Liebe Schwestern, liebe Brüder in Jesus Christus ... - Wir sind Kirche
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<strong>Liebe</strong> <strong>Schwestern</strong>, <strong>liebe</strong> <strong>Brüder</strong> <strong>in</strong> <strong>Jesus</strong> <strong>Christus</strong>!<br />
Ich beg<strong>in</strong>ne mit e<strong>in</strong>em Erlebnis, das me<strong>in</strong> Bischofsamt geprägt hat. 1992/93 habe ich<br />
das Dekanat Wien 4/5 visitiert. Es war me<strong>in</strong>e erste Visitationserfahrung. In der Pfarre<br />
„Auferstehung Christi“ kam ich mit Pfarrer Johann Po<strong>in</strong>tner zum Vorgespräch<br />
zusammen. Er sagte mir <strong>in</strong> etwa: Sie werden also <strong>in</strong> die Pfarre kommen, es wird e<strong>in</strong>e<br />
schöne Messe geben, Begegnung mit Pfarrmitgliedern, mit dem Pfarrgeme<strong>in</strong>derat.<br />
Und dann zeigte er mit der Hand auf die riesigen Geme<strong>in</strong>debauten rundum und<br />
fragte: Und was werden die vielen Menschen, die da wohnen, von dieser Visitation<br />
merken? Die Frage geht mir seither nicht aus dem S<strong>in</strong>n. Ich habe sie für me<strong>in</strong>e<br />
Bischofszeit als prägend erlebt. Denn ich glaube, die Zeit, <strong>in</strong> die me<strong>in</strong>e Amtszeit als<br />
Bischof fällt, erlebt wahrsche<strong>in</strong>lich die größten Veränderungen und Umbrüche der<br />
<strong>Kirche</strong> (und auch unserer Gesellschaft) seit langem. Ich will aber diese tiefen<br />
Umbrüche bewusst mit Ihnen geme<strong>in</strong>sam leben und gestalten. Seit langem schwebt<br />
mir dabei als Modell das Apostelkonzil vor, wie es <strong>in</strong> Apg 15 beschrieben wird. auch<br />
damals e<strong>in</strong> gewaltiger Umbruch: Soll die junge <strong>Kirche</strong> <strong>in</strong> den Grenzen des<br />
Judentums bleiben oder sich auch den Heiden öffnen? Und sollen die Heiden, um<br />
Christen zu werden, das Gesetz übernehmen? Statt <strong>in</strong> dieser dramatischen Frage<br />
sich von den Problemen, die riesig waren, lähmen zu lassen, haben die Apostel<br />
e<strong>in</strong>en anderen Weg gewählt: Sie haben e<strong>in</strong>ander erzählt, was Gott <strong>in</strong> ihrer Mitte<br />
gewirkt hat: „Als e<strong>in</strong> heftiger Streit entstand (ob nämlich die Heidenchristen<br />
beschnitten werden müssen und ob sie am Gesetz des Mose festhalten müssen),<br />
erhob sich Petrus und sagte zu ihnen: „<strong>Brüder</strong>, wie ihr wisst, hat Gott schon längst<br />
hier bei Euch die Entscheidung getroffen…“ Und dann erzählt er, was Gott gewirkt<br />
hat, wo er den Heiligen Geist am Werk erlebt hat, und was er daraus als den Weg<br />
und Willen Gottes erkannt hat. Nach Petrus hörte die Versammlung „Paulus und<br />
Barnabas zu, wie sie erzählten, welch große Zeichen und Wunder Gott durch sie<br />
unter den Heiden getan hatte“. Schließlich ergreift Jakobus das Wort und zieht aus<br />
den Erfahrungsberichten die Schlussfolgerungen. Gott selber hat so den Weg<br />
gezeigt, auf den sich schließlich das „Apostelkonzil“ gee<strong>in</strong>igt hat. Ähnliches wollen<br />
wir <strong>in</strong> unserer ersten Delegiertenversammlung tun: aufe<strong>in</strong>ander hören: was habt ihr<br />
als <strong>Wir</strong>ken des Herrn erlebt? Die Unterschiede <strong>in</strong> der Sichtweise zwischen den<br />
Jakobusleuten und Paulus konnten kaum größer se<strong>in</strong>. Auch zwischen uns gibt es<br />
große Unterschiede im <strong>Kirche</strong>nbild, <strong>in</strong> der Glaubensgeschichte, <strong>in</strong> den<br />
gesellschaftlichen Akzenten. Aber wenn wir wie im Apostelkonzil wirklich auf die<br />
Glaubenserfahrung des anderen hören, kann es zu e<strong>in</strong>er so starken Geme<strong>in</strong>samkeit<br />
kommen wie damals <strong>in</strong> Jerusalem. So darf ich, ehe wir sieben Zeugnisse hören,
selber sagen, was ich „gesehen und gehört habe und worüber ich unmöglich<br />
schweigen kann“. Es ist vor allem e<strong>in</strong>es, das mich immer mehr bewegt, anzieht,<br />
ergreift: das Erbarmen Jesu! Für mich ist Markus 6 e<strong>in</strong>e Schlüsselstelle. <strong>Jesus</strong> lädt<br />
se<strong>in</strong>e Jünger nach ihrer ersten Missionserfahrung e<strong>in</strong>, mit ihm an e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>samen Ort<br />
zu kommen, um e<strong>in</strong> wenig auszuruhen. Als sie mit dem Boot dort ankommen,<br />
erwartet sie statt der Ruhe e<strong>in</strong>e riesige Menschenmenge, weit über 5.000 Menschen.<br />
Von <strong>Jesus</strong> sagt nun Markus: „Als er ausstieg und die vielen Menschen sah, war er<br />
von Mitleid über sie ergriffen, denn sie waren wie Schafe, die ke<strong>in</strong>en Hirten haben.<br />
Und er lehrte sie lange“ (Mk 6,34). Me<strong>in</strong>e Frage, me<strong>in</strong>e Bitte an den Herrn: „Herr, wie<br />
siehst du die Menschen? Wie ist de<strong>in</strong> Blick? De<strong>in</strong> Herz ihnen gegenüber?“ Es geht,<br />
so sehe ich das, vor allem darum, dass <strong>Jesus</strong> uns mit se<strong>in</strong>en Augen sehen, mit<br />
se<strong>in</strong>en Herzen <strong>liebe</strong>n lehrt. Das ist für mich der Kern der Mission! Diese Frage<br />
bewegt mich seit Jahren. Sie wurde mir zur Kernfrage me<strong>in</strong>es Lebens: ich möchte<br />
die Menschen (und mich selber) so sehen können wie <strong>Jesus</strong> sie (und mich) sieht! In<br />
me<strong>in</strong>er Erfahrung ist daraus e<strong>in</strong> fünffaches Ja geworden, das ich als das Ja Jesu<br />
sehe, das Ja Gottes zu uns, zu unserer Zeit, und das möchte ich Ihnen kurz <strong>in</strong><br />
Stichworten sagen.<br />
1. Ja sagen zu unserer Zeit<br />
Ja sagen zu unserer Zeit, zum Heute, <strong>in</strong> der wir leben. Gott liebt diese Zeit, die<br />
Menschen heute. Me<strong>in</strong> täglicher Liebl<strong>in</strong>gspsalm ist der Ps 95 (am Tagesbeg<strong>in</strong>n):<br />
„Heute, wenn ihr se<strong>in</strong>e Stimme hört, verhärtet euer Herz nicht…“ Und dieses<br />
Liebl<strong>in</strong>gswort me<strong>in</strong>er Liebl<strong>in</strong>gsheiligen, Thérèse v. Lisieux: „Pour t’aimer je n’ai que<br />
aujourd’hui“ (um dich zu <strong>liebe</strong>n habe ich nur heute). Lassen wir die Nostalgie: wir<br />
leben nicht <strong>in</strong> den kirchenboomenden 50er Jahren, <strong>in</strong> den konzilsbegeisterten 60ern,<br />
<strong>in</strong> den stürmischen 68er Jahren. <strong>Wir</strong> leben heute. Sehen wir mit Jesu Augen diese<br />
Zeit. <strong>Liebe</strong>n wir sie im Heute Jesu!<br />
2. Ja sagen zu unserer Situation<br />
Ja sagen zu unserer Situation. <strong>Wir</strong> s<strong>in</strong>d, besonders <strong>in</strong> Wien, gewaltig geschrumpft.<br />
<strong>Wir</strong> werden weiter schrumpfen (schon re<strong>in</strong> aus demographischen Gründen). <strong>Wir</strong><br />
müssen Abschied nehmen von vielem, das uns lieb, wichtig, heilig war. Es wird vieles<br />
sterben. <strong>Wir</strong> müssen manches loslassen, was uns unersetzlich sche<strong>in</strong>t. Gott liebt uns<br />
<strong>in</strong> dieser unserer Situation. Ja sagen auch zu dem, was wächst, was Förderung<br />
braucht, und was uns Gottes Weg <strong>in</strong> dieser Zeit zeigt. Trauen wir uns, geme<strong>in</strong>sam
h<strong>in</strong>zuschauen auf das, was wir loslassen müssen und das, was der Geist des Herrn<br />
uns für heute als neue Chancen zeigt.<br />
3. Ja sagen zu unserer geme<strong>in</strong>samen Berufung als Getaufte und Gefirmte<br />
Ja sagen zu unserer geme<strong>in</strong>samen Berufung als Getaufte und Gefirmte. Das wollte<br />
das II. Vatikanische Konzil allen bewusst machen: das tragende geme<strong>in</strong>same<br />
Fundament der Taufe, das uns verb<strong>in</strong>det und das unser geme<strong>in</strong>samer Auftrag ist.<br />
Der erste Satz der <strong>Kirche</strong>nkonstitution „Lumen Gentium“ des Konzils ist mir dazu<br />
besonders wichtig: „<strong>Christus</strong> ist das Licht der Völker. Darum ist es der dr<strong>in</strong>gende<br />
Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Heiligen Synode, alle Menschen<br />
durch se<strong>in</strong>e Herrlichkeit zu erleuchten, die auf dem Antlitz der <strong>Kirche</strong> widersche<strong>in</strong>t.<br />
Deshalb verkündet sie allen Geschöpfen das Evangelium“ (LG 1). Hier ist der ganze<br />
Missionsauftrag der <strong>Kirche</strong> angesprochen. Mich berührt dabei immer dieses „auf dem<br />
Antlitz der <strong>Kirche</strong>“: Die <strong>Kirche</strong> hat e<strong>in</strong> Antlitz. Sie hat me<strong>in</strong> Antlitz. Ich b<strong>in</strong> immer auch<br />
e<strong>in</strong> Gesicht der <strong>Kirche</strong>. Jede und Jeder von uns ist so Gesicht der <strong>Kirche</strong>, auf dem<br />
<strong>Christus</strong>, das Licht der Menschen, leuchtet. Und es leuchtet wirklich. Nicht immer<br />
ganz hell, aber doch. <strong>Wir</strong> alle s<strong>in</strong>d Antlitz der <strong>Kirche</strong> für das Licht Christi. Daher ist<br />
der „Sendungsauftrag“ aller Getauften zuerst e<strong>in</strong> persönlicher. „Face to face“, von<br />
Angesicht zu Angesicht, so geht Mission. So g<strong>in</strong>g es immer. So, und nur so geht es<br />
heute: persönlich, „von Mensch zu Mensch“; „face to face“. So soll auch unsere<br />
Diözesanversammlung verstanden werden: nicht zuerst Papiere produzieren,<br />
sondern e<strong>in</strong>ander „face to face“ begegnen. Auch e<strong>in</strong> „Face book“ kann das nicht<br />
ersetzen. Alle die Strukturfragen, die uns zu Recht bewegen, die <strong>in</strong>stitutionellen<br />
Entwicklungen, gehen von da aus und bekommen von daher ihren S<strong>in</strong>n: Wie können<br />
wir „nahe bei den Menschen“ bleiben bzw. näherkommen. Wie bleibt die <strong>Kirche</strong> „auf<br />
Rufweite“? Wie können wir „face to face“ die erreichen, die der Herr mit se<strong>in</strong>em<br />
Evangelium erreichen will? Das 4. und 5. „Ja“ dienen dieser Nähe zu den Menschen<br />
aus der Nähe zu <strong>Jesus</strong>.<br />
4. Ja zur Stellvertretung<br />
Ja zur Stellvertretung: Dass wir wenige s<strong>in</strong>d, soll uns nicht schrecken. Jeder, der<br />
glaubt, steht für viele. Niemand glaubt für sich alle<strong>in</strong>e, wie auch niemand für sich<br />
alle<strong>in</strong>e lebt. Als aktive M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> unserer Gesellschaft (und selbst unter den treu<br />
ihren <strong>Kirche</strong>nbeitrag leistenden Getauften), wird es immer wichtiger, dass wir das<br />
Pr<strong>in</strong>zip „Stellvertretung“ leben und annehmen: <strong>Wir</strong> tragen im Glauben, <strong>in</strong> unserem<br />
Beten und Feiern viele andere mit: Sagen wir es ihnen auch gelegentlich! Wenn Du
am Sonntag <strong>in</strong> die <strong>Kirche</strong> gehst und der Nachbar gerade Rasen mäht, sag‘ ihm: „Ich<br />
bete auch für dich!“ „Ich nehme de<strong>in</strong>e Sorgen und anliegen mit <strong>in</strong> die Messe!“ „Ich<br />
gehe für dich!“ Mission heißt immer auch Stellvertretung: E<strong>in</strong>er für den anderen!<br />
5. Ja zum gesellschaftlichen Auftrag<br />
Ja zum gesellschaftlichen Auftrag: Unsere Pfarren, Geme<strong>in</strong>den, Geme<strong>in</strong>schaften und<br />
kirchlichen E<strong>in</strong>richtungen bilden e<strong>in</strong> großes Netzwerk der Nächsten<strong>liebe</strong>! <strong>Wir</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er spannungsreichen Situation: e<strong>in</strong>erseits werden unsere Mittel und Möglichkeiten<br />
weniger, andererseits werden die Nöte und Herausforderungen größer. Je dünner<br />
die sozialen Netze werden, desto mehr ist unsere Phantasie der Nächsten<strong>liebe</strong><br />
gefordert. Es ist bee<strong>in</strong>druckend, was hier <strong>in</strong> unseren kirchlichen E<strong>in</strong>richtungen<br />
geleistet wird, von Ihnen allen! Die vielen kle<strong>in</strong>en D<strong>in</strong>ge, unsche<strong>in</strong>bare, gelebte<br />
Nächsten<strong>liebe</strong>. Und die großen E<strong>in</strong>sätze für Menschen <strong>in</strong> den verschiedenen Nöten.<br />
Das Ja zu unserem gesellschaftlichen Auftrag ist e<strong>in</strong> wesentlicher Teil unserer<br />
Mission.<br />
Ich komme zurück auf den Anfang: Die Pfarre „Auferstehung Christi“ – zehn Jahre<br />
später. Inzwischen ist Franz Scharl dort Pfarrer. Ich feiere Gottesdienst mit der<br />
schwarzafrikanischen Geme<strong>in</strong>de. Die <strong>Kirche</strong> ist randvoll. Es wird gesungen, getanzt.<br />
E<strong>in</strong> Gottesdienst voll afrikanischer Temperamente, mitten <strong>in</strong> Wien. Wien hat sich<br />
enorm verändert. Die <strong>Kirche</strong> Wiens spiegelt die Weltkirche wider. In der Stadt<br />
natürlich deutlich mehr als <strong>in</strong> den beiden „Landesvikariaten“. Sie wird sich weiter<br />
stark wandeln. Fast 30 Prozent der Priester im Diözesandienst haben e<strong>in</strong>e nicht-<br />
österreichische Herkunft. Die andersprachigen Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Wien bilden bereits<br />
e<strong>in</strong>en erheblichen Teil der <strong>Kirche</strong> Wiens. Sie s<strong>in</strong>d <strong>Kirche</strong>! Sie s<strong>in</strong>d <strong>Kirche</strong> Wiens. Im<br />
Industrieviertel geht es zum Teil <strong>in</strong> ähnlichen Bahnen. Das ist nur e<strong>in</strong> Aspekt unter<br />
anderen betreffend die großen Umbrüche, die wir erleben. Sie s<strong>in</strong>d Chancen, sie s<strong>in</strong>d<br />
mit Schmerzen und Abschieden, aber auch mit Geburtswehen verbunden. Ich b<strong>in</strong><br />
gespannt, ob es uns gel<strong>in</strong>gt, geme<strong>in</strong>sam auf das zu hören, was der Geist heute der<br />
<strong>Kirche</strong> sagt, unserer <strong>Kirche</strong>, uns persönlich, uns allen. Ja, komm, Heiliger Geist,<br />
komm und zeigen uns De<strong>in</strong>e Wege!<br />
+ Christoph Kard<strong>in</strong>al Schönborn<br />
Erzbischof von Wien