geordneten lexikalischen Zugriffs erklärt die Ergebnisse für ambige Wörter<br />

ohne vorangehenden Kontext wie folgt:<br />

• Ausgewogene ambige Wörter<br />

– Die beiden <strong>Lexikon</strong>einträge, die zu einem ausgewogenen ambigen Wort gehören, sind<br />

in etwa gleichfrequent und werden deshalb beide gleichzeitig beim <strong>Lexikon</strong>zugriff<br />

verfügbar.<br />

– Ein zeitintensiver Entscheidungsprozess muss dann zwischen den beiden Bedeutungen<br />

entscheiden. Dieser Entscheidungsprozess reflektiert sich in erhöhten Lesezeiten.<br />

• Nicht-ausgewogene ambige Wörter<br />

– Einer der beiden <strong>Lexikon</strong>einträge, die zu einem nicht-ausgewogenen ambigen Wort<br />

gehören, ist wesentlich frequenter als der andere.<br />

– Der frequente Eintrag wird wesentlich schneller verfügbar als der nicht-frequente.<br />

– Ein zeitintensiver Entscheidungsprozess ist damit nicht notwendig, so dass die Lesezeiten<br />

auf dem Wort selbst nicht erhöht sind.<br />

– Bei Desambiguierung zugunsten der infrequenten Lesart kommt es dann aber zu<br />

Problemen: Die nichtfrequente Bedeutung muss nachträglich aktiviert werden, was<br />

sich in der Erhöhung der Lesezeiten reflektiert.<br />

2.4.5 Ambiguität im Kontext: Re-ordered Access<br />

Im Kontext drehen sich die Verhältnisse um (siehe die linke Seite der Tabellen 2, 3 und 4, unter<br />

der Überschrift ,,before”):<br />

Ausgewogene ambige Wörter: Die Lesezeiten für ausgewogene ambige Wörter sind jetzt<br />

gleich hoch wie für entsprechende eindeutige Kontrollwörter.<br />

Nicht-ausgewogene ambige Wörter: Die Lesezeiten für nicht-ausgewogene ambige Wörter<br />

sind jetzt höher als für entsprechende eindeutige Kontrollwörter.<br />

Duffy et al. (1988) haben deshalb der Hypothese des geordneten Zugriffs die Hypothese des<br />

um-geordneten Zugriffs (reordered access) zur Seite gestellt:<br />

(15) Um-geordneter <strong>lexikalischer</strong> Zugriff<br />

Der Kontext führt zu einer Neuanordnung der <strong>Lexikon</strong>einträge, die einem ambigen<br />

Wort entsprechen.<br />

a. Ausgewogene ambige Wörter: Der Eintrag, der vom Kontext favorisiert wird,<br />

ist nun wesentlich höher geordnet als der nicht-favorisierte Eintrag.<br />

b. Nicht-ausgewogene Wörter: Der infrequente Eintrag, der ja vom Kontext favorisiert<br />

wird, ist jetzt gleich geordnet wie der hochfrequente Eintrag.


3 DIE ROLLE DER PHONOLOGIE BEIM LESEN 10<br />

2.5 Zusammenfassung: <strong>Auflösung</strong> <strong>lexikalischer</strong> <strong>Ambiguitäten</strong><br />

Die Ausführungen zur <strong>Auflösung</strong> <strong>lexikalischer</strong> <strong>Ambiguitäten</strong> beim Zugriff ins mentale <strong>Lexikon</strong><br />

können wie folgt zusammengefasst werden:<br />

• Die <strong>Auflösung</strong> <strong>lexikalischer</strong> <strong>Ambiguitäten</strong> beim Zugriff ins <strong>Lexikon</strong> ist sowohl frequenzals<br />

auch kontextabhängig.<br />

• Frequenz: Serieller Abruf für nicht-ausgewogene ambige Wörter, paralleler Abruf für<br />

ausgewogene ambige Wörter.<br />

• Kontext: Favorisiert der Kontext eine der beiden Bedeutungen eines lexikalisch ambigen<br />

Wortes, so erhält diese Bedeutung einen Vorteil gegenüber der anderen Bedeutung.<br />

3 Die Rolle der Phonologie beim Lesen<br />

3.1 Fragestellung<br />

Die Schriftsprache ist im Vergleich zur Lautsprache sekundär und auf die eine oder andere<br />

Weise von dieser abgeleitet. Dies wirft bezüglich des Leseprozesses u.a. die folgenden beiden<br />

Fragen auf:<br />

• Verläuft die visuelle Worterkennung vermittelt über die Phonologie? D.h., werden Buchstabenketten<br />

zunächst in Phonemketten übersetzt, bevor das dazugehörige Wort im mentalen<br />

<strong>Lexikon</strong> abgerufen wird?<br />

• Werden beim Lesen phonologische Repräsentationen aktiviert?<br />

Diese beiden Fragen klingen recht ähnlich, sie meinen aber nicht dasselbe. Um uns das<br />

klarzumachen, betrachten wir die beiden schematischen Darstellungen der Rolle der Phonlogie<br />

beim Lesen in (16) und (17).<br />

(16) Phonologisch vermittelte Wortidentifikation:<br />

Visueller Input → Buchstaben → Phoneme → <strong>Lexikon</strong>eintrag<br />

(17) Aktivierung phonologischer Repräsentation ohne phonologisch<br />

vermittelte Wortidentifikation:<br />

Visueller Input → Buchstaben → <strong>Lexikon</strong>eintrag → Phoneme<br />

(16) ist wie folgt zu lesen: Der erste Schritt der Worterkennung besteht darin, dass der visuelle<br />

Input, der auf die Netzhaut fällt, in eine Kette von Buchstaben übersetzt wird. Im nächsten<br />

Schritt wird die zuvor erstellte Buchstaben-Kette in eine Kette von Phonemen übersetzt. Dies<br />

geschieht auf der Grundlage von sog. Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln, die angeben,<br />

mit welchen lautlichen Werten die einzelnen Buchstaben einer Sprache korrespondieren. Die<br />

Phonemkette dient dann schließlich dazu, den entsprechenden <strong>Lexikon</strong>eintrag für das Wort zu<br />

lokalisieren.<br />

Gemäß (17) dagegen verläuft der Prozess vom Sehen eines Wortes (visueller Input) bis zur<br />

Aktivierung einer Lautrepräsentation (Phoneme) wie folgt: Wiederum wird der visuelle Input<br />

zunächst in eine Buchstaben-Kette übersetzt. Dann aber wird mittels dieser Buchstaben-Kette<br />

direkt der entsprechende <strong>Lexikon</strong>eintrag abgerufen. Der <strong>Lexikon</strong>eintrag für ein Wort enthält<br />

die Aussprache des Wortes, so dass nach erfolgtem <strong>Lexikon</strong>zugriff auch eine phonologische<br />

Repräsentation zur Verfügung steht. (17) entspricht damit dem Nachschlagen eines Wortes in


3 DIE ROLLE DER PHONOLOGIE BEIM LESEN 11<br />

einem gedruckten Wörterbuch. Der Eintrag für das Wort wird auf der Grundlage seiner Schreibweise<br />

im Wörterbuch aufgesucht. Sobald man den Eintrag für das Wort gefunden hat, kann<br />

man nachschauen, wie das Wort auszusprechen ist (zumindest dann, wenn das entsprechende<br />

Wörterbuch die Aussprache der Wörter angibt).<br />

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Wörter beim Lesen identifiziert werden:<br />

1. Die Wortidenfikation beim Lesen erfolgt gemäß dem Schema in (16).<br />

2. Die Wortidenfikation beim Lesen erfolgt gemäß dem Schema in (17).<br />

3. Die Wortidenfikation beim Lesen erfolgt gemäß einer Kombination aus den beiden Schemata<br />

in (16) und (17). Denkbar ist beispielsweise, dass sehr frequente Wörter wie in<br />

(17) gelesen werden, während für weniger frequente Wörter der Weg ins <strong>Lexikon</strong> über die<br />

Phonologie verläuft, also gemäß (16).<br />

4. Weder (16) noch (17) ist korrekt, und beim Lesen spielen phonologische Repräsentationen<br />

überhaupt keine Rolle.<br />

Die Frage, welche dieser vier Hypothesen den Lesevorgang korrekt beschreibt, ist eine der am<br />

kontroversesten diskutierten Fragen in der Psycholinguistik. An dieser Stelle ist kein Platz diese<br />

Frage zu klären. Im folgenden wollen wir uns lediglich zwei Experimente anschauen, die starke<br />

Evidenz für die Annahme liefern, dass beim Lesen phonologische Repräsentationen berechnet<br />

werden. Ausgeschlossen wird damit Möglichkeit 4, dass die Phonologie beim Lesen gar keine<br />

Rolle spielt, während die Möglichkeiten 1 - 3 übrig bleiben.<br />

3.2 Homophon - Homograph<br />

Von Homonymie spricht man, wenn zwei Wörter dieselbe Aussprache besitzen. Zieht man<br />

zusätzlich zur Aussprache auch die Orthographie mit in Betracht, kann man zwei Arten von<br />

Homonymen unterscheiden:<br />

• Wörter mit identischer Ausprache und identischer Orthographie: Bank im Deutschen<br />

und genauso bank im Englischen.<br />

• Wörter mit identischer Ausprache aber unterschiedlicher Orthographie: Rat<br />

und Rad im Deutschen oder brake und break im Englischen.<br />

Daneben gibt es auch Wörter, die unterschiedlich ausgesprochen, aber identisch geschrieben<br />

werden.<br />

• Wörter mit identischer Orthographie aber unterschiedlicher Ausprache: Tenor<br />

- Sänger und Tenor - Fazit im Deutschen oder tear - Träne und tear - Riss im Englischen.<br />

Wenn zwei unterschiedliche Wörter die gleiche Aussprache besitzen, so bezeichnet man sie<br />

als homophon (dies ist der klassische Fall der Homonymie). Werden zwei unterschiedliche<br />

Wörter gleich geschrieben, bezeichnet man sie als homograph. Die vier Möglichkeiten, die<br />

sich aus der Kombination von ±homophon und ±homograph ergeben, werden in Tabelle 5<br />

gezeigt.


3 DIE ROLLE DER PHONOLOGIE BEIM LESEN 12<br />

Tabelle 5: Aussprache und Orthographie<br />

Aussprache<br />

Identisch Nichtidentisch<br />

Orthographie Identisch Homophon/Homograph Heterophon/Homograph<br />

bank - bank tear - tear<br />

Nicht-Identisch Homophon/Heterograph Heterophon/Heterograph<br />

brake - break book - sausage<br />

3.3 A rows is a rose!? Van Orden (1987)<br />

Van Orden (1987) hat die Frage nach der Phonologie beim Lesen mittels der Methode des<br />

lexikalischen Kategorisierens untersucht. Bei dieser Methode müssen Versuchspersonen Wörter<br />

danach beurteilen, ob sie zu einer vorgegebenen semantischen Kategorie gehören oder nicht.<br />

Die Logik des Experiments von Van Orden (1987) lautet wie folgt: Wenn beim Lesen eines<br />

Wortes automatisch seine phonologische Repräsentation aktiviert wird, könnte dies zu ,,Verwechslungen”<br />

führen bei einer Aufgabe wie dem lexikalischen Kategorisieren.<br />

Betrachten wir dazu das folgende Beispiel:<br />

• Semantische Kategorie: Flowers<br />

• Korrektes Exemplar: rose<br />

• Kein Exemplar, aber identische Aussprache: rows<br />

• Kein Exemplar, Aussprache nicht identisch: robs<br />

Als semantische Kategorie ist die Kategorie ,,Blumen” (flowers) vorgegeben. Liest man nun<br />

das Wort rose, muss man mit ,,ja” antworten, denn dieses Wort bezeichnet ein Exemplar der<br />

Kategorie ,,Blumen”. Liest man dagegen eines der Wörter rows oder robs, so muss man mit<br />

,,nein” antworten. Keines dieser beiden Wörter bezeichnet eine Blume. Allerdings gibt es einen<br />

wichtigen Unterschied zwischen rows und robs. <strong>Das</strong> Wort rows wird gleich ausgesprochen wie<br />

das Wort rose, und letzeres ist eine Blume. <strong>Das</strong> Wort robs dagegen wird nicht wie irgendeine<br />

Blume ausgesprochen.<br />

Van Orden (1987) hat die drei Arten von Wörtern, die soeben besprochen wurden, in seinem<br />

Experiment untersucht. Zusätzlich hat er die orthographische Ähnlichkeit zwischen den<br />

korrekten Exemplaren und den Nicht-Exemplaren variiert. <strong>Das</strong> Beispiel rose - rows - robs ist<br />

ein Beispiel für geringere orthographische Ähnlichkeit, während das Beispiel meat - meet -<br />

melt bei vorgebenener semantischer Kategorie ,,etwas zum Essen” von hoher orthographischer<br />

Ähnlichkeit ist.<br />

Die Resultate von van Orden werden in Tabelle 6 gezeigt.<br />

Tabelle 6 zeigt folgendes:<br />

• Ist ein Wort, das kein Exemplar der vorgegebenen semantischen Kategorie ist, homophon<br />

zu einem Wort, das ein Exemplar ist, kommt es zu erhöhten Fehlerraten.<br />

• Orthographische Ähnlichkeit hat einen starken Einfluss auf die Fehlerrate: Je ähnlicher,<br />

desto mehr Fehler.<br />

Diese Ergebnisse sind ein starkes Indiz für die Aktivierung phonologischer Repräsentationen<br />

beim Lesen, und zwar auch dann, wenn solche Repräsentation zur Lösung der Aufgabenstellung<br />

gar nicht nötig sind.


3 DIE ROLLE DER PHONOLOGIE BEIM LESEN 13<br />

Tabelle 6: Homophonie und lexikalisches Kategorisieren: Prozentsatz falscher positiver Antworten<br />

für Homophone und Kontrollwörter<br />

Orthographisch<br />

Orthographisch<br />

ähnlich<br />

unähnlich<br />

Beispiel Mittelw. Beispiel Mittelw. Mittelw.<br />

Kategorie a type of food a flower<br />

Exemplar meat rose<br />

Homophone meet 29 rows 8 18,5<br />

Kontrollwörter melt 5 robs 1 3<br />

3.4 Blickbewegungen und Phonologie: Folk & Morris (1995)<br />

<strong>Das</strong> lexikalische Kategorisieren, das van Orden (1987) als experimentelle Methode gewählt<br />

hat, ist eine indirekte Off-Line-Methode. Lässt sich auch on-line Evidenz für phonologische<br />

Repräsentationen finden? Zur Beantwortung dieser Frage haben Folk und Morris (1995) ein<br />

Experiment durchgeführt, in dem Versuchspersonen Sätze wie die folgenden gelesen haben,<br />

während ihre Blickbewegungen gemessen wurden. (Die ambigen Zielwörter sind fettgedruckt,<br />

die Wörter in Klammern sind eindeutige Kontrollwörter).<br />

(18) a. Heterographic Homophones<br />

(Unterschiedliche Orthgraphie, identische Aussprache)<br />

When the brake (pedal) on her bike malfunctioned the cyclist failed to stop.<br />

b. Homographic Homophones<br />

(Identische Orthgraphie, identische Aussprache)<br />

The old ruler (witch) was hidden in her castle from the angry mob.<br />

c. Homographic Heterophones<br />

(Identische Orthgraphie, unterschiedliche Aussprache)<br />

There was a tear (hole) in Jim’s shirt after he caught his sleeve on a thorn.<br />

Bedingung (a), d.h. heterographe Homophone, ist hier nur der Vollständigkeit wegen aufgeführt<br />

worden. Diese Bedingung soll uns im folgenden nicht weiter interessieren. Entscheidend für uns<br />

sind die beiden Bedingungen ,,homographe Homophone” und ,,homographe Heterophone”.<br />

Sowohl ruler als auch tear sind unausgewogene Wörter im Sinne von Duffy, Rayner und<br />

Morris (1988) (siehe oben). Außerdem gilt, dass beide Wörter in (18) entsprechend ihrer infrequenten<br />

Bedeutung desambiguiert werden. Angesichts der Resultate von Duffy et al. (1988) ist<br />

zu erwarten, dass man sich beim Lesen dieser Wörter für die frequentere Bedeutung entscheidet<br />

(serieller Zugriff für nicht-ausgewogene Wörter ohne Kontext). Aufgrund der Desambiguierung<br />

zugunsten der infrequenten Lesart sind folglich in beiden Fällen Schwierigkeiten zu erwarten,<br />

da man von der initial gewählten Bedeutung auf die andere Bedeutung umschalten muss.<br />

An dieser Stelle gibt es aber einen entscheidenden Unterschied zwischen ruler und tear. ruler<br />

hat zwei Bedeutungen und eine Aussprache. Entscheidet man sich zunächst für die kontextuell<br />

falsche Bedeutung, muss man anschliessend nur die Bedeutung revidieren. Die Aussprache ist<br />

ja in beiden Fällen identisch, und muss deshalb nicht revidiert werden. Anders dagegen bei<br />

tear. Für dieses Wort muss anschliessend nicht nur die Bedeutung revidiert werden, sondern<br />

auch die Aussprache. tear verstanden als Träne wird nun einmal anders ausgesprochen als tear<br />

verstanden als Riss.


3 DIE ROLLE DER PHONOLOGIE BEIM LESEN 14<br />

Falls wir beim Lesen tatsächlich eine phonologische Repräsentation berechnen, kriegen wir<br />

folgende Vorhersage: Beim Lesen von (18) sollten für homographe Homophone (ruler) weniger<br />

Schwierigkeiten auftreten als beim Lesen von homographen Heterophonen (tear), da für erstere<br />

nach Einlesen der desambiguierenden Information nur die Bedeutung geändert werden muss,<br />

während für letztere sowohl die Bedeutung als auch die phonologische Repräsentation zu ändern<br />

ist.<br />

Die Resultate von Folk und Morris (1995) werden in Tabelle 7 gezeigt. Tabelle 7 zeigt die<br />

Ergebnisse für alle drei der in (18) gezeigten Bedingungen, sowie für unterschiedliche Regionen<br />

und Lesemaße.<br />

Tabelle 7: Resultate der Folk & Morris (1995) Blickbewegungsstudie<br />

Heterographic Homographic Homographic<br />

homophones homophones heterophones<br />

Mean Gaze Duration on Target 351 342 389<br />

Target versus Control words Control 322 349 308<br />

Mean Gaze Duration in Target 347 398 383<br />

the Disambiguating Region Control 345 348 373<br />

Total Number of Target 24 24 35<br />

Regressions Onto the Target Control 29 26 18<br />

and Control Words<br />

Mean Total Time on the Target 485 562 727<br />

Target versus Control Words Control 496 539 474<br />

An dieser Stelle sollen nur die in Tabelle 7 fett-gedruckten Ergebnisse besprochen werden.<br />

Diese Ergebnisse zeigen folgendes:<br />

• Liest man die desambiguierende Region für ein Wort wie tear, muss man fast doppelt<br />

so häufig zu diesem Wort zurückgehen als für ein entsprechendes Kontrollwort. Für<br />

Wörter wie ruler zeigen sich dagegen keine wesentlichen Unterschiede im Vergleich zu<br />

Kontrollwörtern.<br />

(Dies zeigt die Zeile ,,Total Number of Regressions Onto the Target and Control Words”.<br />

,,Regressions” meint hierbei regressive Sakkaden, die zu einem nochmaligen Lesen des<br />

Ziel- bzw. Kontrollwortes führen.)<br />

• Derselbe Befund zeigt sich in den totalen Lesezeiten für diese beiden Bedingungen.<br />

(Die letzte Zeile in der Tabelle)<br />

3.5 Zusammenfassung: Phonologie beim Lesen<br />

Als wichtigstes Ergebnis dieses Abschnittes können wir festhalten, dass unterschiedliche experimentelle<br />

Methoden (lexikalisches Kategorisieren, Blickbewegungsmessungen) übereinstimmend<br />

zeigen, dass beim Lesen automatisch phonologische Repräsentationen berechnet werden. Dies<br />

allein ist bereits ein wichtiges Ergebnis, auch wenn dadurch noch nicht geklärt ist, wie diese<br />

phonologische Strukturen zustandekommen (vgl. die Diskussion von (16) und (17)).<br />

Den Abschluss dieses Abschnittes soll ein Zitat aus Rayner & Pollatsek (1989) bilden, das<br />

zum weiteren Nachdenken über das oben Ausgeführte anregen mag.


4 ZUSAMMENFASSUNG 15<br />

,,In essence, we want to suggest that the phonological code that is established for<br />

words in silent reading results in your hearing a voice saying the words your eyes are<br />

falling on. This code is identical to the kind of code that occurs when you hear yourself<br />

think. This is not to say that all thinking is based upon speech processes; purely<br />

visual thinking clearly occurs. But we want to argue that the kind of phonological<br />

coding that occurs during thinking and reading are one and the same. In this sense,<br />

we are totally comfortable with the idea of silent reading beeing EXTERNALLY<br />

GUIDED THINKING (Neisser, 1967).”<br />

(aus: Rayner & Pollatsek, 1989)<br />

4 Zusammenfassung<br />

Diese Einheit hat das Problem der lexikalischen Ambiguität beim Prozess des <strong>Lexikon</strong>zugriffs<br />

diskutiert. Die folgenden wichtigen Begriffe wurden dabei eingeführt:<br />

• Paralller (vollständiger) Abruf versus serieller (selektiver) Abruf<br />

• Kontextuelle Faktoren<br />

• Die Rolle der Frequenz bei der <strong>Auflösung</strong> <strong>lexikalischer</strong> <strong>Ambiguitäten</strong><br />

• Die Rolle der Phonologie beim Lesen<br />

• Homophonie - Homographie

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