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Kurt Ostwald - Gurran

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<strong>Kurt</strong> <strong>Ostwald</strong><br />

32.275<br />

Kilometer in Gefangenschaft


<strong>Kurt</strong> <strong>Ostwald</strong>: 32.275 Kilometer in Gefangenschaft<br />

Eine Biografie


<strong>Kurt</strong> <strong>Ostwald</strong>:<br />

32.275<br />

Kilometer in Gefangenschaft<br />

Eine Biografie


31. August 2012<br />

© <strong>Kurt</strong> <strong>Ostwald</strong>, 2012<br />

<strong>Gurran</strong> - Biografie für alle<br />

http://kurt-ostwald.gurran.eu/<br />

Lektorat: Andreas Trunschke<br />

Einbandgestaltung: Andreas Trunschke<br />

Satz: Andreas Trunschke<br />

Druck und Binden: Kuss GmbH, Potsdam


Kindheit in armen Verhältnissen (1923 – 1934)<br />

Geburt, Jugendjahre und Familie<br />

Am 31. August 1923<br />

wurde ich in Werdershof<br />

bei Schlagenthin geboren.<br />

Es war und ist<br />

auch heute noch ein<br />

kleines Kaff hinter<br />

Vehlen, etwa einen<br />

Kilometer hinter der<br />

damaligen und heutigen<br />

Landesgrenze<br />

von Brandenburg zu<br />

Gutshof Werdershof<br />

Sachsen-Anhalt. Also bin ich kein Brandenburger, sondern<br />

ein Anhaltiner.<br />

Meine Eltern Walter und Frieda <strong>Ostwald</strong>, meine Großeltern<br />

Marie und Karl Goldbach, meine Tante Hilde und mein<br />

Onkel Willi, beide<br />

Goldbach, arbeiteten<br />

alle auf dem Gut<br />

„Rodewald“ als Tagelöhner.<br />

In diesem Dorf<br />

(!!!!) gab es noch vier<br />

Kleinbauernhöfe und<br />

das Tagelöhnerhaus<br />

des Gutes, das ca. 300<br />

Meter entfernt stand,<br />

Geburtsstätte Gesindehaus<br />

und in dem meine<br />

Familie lebte und<br />

wohnte. Das Dorf war idyllisch gelegen, umgeben von Wald,<br />

Wiesen und Feldern. Von der Idylle konnten wir nicht leben,<br />

5


denn die Jahre 1923/24 waren Inflationsjahre, und das Geld<br />

war keinen Pfifferling wert.<br />

Die Not machte erfinderisch. Nach den überlieferten Erzählungen<br />

meiner Familie wurden sogar die Kartoffelschalen gekocht,<br />

durch ein Sieb geseiht, mit Zucker gesüßt - und fertig<br />

war die Flasche für mich. Im Winter 1923/24 wurde ich an<br />

besonders kalten Tagen in die Bratröhre des Kachelofen gelegt<br />

und so warm gehalten.<br />

Umzug nach Brandenburg a.d.H.<br />

1924 zog die gesamte Familie Brandenburg an der Havel.<br />

Trotz der Wohnungsnot bekamen meine Eltern in der Große<br />

Gartenstraße 8, Hinterhof, erste Etage eine Wohnung. Oma<br />

Marie und Opa Karl sowie Tante Hilde und Onkel Willi zogen<br />

in das Deutsche Dorf 4. In den Jahren 1925 und 1928 wurden<br />

mein Bruder Gerhard und meine Schwester Ingeborg geboren.<br />

Für uns fünf Personen waren die ca. 25 qm, eine Stube und<br />

eine Küche, zwar ziemlich beengt, für damalige Verhältnisse<br />

und unseren Klassenstand jedoch normal.<br />

Meine frühesten erhaltenen Erinnerungen gehen zurück auf<br />

das Jahr 1928/29. Ich erinnere mich daran, dass mich mein<br />

Vater mit zur Arbeit nahm. Er arbeitete als Kutscher bei der<br />

Speditionsfirma „Taege“ in der Steinstraße. Wenn ich am Tage<br />

bei ihm bleiben durfte, erlaubte er es mir, auf dem Kutschbock<br />

mitzufahren und als besonderes Erlebnis auch die Zügel<br />

zu halten. Mein Vater war ein ruhiger, ausgeglichener Mann.<br />

Für mich ein guter Vater. Wir Kinder bekamen nie Schläge,<br />

höchstens hin und wieder einen kleinen „Katzenkopf“. Dass<br />

soll ja bekanntlich das Denkvermögen anregen.<br />

6


Hungerhahn und Kommunisten<br />

Als mein Vater Anfang 1930 arbeitslos wurde, krähte so einige<br />

Male der Hungerhahn bei uns zu Hause. Mein Vater war<br />

ein solider Mann. Er rauchte und trank nicht und ließ sich<br />

so manches einfallen, damit dem Hungerhahn wenigsten<br />

hin und wieder der Schnabel gestopft werden konnte. Einige<br />

Male nahm er mich mit auf „Fechttour“. Das hieß, wir fuhren<br />

über die Dörfer, gingen von Tür zu Tür, klopften und bettelten<br />

bei den Bauern um Lebensmittel. Mein Vater bot sich dabei<br />

an, Arbeiten für Lohn zu verrichten. Einige Bauern gaben ihm<br />

Arbeit, andere jagten ihn fort. Ich lernte bei diesen Klopftouren<br />

das Verhalten der unterschiedlichsten Menschen in guten wie<br />

auch in schlechten Zeiten kennen. Wenn wir zwei Dörfer<br />

abgeklappert hatten, war meistens der Rucksack voll mit<br />

Kartoffeln, Brot, Schlackwurststullen und ab und zu sogar<br />

mit ein paar Eiern.<br />

1930 bekam mein Vater Arbeit als Gleisbauarbeiter bei der<br />

Deutschen Reichsbahn in Brandenburg. Die Gleise in der<br />

Rotte, so nannte man eine Gruppe Gleisbauarbeiter, zu<br />

setzen, war eine schwere körperliche Arbeit. Wenn er nach 10<br />

Stunden Arbeit nach Hause kam und am Abendbrottisch saß,<br />

fiel ihm der Kopf vor Müdigkeit beinahe in den Teller. Meine<br />

Mutter war eine junge, lebenslustige Frau und wollte immer<br />

gern tanzen gehen. Aber mein Vater war zu kaputt, und<br />

deshalb kam es oft zu Streitigkeiten.<br />

Neue Wohnung, eigenes Kinderzimmer<br />

Die Wohnung wurde zu eng. Fünf Personen in einem so kleinen<br />

Haushalt waren einfach nicht mehr erträglich. Wir hatten<br />

Glück und bekamen eine Wohnung in der Neustätter Wassertorstr.<br />

6. Ein riesiges Zimmer, das zugleich als Wohn- und<br />

Schlafstätte diente, zwei kleine Kammern und eine Küche.<br />

7


Endlich hatten wir Kinder ein eigenes Zimmer, und ich musste<br />

nicht mehr bei Dunst und Küchengeruch schlafen.<br />

Die Wohnung hatte auch noch einen weiteren Vorteil. Wir<br />

wohnten jetzt ganz in der Nähe von meiner Oma, denn unser<br />

Hof hatte auch einen Ausgang in Richtung „Deutsches Dorf“.<br />

So konnte ich, wann immer ich wollte, Oma einen kurzen<br />

Besuch abstatten. Wenn ich dort war, gab es außer lieben Worten<br />

immer etwas zu futtern. Für mich war ein Besuch bei ihr<br />

immer aufregend und etwas ganz Besonderes.<br />

Mein Vater begann mit der Aufzucht von Kanarienvögel, was<br />

zur Folge hatte, dass eine Wand des Wohnzimmers voller<br />

kleiner Zuchtkäfige war. Ich kann nicht mehr sagen, wie viele<br />

es waren, denn ich habe sie nie gezählt. Die Jungvögel<br />

wurden an Interessenten oder an die Zoohandlung „ Piekowski“<br />

verkauft.<br />

An den Abenden saßen meine Eltern nach dem Abendbrot<br />

beim Schein der Gaslampe am Wohnzimmertisch und pinselten<br />

kleine Lineolsoldaten für die Spielzeugfabrik „Wiederholz“<br />

an. So verdienten sie für die Familie ein Zubrot, das dem<br />

Haushalt und somit uns Kindern zugute kam.<br />

Einschulung<br />

Im April 1930 wurde ich eingeschult. Das ließ sich meine Oma<br />

nicht nehmen. Sie übernahm für ihren ersten Enkel die finanziellen<br />

Kosten der Einschulung, einschließlich Anzug und<br />

Tüte. Auch Oma putzte sich heraus, mit langem Rock,<br />

Rüschenbluse und Kompotthut, einem Hut in Obstform. Stolz<br />

ging ich an Omas Hand. Hinter uns die Eltern und Geschwister.<br />

Ich wurde in die weltliche Schule am Katharienkirchplatz eingeschult.<br />

An dieser Schule gab es keinerlei körperliche Züchtigung<br />

und auch keinen Religionsunterricht.<br />

8


Meine Oma war im „Deutschen Dorf“ bekannt als “rote<br />

Marie“ bekannt. Sie war Mitglied der Kommunistischen Partei<br />

Deutschlands KPD und in der „Roten Hilfe“ als Sanitäterin<br />

tätig. Bei Aufmärschen von Parteien, vor allem der Nazis, der<br />

SPD oder der KPD fanden immer Straßen- und Saalschlachten<br />

statt. Und so blieb es nicht aus, dass es bei den von ihr<br />

betreuten KPD-Anhängern immer zu Blessuren und starken<br />

Beulen kam. Oma verarztete sie alle und gab nicht nur<br />

tröstende Worte. Meist bekam auch jeder, der behandelt wurde,<br />

außerdem eine Stulle oder Suppe zur Stärkung. Meine Oma<br />

war eine hilfsbereite und gutmütige Frau. Mein Großvater<br />

dagegen hielt sich aus allem raus.<br />

Die Jahre 1930 bis 1933 bis zur Machtübernahme durch Hitler<br />

waren politisch sehr unruhige Jahre und durch Arbeitslosigkeit<br />

geprägt. Durch die Sanitätertätigkeit meiner Oma lernte<br />

ich einige Funktionäre der Brandenburger KPD persönlich<br />

kennen. Später sollten einige von ihnen auch wichtige Funktionen<br />

in der Aufbauphase nach dem Krieg und in den jungen<br />

Jahren der DDR bekleiden. So unter anderen Max Herm<br />

(1. Bürgermeister der Stadt Brandenburg nach 1945), Robert<br />

Fremde (in der Aufbauzeit nach 1945 Personalleiter des Stahl-<br />

und Walzwerkes Brandenburg), Rudi Märksch (Angestellter<br />

der Stadtverwaltung) und „Schiefkopf“ Hamann (Personalleiter<br />

der Thälmannwerft nach 1945).<br />

Sozialer Abstieg<br />

Die ersten Schuljahre bis 1934 verliefen ohne erwähnenswerte<br />

Ereignisse. Erwähnenswert aus dieser Zeit sind jedoch unsere<br />

familiären Veränderungen.<br />

In einer Märznacht im Jahr 1932 wurde ich durch ein Streitgespräch<br />

meiner Eltern wach. Mein Vater packte einige Sache<br />

in einen Karton, nahm meinen jüngeren Bruder Gerd bei der<br />

9


Hand und sagte: „Frida, ich habe die Schnauze voll. Ich gehe<br />

nach Lippspringe zu meiner Mutter. Der Große (damit meinte<br />

er mich) kann dich ja später ernähren.“ Meine Eltern trennten<br />

sich, und aus war es mit der schönen Wohnung, dem eigenen<br />

Zimmer, den Kanarienvögeln und dem Bemalen der Lineolsoldaten.<br />

Der soziale Abstieg begann mit dem Umzug in einen Sozialbau,<br />

wo „die Miete mit einem Revolver“ kassiert wurde. Mit<br />

diesem Spruch bezeichneten die Brandenburger die Verhältnisse<br />

in den Sozialwohnungen der Stadt. Diese Sozialwohnungen<br />

gab es an drei Standorten in Brandenburg.<br />

Ich war knapp zehn Jahre alt, als wir dort einzogen, und<br />

noch heute beschleicht mich Unbehagen, wenn ich an diese<br />

Wohnung denke. Es war eine der schlimmsten Zeiten meiner<br />

Jugend. Im späteren Verlauf meiner Entwicklung bekam ich<br />

immer wieder auf die eine oder andere Weise zu spüren, dass<br />

ich einst dort wohnte.<br />

Der Sozialbau war eine ehemalige Zigarettenfabrik in der<br />

Karl-Legien-Straße, heute Venise-Gosnat-Str. Rings um die<br />

Fabrik war alles Ackerland, und es gab nur einen Zugangsweg<br />

zum Gebäude. Die Fabrik selbst war ein alter Klinkerbau.<br />

Die uns darin zugewiesene Wohnung bestand aus einem<br />

großen und sehr hohen Raum mit hohen, breiten Fenstern<br />

aus Winkelrahmen, die in kleine Scheiben unterteilt waren.<br />

Die wenigen Möbel, die wir besaßen, wirkten verloren. Alles<br />

in allem, war es eine unwirtliche, ungemütliche und kalte<br />

Wohnung. Auch das gesamte Umfeld machte das Leben dort<br />

für mich unerträglich.<br />

In dem ehemaligen Fabrikhaus lebten ca. 40 Familien mit<br />

vielen Kindern. Der lange Gang war ständig getränkt von<br />

unerträglichem Gestank, der vom Hof hereindrang, auf dem<br />

sich die Fallklosetts für die Bewohner befanden. Ich fühlte<br />

10


mich dort elendig und hatte nur den einen Wunsch, so schnell<br />

wie es irgend ging von diesem Ort fort zu kommen.<br />

Da meine Mutter in keinem Arbeitsverhältnis<br />

stand, wurden wir<br />

zu Sozialempfängern. Aber auch<br />

wenn das Geld selten für mehr<br />

als das Nötigste reichte, so erinnere<br />

ich mich an zwei Leistungen, die<br />

mir als Kind sehr gut gefielen.<br />

Das eine war die Tatsache, dass<br />

ich als Sozialkind täglich in der<br />

Schule Anrecht auf eine Flasche<br />

Milch bzw. wahlweise Kakao<br />

hatte. Zum anderen gab es jeden<br />

Tag eine Streuselschnecke. Dass<br />

Leben konnte also auch soooo<br />

Meine Mutter<br />

gut sein!<br />

Zweimal wöchentlich ging meine Mutter mit uns Kindern in<br />

eine Suppenküche in der Grabenstraße. Mit diesen Lebensumständen<br />

waren wir in der damaligen Zeit kein Einzelfall.<br />

Um Anspruch auf Leistungen zu bekommen, musste meine<br />

Mutter zweimal wöchentlich in das Sozialamt in der Magdeburger<br />

Straße. Dieses Amt befand sich in einem schmucklosen,<br />

roten Klinkerbau, der währen des 2. Weltkrieges bei<br />

Kampfhandlungen um die Stadt zerstört wurde. An dieser<br />

Stelle steht heute das Ehrenmal für die Opfer des Faschismus.<br />

Geschenk des Himmels<br />

Es ergab sich, dass meine Mutter eines Tages zufällig unseren<br />

ehemaligen Vermieter der Wohnung in der Großen Gartenstraße<br />

in der Stadt traf. Ein Gespräch zwischen den beiden<br />

ergab, dass eine Wohnung in der Großen Gartenstraße frei<br />

11


war, allerdings auf dem Hinterhof und im Parterre. Ein<br />

Geschenk des Himmels, nach dem wir griffen. Ein großer<br />

Planenwagen wurde beim Kohlenhändler „Venske“ ausgeliehen,<br />

und die ganze Familie half beim Umzug mit. Weihnachten<br />

1933 feierten wir das erste Weihnachten in dieser Wohnung.<br />

Im Gegensatz zur Sozialwohnung war diese Wohnung klein,<br />

aber gemütlich und sauber. Das eine Zimmer war Wohn- und<br />

Schlafraum zugleich. Zwei Betten, Vertiko, Schrank, Sofa und<br />

Tisch gingen gerade so rein. Mein Bett stand in der Küche unter<br />

dem Fenster. Wieder Küchengeruch und feuchter Dunst. Aber<br />

ich war dennoch zufrieden, denn ich hatte mein eigenes Bett.<br />

Das Leben hatte für meine Mutter nicht viel zu bieten, und so<br />

suchte sie Abwechslung und Unterhaltung in Vergnügungsgaststätten.<br />

Sie ließ nur selten eine der Tanzveranstaltungen<br />

ausfallen, die jeweils am Mittwoch und Freitag stattfanden.<br />

Von einer dieser „Vergnügen„ brachte sie das Unheil Namens<br />

Alfred Bergemann mit.<br />

Das Unheil namens Bergemann<br />

Er war einer dieser Menschen, bei dem das äußere Erscheinungsbild<br />

dem Charakter entsprach. Unangenehm!!!<br />

Er war ein Mann von kleiner Gestalt mit einem sogenannten<br />

Menjou-Bärtchen. Für mich das ekelhafteste an ihm waren<br />

seine Tätowierungen, die den gesamten Körper bedeckten.<br />

Wir Kinder bezeichneten ihn als kleinen Erdnuckel. Er blieb<br />

gleich am ersten Abend, und ich ahnte zu diesem Zeitpunkt<br />

nicht, dass er die Zukunft meines weiteren Lebens maßgeblich<br />

mitgestalten würde.<br />

Ich war erst zehn Jahre alt, und die Welt der Lust, der<br />

Begierde, des Sex und der Erotik waren mir völlig fremd. In<br />

dieser ersten Nacht, in der er bei uns blieb, wurde ich durch<br />

12


ein Stöhnen, das immer lauter wurde, geweckt. Ich dachte, er<br />

würde meine Mutter umbringen und verkroch mich völlig<br />

verängstigt unter meiner Bettdecke. Am nächsten Morgen<br />

saßen beide, zu meinem großen Erstaunen, heiter und vergnügt<br />

beim gemeinsamen Frühstück. Ich hatte nicht verstanden,<br />

was vorgefallen war, aber ich hatte verstanden, dass ich ihn<br />

nicht mochte. Denn ich ahnte wohl schon an diesem ersten<br />

Morgen, dass er meiner Mutter und unserer Familie nicht gut<br />

tun würde. Irgendwie spürte ich ebenso ganz deutlich, dass<br />

auch er mich eher duldete als mochte.<br />

Im Jahr 1934 wurde meine Halbschwester Margitta und ein<br />

Jahr später, 1935, mein Halbbruder Alfred geboren, den aber<br />

alle Heiner nannten. Zum Zeitpunkt der Geburt Margittas<br />

war meine Mutter noch nicht von meinem Vater Walter <strong>Ostwald</strong><br />

geschieden. Deshalb bekam sie nach damaligem BGB-<br />

Recht auch den selben Nachnamen. Als Alfred jedoch geboren<br />

wurde, war meine Mutter schon eine geschiedene Frau und<br />

nach geltendem Recht bekam er den Mädchennamen meiner<br />

Mutter, Hartmann. Somit war Margitta ein eheliches und<br />

Alfred ein uneheliches Kind. Heiner war ein ruhiger, stiller<br />

Junge, den ich als meinen Bruder voll anerkannte.<br />

In der Wohnung wurde es zu eng. Wir waren nun sechs<br />

Personen, und Konflikte waren unausweichlich. Es kam oft<br />

zu Streitereien zwischen Bergemann und meiner Mutter. Im<br />

Gegensatz zu meinem Vater Walter <strong>Ostwald</strong>, der, wie bereits<br />

beschrieben, ein ruhiger und sanftmütiger Mann war, neigte<br />

Bergemann zu Wutausbrüchen und Gewaltattacken gegen<br />

meine Mutter. Nicht selten war eines ihrer Augen durch ein<br />

Hämatom zugeschwollen. Bergemann trank immer öfter.<br />

Besonders an Tagen, an denen es Geld gab. Es war widerlich<br />

mit ansehen und anhören zu müssen, welche hässlichen Szenen<br />

sich zu Hause abspielten.<br />

13


Das Schicksal war etwas gnädig, denn Bergemann stahl<br />

gemeinsam mit einem Kumpanen Kleinvieh und diverse andere<br />

Dinge. Kurz nach Heiners Geburt wurde er verhaftet und<br />

ging für zwei Jahre in das Zuchthaus Brandenburg.<br />

14


Jugend zwischen Prügel und Jungenstreichen<br />

(1934 – 1938)<br />

Schule und Prügel<br />

Rückblickend möchte ich noch erwähnen, dass im April 1934<br />

die weltliche Schule, die ich bis dahin besuchte, geschlossen<br />

wurde. Meine neue Schule, die Rochow-Schule, war ganz in<br />

der Nähe unserer Wohnung in der kleinen Gartenstraße. Trotz<br />

des nun so kurzen Schulweges war diese Schule keine Verbesserung.<br />

Denn während es an der weltlichen Schule keine Züchtigungen<br />

gab, gehörten sie in der Rochow-Schule zum Alltag.<br />

Ich war ein aufgeweckter Junge voller Energie und Neugierde<br />

auf das Leben. Es entspräche nicht meinem Weltbild, wenn<br />

ich an dieser Stelle sagen würde, ich hätte die Prügel verdient,<br />

aber die Lehrer hatten zumindest meist einen Grund für die<br />

Prügel. Meinem Klassenlehrer kam mein Temperament gelegen,<br />

denn so konnte er legal seine Fehde gegen mich führen. Der<br />

Grund dieser Fehde und meines Widerstandes, lag im Religionsunterricht<br />

und meiner weltlichen Haltung gegenüber dem<br />

lieben Gott begründet. In der weltlichen Schule gab es, wie<br />

der Name beinhaltet, keinen Religionsunterricht, und auch zu<br />

Hause genoss ich keine christliche Erziehung. Somit wusste ich<br />

nicht viel über Gott und kannte keines der zehn Gebote.<br />

Für große Unkenntnis gab es oft etwas mit dem Rohrstock<br />

übers Kreuz, und für kleine Irrungen wurde zumindest an den<br />

Haaren hinter den Ohren gerissen. Gewalt war in meiner späten<br />

Kindheit und frühen Jugend täglich gegenwärtig. Wenn man<br />

diese perfide Gewalt gegenüber Schwächeren dennoch mit<br />

Humor betrachtet, so waren die Schläge und Schikanen in der<br />

Schule ein solides Härtetraining für zu Hause. Meine Mutter,<br />

die, seit Bergemann im Zuchthaus war, für uns Kinder allein<br />

sorgen musste, war offensichtlich überfordert und eine harte<br />

15


Frau geworden. Schon für Kleinlichkeiten bekam ich von ihr<br />

Schläge, und nicht selten nahm sie ein loses Schemelbein aus<br />

Holz und verprügelte mich damit.<br />

Mein Jugendfreund Heiner<br />

Das erste Jahr in der Rochow-Schule war auch insofern<br />

schwer für mich, weil ich von meinen Mitschülern noch als<br />

„Fremdkörper“ angesehen wurde. Um akzeptiert zu werden,<br />

musste ich mich der Disziplin und dem Gruppengeist<br />

unterwerfen. Der Schulalltag bestimmte mein Leben. Ich<br />

hatte mich eingelebt, aber Freunde hatte ich noch keine. Doch<br />

das sollte sich bald ändern. Nach Schulschluss ließ ich mir<br />

immer Zeit auf dem Heimweg. Eines Tages bog ich in eine<br />

Nebenstrasse ein, in der ich zuvor immer eine Gruppe Jungen<br />

hatte spielen sehen. Es wurde Schlagball gespielt, Leute sahen<br />

uns aus den Fenstern zu, spendeten sogar Beifall, wenn ein<br />

Schlag gut gelungen war. Ich spielte einfach mit. Aber da ich<br />

nicht willkommen war, musste ich viele Schläge einstecken.<br />

Einer dieser Jungen ging in meine Klasse. Als wir eines Tages<br />

auf dem Heimweg waren, kamen wir fürchterlich ins Streiten.<br />

Erst wurde der Streit mit dem Mund und später mit den Fäusten<br />

ausgetragen. Erst ein Mann trennte uns und gab jedem eine<br />

Backpfeife. So war dass damals. Wir wurden danach die besten<br />

Freunde, Heiner Lotsch und ich.<br />

Beide blieben wir in der 6. Klasse sitzen, beide erlernten wir<br />

nach der Schule den Beruf des Metall-Formers, und vor allem<br />

liebten wir beide den Radsport.<br />

Frida Kiwitt<br />

Wirtschaftlich ging es unserer Familie schlecht. Der Bergemann<br />

saß hinter Gittern, und meine Mutter bekam Sozial-<br />

16


unterstützung. Eine Zeitlang hat sie auch mal bei Lumpen-<br />

Müller in der Bauhofstraße Lumpen sortiert und Papier<br />

gebündelt. Bei einem Bauern in der Brielower Straße hat sie<br />

bei der Kartoffelernte gerackert, wobei ich mithelfen musste.<br />

Pro Sack Kartoffeln bekamen wir einen Hungerlohn von 0,23<br />

Reichsmark (RM).<br />

Immer wenn Mutter diversen Aushilfsarbeiten nachging,<br />

passte Frida Kiwitt auf meine Geschwister auf. Ich meinerseits<br />

nutzte diese Zeit, um mit meinen Kumpels herumzustromern.<br />

Frida Kiwitt war eine Seele von Mensch, und ihre Beziehung<br />

zu unserer Familie resultierte aus einer Nachbarschaft nach<br />

unserem Umzug aus Werdershof nach Brandenburg. Sie war<br />

eine gutmütige und warmherzige Frau, mit der es die Natur<br />

aber nicht gut gemeint hatte. Sie musste einen Buckel auf der<br />

linken Seite mit sich herumtragen und war somit immer Zielscheibe<br />

des Gespöttes der Leute, vor allem der Kinder.<br />

Ich habe diese kleine freundliche Frau gerngehabt. Wenn ich<br />

mal nicht parierte, dann stürmte sie immer mit dem Teppichklopfer<br />

hinter mir her, ohne die geringste Chance, mich hinter<br />

den Bettgestellen, hinter denen ich mich versteckte, zu<br />

erreichen. Aber sie war nie lange böse auf mich und nannte<br />

mich immer zärtlich „ihren Großen“. So nannten mich alle in<br />

der Familie.<br />

Obwohl sie eine kleine Frau mit Handicap war, hatte sie ein<br />

mutiges Herz. Ich erinnere mich deutlich daran, dass sie sich<br />

einmal schützend vor mich stellte, als Bergemann mich wieder<br />

einmal schlagen wollte. Sie stellte sich nicht nur dazwischen,<br />

sie ging den Schläger auch an wie eine Katze. Für diesen Mut<br />

hatte sie meinen ganzen Respekt.<br />

17


Lebensgefährliche Erkrankung<br />

Im Juli 1935 erkrankte ich schwer an einer doppelseitigen<br />

Lungenentzündung. Mutter holte Dr. Milatz, mittlerweile ein<br />

zackiger, strammer SS-Mann. Aber er konnte mir nicht helfen,<br />

denn die von ihm verordneten Pillen zeigten keine Wirkung.<br />

Die Situation war ernst, und ich denke, es bestand tatsächlich<br />

Lebensgefahr für mich, denn mittlerweile war ich schon einige<br />

Tage bewusstlos. Als meine Oma kam, war sie entsetzt<br />

über meinen Zustand. Sie führte ein kurzes, resolutes Gespräch<br />

mit meiner Mutter, in dem es darum ging, unseren langjährigen<br />

Hausarzt Dr. Löwenthal zu ordern. Meine Mutter hatte jedoch<br />

starke Bedenken, denn Dr. Löwenthal war Jude, und die Hetze<br />

gegen Juden war beängstigend. Für meine Oma zählte dies<br />

alles nicht. Zum einen war ihr Enkel schwer krank, und zum<br />

anderen war Dr. Löwenthal ein guter Arzt und Mensch.<br />

Als meine Oma mit Dr. Löwenthal kam, bekam ich wohl eine<br />

große Spritze in die Lendenseite. Allerdings konnte er meiner<br />

Mutter keine großen Hoffnungen machen, dass ich das alles<br />

überleben würde. Aber er kam in dieser Nacht nochmals<br />

nach mir sehen und ebenfalls in den drei darauf folgenden<br />

Tagen. Nach drei Tagen war die Krise überstanden, und Dr.<br />

Löwenthal meinte, dass er schließlich meine Halbgeschwister<br />

auf die Erde geholt hat, da wäre es doch Unsinn, wenn gerade<br />

ich in den Himmel müsste.<br />

Meine Genesung ging nur sehr langsam voran, denn es gab<br />

immer zu wenig und zu nährstoffarmes Essen. Gute Tage<br />

waren es immer, wenn ich vom Schlächter Wehe von der gegenüberliegenden<br />

Straßenseitefür 0,30 RM Zippelwurst holen<br />

konnte. Dann gab es reichlich Wurst auf der Stulle. Auch bei<br />

Oma staubte ich hin und wieder ein wenig Essen ab, obwohl<br />

sie arbeitslos war und selber nicht viel hatte.<br />

18


Zur Kur beim Förster in Schlesien<br />

Völlig überraschend stand eines Tages eine Frau von der NS-<br />

Frauenschaft vor unserer Tür und teilte meiner Mutter mit,<br />

dass ich einen Kurplatz zur Erholung in Schlesien bei einer<br />

Försterfamilie bekommen hatte. Ich war dreizehn Jahre alt,<br />

und diese Kur war ein Segen für meine Entwicklung. Meine<br />

Mutter kümmerte sich kaum noch um mich, und so war ich<br />

für mein Alter ein sehr selbständiger Bursche. Einen Koffer<br />

besaßen wir nicht, und meiner Mutter war es offensichtlich<br />

egal, wie ich nach Schlesien kommen würde. So organisierte<br />

ich gemeinsam mit meiner Oma, die sich im Gegensatz zu<br />

meiner Mutter um mich sorgte, einen stabilen Karton in den<br />

meine Kleidung verstaut werden konnte.<br />

Die Fahrkarten hatte ich per Post zugeschickt bekommen, und<br />

so machte ich mich mit meinen dreizehn Jahren allein auf die<br />

Bahnreise nach Schlesien. Angst hatte ich keine. Da war nur<br />

Freude, Spannung und Neugierde auf das, was mich erwarten<br />

würde. Und da war ein Gefühl von Freiheit, ein Gefühl, der<br />

Armut und Not zumindest für eine kurze Weile entfliehen zu<br />

können.<br />

Nach vielen anstrengenden aber auch spannenden Stunden<br />

Zugfahrt war ich in dem kleinen Ort Neudorf angekommen.<br />

Ein Einspänner, an dem ein freundliches Ehepaar in mittleren<br />

Jahren stand, wartete bereits am Bahnhof auf mich. Die Frau<br />

des Försters, winkte mir aufmunternd zu. Als ich näher kam<br />

schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und sagte mitleidig:<br />

„Ja, wie siehst du denn aus?! Da haben wir ja ganz schön<br />

was zu füttern!“ In dieser wohligen und so augenscheinlich<br />

satten Umgebung stellte ich mir erstmalig die Frage: „Ja, wie<br />

sah ich denn aus?“ Dünne Arme, dünne Beine, und der Kopf<br />

war größer als meine Schultern breit.<br />

19


Das Ehepaar Krafzyk mochte ich von Beginn an, und es dauerte<br />

nur wenige Momente, bis wir uns gegenseitig ins Herz<br />

geschlossen hatten. Die Försterei lag etwa zwei Kilometer<br />

außerhalb des Dorfes, und die Aufregung und Spannung<br />

stieg ins Unermessliche, als mir Frau Krafzyk das Zimmer<br />

zeigte, dass für vier Wochen mir ganz allein gehören sollte.<br />

Ein eigenes Zimmer, MEIN Zimmer!!! Ein Zimmer ohne<br />

Küchendunst und ohne abgestandenen Essengeruch. Vor allem<br />

aber ein weiches, weißes Daunenbett, ganz ohne Klumpen, in<br />

wie meinem zu Hause in der Küche. Kurz vor dem Abendessen<br />

kam Herr Krafzyk in mein Zimmer. Er unterhielt sich<br />

sehr freundlich mit mir, stellte viele Fragen und erklärte mir<br />

dann geduldig, was er mit mir in der Zeit meines Aufenthaltes<br />

gemeinsam unternehmen wollte. Und er versprach nicht zu<br />

viel. Bald jeden Tag nahm er mich mit auf seine Fahrten und<br />

Gänge durchs Revier und sogar auf die Pirsch.<br />

Der Wald wurde zum großen Abenteuer und erweckte meinen<br />

ersten ernsthaften Berufswunsch. Förster! Die Stunden im<br />

Wald mit Förster Krafzyk waren Balsam und Futter für meine<br />

Seele. Die Stunden auf den verschiedenen Bauernhöfen, mit<br />

dem Bruder von Herrn Krafzyk, stillten meinen ewigen Hunger.<br />

Herr Krafzyks Bruder war Hausschlachter, und wenn bei einem<br />

Bauern geschlachtet wurde, spannte der Förster Krafzyk seinen<br />

Einspänner, und die Brüder und ich fuhren zur Schlachtung.<br />

Die Bauern dort hatten alle ein weites Herz, und wo immer<br />

ich mit war, bekam ich satt zu essen. Meine Leibgerichte waren<br />

Wurstbrühe, Schlachteplatte mit Sauerkraut und natürlich<br />

frisches Hackepeter. Hmmm....!<br />

Diese vier Wochen bei den Förstersleuten war die schönste<br />

Zeit meiner Kindheit. Ich wurde bemuttert wie ein eigener<br />

Sohn, hatte immer satt zu essen, und es war eine Zeit voller<br />

neuer Eindrücke. Als ich abreiste, hatte ich acht Kilogramm<br />

zugenommen und fühlte mich wie ein Fisch im Wasser. Viel<br />

20


zu schnell war die Zeit um, und als es zum Abschied kam,<br />

flossen auf beiden Seiten viele Tränen.<br />

Durch die Krankheit und Kur hatte ich etwa drei Monate<br />

Schulausfall. Es war nicht verwunderlich, dass ich den Lernstoff<br />

nicht nachholen konnte. So drehte ich die Runde der<br />

sechsten Klasse ein zweites Mal.<br />

Mit der Clique auf Bengs Wiesen<br />

Der Alltag hatte mich wieder, aber wir hatten in unserer Clique<br />

viel Spaß bei gemeinsamen Streichen. Da sich zu Hause sowieso<br />

niemand um mich scherte, und es niemanden kümmerte, ob<br />

ich Schulaufgaben machte oder nicht, flog nach der Schule<br />

der Ranzen auf den Wohnzimmerschrank, und ich war verschwunden.<br />

Die Hausaufgaben erledigte ich übrigens immer<br />

morgens vor der Schule. Dazu stand ich immer eine Stunde<br />

früher auf und setzte mich auf die Stufen vor unserem Haus.<br />

Das Aktionsfeld meiner Clique waren Bengs Wiesen und das<br />

Breite Bruch. Das Breite Bruch war in unserer Fantasie unsere<br />

Prärie, es war die unendliche Freiheit. Nicht die Enge von zu<br />

Hause, der Streit, die Unruhe der Geschwister, der Dunst der<br />

Küche.<br />

Das Breite Bruch waren in der Realität die Flutwiesen der<br />

Stadt und boten ihr Schutz. Dort konnte bei Hochwasser im<br />

Herbst und Winter das Wasser auslaufen. Durch das Breite<br />

Bruch schlängelte sich der Neujahrsgraben an den Schmerzker<br />

Wiesen vorbei bis Göttin und mündete in der Plane. Der<br />

Neujahrsgraben war größtenteils knietief, hatte aber auch<br />

Untiefen. Fische und Krebse gab es ausreichend. Wir besorgten<br />

uns vom Händler leere Zwiebelsäcke, trennten sie auf und<br />

nähten sie als Netz wieder zusammen. Beim Fischen gab es<br />

immer reiche Beute. Die Fische rösteten wir über dem Lager-<br />

21


feuer, und für die Krebse hatten wir einen alten Topf, in dem<br />

wir sie brühten. Das Breite Bruch würde man heute wohl zum<br />

Naturschutzgebiet machen. Es war eine Idylle, die ihresgleichen<br />

in Brandenburg suchte. Es gab unzählige große Weidenbüsche<br />

in denen die Lietzen (Blesshühner) ihre Nester bauten.<br />

In einem dieser großen Weidenbüsche hatten wir uns eine<br />

Bude gebaut. Eine Seite wurde als Eingang etwas ausgelichtet,<br />

die abgeschnittenen Ruten wurden mit anderen in Kopfhöhe<br />

verbunden und mit Heu, Stroh und Resten von Dachpappe,<br />

die wir auf der Müllkippe gefunden hatten, ausgestopft. Die<br />

Bude diente uns nicht nur zum Schutz vor Unwetter. In ihr<br />

versteckten wir auch unsere Waffen. Pfeile, Bogen und<br />

Fletschen (Katapult). Dinge, die wir natürlich nicht hätten<br />

mit nach Hause nehmen dürfen. Täglich streiften wir über<br />

unsere Prärie, bis Göttin oder Schmerzke.<br />

Als Sammler und Jäger<br />

Jeder Garten auf unseren Streifzügen war uns bestens bekannt.<br />

Wir wussten ganz genau, wo die leckersten Pflaumen, die<br />

saftigsten Birnen, die größten Kartoffeln und die längsten<br />

Karotten wuchsen. Auch Kohlköpfe jeder Art verschmähten<br />

wir nicht. Die Jagd in der Prärie machte einen Indianer oder<br />

Cowboy eben hungrig. Wir nahmen uns zwar fremdes Obst<br />

oder Gemüse, aber wir zerstörten dabei niemals sinnlos anderer<br />

Menschen Eigentum.<br />

Wenn wir Hunger auf Fleisch hatten, gingen wir eben wie<br />

echte Indianer auf Jagd. Auf Entenjagd! Wir beherrschten<br />

verschiedene Jagdmethoden. Entweder mit der Fletsche, mit<br />

Pfeil und Bogen oder aber mit einer Bierflasche, Schnur und<br />

Haken. Die Flasche wurde soweit mit Wasser gefüllt, dass<br />

der Hals nur noch 3 bis 5cm aus dem Wasser ragte. Am Verschluss<br />

wurde eine Schnur mit Angelhaken befestigt, an dem<br />

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ein Stück Brot angebracht wurde. Einige Brotkrumen warfen<br />

wir zum Anlocken ins Wasser. Wir selbst versteckten uns im<br />

hohen Gras. Wenn eine Ente nun in ihrer Gier die Krume samt<br />

Haken verschluckt hatte, zottelte sie die Flasche hin und her.<br />

Solange bis der Flaschenhals unter Wasser kam. Dann zog die<br />

Flasche den Kopf der Ente unter Wasser, und sie ersoff. Wenn<br />

der Sterz der Ente in die Luft ragte holten wir sie raus. Eine<br />

recht rabiate, jedoch effektive Jagdmethode, die wir auch bei<br />

Blesshühnern (Litzen) mit Erfolg anwandten.<br />

Wenn wir erfolgreich gejagt hatten, wurde ein Lagerfeuer<br />

gemacht. Links und rechts vom Feuer schlugen wir Gabeln<br />

in die Erde. Das Tier spießten wir auf einen Stahlstab und<br />

rösteten es über dem offenen Feuer. Bei den Blesshühnern<br />

musste man dass Federkleid samt Haut abziehen, denn<br />

ansonsten schmeckte sie ranzig. Es dauerte ewig lange, bis<br />

das jeweilige Tier gar war. Da wir weder Salz, noch Gewürze<br />

oder gar Fett hatten, schmeckte es meist scheußlich. Aber der<br />

Hunger überwand alles.<br />

Krieg der Cliquen, Katastrophe<br />

So streiften wir täglich über unsere „Prärie“, und es war ein<br />

wundervolles Gefühl der Unabhängigkeit und Unbesorgtheit.<br />

Aber wie alles im Leben gab es nicht nur schöne<br />

Augenblicke. Und in unsere Abenteuerlust gingen auch wir<br />

als Clique einen Schritt zu weit. Wie sich der Leser denken kann,<br />

waren wir nicht die einzigen Kinder der Stadt, die die Wiesen<br />

für sich entdeckt hatten. Es gab Macht- und Revierkämpfe.<br />

In der Linienstraße, bekannt als „Schwindelschweiz“, lebten<br />

bedeutend mehr Kinder unseren Alters. Des Öfteren wurden<br />

Straßenkämpfe ausgetragen, die nicht selten mit Verletzungen<br />

endeten. Die Clique der Linienstraße hatte ihre Buden in den<br />

Büschen des Gleisdreiecks.<br />

23


Das Gleisdreieck wurde von der Hauptstrecke Berlin-Magdeburg<br />

und der Nebenstrecke Brandenburg-Belzig gebildet.<br />

Diese Nebenstrecke führte für ein kurzes Stück an der Göttiner<br />

Straße im Bogen vorbei über eine Brücke und dann weiter<br />

nach Belzig. In diesem Bogen waren genau wie bei uns<br />

Wiesen mit Buden darauf, die in der gleichen Bauweise wie<br />

unsere entstanden waren.<br />

Die Katastrophe geschah im August 1937. Es war schon<br />

mehrere Tage sehr heiß und vor allem sehr trocken gewesen.<br />

Unsere Späher hatten erkundet, dass keiner der Kinder aus<br />

der Linienstraße in oder an ihren Buden war. Ich kann heute<br />

nicht mehr sagen, was uns da geritten hat. Fantasie und Wirklichkeit<br />

verschmolzen. Wir acht Jungs zogen los in den Kampf<br />

gegen die Feinde. Bewaffnet mit Pfeil und Bogen, mit einigen<br />

Lumpenfetzen und einer Flasche Petroleum. Vom Banddamm<br />

aus, schossen wir ihre Buden in Brand.<br />

Die Kraft des Feuers hatten wir nicht vorhersehen. In rasanter<br />

Geschwindigkeit bereitete sich das Feuer aus. Innerhalb kurzer<br />

Zeit brannte das gesamte Dreieck. Die Feuerwehr rückte mit<br />

mehren Löschzügen an. Es war das reinste Chaos. Die Feuerwehr<br />

versuchte verzweifelt, den Übergriff des Feuers auf ein Sägewerk,<br />

das hinter dem Kleinbahndamm lag, sowie auf eine<br />

Müllkippe, die in Richtung Linienstraße lag, zu verhindern.<br />

Zum Glück konnte der Brand unter Kontrolle gebracht werden<br />

und Schlimmeres wurde verhindert.<br />

Wir Kinder waren geschockt, fühlten uns aber dennoch so sicher,<br />

dass ich völlig perplex war, als mich die Polizei von zu Hause<br />

holte und zur Vernehmung in die Magdeburger Straße brachte.<br />

Auf der Polizeiwache II ( diese wurde im Krieg zerstört)<br />

bekam ich zuerst eine kräftige Ohrfeige von einem Polizisten,<br />

dann wurde eine Anzeige aufgenommen. Als die Anzeige bei<br />

uns zu Hause auf den Tisch flatterte, rastete meine Mutter aus.<br />

24


Wir hatten in der Küche einen Schemel. Wenn man den etwas<br />

anhob ging ein Schemelbein ab. Und zu genau diesem Schemelbein<br />

griff meine Mutter in ihren Zornesausbrüchen immer.<br />

Es war nach dieser Anzeige nicht die erste Prügel mit<br />

dem Schemelbein, aber eine der schlimmsten Attacken. Aber<br />

ich hatte Erfahrung im „geprügelt werden“ und so war ich<br />

mit einem Satz am Sofa und griff mir ein Kissen, das ich<br />

schützend vor den Kopf hielt. Ich denke, dass mich dieses<br />

Kissen vor schweren Verletzungen gerettet hat, denn meine<br />

Mutter war es in ihrer Rage egal, wo mich das Holz traf. Sie<br />

hätte mir das Gehirn herausgeprügelt.<br />

Rundlaufeisen<br />

Meine anderen Körperteile schienen schon immun gegen die<br />

auf mich einprasselnden Schläge zu sein. Der Schmerz der<br />

Hiebe war nach kurzer Zeit vergessen, aber was mir wirklich<br />

lange wehtat, das war die Geldstrafe. Zur Beschaffung des<br />

Geldes hatten wir uns eine besondere Methode ausgedacht.<br />

Am Rande der Kleinbahn hatte der Schrotthändler Gebhard<br />

ein Lager, in dem er den Schrott sortierte und verlud. Seine<br />

Hauptgeschäftsstelle hatte er allerdings in der Neuendorferstraße.<br />

Da der Chef nicht immer im Lager war, sammelten wir<br />

kurzerhand dort einen Handwagen voll und verkauften diesen<br />

in seinem Hauptgeschäft in der Neuendorferstraße. Natürlich<br />

in größeren Abständen, um uns nicht verdächtig zu machen.<br />

Diese Aktion nannten wir unser „Rundlaufeisen“. Aber eines<br />

Tages erwischte uns der alte Gebhard doch. Da das Schrottlager<br />

nur knapp 4 m oberhalb der Wiesen am Jakobsgraben und<br />

nur ca. 200 Meter von unserer Badestelle lag, flüchteten wir<br />

automatisch in diese Richtung. Unser Ziel war das Wasser.<br />

Wir wussten, dass er uns nicht schwimmend verfolgen würde.<br />

Dennoch rannte Gebhard mit der Peitsche in der Hand hinter<br />

uns her. Zwei von uns erwischte er noch mit einem Schlag. Einer<br />

25


der Jungs war ich. Als wir aber mit einem Hechter sicher im<br />

Wasser waren, waren wir wieder mutig genug, um ihm eine<br />

lange Nase zu drehen. Aber der Peitschenschlag hatte wehgetan,<br />

und so schworen wir Rache.<br />

Im Laufe der Zeit hatten wir heraus, wann Gebhard immer<br />

auf seinem Lagerplatz war. Wir kannten seine Gewohnheiten.<br />

So legten wir uns ins hohe Gras, das uns gute Deckung bot,<br />

und warteten geduldig. Dann war es soweit. Gebhard kam<br />

auf die Wiese hinter seinem Lager. Er schaute sich kurz um<br />

und dann ging alles sehr schnell. Er zog seine Hose runter<br />

und ging in die Hocke. Wir zogen unsere Fletschen raus, legten<br />

die Kieselsteine in die Lederlaschen, zogen die Gummi voll<br />

durch und dann – acht mal Feuer frei. Der Hintern bot ein<br />

breites Zielfeld, aber wie das bei einem Zielschießen so ist, ein<br />

fehlgeleiteter Schuss traf wohl sein empfindlichstes Teil, das<br />

da zwischen den Beinen hing, und er kippte plötzlich nach<br />

vorn über. Wir hatten ihm buchstäblich die Beine weggehauen.<br />

Wieder retteten wir uns mit einem Sprung ins Wasser, an<br />

unserem geliebten und vertrauten Gänsewerder.<br />

Die Aktion „Rundlaufeisen“ hatte sich ein für allemal erledigt.<br />

Zudem waren auch die Ferien zu Ende, und ich kam in eine<br />

neue sechste Klasse.<br />

Lehrerschreck<br />

Ich lernte neue Schulkameraden kennen. Da waren ganz schöne<br />

Früchtchen dabei, die nur an Dummheiten dachten. Aber<br />

meine Streiche und Dummheiten spielten sich im normalen<br />

Bereich ab. Das heißt, alles was die Lehrerschaft auf die Palme<br />

brachte, lag in meinem Interesse und inspirierte mich zu<br />

manchem Einfall. Wobei sich nicht jeder Einfall als gute Idee<br />

herausstellte und ohne schmerzliche Folgen für uns blieb.<br />

26


Eine solche schlechte Idee ist mir in besonderer Erinnerung<br />

geblieben. Objekt unserer Tat war das Fräulein Noack. Eine<br />

stark taillierte und äußerst phlegmatische Dame. Sie war tatsächlich<br />

so träge, dass sie nicht einmal den Stuhl, auf den sie<br />

sich zu setzen gedachte, selbst verrückte. Der Primus unserer<br />

Klasse, ein kleiner Schleimer, rückte den Stuhl in jeder Pause<br />

auf den entsprechenden Platz und platzierte präzise Lineal,<br />

Klassenbuch und Rohrstock auf dem Lehrerpult. Damit hatte<br />

der Primus seine Arbeit getan. Wir vier Jungen hatten wieder<br />

einmal Strafarbeit zu verrichten und mussten dazu in der<br />

Pause im Klassenraum verbleiben. Das von uns schon lange<br />

geplante Unheil nahm seinen Lauf.<br />

Schielke und Peters saugten den Rohrstock voll Tinte.<br />

Schuricke und ich platzierten unter die hinteren Stuhlbeine,<br />

handelsübliche und käuflich erworbene Stinkbomben. Um<br />

ein vorzeitiges Zerdrücken durch das Eigengewicht des Stuhles<br />

zu verhindern, falteten wir kleine Stücken Pappe und legten<br />

sie schützend dazwischen. Unsere einzige Sorge war, dass<br />

der Aber diese Sorge war unberechtigt. Fräulein Noack kam,<br />

pflanzte sich behäbig auf den Stuhl - und es stank. Aber nur<br />

sehr dezent, denn leider war eine Stinkbombe nicht geplatzt,<br />

da sie sich verschoben hatte. Dennoch war Fräulein Noack<br />

erzürnt. Sie griff in ihrer Wut zum Rohrstock, holte aus und<br />

donnerte den Rohrstock auf den Lehrerpult.<br />

Beim ersten Hieb war sie geschockt und wir erschreckt. Beim<br />

zweiten Hieb fing ein großes Geschrei an. Die ersten Reihen<br />

waren bis zur Hälfte mit Tinte bespritzt. Aber diesen Effekt<br />

hatten wir weder so geplant noch als Möglichkeit bedacht.<br />

Unser Plan hatte vorgesehen, dass, wenn ein Schüler vor die<br />

Klasse treten musste, um sich seine Bestrafung abzuholen,<br />

dass die Tinte auf den Fußboden spritzen würde.<br />

Die Folgen dieses Streiches bekamen nicht nur wir vier in<br />

brutaler Art zu spüren, sondern auch unsere Familien. Wir<br />

27


ekamen die Prügel und unsere Eltern mussten zahlen. Wir<br />

alle vier musste natürlich unverzüglich zum Direktor. In<br />

dieser Beziehung hatten wir noch Glück. An dem Tag war nur<br />

Herr Senkpiel, der stellvertretende Direktor anwesend. Herr<br />

Senkpiel war von der weltlichen Schule an die Rochow Schule<br />

übernommen worden und lehnte nach wie vor die Prügelstrafe<br />

ab. So blieb uns zumindest diese erste Tracht erspart. Aber<br />

nicht strafende Worte, ein schriftlicher Vorkommnisbericht<br />

und die Mitteilung an die Eltern.<br />

Das Martyrium ging am Tag darauf los. Jeder Lehrer fühlte<br />

sich in seiner Unterrichtsstunde ermächtigt, uns ein paar Rohrstockhiebe<br />

zu verpassen. Einen besonderen Ehrgeiz, entwickelte<br />

dabei unser Erdkundelehrer Erdmann. Wir nahmen an, er ließ<br />

den ganzen Frust seiner Ehescheidung an uns aus.<br />

Das ging mehrere Wochen so. Dann verebbte alles langsam,<br />

und zumindest der Schulalltag wurde für uns wieder normal.<br />

Kleiner Aufschwung<br />

Anders dagegen war es zu Hause. Die Tracht Prügel von meiner<br />

Mutter hatte ich ertragen können, aber nicht ihren vorwurfsvollen<br />

Blick, der mich täglich traf. Dieser Blick schürte tatsächlich<br />

mein schlechtes Gewissen. Er schien zu sagen: „Das Geld<br />

reicht jetzt schon nicht für das Nötigste, wie soll ich den von<br />

dir verzapften Unsinn bezahlen?“ Ich nahm mir fest vor, nie<br />

wieder solchen Unsinn zu verzapfen und von nun an meiner<br />

Mutter zu helfen, dieses Geld zu verdienen. So lungerte<br />

ich also täglich nach Schulschluss in der Hauptstraße vor den<br />

Kaufhäusern Flakowskie, Egege und Kepa herum. Da schon<br />

in meiner Zeit Fahrraddiebstähle keine Seltenheit waren, fragte<br />

ich jeden Fahrradbesitzer, der ins Kaufhaus wollte, ob ich auf<br />

sein Fahrrad aufpassen solle. In einigen Stunden hatte ich dann<br />

zwischen 0,70 RM und 1,20 RM verdient. Meine Mutter freute<br />

sich über jeden Sechser, den ich ihr gab.<br />

28


Als der Herbst kam und die Kastanien und Eicheln von den<br />

Bäumen fielen, kaufte ich mir für 0,20 RM bei Kepa, einem<br />

großen Kaufhaus, eine Leergutkiste. Auf der Müllkippe fand<br />

ich einen Satz Kinderwagenräder, und so baute ich mir einen<br />

kleinen Karren zusammen. Das Sammeln von Kastanien und<br />

Eicheln war ein einträgliches Geschäft, denn die Chaussee<br />

bis Jeserig in Richtung Potsdam war beidseitig mit Bäumen<br />

bestückt. Für einen Zentner Kastanien gab es in der Kirchhofstraße<br />

bei Siegels in der Aufkaufstelle 1,50 RM und für<br />

Eicheln sogar 2,50 RM. Es war eine mühsame und anstrengende<br />

Arbeit. Aber das Gefühl, Geld zu haben, trieb mich an.<br />

Ich wollte wiedergutmachen und meiner Mutter helfen, die<br />

Schuld abzutragen.<br />

Wir steckten in großen finanziellen Schwierigkeiten. Ein<br />

Sprichwort besagt: „Ist die Not am größten, ist dir Gott am<br />

nächsten.“ Und auch wenn ich kein gläubiger Mensch bin, so<br />

war es doch ein großer Segen, als meine Mutter Arbeit als<br />

Küchenhilfe in der Gaststätte „ Bühnenhaus“ bekam. Endlich!<br />

Die Gaststätte war ein beliebtes Ausflugslokal, das an einer<br />

Dampferanlegestelle lag. Leider steht heute nur noch die Ruine<br />

der einst so schönen Gaststätte. So schön es auch war, dass<br />

Mutter wieder Geld verdiente, für mich hatte das einen erheblichen<br />

Nachteil. Da es von der Gaststätte bis zur Straßenbahnhaltestelle<br />

etwa 3 Kilometer Fußweg waren, der an der Plane<br />

entlang führten, musste ich meine Mutter jeden Abend von<br />

der Arbeit abholen.<br />

Aber auch ich hatte Glück und bekam eine Laufstelle beim<br />

Schuhmachermeister Bosdorf in der Großen Gartenstraße<br />

gegenüber unserer Wohnung. Schuhe von der Kundschaft<br />

abholen, reparieren lassen und wieder zurückbringen. Diese<br />

29


Stelle war allerdings auf 1 bis 2 Stunden täglich beschränkt.<br />

Mein Wochenlohn betrug 1,50 RM plus Trinkgeld.<br />

Fahrrad Marke Eigenbau<br />

Eines Tages kam der Aufruf der NSDAP zu einer Schrottsammlung.<br />

Die Wirtschaft brauchte Stahl, denn es zeichnete<br />

sich ab, dass aufgerüstet wird. Vor den meisten Häusern<br />

lagen Schrotthaufen. Mein Freund Heiner und ich stromerten<br />

durch die Strassen und begutachteten die Haufen. Dabei fiel<br />

uns auf, dass viele gute Fahrradteile dabei lagen. Bei diesem<br />

Anblick kam uns der Gedanke, uns selbst ein Fahrrad zusammenzubasteln.<br />

Die Ausbeute war gut. Hier ein Vorderrad, dort<br />

ein ausgeschlachteter Rahmen usw. Doch es fehlten noch die<br />

Schläuche, Pedalen und diverse Kleinigkeiten. Meine Schulden<br />

waren abbezahlt, und so sammelte ich fleißig weiter Kastanien<br />

und Eicheln und trug weiter fleißig anderer Leute Schuhe hin<br />

und her. Aber diesmal wurde jeder erarbeitete Pfennig in das<br />

Fahrrad investiert. Wir hatten eine sinnvolle Aufgabe für uns<br />

gefunden. Fast täglich bastelten und schraubten wir an den<br />

Räder herum.<br />

Die Beschaffung der fehlenden Teile war nicht allzu schwierig,<br />

denn es gab noch eine zusätzliche Geldquelle. Auch meine<br />

Oma hatte eine Arbeitsstelle im „Caffee Oske“ am Molkenmarkt.<br />

Sie war dort „bloß“ Toilettenfrau. Aber diese Stelle<br />

war eine wahre Goldgrube. Das „ Caffee Oske“ zählte zu den<br />

größten Vergnügungshäusern Brandenburgs. Wo viel getanzt<br />

wird, wird auch viel getrunken, und wo viel getrunken wird,<br />

fordert das menschliche Bedürfnis auch sein Recht. Wer also<br />

musste, musste zahlen. Dies war ein einträgliches Geschäft<br />

für meine Oma. Auch für mich, denn sie spendete mir einiges<br />

Geld für mein Fahrrad.<br />

Oma war auch vom „Deutschen Dorf“ zur Büttelstraße gezogen.<br />

Tante Hilde und Onkel Willi waren schon längere Zeit verhei-<br />

30


atet und hatten ihren eigenen Haustand. Tante Hilde hatte einen<br />

Sohn geboren, der Georg hieß, genau wie sein Vater. Auch<br />

Onkel Willi war Vater geworden. Seine Tochter hieß Eva.<br />

Als die Weihnachtszeit sich näherte, war meine Mutter wieder<br />

ohne Arbeit, denn das Buhnenhaus hatte im Winter geschlossen.<br />

Auch ich musste mir eine neue Erwerbsquelle suchen, denn<br />

der Schuhmacher Bosdorf hatte seine Schusterei in der Großen<br />

Gartenstraße geschlossen und stattdessen ein Schuhgeschäft<br />

in der Jakobsstraße eröffnet.<br />

Mit der Kriegsaufrüstung Deutschlands begann der Handel<br />

zu blühen. In der Stadt Brandenburg wurden neue Werke<br />

gebaut. Zum Beispiel das Opelwerk, das Havelwerk und das<br />

Arado-Flugzeugwerk. Es waren ausschließlich Rüstungsbetriebe,<br />

und um die Betriebe zu bewirtschaften, wurden aus<br />

allen Teilen Deutschlands Arbeiter geworben. Dementsprechend<br />

wurden auch Wohnungen gebaut. So entstanden die Walzwerk-,<br />

die Opel- und die Havelwerksiedlung.<br />

Weihnachten<br />

Als Kind empfand ich Weihnachten in meiner Stadt als die<br />

stimmungsvollste Zeit des Jahres. Die Geschäfte, Kaufhäuser<br />

und Straßen waren festlich geschmückt, und auf allen Plätzen<br />

der Stadt wurden Weihnachtsbäume zum Verkauf angeboten.<br />

Am Trauerberg, in der Nähe unserer Wohnung, hatte Gärtnermeister<br />

Dossow seinen Verkaufsstand für Weihnachtsbäume.<br />

Ich fragte ihn, ob ich helfen durfte, die Bäume aufzustellen.<br />

Er gab mir die Stelle, und ich stellte nicht nur Bäume auf,<br />

sondern ich durfte den Kunden auch die Bäume nach Hause<br />

tragen. Kundschaft gab es genug, und ich bemerkte, dass die<br />

Menschen in einer freudigeren und fröhlicheren Stimmung<br />

als in der restlichen Zeit des Jahres waren. Sie waren gebefreudiger<br />

als sonst, und ich bekam üppige Trinkgelder. Mit einem<br />

31


Teil des Geldes konnte ich meine Mutter unterstützen, denn<br />

es musste immer noch einiges Geld durch meine Dummheit<br />

abgezahlt werden.<br />

Weihnachten bei uns zu Hause war weniger beschaulich. Es<br />

war vielmehr jedes Jahr das Gleiche. Es gab einen kleinen,<br />

von Gärtner Dossow gespendeten Baum und ein Paar hohe,<br />

derbe Schuhe als Geschenk. Die alten Schuhe hatte ich zwei<br />

Jahre, ohne das sie besohlt wurden, getragen. Die Sohle war<br />

mit Eisennägeln beschlagen, und die Hacken hatten einen<br />

hufeisenförmigen Beschlag. Wenn ich im Dauerlauf durch die<br />

Straßen lief, hörte es sich an, als würde ein Pferd galoppieren.<br />

Pimpf<br />

Ich erinnere mich, dass am heiligen Abend auch unser Hauswirt<br />

zu Besuch kam. Er brachte für meine Geschwister Süßigkeiten<br />

und für mich eine Uniform. Es war die Winteruniform<br />

des Jungvolkes. Der Kinder- und Jugendorganisation der<br />

NSDAP. Eine Organisationseinheit der 10 bis 14 jährigen<br />

Jungen. Zu den Mitgliedern des Jungvolkes sagte man auch<br />

Pimpfe.<br />

Die Uniform bestand aus Hose, Jacke und Mütze. Sie war aus<br />

herrlich weichem, schwarzem Wollstoff und ideal für den kalten<br />

Winter. Es war eine stille Eintrittsaufforderung des Hauswirtes<br />

an mich, auch wenn er es nicht aussprach.<br />

Am ersten Weihnachtstag zog ich diese warme und flauschige<br />

Uniform voller Stolz an. Ich wollte meiner Oma einen Besuch<br />

abstatten. Aber an Stelle eines Komplimentes, das ich irgendwie<br />

erwartet hatte, gab sie mir bei meinem Anblick eine schallende<br />

Ohrfeige. Sie raunzte mich an, dass ich mir erst mal was<br />

„Anständiges“ anziehen solle. Ich war verletzt und irritiert,<br />

32


und so ließ ich mich einige Tage erst mal bei meiner Oma<br />

nicht mehr sehen. Zu den Pimpfen ging ich auch nicht.<br />

Alfred ist zurück<br />

In der Schule ging es nicht besonders gut, und ich schlug<br />

mich eher schlecht als recht durch. Immer geradeso, das ich<br />

das Schuljahr nicht noch einmal wiederholen muss. Wie sollte<br />

ich auch bessere Leistungen bringen? Meine Mutter hatte ihre<br />

eigenen Sorgen, und der liebe Alfred, der mittlerweile aus der<br />

Haft entlassen worden war, interessierte sich nicht für mich.<br />

Es war gegenseitige Abneigung!<br />

Wieder begann eine Zeit der Demütigungen. Alfred kam oft<br />

betrunken nach Hause. Dann stritten sich meine Eltern wieder,<br />

meine Mutter bekam wieder Schläge, und anschließend gab<br />

es wieder die Versöhnung im Bett. Dies alles mitzuerleben<br />

traumatisierte mich, und ich dachte mit großer Wehmut an<br />

die ruhige und vergleichsweise glückliche Zeit mit meinem<br />

Vater zurück. Es war schon seltsam, denn ich hasste Alfred<br />

nicht einmal. Auch für meine Mutter empfand ich kein Mitleid.<br />

Vielmehr trieb es mich nur weg. Weg aus der Enge der<br />

Wohnung, weg von der Kühle der Seelen, weg von der kleinlichen<br />

und gewalttätigen Ignoranz der Menschen, die vorgaben,<br />

meine Eltern zu sein.<br />

Freude, Frohsinn und Sauberkeit der Gedanken fand ich bei<br />

meiner Oma, die mich einige Male bei sich aufnahm und mir<br />

ein eigenes Zimmer gab, bei meinem Freund Heiner und<br />

dessen Familie, die mich wie ihr sechstes Kind aufnahmen,<br />

und bei denen ich ein harmonisches Miteinander einer Familie<br />

erleben dufte. Vater Lotsch war eine Seele von Mensch, und<br />

in einem unserer vielen Gespräche stellte sich heraus, dass er<br />

meinen Vater, Wilhelm <strong>Ostwald</strong>, von einer gemeinsamen Arbeit<br />

bei der Reichsbahn kannte.<br />

33


Laufbursche<br />

Das Gefühl der Freiheit empfand ich aber auch bei meinen<br />

Gängen als Laufbursche. Im Frühjahr 1937 bekam ich eine<br />

Laufjungenstelle beim Radiohändler Wendefeuer. Sofort nach<br />

Schulschluss ging es an die Arbeit. Er brachte mir bei, wie<br />

die Batterien aufgeladen werden mussten. Die ersten Radios<br />

wurden noch mittels Detektoren mit Spindeln, Röhren und<br />

Batterien betrieben. Diese Batterien, ähnlich den heutigen<br />

Autobatterien, nur kleiner im Format, wurden zur Kundschaft<br />

gebracht und entladene Batterien abgeholt. Oft fuhren<br />

wir mit seinem alten Hanomag zu den Bauern übers Land,<br />

um Leitungen für die Radios zu installieren. Antennen waren<br />

zur damaligen Zeit noch unbekannt, und so wurde von der<br />

Scheune zum Wohnhaus ein Kabel gespannt, kurz vor dem<br />

Haus ein Kabelstück abgeleitet und fertig war die Antenne.<br />

Diese Arbeit machte mir Spaß, denn ich durfte immer aufs<br />

Scheunendach klettern und das Kabel befestigen. Für diese<br />

akrobatischen Leistungen bekam ich meist nicht nur Lob,<br />

sondern auch ein deftiges Essen und manchmal auch ein paar<br />

Pfennige.<br />

Aber es gab etwas an der Arbeitsstelle, das mir ganz und gar<br />

nicht behagte. Nach meinem Feierabend gegen 18 Uhr forderte<br />

mich die Frau von Wendfeuer wiederholt auf, für sie<br />

Einkäufe zu erledigen. Ich tat es nur widerwillig, und nach<br />

einigen Monaten schmiss ich diese Stelle hin und wollte mir<br />

eine andere Stelle als Laufjunge suche. Das war allerdings gar<br />

nicht so einfach, denn diese Stellen waren begehrt, und ich<br />

war nicht der einzige Junge in der Stadt, der Geld verdienen<br />

wollte. Zu dieser Zeit hatte ich endlich die Schulden für den<br />

dummen Streich bei meiner Mutter abgezahlt. Zudem hatten<br />

meine Mutter und Alfred Arbeit, und so gab es für den Moment<br />

keine Sorgen.<br />

34


Rache am Gärtner<br />

Eine zeitlang ging ich mit meiner Clique wieder auf Tour. Das<br />

Breite Bruch und die Gärten waren unsere Ziele. Aber es ging<br />

alles gemäßigter zu, denn Streiche mit Folgen blieben aus.<br />

Nur einmal rasteten wir noch aus. Gärtner Kraatz hatte eine<br />

Gärtnerei am Trauerberg. Diese war hinter seinem Wohnhaus<br />

in Richtung Gänsewerder. Im Garten am Ende der Gewächshäuser<br />

standen die schönsten und besten Obstbäume. Als wir<br />

mal wieder den Garten „besuchten“, muss er bereits auf der<br />

Lauer gelegen haben. Wir sprinteten wie die Verrückten<br />

davon, aber unser Kleinster war nicht schnell genug. Kraatz<br />

bekam ihn am Genick zu fassen und schleifte ihn durch ein<br />

ein Meter hohes Brennnesselfeld. Der Kleine schrie wie am<br />

Spieß, denn er war, wie wir alle, nur mit einer kurzen Hose<br />

bekleidet. Wir konnten nicht helfen und mussten das Trauerspiel<br />

mit ansehen. Unser Kleiner sah aus wie eine reife Erdbeere,<br />

und wir schworen Rache.<br />

Kraatz hatte etwas abseits der Gärtnerei ein ca. 400 m² großes<br />

Gladiolenfeld. Dieses Feld lag etwa einen Meter unterhalb<br />

eines Weges und war deshalb gut einsehbar. Mit unseren<br />

Fletschen und Kieselsteinen bewaffnet zogen wir los zum<br />

Übungsschießen. Ziel waren natürlich die Gladiolen. Als ein<br />

idealer Treffer galt die Platzierung des Steines unterhalb der<br />

Blüte, So dass der Blütenkopf abknickte. Aber auch ein Treffer<br />

direkt auf die Blüten zählte als Erfolg. Die Schlacht war<br />

erfolgreich gewonnen, denn die meisten Gladiolen büßten<br />

ihre Pracht ein. Natürlich blieben wir nicht unerkannt, und so<br />

gab es für uns als Nachspiel eine Tracht Prügel zu Hause, und<br />

wieder einmal eine finanzielle Strafe.<br />

Aber ein Gutes hatte diese Sache doch. Auch der Gärtner<br />

wurde wegen Körperverletzung angezeigt und musste eine<br />

Geldstrafe bezahlen. Unser Kleiner war gerächt. Aber dies<br />

35


war mein letzter erwähnenswerter Streich. Danach versuchte<br />

ich mich in verschiedenen sportlichen Disziplinen, um meine<br />

Freizeit sinnvoll zu gestalten. Versuchsweise ging ich zum<br />

Training der Turner in die Hammerstraße. Bockspringen und<br />

Barrenübungen gingen ja noch, aber als ich es an den Ringen<br />

versuchen sollte, da war es aus mit meinem Können. Ich hing<br />

an den Ringen wie ein nasser Sack. Turnen war kein Sport für<br />

mich, denn ich war viel zu schwer.<br />

36


Vorkriegsjahr und Kriegsbeginn, Radsport und<br />

Lehre (1938 – 1940)<br />

Das Haus, in dem wir lebten<br />

Frau Imme (li.) und meine<br />

Schwiegermutter<br />

Im Hinterhaus, in dem wir wohnten,<br />

lebten vier Mietparteien. Es<br />

war ein freundliches und ruhiges<br />

Miteinander. Unser linker Nachbar<br />

im Parterre, Herr Baron, stolzierte<br />

immer in seiner SA-Uniform<br />

umher. Arbeiten habe ich ihn nie<br />

gesehen. Im ersten Weltkrieg war<br />

er in russische Gefangenschaft geraten,<br />

hatte sich aber nach seiner<br />

Entlassung eine Russin mitgebracht<br />

und geheiratet. Anna, so<br />

hieß sie, war trotz ihrer Robustheit<br />

eine sehr hübsche und freundliche<br />

Frau. Sie hatte schöne, lange,<br />

schwarze Haare, die ihr bis zum<br />

Gesäß reichten. Manchmal hatte sie die Haare auch zu einem<br />

wuchtigen, schönen Dutt gebunden. In besonderer Erinnerung<br />

ist mir geblieben, dass sie immer barfuss lief. Sogar im<br />

Winter, wenn sie im Hof die Wäsche aufhing.<br />

Mieter Imme wohnte eine Treppe links und hatte einen Sohn,<br />

der Erwin hieß und vier Jahre älter als ich war. Bei Immes war<br />

immer Frohsinn und Heiterkeit. Oft trällerten sie die schönsten<br />

Lieder. Seine Tätigkeit als Korbmacher konnte er zu Hause<br />

ausüben. Vielleicht war das das Geheimnis des steten Frohsinns.<br />

Der Sonntag war immer Angeltag für Herrn Imme. Er<br />

nahm mich oft mit, doch nicht nur zum Angeln. Ich musste<br />

ihn immer im Kahn bis zur Angelstelle rudern.<br />

37


Meist musste ich<br />

ihn mit seinem<br />

Kahn zur Krakauer<br />

Schleuse<br />

rudern. An der<br />

Stelle, an der wir<br />

angelten, war<br />

ein Sägewerk.<br />

Am Ufer der<br />

Havel lagen die<br />

Baumstämme zu<br />

Flössen zusammengebunden.<br />

Beim Angeln<br />

Zwischen diesen Stämmen tummelten sich ganze Schwärme<br />

von Rotfedern, und man konnte sie fast mit der Hand fangen.<br />

Es waren schöne Zeiten, in denen ich wohl glücklich war.<br />

Frau Arnswald (2.v.l.), daneben: Inge<br />

Arnswald, Frau Imme, Herr Imme,<br />

außerdem Freunde der Familie<br />

38<br />

Zu meiner großen Freude<br />

hatte ich bald wieder eine<br />

Stelle gefunden. Diesmal<br />

war es bei Herrn Lauzius<br />

in der Hauptstraße, Ecke<br />

Packhofstraße. (Heute ist die<br />

Firma Biedermeier Inhaber).<br />

Herr Lauzius führte ein Tapeten-<br />

und Linoleumgeschäft.<br />

Er selbst war ein<br />

hochgewachsener, lediger<br />

Mann, der immer korrekt gekleidet<br />

war. Ich bewunderte<br />

immer seine Wandlungsfähigkeit.<br />

Wenn wir zur Kundschaft<br />

fuhren, um Linoleum<br />

zu verlegen, trug er immer<br />

einen Arbeitsanzug und war


nicht der Chef, sondern Facharbeiter und Lehrmeister. Er hatte<br />

in der Paulinenstraße ein kleines Haus, in dem er mit seiner<br />

netten Schwester zusammenlebte. Die Arbeit war körperlich<br />

schwer und der Verdienst mit 3,- RM pro Woche gering. Aber<br />

ich blieb bei ihm bis zum Frühjahr 1938, bis meine Schulzeit<br />

zu Ende ging. Herr Luzius bot mir auch die Lehrstelle als Verkäufer<br />

in seinem Geschäft an, aber dazu hatte ich absolut keine<br />

Lust.<br />

Die ausgefallene Konfirmation<br />

Einige Ereignisse des Jahres 1938 stimmten mich nachdenklich<br />

und machten mich traurig, aber auch wütend. 1938 sollte<br />

das Jahr meine Konfirmation sein. Unter großen finanziellen<br />

Anstrengungen hatte meine Mutter alles Notwendige bereits<br />

besorgt. Ich war vollständig mit Schuhen, Anzug und Hut<br />

ausgestattet. Doch vier Wochen vor dem Fest sollte ein Vorkommnis<br />

alles anders kommen lassen. Auch wenn ich mich<br />

nicht mehr an Streichen mit schweren Folgen beteiligte, war<br />

ich doch mit meinen knapp 15 Jahren zu keinem Musterschüler<br />

mutiert. Kleine Streiche machten immer noch Spaß.<br />

Auch der Religionsunterricht war keine streichfreie Zone.<br />

Unser Religionsunterricht wurde im Pfarrhaus der Katharienkirche<br />

durchgeführt. Wir Schüler saßen in einer Reihe hintereinander<br />

auf ganz normalen Stühlen. Vor mir saß ein Junge, der<br />

eine Trachtenjacke trug, wie man sie in Bayern trägt. Trachtenjacken<br />

waren in der Hitlerzeit große Mode. Ich öffnete also<br />

die Hirschhornknöpfe am hinteren Steg der Jacke. Dann band<br />

ich die Stegenden an der Querleiste des Stuhles an. Als der<br />

Schüler zur Beantwortung einer Frage des Pfarrers aufstehen<br />

wollte, hob er den Stuhl mit großem Gepolter mit an. Pfarrer<br />

Schubert war schnell klar, wer der Verursacher des Streiches<br />

war. Er orderte mich nach vorn und gab mir ohne Vorwarnung<br />

mehrere schmerzhafte Ohrfeigen. Züchtigungen und<br />

39


Prügel war ich ja von zu Hause gewohnt. Wenn ich für mich<br />

selbst eingestand, dass ich über ein Ziel hinausgeschossen<br />

war, dann ertrug ich Prügel stets klaglos. Doch fühlte ich mich<br />

zu Unrecht und über Maßen bestraft, dann wurde ich rebellisch.<br />

So war es auch in diesem Fall. Ich fand die Strafe zu hart<br />

und fühlte mich gedemütigt.<br />

Das konnte doch nicht Gottes Art sein. In den vier Jahren<br />

Religionsunterricht in der Rochow-Schule hatte ich Gottes<br />

Wort anders verstanden. In meinem Zorn griff ich das<br />

Gebetsbuch, das auf dem Pfarrerpult lag, und schleuderte<br />

es in Richtung Pfarrer, in der festen Absicht, ihn am Kopf zu<br />

treffen. Doch ich verfehlte ihn und das Gebetbuch traf eine<br />

Engelsfigur, die auf einer kleinen Konsole an der Wand stand.<br />

Sie wurde das unschuldige Opfer meiner Wut. Der Pfarrer<br />

beschimpfte mich als Gotteslästerer und verwies mich sofort<br />

des Pfarrhauses.<br />

Zu Hause war die Hölle los. Auch hier wieder Prügel und<br />

Gezeter. Meine Mutter bettelte förmlich beim Pfarrer um<br />

meine Teilnahme an der Konfirmation. Aber vergebens.<br />

Dennoch ging ich am Tag der Feier in die Kirche und schaute<br />

mir die Zeremonie an. Ich fand alles sehr festlich, aber es bewegte<br />

mich in keiner Weise. Aber als da saß, dachte ich an all<br />

die Prügel, die ich bekommen hatte, und an die Worte meiner<br />

Oma: „Lass mal Großer. Auch ohne Gottessegen kann der<br />

Lebensweg gut oder schlecht sein. Bleibe nur so wie du bist,<br />

vor allem anständig.“<br />

Die Progrome<br />

Man kann lapidar sagen, dass die Ereignisse der Pogromtage<br />

so unerfreulich wie das Wetter in dieser Zeit waren. Doch<br />

wogegen Wetter nur unerfreulich sein kann, waren die Tage<br />

der Pogrome unmenschlich und verabscheuenswert. Die SA<br />

40


wütete wie eine Räuberbande in der Stadt. Juden wurden wie<br />

Vieh aus den Häusern getrieben und auf LKW’s gejagt. Die<br />

Geschäfte und Firmen der Juden wurden geplündert und<br />

zerstört. Aber keiner rührte die Hände, um diesen Menschen<br />

zu helfen. Aber ich sah sehr wohl Frauen und auch Männer,<br />

die weinten vor Wut oder Hilflosigkeit. Denn jeder Versuch<br />

zu helfen, bedeutet mit Sicherheit, selbst eingesperrt zu werden.<br />

Auch im Nachbarhaus, in der Großen Gartenstraße Nr. 7, wurden<br />

die Familie Papendick mit<br />

ihrem Sohn Joshi, mit dem<br />

ich des Öfteren gespielt<br />

hatte, und der Tuchhändler<br />

Wollenweber, bei dem man<br />

Anschreiben oder auf Abzahlung<br />

kaufen konnte, Opfer<br />

dieser Verfolgung.<br />

In der Familie gab es ebenfalls<br />

ein trauriges Ereignis.<br />

Meine Tante Charlotte,<br />

Tante Charlotte<br />

Onkel Willis Frau, starb an<br />

Schwindsucht. Sie war eine<br />

so hübsche junge Frau mit<br />

blonden, lockigen Haaren<br />

und einer Pfirsichhaut. Ich<br />

glaube, ich war heimlich in<br />

sie verliebt, ohne dass es mir<br />

bewusst war, denn ich bewunderte sie sehr. Oft hatte ich mich<br />

gefragt, wie mein Onkel solch’ eine Frau hatte bekommen<br />

können. Er hatte das Aussehen eines Boxers. Aber ich wusste<br />

auch, dass er sie auf Händen getragen hatte.<br />

41


Der Ernst des Lebens<br />

Der sogenannte Ernst des Lebens begann, denn mein Freund<br />

Heiner und ich mussten auf Lehrstellensuche gehen. Meine<br />

Mutter wollte unbedingt, dass ich aufs Land als Knecht gehe.<br />

Doch da funkte meine Oma dazwischen. Sie fauchte meine<br />

Mutter an: “Wir sind doch nicht in die Stadt gezogen, damit<br />

einer unserer Kinder oder Enkel wieder ein Knechtsein erlebt.“<br />

Heiner und ich hatten gehört, dass in der Elisabethhütte und<br />

in der Schiffswerft „Wiemann“ Lehrlinge gesucht wurden.<br />

Wir bewarben uns beide und hatten enormes Glück. Wir bekamen<br />

beide eine Lehrstelle als Former in der Elisabethhütte.<br />

Als ich meiner Mutter den Vertrag zur Unterschrift vorlegte,<br />

kam es wieder zu einem großen Krach, denn meine Mutter<br />

weigerte sich, mir ihre Unterschrift zu geben. Ich ahnte, dass<br />

Bergemann die Ursache für ihre Verweigerung war. Er wollte<br />

unbedingt, dass ich eine Lehrstelle außerhalb Brandenburgs<br />

annahm, denn dann wäre er mich losgewesen.<br />

Da ich die Lehrstelle unbedingt haben wollte, unterschrieb<br />

ich den Vertrag mit dem Namen meiner Mutter selbst. Strafrechtlich<br />

war das wohl Urkundenfälschung, moralisch war es<br />

aber ein Notstand. Natürlich hatte meine Mutter den Betrug<br />

herausgefunden und tobte wie immer umher. Aber sie ließ den<br />

Schwindel auch nicht auffliegen. Ich konnte die Lehre antreten.<br />

Bis sich der Ärger zu Hause gelegt hatte, nahm mich Oma<br />

einige Tage bei sich auf. Das Abschlusszeugnis, das ich<br />

bekam, war nicht berauschend, aber für meinen neuen Lebensabschnitt<br />

reichte es.<br />

42


Lehrbeginn und Radsport<br />

Am 1. April 1938 trat ich, gemeinsam mit meinem Freund<br />

Heiner, meine Lehre als Metallformer in der Elisabethhütte<br />

der Firma Wiederholz an. Im ersten Lehrjahr hatten wir einen<br />

alten, grummeligen Lehrgesellen, der uns ganz schön auf Trab<br />

brachte, betreffs Sauberkeit und Ordnung am Arbeitsplatz.<br />

Aber er war ein guter Lehrgeselle, der uns viel beibrachte. Die<br />

Arbeit eines Formers war eine körperlich schwere Arbeit, und<br />

als Lehrling verdiente ich für diese Knüppelei gerade einmal<br />

5,- RM in der Woche. Von den alten Formern und Hilfsarbeitern<br />

bekamen Heiner und ich Spitznamen verpasst. Heiner wurde<br />

auf Grund seiner wulstigen Lippen Negus gerufen. Mich riefen<br />

sie immer Tommi. Weshalb, ist mir ein ewiges Rätsel geblieben.<br />

Mit Beginn der Lehre wurden wir auch verpflichtet,<br />

der damaligen Gewerkschaft „Arbeitsfront“ und der Hitlerjugend<br />

beizutreten. Für den Eintritt in die Hitlerjugend gab es<br />

für uns keine politischen Motive. Aber für unsere sportlichen<br />

Ambitionen beim Radsport sollte uns das Vorteile bringen.<br />

Heiner und ich hatten uns entschlossen, in der Freizeit aktiv<br />

Radsport zu betreiben. Wir traten dem Sportverein Havel 08<br />

bei, der seinen Sitz in der Brielower Landstraße hatte. Dieser<br />

Sportverein war die Hochburg des Radsportes in Brandenburg.<br />

Die Stadt hatte einige Größen des deutschen Radsportes<br />

hervorgebracht. Einer der Radsportgrößen der Stadt wohnte<br />

sogar in meiner Straße. Er hieß Richard Drange und war in<br />

den Brennabor-Werken als Kontrolleur beschäftigt. Er war<br />

ein sogenannter Halbprofi. Die Brennabor-Werke stellten ihm<br />

die Räder zur Verfügung, und er konnte auch während der<br />

Arbeitszeit trainieren. Er war unser Idol und wohl auch der<br />

Auslöser für unser großes Interesse am Radsport.<br />

Wenn an Sonntagen Radrennen in der Stadt ausgetragen<br />

wurden, kamen Rennfahrer aus den verschiedensten Städten<br />

43


am Hauptbahnhof an. Ich erinnere mich an einen Sonntag, als<br />

unsere Helden nach Brandenburg kamen. Sie hießen Thoma<br />

und Schadebroth. Wir waren begeisterte Fans der beiden. Wir<br />

durften ihre Räder tragen und sie während des Rennens betreuen.<br />

Der erste Schritt<br />

Bei einer anderen Sportveranstaltung wurde der „Erste<br />

Schritt“ ausgetragen. Das bedeutete, dass jeder Jugendliche,<br />

der ein Rad besaß, egal was für einen Schinken, sich seine ersten<br />

Lorbeeren verdienen konnte. Dazu mussten fünf Runden<br />

gefahren werden. Heiner hatte Pech, denn bei ihm sprang<br />

die Kette ab. Wäre ihm dies nicht passiert, wäre er vermutlich<br />

Erster geworden. Denn in allen späteren Rennen war er<br />

immer der beste Sprinter. Aber bei diesem ersten Rennen<br />

wurde ich Erster. Ich bekam eine Siegerschleife in die Hand<br />

gedrückt und sollte eine Ehrenrunde fahren. Ich war sehr stolz<br />

auf diesen Sieg, aber auch mächtig aufgeregt, mich vor Publikum<br />

präsentieren zu müssen. Dennoch schwang ich mich<br />

voller Freude auf mein Rad und winkte mit der Schleife dem<br />

Publikum zu. Doch als ich wenig später meine Hand mit der<br />

Schleife senkte gab es plötzlich eine Ruck, und ich verspürte<br />

einen so heftigen reißenden Schmerz in meiner Hand, dass<br />

ich im ersten Moment dachte, sie würde mir abgerissen werden.<br />

Natürlich ging ich zu Boden, und es dauerte noch einige<br />

Sekunden, bis ich realisiert hatte, weshalb die Massen sich vor<br />

Lachen bogen und warum ich auf dem Boden lag. Die Schleife<br />

hatte sich beim Senken der Hand im Kettenkasten verfangen<br />

und mich so umgerissen. Eben war ich noch der strahlende<br />

Sieger, der sich nun durch eine Unachtsamkeit lächerlich<br />

gemacht hatte. Ich schämte mich sehr und wollte nur weg von<br />

der voll Häme grölenden Masse. Das war meine erste Erfahrung<br />

mit dem Radsport.<br />

44


Erste Begegnung<br />

Der Sommer 1938 war heiß, und ich hatte Urlaub. Um der<br />

Hitze zu entfliehen, ging ich gemeinsam mit meiner Mutter<br />

und meinen Geschwistern am Gänsewerder baden. Wobei<br />

meine Mutter nie baden ging. Sie saß auf der Wiese und erzählte<br />

mit den anderen Frauen. Wir Kinder hingegen tollten<br />

im und am Wasser herum, bauten Sandburgen und lernten<br />

uns auf diese Weise kennen. Hier am Gänsewerder lernte ich<br />

auch Inge Arnswald kennen.<br />

Inge zur Konfirmation 17 Jahre alt<br />

Sie fiel mir auf, weil mich ihre natürliche, offene und für ein<br />

Mädchen der damaligen Zeit auch recht burschikose Art beeindruckte.<br />

Nach Brandenburger Mundart hätte man sie als<br />

kesse Bolle bezeichnet. Ich war erstaunt zu hören, dass sie<br />

45


schon einige Male bei uns im Haus in der Großen Gartenstraße<br />

war. Denn ihr Vater und Herr Imme arbeiteten in<br />

derselben Fabrik. Das wir uns bis zu diesem Tag nicht begegnet<br />

sind, ist nicht verwunderlich, denn ich war ja tagsüber auf<br />

Arbeit, und sie ging noch zur Schule.<br />

Seit diesem Tag trafen wir uns öfter, wenn ihre Eltern bei Immes<br />

zu Besuch waren. Dann saßen wir auf der Treppe vor dem<br />

Haus und unterhielten uns stundenlang. Worüber, das weiß<br />

ich heute nicht mehr. Aber schon bei diesen ersten Begegnungen<br />

merkte ich, dass ich gern mit ihr sprach, und irgendwie ging<br />

uns schon damals der Gesprächsstoff nie aus. Es begann eine<br />

gute Freundschaft, die - was wir beide damals nicht ahnten -<br />

unser beiden Leben bestimmen sollte.<br />

Das Jahr ging ohne besondere persönliche Ereignisse zu Ende.<br />

Es war nur das Übliche. Lehre, Training, Zoff mit Bergemann<br />

und wie jedes Jahr vermieste Weihnachten.<br />

Bei Onkel Willi<br />

Im neuen Jahr 1939 zog ich auf<br />

Angebot von Onkel Willi zu ihm.<br />

Dafür gab es mindestens zwei<br />

gute Gründe. Zum einen war<br />

Onkel Willi seit dem Tod von<br />

Tante Charlotte sehr allein, zum<br />

anderen hatte ich ständig Streit<br />

mit Bergemann.<br />

Es war eine angenehme Zeit für<br />

mich. Ich fühlte mich wohl bei<br />

Onkel Willi. Abends gingen wir<br />

manchmal ins Kino. Dann sahen<br />

wir uns mit Vorliebe entweder<br />

Kriminalfilme oder aber Wes- Onkel Willi<br />

46


ternfilme an. Einige Male waren wir auch in einer Gaststätte.<br />

Onkel Willi achtete aber streng darauf, dass ich keinen Alkohol<br />

bekam.<br />

Bevor wir abends zur Ruhe gingen, lasen wir beide im Bett<br />

immer Schmöker. Onkel Willi liebte es, Krimis zu lesen, und<br />

ich verschlang mit Eifer Abenteuergeschichten von Rolf<br />

Tourings oder Jörn Farnows. In den Hinterhöfen der Stadt<br />

Brandenburg gab es Ende der dreißiger Jahre noch nicht überall<br />

Anschluss an das Stromnetz. Deshalb hing über dem Ehebett,<br />

in dem wir beide schliefen, eine Petroleumlampe. Eines<br />

Abends schliefen wir über dem Lesen ein und vergaßen die<br />

Lampe zu löschen. Am nächsten Morgen war die Wohnung<br />

voller Rußflecken und unsere Nasenlöcher waren schwarz.<br />

Wir hatten eben einen klassischen Männerhaushalt.<br />

Verbrennungen<br />

So ging der Sommer zu Ende, und die kalte Jahreszeit begann.<br />

In den Wintermonaten war es in der Halle der Formerei bitterkalt.<br />

Um die Halle etwas zu erwärmen und um zu verhindern,<br />

dass der Formersand über Nacht gefriert, wurden zwei große<br />

Kanonenöfen aufgestellt. Wir Lehrlinge hatten die Aufgabe,<br />

die Öfen zu beheizen und zu verhindern, dass sie ausgingen.<br />

Zum Anheizen wurden die Öfen mit Holz belegt, mit Öl übergossen<br />

und angezündet. Wenn das Holz brannte, wurde Koks<br />

nachgeschüttet, und die Sache war erledigt. Damit der Ofen<br />

nicht ausging, wurde hin und wieder Koks nachgelegt. Diese<br />

Öfen hatten eine Höhe von 2,50 Meter und einen Durchmesser<br />

von einem Meter. Jugendliche Unerfahrenheit fordert Opfer,<br />

und ich war eines davon. Das Feuer, das ich angezündet hatte,<br />

ging aus, und es fing fürchterlich an zu qualmen. Also rollte<br />

ich eine Zeitung zusammen und wollte damit der Flamme<br />

neue Nahrung geben. Doch kaum hatte ich die Lunte in das<br />

47


Ofenloch gehalten, gab es eine Stichflamme, die mich von den<br />

Beinen riss. Ich hatte mir bei dieser Aktion nicht nur fast alle<br />

Haare verbrannt, sondern auch die komplette linke Gesichtshälfte.<br />

Da man zur damaligen Zeit der medizinischen Ansicht<br />

war, dass bei Verbrennungen Öl auf der Haut ein Heilmittel<br />

ist, schmierte mein Lehrmeister, Herr Derschau, mein Gesicht<br />

mit Öl ein. Dann wurde ich zu einem Arzt gebracht.<br />

Die Schmerzen waren fürchterlich. Aber ich hatte Glück, denn<br />

es blieben keine Narben zurück. Weitere Monate der Lehre<br />

vergingen ereignislos. Bis eines Tages ein Ereignis das Leben<br />

von Onkel Willi in tragischer Weise verändern sollte und meine<br />

Mitgliedschaft in der HJ beeinflusste.<br />

Pöbelei und Konzentrationslager<br />

Wir beide, Onkel Willi und ich, gingen eines Abends in die<br />

Gaststätte zur „Sonne“ in der Flutstraße, Ecke Werderstraße.<br />

Es war eine Eckkneipe, in der sich die Arbeiter trafen, um sich<br />

gemütlich einen hinter die Binde zu kippen. Onkel Willi wollte<br />

sich dort mit einem Kumpel treffen, aber als wir dort ankamen,<br />

war der noch nicht da. Aber da war schon ein anderer Mann,<br />

den Onkel Willi wohl aus früheren Zeiten kannte. Damals waren<br />

sie beide Genossen im Rotfrontkämpfer-Bund in Brandenburg<br />

gewesen. Aber gleich nach der Machtübernahme Hitlers<br />

war dieser Mann in die SA eingetreten. Er pöbelte meinen<br />

Onkel dauernd an, so dass schon die anderen Gäste aufmerksam<br />

wurden. Bald war das Gepöbel unerträglich, und Onkel<br />

Willi und ich beschlossen, nach Hause zu gehen. Aber wir<br />

kamen nicht weit, denn der SA Mann kam hinter uns her. Er<br />

griff meinen Onkel nun mit den Fäusten an, und Onkel Willi<br />

verteidigte sich. Es war nur eine kurze Schlägerei. Ein paar<br />

Faustschläge, und der SA Mann stolperte über die Bordsteinkante<br />

und lag am Boden. Wir beide ließen ihn liegen und gingen<br />

weiter in Richtung unserer Wohnung.<br />

48


Aber es dauerte nicht lange, und vier Polizisten standen vor<br />

der Tür. Von unserer Wohnung bis zum Rathaus, in dem das<br />

Polizeirevier war, waren es nur ca. 250 Meter. Aber die<br />

gesamte Strecke gingen sie mit großer Brutalität gegen<br />

meinen Onkel vor, in dem sie ihn mit Schlagstöcken traktierten.<br />

Auch wenn ich durch meine Minderjährigkeit Glück hatte<br />

und nur als Zeuge vernommen wurde, so war ich doch zutiefst<br />

entsetzt über die Brutalität. Unter Schock ging ich nach Hause.<br />

Über lange, lange Zeit konnte ich die Bilder dieser Nacht nicht<br />

aus meinen Gedanken verbannen.<br />

Dieser Vorfall wurde als politisch motiviere Straftat eingestuft<br />

und entsprechend bei Gericht verhandelt. Onkel Willi wurde<br />

zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Er kam bei Ausbruch des<br />

Krieges in das Konzentrationslager Buchenwald. Wenn auch<br />

erst 1951, so sah ich ihn doch zumindest lebend wieder.<br />

Nach der Gerichtsverhandlung wurde ich aus der Hitlerjugend<br />

ausgeschlossen. Ich nahm diese Tatsache nicht weiter tragisch,<br />

denn so hatte ich doch mehr Freizeit und brauchte an keiner<br />

Versammlung teilnehmen.<br />

Radfahrer<br />

Meine Familie blieb durch diesen Vorfall unbehelligt und alles<br />

beim Alten. Unsere Clique, die aus fünf Rennbegeisterten aus<br />

unserer Straße bestand, trainierte zweimal in der Woche. Dabei<br />

führten unsere Rennstrecken wahlweise von Brandenburg<br />

nach Rathenow oder Belzig oder Potsdam. Das waren immerhin<br />

pro Strecke 60 bis 80 Kilometer, und für unsere selbst gebauten<br />

Drahtesel eine ordentliche Leistung. Das Training musste<br />

sein, denn pro Monat fanden regelmäßig an der Brielower<br />

Rennbahn Rennen statt. Hier konnte auch teilnehmen, wer<br />

kein professionelles Rennrad besaß. Diese Rennen hatte den<br />

49


Namen „Der erste Schritt“ und war für meine Freunde und<br />

mich unser erstes angestrebtes Ziel.<br />

Heiner und ich wurden durch den Verein ermuntert, uns ein<br />

Rennrad auf Pump zu kaufen. Aber dazu reichte unser Lehrlingsgeld<br />

nicht aus. Außerdem hätte ich zu Hause die Hölle auf<br />

Erden durchlebt, wenn meine Mutter von solch einer Sache<br />

erfahren hätte. Von einem professionellen Rennrad konnte ich<br />

weiterhin nur träumen.<br />

Da die Ausbildung zum Former eine schwere körperliche Arbeit<br />

war, mussten wir Lehrlinge einmal im Jahr zu einer ärztlichen<br />

Reihenuntersuchung. Organisch war ich kerngesund. Aber<br />

der Arzt meinte, ich sei irgendwie nicht proportional entwickelt.<br />

Mein Unterkörper, also Beine, Waden Schenkel wären ordentlich<br />

kräftig ausgebildet, mein Oberkörper zeige dagegen<br />

Schwäche in Form von Hühnerbrust und Null Armmuskulatur.<br />

Der Arzt wies mir an, zwei Mal pro Woche schwimmen oder<br />

rudern zu gehen.<br />

Wasserfahrer<br />

Also trat ich in den Verein „Freie Wasserfahrer“ (in der DDR<br />

Zeit „Einheit“) am Wiesenweg ein. Das Training mit dem Rad<br />

wurde in der Woche zeitmäßig halbiert. Bei den Wasserfahrern<br />

im Wander-Gig-Vierer zweimal trainiert und zusätzlich einmal<br />

schwimmen im Hallenbad. Auch bei Heiner stellte der Arzt<br />

den gleichen Befund. Aber der ließ sich davon nicht beeindrucken.<br />

Bald war ich vom Rudern mehr begeistert als vom Radfahren.<br />

Denn sonntags ging es auf Wanderfahrt auf den Gewässern<br />

Brandenburgs und am Wochenende oft zum Zelten. Es war<br />

eine herrliche Zeit. Außerdem lernte ich viele neue Sportfreunde<br />

aus anderen Stadtteilen Brandenburgs kennen.<br />

50


Die veränderte Freizeitgestaltung brachte meine Lebensweise<br />

in eine ganz andere Bahn. Ich selbst war ja ein Kind aus der<br />

eher ärmlichen Arbeiterklasse. Im Ruderverein aber lernte<br />

ich junge Sportlerinnen und Sportler aus kleinbürgerlichen<br />

Schichten kennen. Mit Neugierde, Stauen und Interesse<br />

beobachtete ich diese Menschen, ihre Art sich zu kleiden, zu<br />

sprechen, sich zu benehmen. Vieles beeindruckte mich positiv,<br />

anderes stimmte mich nachdenklich. Aber es war auf alle Fälle<br />

eine Bereicherung meines Bewusstseins.<br />

Durch die Reduzierung des Rennradtrainings litt auch meine<br />

Freundschaft zu Heiner. Denn neben dem Interesse für den<br />

Wassersport war auch mein Interesse für Mädchen erwacht.<br />

Heiner indes lebte nach wie vor ausschließlich für den Radsport,<br />

und so war es nicht verwunderlich, dass er bald eifersüchtig<br />

auf meine anderen Interessen war. Ich konnte ihn ja<br />

sogar verstehen, denn er wollte unbedingt, dass ich sein Partner<br />

beim Radsport bleibe. Und wir hielten zusammen.<br />

Kriegsbeginn und der erste Tote<br />

Im September 1939 traf ich auch Inge wieder, als sie bei einem<br />

Besuch bei Herrn Imme war. Am ersten September begann<br />

der Ausbruch des Krieges mit dem Überfall Hitlers auf Polen.<br />

Dies sollte unser aller Leben verändern. Bereits am fünften<br />

Tag nach dem Polenfeldzug war Nachbar Immes Sohn Erwin<br />

gefallen. Er war erst 20 Jahre alt. Als wir von dessen Tod<br />

erfuhren, war die gesamte Hausgemeinschaft tief erschüttert.<br />

Der ferne Tod hatte plötzlich ein Gesicht, einen Namen, und<br />

er tat weh.<br />

Es kamen die Wintermonate mit viel Kälte und Schnee. Wir<br />

sahen de ersten polnischen Gefangenen, die zum Schneeschippen<br />

eingesetzt waren. Viele dieser Gefangenen waren für<br />

diese Kälte nur dürftig bekleidet, und an ihren ausgemergelten<br />

51


Gestalten konnte man erkennen, dass sie wenig zu essen<br />

bekamen. Menschen, die versuchten, die Gefangenen mit Brot<br />

oder Bekleidung zu versorgen, wurden als Volksverräter betitelt<br />

und von den Nazis des Platzes verwiesen. Wenn ein „Supernazi“<br />

dabei war, wurden sie sogar zur Anzeige gebracht.<br />

Aber es gab auch genug Brandenburger, die diese armen<br />

Menschen zusätzlich anpöbelten. Es war schlimm, das mit<br />

ansehen zu müssen. Den Menschen war ideologisch eingeimpft<br />

worden, dass dies unsere Feinde seien. Aber diese Ideologie<br />

kam nicht bei jedem an. Das lag einfach daran, dass wir alle<br />

Kinder von Arbeitern waren, deren Eltern entweder Sozis<br />

oder Kommunisten waren und sich gegen Hitlers Ideologien<br />

wehrten.<br />

Als der Frühling 1940 kam, zogen auch schon die nächsten<br />

dunklen Wolken auf. Sie kamen von Westen. Hitler begann<br />

den Krieg gegen Frankreich vorzubereiten.<br />

In der Formerei änderten sich auch einige Dinge. Der alte<br />

Lehrmeister war in Rente gegangen. Wir bekamen einen neuen<br />

Lehrgesellen, der im Polenfeldzug verwundet wurde und ein<br />

steifes Bein behalten hatte.<br />

Die Kriegsproduktion lief auf Hochtouren. Auch wir Lehrlinge<br />

wurden mit einbezogen und sollten Akkord arbeiten. Wir erhielten<br />

aber nur 60 Prozent des Lohnes. Zudem bekamen wir<br />

nur den „Fummelkram“, wo es ohnehin nicht viel zu verdienen<br />

gab. Dennoch verbesserte sich unsere finanzielle Situation<br />

deutlich. Denn statt der bisher gezahlten 6,- RM gab es nun<br />

bis zu 15,- RM in der Woche. Heiner und ich waren begeistert.<br />

Nun konnten wir unseren Traum von einem richtigen Rennrad<br />

wahr werden lassen.<br />

52


Das eigene Rennrad<br />

Heiner Eltern gestatteten<br />

ihm, ein Rennrad<br />

auf Abzahlung zu<br />

kaufen. Bei mir sah<br />

dass schon ganz anders<br />

aus. Der „liebe“<br />

Bergemann arbeitete ja<br />

ebenfalls in der Fabrik,<br />

in der ich meine Ausbildung<br />

machte. Nur<br />

eben in der Abteilung<br />

Maschinenformerei.<br />

Ich löste das Problem,<br />

indem ich erst mal zu<br />

Hause nichts erzählte.<br />

Aber mit Heiner fuhr<br />

ich eines Tages nach<br />

Nennhausen. Hier<br />

wohnte der Sportfreund<br />

Glagow. Er war<br />

Mit meinem Rennrad<br />

selbst Radrennfahrer,<br />

und er betrieb in Nennhausen eine Werkstatt mit Fahrradverkauf.<br />

Ich suchte mir ein herrliches Rennrad aus, gab mein altes Rad<br />

in Zahlung und handelte auch mit ihm den Vertrag aus. Da<br />

ich den Vertrag aber noch nicht selbst unterschreiben durfte,<br />

nahm ich diesen mit nach Hause und erklärte Herrn Glagow,<br />

dass ihn meine Mutter unterschreiben würde. Ich hatte Talent<br />

und sicherlich auch etwas kriminelle Energie. Denn die Urkundenfälschung<br />

kam nie heraus. Aber der Grund, weshalb alles so<br />

reibungslos klappte und niemals aufflog, lag zum einen daran,<br />

dass mein Rad bei Heiner untergestellt blieb, und daran, dass<br />

ich die Raten für das Rad immer pünktlich bezahlte. Den Tag<br />

53


der Ratenzahlung nutzte ich gleichzeitig als Trainingseinheit,<br />

denn es war immerhin eine Tour von 60 Kilometern.<br />

Der Krieg interessierte uns nicht wesentlich, nur dass Kartensystem,<br />

das eingeführt wurde. Wir trainierten fleißig und<br />

nahmen an jedem Renn teil. Egal, ob auf der Bahn oder auf der<br />

Straße. Wir fuhren für die HJ-Renngruppe und feierten viele<br />

Erfolge. So war es selbstverständlich, dass Heiner und ich in<br />

die Gau Kurmark-Auswahl berufen wurden. Gau Kurmark<br />

war die damalige Bezeichnung für das Land Brandenburg.<br />

Wir waren zwanzig Fahrer aus den Städten Potsdam, Brandenburg,<br />

Rathenow, Fürstenwalde und Cottbus. Die Partei<br />

setzte einen Sportleiter ein, der die Organisation leitete.<br />

Sein Name ist mir nicht in Erinnerung geblieben. Wohl aber,<br />

dass er ein korpulenter, behäbiger, aber netter Kerl war, der<br />

über manche Dummheit, die wir verzapften, hinweg sah.<br />

Trotz des Krieges wurden im August 1940 in Erfurt die<br />

Sommerspiele der Jugend und Studenten aus allen Gauen<br />

durchgeführt. In Vorbereitung dieser Festspiele wurden<br />

Ausscheidungsrennen gegen die Jugendlichen der anderen<br />

Städte der Gau Kurmark gefahren. Heiner und ich schafften<br />

die Qualifikation und wurden delegiert.<br />

Die anderen Fahrer kamen aus Potsdam, Rathenow, Fürstenberg<br />

und einer aus Nennhausen. Hoch motiviert und voller<br />

Zuversicht fuhren wir nach Erfurt. Aber es wurde ein Desaster<br />

für uns Kurmärker. Keiner unserer Sportler schaffte es in<br />

irgend einer Disziplin, weder auf der Bahn noch auf der Straße,<br />

zu einem Platz unter die ersten Fünf. Wir hatten uns blamiert<br />

und fuhren deprimiert, aber trotzdem voller Eindrücke nach<br />

Hause.<br />

54


Vorbereitung auf den Fronteinsatz (1941)<br />

Musterung<br />

Das Leben ging weiter seinen gewohnten Gang. Arbeiten<br />

und trainieren, trainieren und arbeiten. Das Jahr 1940 ging<br />

zu Ende, und Deutschland hatte seine „Feinde“ Dänemark,<br />

Belgien, Norwegen und Holland erobert. Das Jahr 1941 kam,<br />

und durch die Siege herrschte bei den meisten Menschen eine<br />

Stimmung der Euphorie. Es wurden Jubelfeiern durchgeführt,<br />

und eine Sondermeldung jagte die nächste.<br />

Für mich und Heiner aber kam der Hammer. Wir mussten<br />

zur Musterung. Gesundheitlich wurden wir als „sehr gut“<br />

eingestuft und für die Waffengattung der Panzergrenadier als<br />

tauglich befunden. Am Ende des Saales saßen drei Offiziere<br />

vom Heer, Luftwaffe und Marine. Der vom Heer stempelte<br />

unsere Papiere ab, und damit war besiegelt, dass wir zu den<br />

Panzergrenadieren kommen würden. Heiner ging sofort nach<br />

Hause. Ich blieb etwas dort und sah und hörte mich noch etwas<br />

um. So stellte ich fest, dass die Offiziere der Luftwaffe und der<br />

Marine Freiwillige anwarben. Die Vorstellung, zur Marine zu<br />

gehen, reizte mich, und so stellte ich mich in dieser Reihe an.<br />

Es waren noch zwei Mann vor mir. In dieser Zeit des Wartens<br />

ging mir vieles durch den Kopf. Ich dachte an die Enge<br />

unserer Wohnung, an den Dunst der Küche, in der ich doch<br />

immer schlief, an die vielen Streitereien und den ewigen Zank<br />

zwischen meiner Mutter und Bergemann.<br />

Für mich stand fest. Ich wollte raus aus diesem Milieu. Als ich<br />

an der Reihe war, stand mein Entschluss fest. Ich wollte weg<br />

von Zuhause!! So wurde ich als Freiwilliger registriert, und<br />

in den kommenden Wochen und Monaten wartete ich voller<br />

Ungeduld auf den Bescheid aus Potsdam.<br />

55


Ein Anzug<br />

Die Heimlichkeit mit dem Verdienst im Akkord beendete ich<br />

mit einer Mitteilung an meine Mutter, denn es war erklärungsbedürftig,<br />

wohin mein altes Rad abhanden gekommen war<br />

und woher ich meine Bekleidung hatte. Meine Oma und Tante<br />

Hilde gaben mir einige Punkte von ihrer Bekleidungskarte<br />

ab, so dass ich mir einige Sachen kaufen konnte. Alles war ja<br />

seit dem Kriegsbeginn rationiert worden. Im Prinzip hatte ich<br />

nicht viel. Ein Tagesanzug, Sakko und Hosen. Dennoch war<br />

es im Kleiderschrank eng, und meine Sachen hingen immer<br />

an der Seite, außerhalb des Schrankes auf einem Bügel.<br />

Heiner und ich gingen gerne ins Theater in der Blumenstraße. So<br />

stand für mich fest, dass ich unbedingt einen Anzug brauchte.<br />

Also kaufte ich mir von den geschenkten Punkten einen Anzug,<br />

denn mit dem Tagesanzug konnte ich nicht in ein Theater<br />

gehen. Dieser Anzug und zwei Oberhemden plus ein Schlips<br />

verblieben bei Heiner, wo ich mich immer zum Besuch ins<br />

Theater umzog. Mutter Lotsch wusch meine Hemden mit. Ich<br />

war ja wie zu Hause in dieser Familie.<br />

Harzrundfahrt<br />

Für mich waren es schöne Tage und Wochen 1941, denn es<br />

wurden viele Radrennen gefahren. Mal mit Erfolg und mal mit<br />

Niederlagen. Zu Pfingsten nahmen wir an der Harzrundfahrt<br />

teil, die ich noch heute in Erinnerung habe.<br />

Pfingstsonntag sollte das Rennen stattfinden. Wir fuhren<br />

Sonnabend nach Feierabend gleich los, denn die 80 Kilometer<br />

bis Magdeburg mussten wir bis zur Anmeldung um 16:00 Uhr<br />

schaffen. Als wir in Magdeburg an der Anmeldestelle ankamen,<br />

wurden wir jedoch enttäuscht. Man hatte das Rennen auf den<br />

Montag verschoben. Also wieder zurück nach Hause.<br />

56


Am Sonntag fuhren wir wieder nach Magdeburg und meldeten<br />

uns an. Aber wo sollten wir übernachten? Das blieb uns selbst<br />

überlassen. Also fuhren wir acht Kilometer zurück in das Dorf<br />

Biederitz und haben bei den Bauern an den Türen geklopft.<br />

Wir hatten Glück, denn gleich der zweite war ein Sportfan.<br />

Wir wurden gut verköstigt und konnten auf dem Heuboden<br />

übernachten. Im Heu zu schlafen war wunderbar, aber den<br />

Geruch der Schlafdecken nach Pferdeschweiß habe ich noch<br />

heute in der Nase.<br />

Als Entschädigung erwarteten uns ein gutes Frühstück und<br />

viel Glück. Der Tag war sehr heiß, und die 80 Kilometer<br />

Rundstrecke für uns Jugendliche sehr anstrengend. In der<br />

Nähe von Egeln stürzte ich, und durch den weichen Asphalt<br />

hatte ich am linken Arm und am Oberschenkel eingebrannte<br />

Teerflecken und Hautabschürfungen. Ich belegte den 8. Platz,<br />

und der Preis war ein Satz Pedalen. Dafür hatte ich mich drei<br />

Tage lang 400 Kilometer abgestrampelt. Aber es war ein<br />

Erlebnis, dass mir immer in Erinnerung blieb.<br />

Unfall und Gesellenprüfung<br />

Ich hatte Inge längere Zeit nicht gesehen, und wollte ihr doch<br />

mein neues Rad zeigen. Deshalb fuhr ich nach dem Training<br />

des Öfteren durch die Kleiststraße, in der sie wohnte. Sie bei<br />

ihren Eltern zu besuchen fehlte mir der Mut. Ihr Vater hatte<br />

sehr seltsame Ansichten zu Freundschaften zwischen Mädchen<br />

und Jungen. Er befürchtete immer etwas Schlechtes. Aber eines<br />

Tages bei der Tour sah ich Mutter Arnswald und Inge aus<br />

dem Fenster schauen. Es wurden einige nichts sagende Worte<br />

ausgetauscht. Auf Wiedersehen, und das war es. Die Monate<br />

zogen sich dahin. Auf der Arbeit hatte ich einen Unfall. Beim<br />

Abgießen der Form hatte ich die Belastung des Formerkastens<br />

nicht richtig bedacht. Beim Gießen hob sich der obere Deckel,<br />

und das heiße Silicium spritzte mir an den linken Unterschenkel.<br />

57


Ich konnte mir eine Krankschreibung nicht erlauben, da ich<br />

in dieser Zeit meine Gesellenprüfung machen musste. Meine<br />

Prüfungen waren gut gelaufen, aber meine Wunde war stark<br />

vereitert. Als ich dann zum Arzt ging, erhielt ich eine mächtige<br />

Standpauke.<br />

Sportliche Erfolge<br />

Der Russlandfeldzug hatte begonnen, aber das Leben ging<br />

immer noch seinen gewohnten Gang. Im August wurden trotz<br />

des Krieges wieder „Sommerspiele der Jugend und Studenten“<br />

durchgeführt, diesmal in Breslau. Die Bombenangriffe der<br />

Engländer und Amerikaner führten schon bis Berlin. Deshalb<br />

war Breslau der sicherere Ort. Die Ausscheidungsrennen<br />

hatten wir wieder bestanden und waren somit delegiert. Und<br />

diesmal lief es für uns etwas besser. Beim 80-Kilometer-<br />

Straßenrennen belegten wir im 6er-Mannschaftsfahren den<br />

dritten Platz. Heiner holte auf der Bahn beim Verfolgungsrennen<br />

sogar den zweiten Platz. Es war noch mal eine Woche lang, ein<br />

tolles Erlebnis. Tage der Freundschaft und des Vergessens, dass<br />

Krieg war.<br />

Als wir zurückfuhren, sahen wir nur noch Militärtransporte.<br />

Und als ich zu Hause ankam, erlebte ich die freudige Überraschung,<br />

dass mein Dienst in der Marine am 1. September<br />

in Brake an der Weser beginnt. Hinter mir lagen die Tage der<br />

ärztlichen Untersuchungen und Prüfungen, und die Vorbereitungen<br />

zur Abreise wurden getroffen.<br />

Einberufen<br />

Am Abend der Abreise, es ging um 23.00 Uhr los, verabschiedete<br />

ich mich bei Oma, Tante und Heiners Familie. Mit<br />

großer Erwartung und Freude, aber ohne Schamgefühl, so<br />

58


still und ohne Abschiedsworte zu meiner Mutter und Bergemann,<br />

fuhr ich meinem neuen Lebensweg entgegen.<br />

Brake an der Weser war ein idyllisches Fischerdorf mit einem<br />

großen Kasernenkomplex. Hier hatte die “2. Schiffsstammabteilung<br />

Nordsee“ ihre Zentrale. Hier wurden wir acht Wochen<br />

als Rekruten geschliffen. Uns<br />

wurden die Grundbegriffe des<br />

Militärs beigebracht. Aber<br />

was sind schon acht Wochen<br />

Ausbildung? Die Zeit war hart,<br />

aber zu ertragen. Ich lernte viele<br />

Kameraden aus allen Landesteilen<br />

kennen. Vor allem aber<br />

lernte ich Kameradschaft,<br />

Ordnung und Disziplin.<br />

Anfang November ging es<br />

bei Nacht und Nebel nach<br />

Wilhelmshaven in die Jachtmann-Kaserne.<br />

Dort wurden<br />

wir noch einmal ärztlich untersucht<br />

und auf Seetauglichkeit<br />

überprüft. Voller Spannung<br />

erwartete ich das Ergebnis,<br />

denn jeder hatte ja den Wunsch, zu einer fahrenden Einheit<br />

zu kommen. Egal ob Kreuzer, Zerstörer oder U-Boot.<br />

Abschied von der Familie<br />

Als Rekrut in Brake<br />

Das Urteil! U-Boot- und tropentauglich. Ich muss ehrlich sagen,<br />

zur U-Bootgattung zu gehen, hatte ich kein großes Verlangen.<br />

Tagelang im Mief ausharren und nur ab und zu<br />

an Deck um frische Luft zu schnappen, und nur Wasser<br />

sehen. Aber zunächst einmal ging es, für vier Wochen, von<br />

59


Wilhelmshaven nach Wesermünde ins Durchgangslager. Von<br />

dort aus schrieb ich an meine Oma einen Brief, um ihr mitzuteilen,<br />

dass ich Kürze zum Einsatz kommen würde.<br />

Eines Tages wurde ich zur Wache gerufen. Und wer stand da?<br />

Zornesrot im Gesicht Oma, verdattert mein Opa und meine kleine<br />

Cousine Eva. Meine Oma wollte mich unbedingt noch einmal<br />

sehen, bevor ich ins Feld ziehen würde. An der Wache hatte<br />

man ihr gesagt, dass kein Soldat Ausgang bekommt. Daraufhin<br />

haute sie mit dem Regenschirm auf den Tisch des Wachhabenden<br />

und machte ganz schön Rabatz. Sie sei schließlich<br />

den weiten Weg von Brandenburg nach Wesermünde nicht<br />

aus Vergnügen gefahren. Nach dieser Vorstellung bekam ich<br />

Ausgang. Sogar bis zum Wecken.<br />

Ich wurde in das größte Restaurant der Stadt „Reichskanzler“<br />

geführt, und wir speisten großzügig. Oma hatte dafür ihre<br />

letzten Lebensmittelkarten geopfert.<br />

Ich war eben ihr „Großer“, an dem sie besonders hing. Unter<br />

Tränen nahmen wir Abschied auf dem Bahnhof. Nur Opa sagte<br />

kein Wort zu mir. Er war wie immer schweigsam.<br />

Letzter Schliff<br />

Einige Tage später kam der Marschbefehl. Bei Nacht und Nebel<br />

ging es los. Keiner von uns wusste, wohin die Reise gehen<br />

sollte.<br />

Am nächsten Morgen, noch in der Dunkelheit, kamen wir in<br />

Kiel an und gingen an Bord des Linienschiffes „Schlesien“.<br />

Für direkte Kampfeinsätze war sie ausgemustert worden und<br />

diente als Schulschiff für Kadetten und junge Matrosen für<br />

Großkampfschiffe. Das war der letzte Ausbildungslehrgang,<br />

und wir operierten nur in der Ostsee bis Finnland. An Bord<br />

waren außer der Besatzung 120 Kadetten und 120 Jungmatrosen.<br />

Wir hatten alle die gleiche Ausbildung. Der Unterschied<br />

bestand darin, dass die Kadetten nach neun Monaten<br />

60


Ausbildung Offiziere wurden und wir nach bereits sieben<br />

Monaten Gefreite.<br />

Die Ausbildung dauerte auf dem Schiff sechs Monate. Es war<br />

schwer, auf engstem Raum kameradschaftlich zusammen zu<br />

leben. Schließlich kamen wir aus allen Teilen Deutschlands.<br />

Aber es wurden uns Ordnung, Sauberkeit, Disziplin und<br />

Kameradschaft beigebracht. Diese Schule prägte mein zukünftiges<br />

Leben. Nachhaltig beeindruckt hat mich die Kameradschaft<br />

zwischen der Mannschaft und den Offizieren.<br />

Da die Ausbildung sehr hart war, kamen mir hin und wieder<br />

Zweifel, ob es richtig gewesen war, sich freiwillig zu melden.<br />

Es gab Augenblicke, da lag ich in meiner Hängematte und<br />

heulte Blasen.<br />

Es war schrecklich, bei - 40 °C Wache an den Geschützen zu<br />

stehen. Trotz Schafpelzmütze und Filzstiefel, fror ich erbärmlich.<br />

Schöne und interessante Momente waren für mich,<br />

wenn ich am Ruder oder am Maschinentelegraphen stehen<br />

durfte. Dann hatte ich das erhebende Gefühl, die Führung des<br />

Schiffes läge in meiner Hand.<br />

Die „Schlesien“ diente auch als Eisbrecher. Mitunter mussten<br />

für die Versorgungsschiffe bis zu einem Meter starke Eisdecken<br />

aufgebrochen werden, um die Fahrrinne zu öffnen. In<br />

den sechs Monaten Ausbildung kamen wir insgesamt nur<br />

zwei Mal an Land. Einmal in Stettin und einmal in Gotenhafen.<br />

Da immer nur eine Seite des Schiffes, also Back- oder<br />

Steuerbord, an Land gehen durften, kam es immer zu kleineren<br />

Schikanen. Die Verlierer mussten dann folgenden Spruch über<br />

sich ergehen lassen: „Was wollt ihr denn an Land gehen, das<br />

Land könnt ihr von Bord aus sehen.“<br />

61


Feindberührungen hatten wir nur zwei Mal, jeweils im finnischen<br />

Meerbusen, als wir für zwei Transportschiffe durch das Eis<br />

eine Fahrrinne brechen mussten.<br />

Der Nachschub zur Ostfront über See war sehr schwierig. Die<br />

Angriffe der russischen Rata-Kampfflugzeuge waren für uns<br />

hingegen wenig aufregend.<br />

Im April, wir ankerten im Hafen von Stettin, erhielt ich Post<br />

von zu Hause. Mein Freund Heiner war in Russland, in der<br />

Nähe von Orel gefallen. Ich war schockiert. Mein bester<br />

Freund war tod. Ich brauchte lange, um diese Nachricht zu<br />

verarbeiten. Heiner war nur einen Monat nach mir zu den<br />

Panzergrenadieren eingezogen worden und kam nach der<br />

Rekrutenausbildung gleich an die Front.<br />

Jetzt war von den sechs Kindern in seiner Familie schon der<br />

zweite Sohn gefallen. Heiners ältester Bruder war in Frankreich<br />

geblieben.<br />

62


Im Krieg in Mittelmeer und Adria (1941 – 1943)<br />

Richtung Front<br />

Ende Mai war die Ausbildung zu Ende und es ging wieder<br />

zurück nach Wilhelmshafen. Von nun an ging es zügig voran.<br />

Ärztliche Untersuchung,<br />

Einkleidung mit der Tropenuniform.<br />

Meine Sorge, zur<br />

U-Bootflotte zu kommen,<br />

war unbegründet. Mittlerweile<br />

war ich sehr froh darüber,<br />

denn es hatte sich<br />

herumgesprochen, dass die<br />

U-Boote durch die Radarsysteme<br />

der Alliierten kaum<br />

eine Chance hatten und<br />

große Verluste hinnehmen<br />

mussten.<br />

Vielleicht fragt sich an dieser<br />

Stelle der Leser, weshalb ich<br />

mich freiwillig gemeldet<br />

In Tropenuniform<br />

habe, wenn ich doch nicht<br />

bereit war, für Volk und<br />

Führer zu sterben? Mein Hauptgrund war, dass ich meinem<br />

häuslichen Milieu entfliehen wollte. Ich wollte einfach weg<br />

von Zuhause, und die Armee kam mir gelegen. Natürlich<br />

war ich als junger Mensch auch Idealist. Ich wollte patriotisch<br />

meinem Land dienen. Aber sterben wollte ich auf keinen Fall.<br />

Außerdem wäre ich, wie mein Freund Heiner, einen Monat<br />

nach meiner Freiwilligkeit sowieso gezogen worden. Diesem<br />

Krieg hätte ich mich nicht entziehen können.<br />

63


Endlich ging es los. Wir fuhren in Richtung Süden, aber wegen<br />

der Geheimhaltung wussten wir zunächst nicht, wohin genau.<br />

Der erste Halt war in München, und wir wurden in einer<br />

Kaserne der Gebirgsjäger einquartiert. Wir pausierten hier<br />

zwei Tage. Es wurde lediglich ein Propagandamarsch durch<br />

München durchgeführt, dann hatten wir freien Ausgang. Es<br />

war Kirmeszeit, und ganz ohne Fliegeralarm konnten wir uns<br />

amüsieren. Das Amüsieren wurde uns auch leicht gemacht,<br />

denn als Marinesoldaten hatten wir viele Sympathisanten, die<br />

uns auch viel spendierten.<br />

Die Fahrt ging weiter über die Alpen. Wir passierten den<br />

Brenner, dann Bologna, Florenz und Rom, weiter ging es bis<br />

Neapel. Hier war unser Flottenstützpunkt.<br />

Ich war glücklich, denn ein Traum ging in Erfüllung. Ich<br />

konnte andere Länder und ihre Menschen kennen lernen.<br />

Schon die Zugfahrt empfand ich als ein großes Abenteuer. Die<br />

rasend schnelle Fahrt durch die Dolomiten beeindruckte mich<br />

sehr. Auf der einen Seite des Zuges hohe Felswände und auf<br />

der anderen Seite tiefe und steile Abhänge. Dann ging es ins<br />

Flachland, in die Po-Ebene. Dieses Land wurde in der Zeit des<br />

Faschismus von Sumpfland in Ackerland kultiviert. Während<br />

meiner Einsatzzeit in Italien fuhr ich später diese Strecke noch<br />

zweimal, und es war immer ein großes Erlebnis.<br />

Erster Einsatz<br />

In Neapel wurden wir in das Hotel “Albergo Universo“ einquartiert.<br />

Es lag ganz in der Nähe des Hafens. Aber die Freude,<br />

in einem Hotel wohnen zu dürfen und das Leben in vollen<br />

Zügen genießen zu können, war nur von kurzer Dauer. Im<br />

Hafen gab es ein riesiges Terminalgebäude mit einer großen<br />

Halle. Seitlich des Gebäudes befanden sich die Diensträume<br />

der Marine. Wir waren der II. Bordflak-Süd unterstellt, die<br />

64


selbst keine Kriegsschiffe hatte, aber Transportschiffe, die für<br />

Rommel Nachschub nach Afrika brachten. Auf diese Transportschiffe<br />

wurden wir als Flakschutz kommandiert. Da wir auf<br />

dem Schulschiff an allen Flak-Waffen jeden Kalibers ausgebildet<br />

worden waren, waren wir praktisch spezialisiert für diese<br />

Aufgabe.<br />

Unsere Enttäuschung war verständlich, zumal wir angenommen<br />

hatten, nach der Ausbildung auf Schlachtschiffe, Kreuzer<br />

oder Zerstörer zu kommen. Aber dem war nicht so. Es war<br />

Anfang Juli 1942 und mein erstes Kommando auf einer Siebelfähre,<br />

die im Hafen von Toronto lag. Mein Gott, waren wir<br />

12 Matrosen enttäuscht. Mit diesem Schlickenrutscher sollten<br />

wir den Feind besiegen? Diese Fähre bestand aus zwei großen<br />

Pontons, quer rüber mit Stahlträger verbunden und mit dicken<br />

Bohlen belegt. Achtern je zwei Ponton, ein großer BMW Motor,<br />

bestückt mit 2-cm-Flakgeschützen und 2 MG’s.<br />

Als Transportgut waren 10 Fässer mit je 200 l Treibstoff für<br />

Panzer geladen worden. Rommel hatte Ende Juni Tobruk erobert<br />

und brauchte dringend Nachschub, denn das Afrika-Korps<br />

war schon bis kurz vor El Alamein vorgedrungen.<br />

Ich muss ehrlich eingestehen, dass ich mir den Krieg so nicht<br />

vorgestellt hatte. Es war herrliches Wetter bei blankem Sonnenschein,<br />

und die See lag spiegelglatt. Wir machten manchmal<br />

sogar Halt, um zu schwimmen. Nur die Nächte waren kühl.<br />

Als wir nach zwei Tagen in Tobruk ankamen, wurden wir mit<br />

großem Hallo, aber auch mit ungläubigen Gesichtern begrüßt.<br />

Ein Offizier des Afrika-Korps dankte uns für die „heldenhafte<br />

Fahrt.“ Er sagte, dass es ihm unverständlich sei, warum uns<br />

unser Marinekorps ohne jeglichen Schutz los geschickt hatte.<br />

Mit einem leeren Frachter ging es dann am nächsten Tag zurück<br />

zu unserem Stützpunkt. Dort bekamen wir einige freie Tage,<br />

65


und dann ging er los, der Krieg. Im Hafen von Neapel wurde<br />

ein Konvoi zusammengestellt. Zwölf Frachtschiffe erhielten<br />

Begleitschutz von sechs italienischen Zerstörern. Es waren alles<br />

Schiffe aus verschiedenen Ländern des Mittelmeerraumes.<br />

Sie alle waren erobert worden.<br />

Feuertaufe und „Badefahrt“<br />

Ich wurde der „Trentino“ zugeteilt, einem italienischen Schiff,<br />

dass mit sechs Flakständen bestückt war. Während dieses<br />

Geleitzuges erhielt ich meine erste wirkliche Feuerprobe.<br />

Wir wurden durch sechs Torpedoflugzeuge angegriffen. Von<br />

sämtlichen Schiffen dieses Konvois wurde mit allen Flaks auf<br />

die Flieger geschossen. Sie hatten keine wirkliche Chance.<br />

Vier wurden abgeschossen bevor sie ihre Torpedos abwerfen<br />

konnten. Zwei jedoch warfen ihre Torpedos ab und es traf ein<br />

Schiff des Konvois. Es versank. Bis zum Zielhafen in Tripolis<br />

erlebte ich mehrere Angriffe dieser Art. Wir verloren insgesamt<br />

fünf Frachter.<br />

Auf diese Fahrt erlebte ich den wahren Krieg und meine Feuertaufe.<br />

Ich sah die ersten Verwundeten und Toten. Ich spürte<br />

Angst wie noch nie in meinem Leben zuvor. Aber die war,<br />

solange die Waffe keine Ladungshemmung hatte, nicht gleich<br />

da. Sie kam mit der Machtlosigkeit, sich nicht wehren zu können.<br />

Diese Ängste verloren sich aber schon in kurzer Zeit bei den<br />

nächsten Fahrten. Mit jeder Fahrt und den immer wiederkehrenden<br />

Angriffen wurde ich erfahrener - und gleichgültiger.<br />

Ich konnte meinem Schicksal nicht entrinnen, denn ich war<br />

den Befehlen untergeordnet.<br />

In Tobruk wurden die Ladungen schnell gelöscht, und es<br />

ging zurück nach Taranto, wo wir zwei Seefrachter und zwei<br />

italienische Zerstörer als Bewacher begleiteten. Auf der<br />

„Trentino“, während meiner zweiten Fahrt auf ihr, erlebte ich<br />

66


meine erste „Badefahrt“. Rommel hatte El Alamain, kurz vor<br />

Alexandrien, erreicht, und es war dringend notwendig, den<br />

Nachschub so schnell wie möglich nach Afrika zu bringen.<br />

Wieder ging es mit einem Konvoi südwärts nach Tobruk.<br />

Neun Frachter und zwei Zerstörer gingen in voller Fahrt an<br />

der Westküste Siziliens vorbei und machten einen großen Bogen<br />

um Malta, da vermutet wurde, dass die Engländer Malta wieder<br />

belegt hatten.<br />

Es war ein heißer Augustnachmittag, als sich von Osten her<br />

zwölf Torpedoflugzeuge vom Typ“ Beaufort“ auf unseren<br />

Konvois stürzten. Dieser Angriff war für uns überraschend,<br />

da wir Angriffe aus Malta, also aus Richtung Westen erwartet<br />

hatten. Es war ein kurzer Kampf. So schnell wie sie kamen,<br />

waren sie wieder weg. Wir hatten drei Frachter verloren, und<br />

ein Zerstörer war schwer beschädigt worden. Ich war auf einem<br />

der drei Frachter. Er wurde zwischen dem Vorderschiff und<br />

dem Maschinenraum durch ein Torpedo getroffen. Der vordere<br />

Flakstand war samt Mannschaft vollständig wegrasiert worden.<br />

Auch die Maschinisten sind alle umgekommen. Meine Flakmannschaft,<br />

kam mit einigen Blessuren lebend davon. Ich<br />

und meine Kameraden hatten viel Glück. Erstens schlug der<br />

Treffer im Bug ein und mein Flakstand war Achtern. Zweitens<br />

erhielten wir den sofortigen Befehl vom Flakleiter, von Bord zu<br />

springen, so dass wir genügend Zeit hatten, aus dem Sog des<br />

sinkenden Schiffes zu schwimmen. Wir wurden von einem<br />

andren Frachter aufgenommen und mussten wieder nach<br />

Tobruk zurück. Zwei Tage später wurden wir mit einer Ju52<br />

nach Kreta geflogen. Dort landeten wir auf dem Flughafen<br />

Iraklion. In Iraklion wurden drei Kameraden und ich auf ein<br />

Landungsboot kommandiert, das mit defekten Militärfahrzeugen<br />

nach Bari fahren sollte. An Deck wurde tatsächlich<br />

eine Vierlingsflak aufgebaut, die wir bedienen sollten. Diese<br />

67


Fahrt war eine Sonntagsfahrt. Es gab keine besonderen Vorkommnisse!!!<br />

Erster Heimaturlaub<br />

Von Bari aus ging es nach Neapel zum Stützpunkt. Hier wurde<br />

ich neu eingekleidet und bekam zwei Wochen Urlaub, was<br />

nach einer „Versenkung“ Usus war. Nach Empfang des<br />

Urlaubsscheines und des Soldes, ging es ans Einkaufen. Damenstrümpfe,<br />

Seidenschals, Tabakwaren und vor allem Bohnenkaffee<br />

für Oma. Bohnenkaffee war ihre Leidenschaft, und mit<br />

ihm konnte man bei ihr alles erreichen.<br />

Die Eisenbahnfahrt von Neapel nach Berlin habe ich sehr<br />

genossen. Ich machte einen Abstecher nach Breslau, denn ich<br />

hatte genügend Zeit, um für einen Kameraden, dessen Eltern<br />

eine Bäckerei in Lohbrück bei Breslau hatten, einige Geschenke<br />

abzugeben.<br />

Seine Eltern, das Ehepaar Nitschke, waren nette, freundliche<br />

Leute, deren Freude riesig war, und sie bedrängten mich,<br />

noch drei Tage zu bleiben, was ich gern tat. Denn so konnte<br />

ich wieder einmal Breslau besichtigen, wo ich 1941 die Sommerspiele<br />

der Jugend als Radfahrer erlebt hatte.<br />

Nitschkes bemutterten mich wie einen Sohn, und ich erlebte<br />

wiederum, wie bei den Försterleuten in Schlesien, ein geordnetes,<br />

sauberes und führsorgliches Familienleben. Mit gemischten<br />

Gefühlen nahm ich Abschied von meinen Gasteltern.<br />

Es war ein rührender Moment, mit Tränen, Umarmungen<br />

und sogar einem Küsschen von Mutter Nitschke. Wo hatte ich<br />

so etwas zu Hause schon einmal erlebt? Höchstens bei Oma<br />

natürlich.<br />

Nach meiner Ankunft in Brandenburg ging ich erst nach Hause,<br />

denn unsere Wohnung war in der Nähe des Bahnhofes. Ich<br />

68


überbrachte nur die Geschenke für meine Mutter und Geschwister<br />

und verschwand nach kurzer Zeit wieder.<br />

Mein Zuhause während des Urlaubs war bei meiner Oma. Sie<br />

wohnte in der Büttelstraße 8 und hatte eine geräumige Drei-<br />

Zimmer-Wohnung. Als ich in die Nähe der Wohnung kam,<br />

sah ich am Fenster schon meinen Opa mit einem Sofakissen<br />

unter den Armen und wie immer an seiner Pfeife saugend.<br />

Meine Oma war ganz aus dem Häuschen, denn ich hatte mich<br />

nicht angemeldet.<br />

Ihre ersten Worte waren: “Großer, hast du Bohnenkaffee mitgebracht?“,<br />

erst dann schloss sie mich herzlich in die Arme.<br />

Obwohl sie Rentnerin war, arbeitete sie immer noch als Toilettenfrau<br />

im Kaffeehaus „Cafe Oske“ am Neustädtischen Markt.<br />

Den Bohnekaffee versteckte meine Oma in einer Gasmasken-<br />

Büchse, die ich ihr gegeben hatte. Aus Dankbarkeit für den<br />

Kaffee hatte ich immer Taschengeld in meinem Kolanie<br />

(Marinejacke).<br />

Aber der Urlaub war<br />

nicht nur unbeschwert.<br />

Ich hatte einen schweren<br />

Gang vor mir, den<br />

Beileidsbesuch bei den<br />

Eltern meines besten<br />

Freundes Heiner. Ich<br />

hatte das Gefühl, ihm<br />

das schuldig zu sein.<br />

Aufgeregt und mit<br />

klopfendem Herzen<br />

stand ich vor der Tür.<br />

Mein Jugendfreund Heiner Lotsch (re.)<br />

in Frankfurt (Oder)<br />

Am liebsten hätte ich wieder kehrt gemacht. Sie waren für<br />

mich wie Pflegeeltern gewesen, denen ich viel zu verdanken<br />

hatte. Zu meiner Überraschung wurde ich freundlich, wenn<br />

auch zurückhaltend empfangen. Mutter Lotsch umarmte<br />

69


mich sogar. Nach dem Abspulen der Beileidsworte übergab<br />

ich Muter Lotsch Parfüm und Seife als ihre Geschenke. Für<br />

Vater Lotsch hatte ich Tabak mitgebracht. Es war dennoch ein<br />

bedrückender Besuch für mich, denn ich hatte das Gefühl,<br />

dass Muter Lotsch mich ständig mit Blicken ansah, die ich<br />

nicht deuten konnte. Mir war elend zumute, und ihre Blicke<br />

gingen mir lange Zeit nicht aus dem Kopf.<br />

Die folgenden Tage waren ausgefüllt mit der Suche nach Unterhaltung<br />

und mit Treffen mit Kameraden und Bekannten. Einen<br />

Marinekameraden zu treffen war schwierig, denn ich hatte auf<br />

dem Wehrmachtsamt gehört,<br />

dass außer mir nur noch einer<br />

in Brandenburg auf Urlaub<br />

war. Ich war etwas enttäuscht,<br />

denn so konnte ich<br />

nicht mit mehreren Marinekameraden<br />

die Sau rauslassen.<br />

Mit einer Marineuniform<br />

in einer Garnisonsstadt wie<br />

Brandenburg, die voll von<br />

Grauröcken war, waren wir<br />

als Marinesoldaten schon<br />

etwas Besonderes. Und die<br />

Aufmerksamkeit, die ich mit<br />

meiner Uniform bekam,<br />

machte mich stolz und auch<br />

ein wenig eingebildet.<br />

Im Fronturlaub<br />

So trödelten die Urlaubstage<br />

dahin, bis ich eine Freundin<br />

von Inge Arnswald traf. Wir gingen, wie es in der damaligen<br />

Zeit üblich war, ins Kino und hielten Händchen. Mehr war da<br />

nicht, denn sie war nicht mein Typ. Während eines Treffens,<br />

erzählte sie mir, das Inge ihr Pflichtjahr in Trechwitz ableisten<br />

70


würde. Ich beschloss, Inges Mutter zu besuchen. Ihr Vater war<br />

an der Front, ansonsten hätte mir wohl der Mut zu dem Besuch<br />

gefehlt. Frau Arnswald erzählte mir, dass Inge bei einem<br />

Bauern in Trechwitz sei und ich sie doch mal besuchen solle,<br />

denn sie würde sich sehr darüber freuen. Mein eigenes Rennrad<br />

hatte ich gut verpackt und ich wollte es nicht auspacken.<br />

So teilte ich Frau Arnswald mein Bedauern darüber mit, dass<br />

ich kein Rad hätte, worauf sie mir prompt ihr Fahrrad anbot.<br />

Also sprang ich aufs Rad<br />

und fuhr zu Inge. Als ich<br />

bei ihr ankam, war sie total<br />

überrascht. Die Bäuerin, Frau<br />

Brüggemann, war eine nette<br />

und freundliche Frau. Als<br />

sie mich sah, sagte sie zu<br />

Inge: “Na, du hast mir ja<br />

noch gar nichts von deinem<br />

Freund erzählt.“ Inge machte<br />

das verlegen, und ich war<br />

verdattert. Ich wurde zum<br />

Abendbrot eingeladen, und<br />

wir tauschten Erinnerungen.<br />

Dabei klärten wir Frau Brüggemann<br />

freundlich über Inge<br />

und unser Kennenlernen und<br />

Verhältnis zueinander auf. Da<br />

Inge Arnswald mit Dieter Brüggemann<br />

es schon Dunkel war, als ich<br />

aufbrechen wollte, lud mich<br />

Frau Brüggemann ein, zu übernachten. Inges Kammer war<br />

ohnehin leer, denn sie schlief bei der Bäuerin im Schlafzimmer,<br />

wenn deren Ehemann nicht da war. Diese Begegnung mit<br />

Inge war im August 1942. Inge war 16 Jahre und ich 19 Jahre<br />

alt, und unsere Begegnung verlief freundschaftlich.<br />

71


Auch meine ehemaligen Kollegen in der Formerei stattete ich<br />

einen Besuch ab. Von ihnen gab es viel Trara und Schulterklopfen,<br />

weil ich mich freiwillig zum Kampf für „Führer und<br />

Vaterland“ gemeldet hatte. (Als ich 1947 aus der Gefangenschaft<br />

kam und wieder in der Formerei anfing, wurde ich von<br />

einigen wenigen mit den Worten empfangen: “Da kommt ja<br />

der Kriegsverlängerer“.)<br />

Rückkehr in den Krieg<br />

Es war insgesamt kein weltbewegender Urlaub, und ich war<br />

auch zufrieden, als ich wieder bei meiner Einheit in Neapel eintraf.<br />

Der Stützpunkt war in der Nähe des „Castell de Mare“.<br />

Als ich mich dort meldete, wurde ich mit schlechten Nachrichten<br />

empfangen. Es waren wieder Schiffe versenkt worden, und<br />

wir hatten hohe Verluste hinnehmen müssen.<br />

Einige Tage später erhielt ich den Marschbefehl nach Brindisi an<br />

der Ostküste. Ich kam auf die „Roselli“, einem italienischen<br />

Frachter, und wurde wieder an das Geschütz Achtern befohlen.<br />

Die Zusammenstellung des Konvois war wieder die gleiche.<br />

Einige Zerstörer bewachten den Konvoi. Jedes Schiff, das sein<br />

Ziel erreichte, war ein Gewinn für das Afrika Korps. Uns wunderte<br />

sehr, dass die Angriffe durch englische Torpedoflugzeuge gering<br />

waren.<br />

Schicksalsfahrt vor Malta<br />

Wir bekamen die Meldung, dass Malta täglich durch unsere<br />

Luftwaffe mit Bomben belegt worden war und die Engländer<br />

dadurch ihren Stützpunkt auf Malta nicht mehr richtig nutzen<br />

konnten. Der Flugplatz war zerstört worden und zum großen<br />

Teil auch die Flugzeuge. Malta war, zwischen Sizilien und Afrika<br />

gelegen, wie ein Klotz am Bein, denn von dort erfolgten die<br />

72


meisten und verlustreichsten Angriffe der Briten. Die Ausschaltung<br />

Maltas verschaffte uns eine große Erholungspause.<br />

Bis Ende September fuhr ich drei Blockadefahrten. Die Dritte<br />

der Fahrten sollte meine Schicksalsfahrt mit glücklichem Ausgang<br />

werden.<br />

Wir sahen schon die Küste von Tobruk, als aus der grellen<br />

Sonne der überraschende Angriff kam. Wir hatten keine<br />

Chance. Alle Frachter fuhren Flächenförmig auseinander, um<br />

den Flugzeugen kein kompaktes Angriffsziel zu bieten. Malta<br />

war durch den zerstörten Flugplatz kein intakter Stützpunkt<br />

mehr für die Briten. Woher also kam der Angriff? Der Angriff<br />

der Briten kam aus Ägypten. Der Angriff war dank des Überraschungseffekts<br />

nur kurz. Mein Schiff erhielt einen Treffer<br />

mittschiffs, und wir sprangen alle über Bord. Die Matrosen<br />

kappten noch einige Rettungsflöße. Für das Abhieven der Rettungsboote,<br />

war die Schräglage des Schiffes schon zu groß. Die<br />

Kameraden der Flak mittschiffs waren sofort tot. Es gab noch<br />

einige Verwundete, aber insgesamt hätte für mich alles noch<br />

schlimmer ausgehen können. Der Materialverlust war enorm<br />

hoch. Die Hälfte des Konvois war versenkt bzw. beschädigt<br />

worden. Nach zwei Stunden im Wasser wurden wir von zwei<br />

Landungsbooten aus Tobruk ans Land gebracht. Wir waren<br />

ein jämmerlicher Haufen, ohne Schuhe und Jacken und zum<br />

Teil verwundet. Ich hatte zum Glück keine Verletzungen. Da<br />

in Tobruk ein Materialdepot des Afrika-Korps war, wurden<br />

wir mit einer Tropenuniform und anderen nötigen Sachen<br />

eingekleidet.<br />

Wir waren in der Annahme, dass wir sofort nach Italien zurückkehren<br />

würden. In dieser Annahme wurden wir enttäuscht.<br />

Es ging ab in die Wüste, in ein Zeltlager, das ca.<br />

5 Kilometer von Tobruk entfernt war. Hier sollten neue Einheiten<br />

zusammengestellt werden. Wir sollten als Marineflak<br />

mit Vierlingsflakgeschützen auf Landlafetten die Luftsicherung<br />

73


übernehmen. Durch die hohen Verluste beim Nachschub waren<br />

große Versorgungslücken entstanden. Aber für mich es ging<br />

wieder zurück nach Tobruk, weil keine Flakgeschütze zur<br />

Verfügung standen. Die Tage im Zeltlager, das Tropenklima,<br />

heiße Tage bis 34 Grad Hitze und kalte Nächte bis 6 Grad,<br />

bekamen mir gesundheitlich nicht. Ich bekam einen blutigen<br />

Durchfall. Diese Übel sollte für mich ein Glücksfall sein, der<br />

mir wohl das Leben gerettet hat. Aber dazu an späterer Stelle<br />

mehr.<br />

Mit einem Landungsboot wurden wir nach Italien gebracht.<br />

In der Nacht setzte ein großer Sturm ein, und Wasser drang<br />

durch die Landungsklappe am Bug. Auf den Laufgängen<br />

Back- und Steuerbord wurden Handpumpen angesetzt. Je<br />

zwei Mann an jeder Pumpe mussten diese eine Stunde lang<br />

bedienen, dann wurde abgelöst. Mir war auf dieser Fahrt<br />

kotzübel. Ich litt bei hohem Wellengang auf fast jedem Frachter<br />

an der Seekrankheit. Was ich mir an Essen einverleibt hatte,<br />

kotzte ich im hohen Bogen wieder aus. Ein Ratschlag eines<br />

älteren Matrosen half mir. Kotzen, Zwieback essen, kotzen,<br />

wieder Zwieback essen usw.. Nach einer gewissen Zeit führte<br />

diese Methode bei mir immer zum Erfolg, und es stellte sich<br />

Besserung ein. Zwieback oder Hartkekse gehörten also immer<br />

in meine Kolanitasche. Im Stützpunkt von Neapel gab es für<br />

meine Kumpel eine große Enttäuschung, als wir dort ankamen.<br />

Wir hatten auf Urlaub gehofft, aber man gewährte uns nur<br />

drei Tage Erholung in einem Hotel „Albergo Universo“, in der<br />

Nähe des Hafens. Da ich erst im August/September Urlaub gehabt<br />

hatte, war ich nicht so enttäuscht.<br />

Glück oder Intuition?<br />

Nach den drei Tagen erhielt ich meinen neuen Dienstauftrag.<br />

Es war ein französischer Frachter, der im Hafen von Bari lag.<br />

Wenn man an Bord eines neuen Frachters ging, kam es routine-<br />

74


mäßig zu einem gegenseitigen „beschnuppern“ untereinander.<br />

Ich fragte mich, wie die Mannschaft so sei. Waren alte Bekannte<br />

an Bord, welche Ladung gab es und wohin sollte die Fahrt<br />

gehen. Ein Laderaum war voll mit Verpflegung, was mir sehr<br />

sympathisch war. Im zweiten befanden sich Militärfahrzeuge<br />

und Ersatzteile. Im dritten Laderaum waren Tellerminen und<br />

das gab mir zu denken. Es war also eine hochbrisante Fracht!<br />

Dabei fiel mir ein, dass ich immer noch einen leichten, blutigen<br />

Durchfall hatte. Also meldete ich mich beim Flakleiter ab<br />

zum Sani-Revier. Meine abgegebene Stuhlprobe war positiv,<br />

und so kam ich nicht zurück aufs Schiff, sondern in die Klinik<br />

„Bagnoli“ in Neapel. Dort gab es eine eigene Abteilung<br />

für deutsche Soldaten. Ich hatte Blut im Stuhl, und das genügte<br />

mir. Ja, liebe Nachkommen,<br />

ihr könnt darüber<br />

denken, wie ihr wollt.<br />

Ich war sicherlich kein Held<br />

der militärischen Kriegsführung,<br />

aber ein Dummkopf<br />

war ich auch nicht. Vielleicht<br />

war es Intuition, oder Erfahrung<br />

und Erkenntnis, wie sie<br />

jemand erwirbt, der schon<br />

zweimal nach Abschüssen<br />

von Bord gehen musste.<br />

So verbrachte ich zehn Tage<br />

im Krankenhaus bei Grießbrei<br />

und Haferschleim. Der<br />

französische Frachter war<br />

inzwischen ausgelaufen.<br />

Nach meiner Entlassung aus<br />

dem Krankenhaus führte<br />

mich mein erster Weg in eine Vor der Klinik „Bagnoli“ in Neapel<br />

75


Osteria, und ich gönnte mir mit Heißhunger ein Hühnchen<br />

mit Reis. Endlich wurde ich mal wieder satt. Nach einigen<br />

Tagen der Erholung im Hotel „Albergo Universo“ wurde ich<br />

nach Livorno in die Nähe von Pisa abkommandiert.<br />

Ich ging an Bord des italienischen Frachters „San Pedro“. Dort<br />

erfuhr ich, dass der französische Frachter, auf dem ich hätte<br />

fahren sollen, durch ein Torpedo versenkt worden war, und<br />

nur sechs Matrosen überlebt hatten. Ich fragte mich, ob es Glück<br />

gewesen sei, oder ob jemand schützend seine Hand über mich<br />

gehalten hatte. In meiner jugendlichen Unbekümmertheit, hatte<br />

ich alle Fahrten auch als ein großes Abenteuer betrachtet.<br />

Aber bei Kämpfen, wenn es zu Flugzeugangriffen kam und<br />

wir getroffen wurden, war ich mir stets der großen Gefahr<br />

bewusst, denn ich hatte Angst. Todesangst!<br />

Die Nachrichten, die ich hörte, waren nicht berauschend und<br />

deuteten nicht auf Sieg. Die Verluste an Menschen und Frachtern<br />

nahmen immer größere Ausmaße an. Die Briten hatten Malta<br />

wieder aufgerüstet, und von unserer Luftwaffe konnten wir<br />

keine große Hilfe erwarten. Im Oktober starteten die Briten<br />

eine Offensive bei El Alamain, und im deutschen Afrika-<br />

Korps herrschte die Devise „Rette sich wer kann“. Mit den<br />

Afrikafahrten war es für mich vorbei, denn die „San Pedro“<br />

befuhr die Linie Livorno-Bastia nach Korsika. Ich machte<br />

zwei dieser Fahrten, und wir wurden von den Briten kaum<br />

belästigt. In einem sicheren Abstand sahen wir lediglich Aufklärungsflugzeuge.<br />

Nach der zweiten Fahrt, musste ich überraschend wieder ins<br />

Krankenhaus nach Neapel zu einer Nachuntersuchung, da<br />

der Verdacht der Ruhr bei mir bestand. Blut im Stuhl hatte ich<br />

nicht mehr. Aber durch die Ereignisse der Afrikafahrten hatte<br />

ich oft Alpträume und schlief sehr schlecht. Nach dieser Untersuchung<br />

waren Fahrten auf Frachtern nach Afrika für mich<br />

76


endgültig beendet. Anfang Dezember wurde ich nach Triest<br />

in Norditalien abkommandiert. Zu meiner Überraschung sollte<br />

dort für die Flottille ein neuer Stützpunkt eingerichtet werden.<br />

Nachrichten zum Kriegsverlauf erhielten wir nur spärlich.<br />

Aber der Buschfunk meldete, dass nach der Offensive der<br />

Briten der Rückzug des Afrika-Korps zügig vorangehen soll.<br />

Die Briten hatten schon Anfang Dezember Massa-Matruk<br />

eingenommen, und um Tobruk wurde auch schon gekämpft.<br />

Für uns waren es Horrormeldungen, als wir hörten, dass die<br />

Amerikaner in Marokko und Algier gelandet sein sollen.<br />

Neue Verantwortung als Geschützführer<br />

Meine Abkommandierung sollte eine Fahrt mit Hindernissen<br />

werden. Da ich nun schon Erfahrungen gesammelt hatte,<br />

wurde ich zum Geschützführer benannt und mit weiteren<br />

fünf Kameraden nach Triest beordert.<br />

Jugendlicher Übermut ließ mich manchmal Dinge tun, die<br />

dann auch Folgen hatten. Erst wurde das Kennenlernen ausgiebig<br />

gefeiert. Dann ging es mit Pferdedroschken zum Hauptbahnhof<br />

„Terminal“, wo uns bei unserer Ankunft ein Fliegerangriff<br />

überraschte. Es war ein Gedränge und Geschiebe, denn<br />

alle Menschen wollten aus dem Bahnhof raus. Züge fuhren<br />

ohnehin nicht. In diesem Chaos gingen zwei meiner Kameraden<br />

verloren. Aber die Zeit drängte, denn wir mussten vor dem<br />

Auslaufen des Schiffes in Triest sein. Ich hatte ein schlechtes<br />

Gewissen und Angst vor einer Bestrafung, weil meine beiden<br />

Kameraden verloren gegangen waren. Ich hatte ja schließlich<br />

die Verantwortung für die beiden. Ich tröstete mich mir dem<br />

Gedanken, dass der Westfale Gerhard Scharley und der Tiroler<br />

Eugen Feuerstein eine Möglichkeit finden würden, um allein<br />

nach Triest zu finden. Eine große Schwierigkeit für die beiden<br />

war, dass sie keinen Marschbefehl bei sich hatten, denn den<br />

hatte ja ich für uns alle.<br />

77


Ich hatte Sorge, dass sie die Kettenhunde, so nannten wir die<br />

Militärpolizei, aufgreifen würde, die auf uns Marinesoldaten<br />

nicht gut zu sprechen waren. Aber meine Sorge sollte unbegründet<br />

sein, denn die beiden hatten ein italienisches Militärauto<br />

angehalten und wurden bis Rom mitgenommen. Die<br />

Italiener waren für uns Mariner gute Kameraden und immer<br />

sehr hilfsbereit. In Rom gingen die beiden in die Kommandantur,<br />

schilderten die Lage und bekamen neue Papier für die Weiterfahrt<br />

nach Triest.<br />

Ich für meinen Teil, der von all dem nichts ahnte, musste mich<br />

ohne die beiden an Bord melden. Der Flakleiter Gelber, ein<br />

gemütlicher Endvierziger aus Thüringen, nahm es nicht so tragisch,<br />

denn wir hatten noch einen Tag Zeit bis zum Auslaufen. Am<br />

nächsten Tag, zwei Stunden vor dem Auslaufen, kamen die<br />

beiden dann auch an Bord und wurden mir großen Hallo<br />

empfangen. Ich war glücklich,<br />

denn ich hatte nun auch<br />

keine Bestrafung zu fürchten.<br />

Monate auf dem Mittelmeer<br />

Die „Cagliaris“, so hieß unser<br />

Frachter, war ein alter Schlickenrutscher.<br />

Er hatte seine Jahre<br />

auf dem Buckel und Rost angesetzt.<br />

Wir waren zwölf Mann<br />

Flakbesatzung und mit dem<br />

Kapitän noch zwölf Matrosen.<br />

Es war ein gemischtes Volk aus<br />

Kroaten, Slowenier, Griechen,<br />

Italienern und Deutschen.<br />

Mittlerweile hatte ich mich damit<br />

abgefunden, trotz meiner<br />

78<br />

Mit Besatzung der Nachbarflak<br />

(hinten Mitte)


Mit Flakbesatzung in Piräus<br />

(vorn rechts)<br />

Ausbildung auf der „Schlesien“ nie<br />

auf einem Kriegsschiff eingesetzt<br />

zu werden. Im Mittelmeer hatte<br />

die Marine auch keine Kriegsschiffe.<br />

So wie mir ging es vielen<br />

meiner Kameraden. Ich war damit<br />

zufrieden.<br />

Wenn man es unter dem Zeichen<br />

des Krieges so nennen darf, dann<br />

sollten die folgenden Monate auf<br />

dem Mittelmeer die schönsten der<br />

Kriegszeit für mich sein. Denn<br />

im Bereich der Adria waren wir<br />

mit unserem Frachter weit weg<br />

von Kriegshandlungen und auch<br />

recht sicher vor Luftangriffen. Wir fuhren Nachschub für die<br />

Südfront in Griechenland, Kreta und für die Besatzungen der<br />

Inseln im Ägäischen Meer.<br />

Weshalb soll ich aus meinem<br />

Herzen eine Mördergrube<br />

machen. Mir gefiel das Leben<br />

auf diesem Rostkahn, mit<br />

dem glücklichen Gefühl,<br />

wieder an einem Flakstand<br />

Achtern zu sein. Meine Kommandierung<br />

wurde von meinem<br />

Flakleiter akzeptiert.<br />

Diesmal hatte wir keine<br />

deutsche 2-cm-Flak, sondern<br />

eine „Örlikan“ eines Schweizer<br />

Fabrikats mir sechzig Schuss<br />

Magazin. Es war ein gutes<br />

Fabrikat, das ziemlich stö-<br />

Auf dem Flakstand der „Cagliaris“<br />

79


ungsfrei war. Aber es hatte einen Nachteil. Bevor es schussbereit<br />

war, mussten zwei Mann mit einem Spannbügel die starke<br />

Feder spannen. Und wenn das nicht zeitgleich geschah, hing<br />

man wie ein nasser Sack an der Waffe.<br />

Auf Wache auf der „Cagliaris“<br />

80<br />

An Bord herrschte eine gute<br />

Kameradschaft unter den<br />

Marinern, ein gutes Verhältnis<br />

zu den Matrosen, gutes Wetter<br />

mit viel Sonne und ein häufig<br />

besoffener Kapitän. Damit<br />

will ich nicht sagen, dass alle<br />

Fahrten auf der „Cagliari“<br />

ohne Angriffen von Flugzeugen<br />

blieben, aber gegen<br />

die vorherigen Nachschubfahrten<br />

nach Afrika mit den<br />

Kämpfen und Versenkungen<br />

waren die folgenden Fahrten<br />

Sonntagsausflügen.<br />

Auf der ersten Fahrt lernte ich<br />

die Männer aus vielen Ländern<br />

und unterschiedlichsten Alters kennen und schätzen. Wir<br />

Flakleute waren, mit Ausnahme unseres geschätzten Flakleiters,<br />

junge Hasen. Wir passten uns den älteren Seemännern<br />

an und waren während der gesamten Zeit eine verschworene<br />

Gemeinschaft. Es wurde während der Liegezeit in den Häfen<br />

viel gefeiert, Fische gefangen, geräuchert und gemeinsam an<br />

Deck gegessen. Ich genoss diese Zeit und wünschte mir, es<br />

würde bis Kriegsende so bleiben.<br />

In dieser Zeit bis Ende Juli 1943 lernte ich die gesamte Küste vom<br />

Norden Italien bis zum ägäischen Meer einschließlich der Insel<br />

Kreta kennen. Am besten gefielen mir die Stadt Dubrovnik


und die Inselwelt vor der Küste Sloweniens und Kroatiens.<br />

Zwischen diesen Inseln suchten wir vor Flugzeugangriffen<br />

Schutz, die zum Glück, wie bereits erwähnt, selten waren.<br />

Noch ahnte ich nicht, dass sich vor der Insel Korčula mein weiteres<br />

Schicksal ändern<br />

würde, denn drei Monate<br />

später, am 16. Oktober<br />

1943 geriet ich<br />

genau vor dieser Insel<br />

in englische Kriegsgefangenschaft.<br />

Aber<br />

alles der Reihe nach.<br />

Waffenreinigen (ganz rechts)<br />

Im Hafen von Patras<br />

kam ein „Feudelschwenker“<br />

an Bord.<br />

Er hieß Günter Hoff-<br />

mann. Feudelschwenker, so nannten wir die Männer vom<br />

Marinenachrichtendienst. Es waren sogenannte Signalgäste, die<br />

durch Armzeichen mit<br />

blauweißen Fähnchen<br />

Signale von Schiff zu<br />

Schiff gaben. Dieser<br />

Signalgast gehört nicht<br />

zu unserer Einheit,<br />

hatte besondere Privilegien<br />

und hatte im<br />

Kapitänsbereich eine<br />

eigene Kabine. Wobei<br />

wir auf Deck einen<br />

selbstgezimmerten<br />

Holzaufbau für sechs<br />

Bei einer Übung (vorn rechts)<br />

Mann hatten. Jede Geschützbesatzung hatte so eine solche<br />

Holzbude. Wären wir unter Deck untergebracht gewesen,<br />

81


hätten wir bei einem Torpedoangriff oder Minenkontakt keine<br />

Überlebenschance gehabt.<br />

An dem Tag, an dem der Feudelschwenker Hoffmann an<br />

Bord kam, hatte ich mit ihm gleich eine Karambolage, eine<br />

Auseinandersetzung, die auf meiner Bude beinahe zu einer<br />

Schlägerei ausgeartet wäre. Und das alles nur wegen eines<br />

Missverständnisses, an dem ich unschuldig war.<br />

Der Flakleiter hatte mir den Sold ausgezahlt, den Hoffmann<br />

eigentlich im nächsten Hafen bekommen sollen. Darüber war<br />

er erbost, kam zu mir und beschimpfte mich mit dem Wort<br />

„Wackesse“, das bis dahin für mich ein Fremdwort war, und<br />

auch mit anderen Worten, so dass meine Kameraden ihn aus<br />

der Bude feuerten.<br />

Am nächsten Tag kam Günter an meinen Flakstand und entschuldigte<br />

sich bei mir. Er dankte mir auch dafür, dass ich ihn<br />

nicht beim Flakleiter angeschissen hatte. Aber ehrlich gesagt,<br />

hatte ich daran nicht einmal gedacht.<br />

Das war meine erste Begegnung mit Günter Hoffmann aus<br />

Saarbrücken, der mir auf den weiteren gemeinsamen Fahrten<br />

ein guter Freund wurde, und mit dem sich die Freundschaft<br />

nach fünfzig Jahren auch noch bestätigen sollte.<br />

Weihnachtsstimmung, Haare auf der Brust<br />

Es war Heiligabend, und wir lagen vor dem Kanal von Korinth.<br />

Die Stimmung war bedrückt, jeder ging wohl seinen Gedanken<br />

nach. Wie geht es den Lieben zu Hause? Die Nachrichten aus<br />

Russland über den „Kampf um Stalingrad“ waren nicht<br />

berauschend, und außerdem belästigte uns immer wieder ein<br />

Fernaufklärer der Tommies. Zur Ermunterung der gesamten<br />

Mannschaft spendierte unser leutseliger und ein wenig angesäuselter<br />

Kapitän ein 50-Liter-Faß Bier für alle. Die Temperatur<br />

82


war noch immer angenehm mild. Bei abgeblendetem Licht<br />

wurde gefeiert, nur die Posten auf den Flakständen hielten<br />

ihre Lauscher in den Wind. Der Mond war des Öfteren durch<br />

Wolken bedeckt, und falls ein Angriff erfolgt wäre, dann nur<br />

aus der Dunkelheit heraus gegen die Mondseite.<br />

Ich war zu dieser Zeit Nichtraucher und dem Alkohol gegenüber<br />

zurückhaltend. Doch an diesem Abend wurde ich provoziert,<br />

und ich ließ mich auch darauf ein. Der Bootsmann der<br />

Seeleute foppte uns junge Mariner: „Ihr seid doch noch keine<br />

richtigen Seeleute, ihr habt ja noch keine Haare auf der<br />

Brust.“ Ich befühlte meine Brust und stellte fest, tatsächlich,<br />

keine Haare, nur Flämmchen, drei Härchen in sechs Reihen.<br />

Der Bootsmann sagte: „Haare bekommt ihr nur, wenn ihr einen<br />

anständigen Kümmel zur Brust nehmt.“ Gesagt, getan. Ein<br />

Bierglas halb voll, nach Seemannsbrauch auf Ex hinein. Wenn<br />

man das Zeug in einem Zug runterkippt, spürt man erst<br />

nichts. Doch als ich das Glas absetzte, hatte ich das Gefühl,<br />

jemand hämmerte mit einem Hammer auf meine Brust. Mir<br />

blieb nicht nur für einen Moment die Luft weg. Es war wohl<br />

nicht der richtige Kümmel gewesen, denn ich habe bis heute<br />

keine Haare auf der Brust. Im Nachhinein erfuhren wir, dass<br />

es 55prozentiger Slivowitz (Kroatischer Pflaumenschnaps)<br />

gewesen war. Die Seeleute hatten jedenfalls ihren Spaß, und<br />

ich hatte am nächsten Tag einen Kater. Danach gab es noch<br />

öfter alkoholische Feiern.<br />

Nach Kreta<br />

Am anderen Tag ging es durch den Kanal. Es ist ein wenig<br />

grummelig. Bei 100 Meter hohen, steilen Felswänden und nur<br />

ca. 20 Meter Breite fühlte man sich wie in einer Mausefalle.<br />

Gleichzeitig war es für uns natürlich eine Sehenswürdigkeit.<br />

Dieser Kanal trennt den Peloponnes vom Festland. Es gab nur<br />

eine Brücke als Verbindung.<br />

83


Die Fahrt ging weiter am Hafen von Piräus vorbei in die Inselgruppe<br />

der Kykladen nach Kreta, wohin wir den Nachschub<br />

bringen sollten. In diesem Gewirr der Inselgruppe<br />

waren wir vor U-Booten sicher, nicht aber vor Bomben- oder<br />

Torpedoflugzeugen vom Typ Beaufort oder Bristol-Blendheim.<br />

Unser Bestimmungshafen war Heraklion (Iraklio) im Nordosten<br />

der Insel Kreta. Dort hatten wir drei Tage Aufenthalt,<br />

bis die Ladung gelöscht und wir neue Fracht für Piräus übernahmen.<br />

Diese Tage waren ausgefüllt mit Training an der<br />

Waffe, Flugzeugerkennungsdienst und Landgängen. Meine<br />

Kameraden und ich erkundeten die Umgebung und lernten<br />

Land und Leute kennen. Vor allem die Bergbauern waren<br />

sehr gastfreundliche Menschen, so dass wir Einladungen zu<br />

einem kleinen Umtrunk und Imbiss nicht ausschlagen konnten.<br />

Es waren arme Bauern mit ihren paar Ziegen oder einer Kuh<br />

im Stall. Die Verständigung erfolgte, da keiner von uns<br />

Griechisch konnte, mit Handgesten und Zeichnen im Sand.<br />

Wir wurden vor Partisanen gewarnt, aber ich habe während<br />

meiner Fahrten auf Kreta und in Griechenland nichts von<br />

Partisanen bemerkt.<br />

Seemänner helfen einander<br />

Bis Ende Juli bin ich mehrfach von Triest oder anderen Häfen der<br />

Levante entlang der Küste gefahren. Wir brachten Nachschub an<br />

Lebensmitteln, Munition, Ersatzteilen für Panzer und anderes<br />

Kriegsmaterial nach Kreta und Griechenland. Auf der Rückreise<br />

beförderten wir Wolfram oder Bauxit-Erze aus Griechenland<br />

oder Kroatien nach Triest, die von dort per Bahn nach<br />

Deutschland weitergingen. Alle Fahrten in der Adria und<br />

Ägäis zu beschreiben wäre zu langatmig, und so will ich mich<br />

auf die Höhepunkte beschränken.<br />

84


1943 herrschte in Griechenland eine Hungersnot, denn unsere<br />

Truppen versorgten sich auf Kosten der Griechen. Um die<br />

Not zu lindern, fuhren schwedische Schiffe im Auftrag des<br />

Internationalen Roten Kreuzes Getreide von Kanada nach<br />

Griechenland. Einmal lagen wir im Hafen von Piräus vor einem<br />

solchen Schwedendampfer an der Pier. Wir kamen mit den<br />

Matrosen ins Gespräch. Ein Teil der Mannschaft sprach gut<br />

Deutsch und fragte uns, ob wir ihnen keine Mädchen besorgen<br />

könnten, denn sie wären schon lange unterwegs, wir wissen<br />

doch wohl, was sie meinten. Ja, wir wussten es. Für unsere<br />

Bemühungen würden sie sich erkenntlich zeigen.<br />

Seeleute helfen sich in jeder Notlage. Die Schweden durften<br />

selbst nicht an Land. Also machten sich zwei Mann auf die Socken,<br />

gingen in ein Bordell und brachten ein Mädel mit, in einem<br />

mit Decken ausgepolsterten Seesack. Der Posten wurde von<br />

zwei anderen Mariners mit zwei Packungen Zigaretten in ein<br />

Gespräch verwickelt, um so eine Kontrolle des Seesacks zu<br />

verhindern. Am anderen Morgen staunte ein anderer Posten, als<br />

ein Schwede mit der Frau ans Tor kam. Sie konnte passieren,<br />

kommentarlos, denn der Posten hatte sich jeden Tag bei<br />

der Aufsicht der Griechen, die bei uns die Ladung löschten,<br />

durchgefuttert. Wir tranken den schwedischen Schnaps, den<br />

wir als Dank erhalten hatten, eine willkommene Abwechslung<br />

zum deutschen Schnaps.<br />

Zechtour mit tragischem Ende<br />

Immer, wenn wir in irgendeinem Hafen Ladung aufnahmen<br />

oder löschten, hatten wir zwei Tage Freizeit. Wir waren keiner<br />

so strengen Disziplin wie an Bord eines Kriegsschiffes untergeordnet.<br />

Wir waren ein richtiger Gammelhaufen. An Land<br />

gingen wir stets piekfein angezogen, aber nach der zweiten<br />

Kneipe war von dem Piekfeinen nichts mehr erhalten. Das<br />

betraf weniger die Uniform und mehr unseren trunkenen<br />

85


Zustand. Wer wollte uns das verübeln, wir waren junge Burschen,<br />

und es war Krieg. Der Gedanke, dass könnte unsere letzte<br />

Sause und Fahrt sein, ließ uns über die Strenge schlagen.<br />

Wir lagen im Hafen von Ancona an der Ostküste Italiens und<br />

übernahmen Kriegsmaterial und Lebensmittel für die Besatzung<br />

auf Kreta. Es war wie immer eine lustige Zechtour und schon<br />

spät am Abend. Unser Dampfer lag nicht längsseits an der Pier,<br />

sondern quer dazu, der Bug war zur Hafenmitte zugewandt<br />

und durch den Anker in der Richtung gehalten. Das Heckteil<br />

war mit dicken Hanftauen an der Pier befestigt. Da das Heckteil<br />

aber ca. 8 Meter von der Pier weg war, musste uns die Bordwache<br />

mit einem Beiboot rüberholen. Wir wollten jedoch wegen<br />

der späten Abendstunde den Flakleiter nicht durch unser<br />

Rufen wecken. Stille war angesagt. Es war ja nicht das erste<br />

Mal, dass wir über die dicken Hanfseile mit acht Zentimeter<br />

Durchmesse im Reitersitz an Bord hangelten. Wir nannten es<br />

„Eierreiten“.<br />

Auch dieses Mal ging alles klar, wie wir in unseren vernebelten<br />

Gedanken glaubten. Jeder huschte in seine Bude, und das<br />

war’s dann. Da unser Dampfer Einzelfahrer war, das heißt nicht<br />

im Konvoi fuhr, liefen wir noch nachts aus dem Hafen in<br />

Richtung Kreta aus. Das war erforderlich, damit die Spionage<br />

nicht gleich unsere Route erkennen konnten, denn bei Morgengrauen<br />

waren wir schon in der Nähe der Kroatischen Küste.<br />

Als wir schon auf See waren, stellten wir fest, dass unser<br />

Kamerad Reimann vom vorderen Geschütz nicht an Bord<br />

war. Wir konnten uns das nicht erklären. Per Funk wurde<br />

der Kamerad Reimann als Fahnenflüchtiger gemeldet. Aber<br />

es war anders. Als wir nach 14 Tagen wieder in Ancona im<br />

Hafen lagen, wurde Kamerad Reimann tot aus dem Wasser<br />

gefischt. Der Anblick war furchtbar. Er muss beim „Eierreiten“<br />

die Balance verloren und sich den Kopf aufgeschlagen<br />

86


haben. Das war eins meiner schlimmsten Erlebnisse auf der<br />

„Cagliari“.<br />

Schlecht waren auch die Nachrichten vom Afrika-Korps. Seitdem<br />

die Tommies ihren Stützpunkt auf Malta gefestigt hatten,<br />

waren die Angriffe auf unserer Geleitzüge dermaßen intensiv,<br />

dass kaum noch Nachschub zu Rommel kam. Der Kampf ums<br />

Mittelmeer war ab April 1943 für uns verloren. Dass ich auf<br />

der „Cagliari“ in der Adria Dienst tat, war für mich ein Segen.<br />

Ich war glücklich, „so weit“ vom direkten Kriegsschauplatz<br />

entfernt zu sein. Wir fuhren weiterhin unseren Nachschub<br />

nach Griechenland und Kreta. Auf dem Rückweg aus Eleusis<br />

oder Dubrovnik nahmen wir weiter Bauxit oder Wolfram-Erze<br />

mit nach Triest.<br />

Torpedoangriff<br />

Auf einer der Fahrten nach Kreta wurden wir nachts von einem<br />

Torpedoflugzeug angegriffen. Es war heller Mondschein. Das<br />

Flugzeug kam aus dem Dunkeln in Richtung Mondlicht. Der<br />

Alarm wurde frühzeitig gegeben, denn die Wache hörte das<br />

Brummen der Motoren früh genug, um auf Gefechtsstation zu<br />

sein. Zuerst vermuteten wie einen Fernaufklärer der Engländer,<br />

da wir von diesen schon öfter damit belästigt worden waren.<br />

Doch es handelte sich um ein Torpedoflugzeug.<br />

Alle Geschütze feuerten beim Abdrehen des Flugzeugs volle<br />

Breitseite, es fing Feuer und verwand in der Dunkelheit. Zuvor<br />

hatte es seine Last abgeworfen. Durch das phosphorisierende<br />

Wasser sahen wir die Blasenbahn des Torpedos direkt auf uns<br />

zulaufen. Wir erwarteten den Treffer und die Explosion. Doch<br />

zu unserer Überraschung blieben sie aus. Der Torpedo ging<br />

unter dem Dampfer durch. Die Tiefeneinstellung muss versagt<br />

haben. Es war einer der glücklichsten Zufälle des Lebens.<br />

87


Als wir am nächsten Tag im Hafen von Heraklion einliefen,<br />

erhielten wir die Nachricht, dass der Engländer brennend östlich<br />

von Kreta abgestürzt war. Wir konnten auf einer unserer<br />

„Urlaubsfahrten“ einen Erfolg verbuchen.<br />

Erste Gefangenschaft<br />

Im Juni 1943 wurde die Hafenstadt Tobrik von den Engländern<br />

eingenommen, und das Afrika-Korps musste sich immer<br />

weiter in Richtung Tunis zurückziehen. Der Nachschub nach<br />

Afrika war völlig außer Kontrolle geraten. Als wir Anfang<br />

August im Hafen von Bari an der Ostküste Italiens einliefen,<br />

wurden wir von italienischen Fallschirmjägern von Bord geholt<br />

und mussten uns an der Kaimauer in Reihe aufstellen.<br />

Der Offizier erklärte uns für Gefangene, und wir wussten<br />

überhaupt nicht, was los war. Es gab das Gerücht, dass die<br />

Italiener kapitulieren wollten.<br />

Ein Priester in schwarzer Soutane und schwarzem Hut, also<br />

ein Priester in einem Gewand, das Vertrauen und Seelsorge<br />

verkörpern sollte, hatte eine Pistole in<br />

der Hand und rannte unsere Reihe<br />

ab, geiferte „Schweine Deutsche,<br />

Schweine Deutsche“ und fummelte<br />

mit der Pistole uns vor den Gesichtern<br />

herum. Das war wieder einmal<br />

so eine Lage, in der ich wie zuvor<br />

schon in der Schule die Thesen<br />

der Religion und die Worte Gottes<br />

missverstanden haben muss.<br />

Der Spuk dauerte nicht lange,<br />

dann kamen unsere Soldaten und<br />

klärten uns die Lage. In der italienischen<br />

Regierung war man sich In Triest<br />

88


noch nicht einige, ob man uns im Krieg weiter unterstützen<br />

wollte oder kapitulieren sollten. Wir gingen auf unser Schiff<br />

zurück und dampften ab nach Triest. Irgendetwas lag in der<br />

Luft. Die Menschen in Triest waren nicht mehr so freundlich,<br />

einige sahen uns hasserfüllt an und es kam der Tag, an dem<br />

wir Landgangverbot bekamen. Über Funk erhielten wir die<br />

Nachricht, dass Mussolini, der faschistische Busenfreund Hitlers,<br />

gestürzt, gefangen und nach Kroatien auf eine Bergfestung<br />

gebracht worden war.<br />

In kritischer Lage, Abschied von der „Cagliari“<br />

Die Lage war für uns kritisch, denn mit uns lagen nur noch<br />

zwei weitere Dampfer mit zirka 60 Mariners im Hafen. Die<br />

Lage war deshalb für uns unangenehm, weil am Hafeneingang<br />

eine Batterie Kanonen stationiert war. Diese Batterie bestand<br />

aus sechs Kanonen und einer Belegschaft ca. 60 Soldaten, wie<br />

wir vermuteten. Ein Oberbootsmann vom einem der anderen<br />

Schiff übernahm das Kommando, und im Morgengrauen wurde<br />

der Stützpunkt eingenommen. Die Italiener waren überrascht,<br />

denn sie schliefen noch, und die zwei Posten sahen<br />

nicht zum Hafen, sondern in Richtung Meer. Außerdem war<br />

der Weg zum Eingang zur Batterie mit Stückgut belegt, das uns<br />

als Deckung diente. Es waren nicht mehr Soldaten auf dem<br />

Stützpunkt als von angenommen. Sie wurden zu je einem Drittel<br />

auf unseren drei Schiffen gefangen gehalten. Sie dienten zu<br />

unserer Sicherheit und als Schutz vor einem Angriff. Strategisch<br />

war unsere Lage nicht aussichtslos, denn die Autostraße<br />

längs des Hafens lag ca. 10 Meter höher als das Hafengebiet,<br />

und die sechs Geschütze waren von uns Richtung Stadt gedreht<br />

worden und konnten auch das einzige Hafentor unter<br />

Beschuss nehmen. Italienisches Militär war nicht in der Stadt<br />

stationiert, und so sahen wir der Sache mit Zuversicht entgegen.<br />

Die politische und militärische Situation war so unübersichtlich,<br />

dass keine Seite wusste, was eigentlich Sache war. Abordnungen<br />

89


der Stadt versicherten uns, dass keine feindlichen Handlungen<br />

gegen uns durchgeführt werden würden. Am vierten Tag sahen<br />

wir auf der Bergstraße deutsche Panzer, und somit war die<br />

Sache friedlich verlaufen.<br />

Dieser Tag wurde gefeiert und auch gleich noch meine Abschied<br />

von meinen Kameraden und der „Cagliari“. Ich war auf ein<br />

anderes Schiff abkommandiert worden. In diesen sechs Monaten<br />

war unsere Schiffsbesatzung eine großartige Gemeinschaft geworden,<br />

wie sie sich nur durch längeres Zusammenleben und<br />

in Gefahrensituationen bilden können. Mit meiner Geschützbesatzung<br />

wurden Adressen ausgetauscht. Wir schworen, uns<br />

nach dem Krieg wieder zu sehen. Tatsächlich wurden meine<br />

Frau und ich 1992, nach 49 Jahren, und noch einmal 1994 von<br />

meinem Freund Günter Hoffmann nach Saarbrücken eingeladen.<br />

Ärger und Freude im Heimaturlaub<br />

Als ich mich in der Dienststelle Neapel gemeldet hatte, war<br />

ich freudig erstaunt, denn ich bekam Heimaturlaub. Mit großen<br />

Erwartungen fuhr ich nach Hause. Die Fahrt dauerte 32 Stunden<br />

und wurde teilweise durch Fliegeralarm unterbrochen. Ich<br />

tröstete mich mit den schönen, sonnigen Augusttagen, die nur<br />

hin und wieder durch einige Gewitter gestört wurden.<br />

Familiär gab es gleich wieder Ärger, als ich zu meiner „lieben<br />

Mama“ ging, um die mitgebrachten Geschenke für meine<br />

Geschwister abzuliefern. Es kam der „liebe Alfred“ dazu. Mein<br />

kleiner Koffer war offen, und er sah einige Päckchen mit Tabakwaren<br />

darin liegen und sagte: „Na, Großer, haste nicht eine<br />

Schachtel für mich übrig?“ Ich war durch die lange Bahnfahrt<br />

übermüdet und durch die schlechten Waschmöglichkeiten<br />

etwas vergammelt und entsprechend gereizt. Ich sagte ihm:<br />

„Sieh mal meine Hände und Fingernägel an, ich gebe dir noch<br />

90


nicht mal den Dreck unter den Fingernägeln.“ Er fasste mich<br />

an der Schulter und schnaubte wie ein Walroß. Ich fasste in<br />

den Koffer und holte meine Pistole, eine Beretta 6,35, raus. Die<br />

Pistole hatte ich bei der Einnahme des Stützpunktes in Triest<br />

einem italienischen Soldaten abgenommen. Ich habe sie bis<br />

zu meiner endgültigen Gefangennahme behalten. Ich sagte<br />

ihm: „Mich kannst du anfassen, aber nicht die Uniform.“ Er<br />

ließ sofort von mir ab und ging aus der Wohnung. Das war das<br />

letzte Mal, dass ich ihn so sah. Das mit der Uniform hatte ich<br />

gesagt, weil er vom Staat als Krimineller eingestuft und wehruntauglich<br />

war. Ich hätte mich nicht so gehen lassen müssen,<br />

aber als ich sein verlebtes und vom Alkohol aufgedunsenes<br />

Gesicht sah und die Erinnerung in mir aufkam, wie er mir<br />

meine Jugendjahre versauert hatte, da konnte ich mich nicht<br />

zurückhalten.<br />

Meine Mutter sagte nichts, ich sah nur ihre traurigen Augen.<br />

Sie drehte sich um und ging in die Küche. Ich ging zu Oma,<br />

wo ich während des Urlaubs mein Zuhause hatte. Oma hatte<br />

immer noch ihre Stelle als Toilettenfrau bei „Cafe Oske“<br />

und schlürfte mit Genuss den mitgebrachten Bohnenkaffee.<br />

Wenn ich abends durch die Gaststätten schlenderte, um den<br />

einen oder anderen Bekannten zu treffen, war meine letzte<br />

Station stets bei Oma. Sie saß geduldig auf ihrem Stuhl im Toilettenvorraum<br />

und wartete auf Kundschaft. Kundschaft kam<br />

ständig. Frauen haben Wünsche, wenn sie ein Rendezvous<br />

oder Bekanntschaften mit Männern haben, und vor allem<br />

junge Frauen möchten von weisen alten Omas Ratschläge einholen.<br />

Oma war ein Geheimnisträger und Lieferant von Make<br />

Up und Ratschlägen. Mit ihrem Verdienst als Toilettenfrau<br />

konnte sie mit dem Lohn jedes Rüstungsarbeiters mithalten.<br />

Im Urlaub profitierte auch ich davon. Wenn ich kam gab<br />

es stets Begrüßung mit Küsschen und Umarmung vor allen<br />

Gästen. Ich war natürlich stolz in meiner Uniform und in den<br />

Armen von Oma, im Blickpunkt der Gäste. Das war schon<br />

91


ein Erlebnis. Zum Abschied griff immer Oma in ihre Kasse,<br />

und in meiner Marinejacke klimperten die Markstücke, die<br />

ich dann mit leichtsinnigen Händen ausgab.<br />

Ich machte einen Anstandsbesuch bei den Eltern meines<br />

Freundes. Es war ein kühler Empfang und eine gedrückte<br />

Stimmung, denn die zweitälteste Tochter von Heiners Schwester<br />

Anneliese war in Tobruk beim Bombenangriff auf das liebe<br />

Vaterland gefallen. Mutter Lotschs Blicke sagten mir alles. Ich<br />

fühlte mich unbehaglich. Mit unbeholfenen Worten verabschiedete<br />

ich mich. Auch die Eltern meines Freundes sah ich<br />

nie wieder. Als ich aus Gefangenschaft kam, waren die beiden<br />

verstorben.<br />

Es war ein durchwachsener Urlaub, aber es gab ja auch<br />

freundvolle Tage. Ich traf einige Mädels, mit denen ich mal ins<br />

Kino, mal in einem Cafe zu Kaffee und Kuchen ging. Marken<br />

hatte ich von Oma. Für größere Liebeleien reichte es nicht,<br />

höchstens ein bisschen knutschen. Diese Küsse waren mehr<br />

freundschaftlicher Art, nur bei einer, sie hieß Inge Fischer und<br />

war eine Sportfreundin, die ich in meiner Zeit beim Rudersports<br />

kennen gelernt hatte, war es mehr. Sie war ein flottes<br />

Mädchen, für meine Begriffe zu flott. Seit dem ersten Urlaub<br />

war sie öfter bei meiner Mutter gewesen und hatte sich als<br />

Freundin ausgegeben. Als ich eines Abends ins „Cafe Oske“<br />

eintrat ,sah ich sie mit ihrer Freundin und zwei Luftwaffensoldaten<br />

in einer Nische sitzen. Mir war klar, dass ich nicht<br />

ihr Einziger war. Das konnte mich nicht erschüttern, denn ich<br />

hatte sowieso nicht die Absicht, mich in meinen jungen Jahren<br />

zu binden, schon gar nicht, solange Krieg war.<br />

„Eisen im Feuer“<br />

Ich hatte ja noch ein Eisen im Freuer, weniger eine Liebelei,<br />

sondern mehr eine freundschaftliche Verbindung. Inge Arnswald.<br />

92


Ich fasste mein bisschen Mut zusammen und besuchte sie.<br />

Aber es sollte nicht sein. Mutter Arnswald eröffnete mit, dass<br />

Inge im Havelwerk ist und Spätschicht hat. Das Havelwerk<br />

war ein Rüstungsbetrieb, in dem Flakgeschütze hergestellt<br />

wurden. Inge Arnswald arbeitete dort als Fräser, bediente<br />

aber auch andere Maschinen.<br />

Ich stellte mich um 22 Uhr in der Nähe des Werktores auf.<br />

Es war Feierabend und dunkel, der Halbmond warf noch einen<br />

Schimmer auf die nach Hause eilenden Arbeiter. Dann sah<br />

ich sie. In Erwartung einer freudigen Überraschung und<br />

Umarmung näherte ich mich ihr. Überraschung und Freude<br />

war da. Aber ein freundliches Küsschen? Fehlanzeige. So war<br />

Inge eben. So kannte und achtete ich sie, zurückhaltend, burschikos<br />

und spitzbübisch. Quirlig wie ein kleiner Spatz. Ich mochte<br />

ihre Art, sie war anders als die anderen Mädchen, die ich<br />

kennen gelernt hatte und die sich gleich abknutschen ließen.<br />

Ich brachte Inge nach Hause,<br />

und wir verabredeten<br />

uns für Sonntag auf einen<br />

Spaziergang. Am verabredeten<br />

Sonntag wartete ich<br />

pünktlich vor ihrer Haustür.<br />

Als sie kam, hat es mich fast<br />

aus den Schuhen gehoben,<br />

Inge und ihr Bruder Heinz (Mitte)<br />

denn sie kam nicht allein.<br />

Bei ihr waren Mutter Arnswald<br />

als Anstandsdame und ihr neun Jahre jüngerer Bruder<br />

Heinz. Der kleine rotznasige, verzogene Junge erwies sich<br />

nach unserem Kennenlernen als sehr liebenswert.<br />

Ich hatte die „Ehre“, ihn die zwei Kilometer von Hohenstücken<br />

bis Butterlake Huckepack zu tragen. In Butterlake lernte ich<br />

die Großeltern von Inge kennen. Oma Groczek, eine kleine<br />

93


Inge und ihr Bruder Heinz (Mitte)<br />

94<br />

Frau, die immer ein<br />

leichtes Schmunzeln<br />

auf den Lippen trug,<br />

schloss mich gleich in<br />

ihr Herz. Opa Groczek,<br />

ein von schwerer Arbeit<br />

gebeugter Mann, war<br />

ruhig und zurückhaltend.<br />

Es wurde ein schöner Tag für mich. Opa hatte schon Tage vorher<br />

einen Karnickel geschlachtet, und so gab es ein Mittagessen<br />

wie in Friedenszeiten. Nachmittags saßen wir bei Kaffee und<br />

Kuchen. Ich hatte das Gefühl der Geborgenheit und mein Innere<br />

sagte mir, hier bist du angekommen,<br />

diese Menschen mögen Dich. Das<br />

war mein bestes Erlebnis in diesem<br />

Urlaub.<br />

Am Ende des Urlaubs machte ich<br />

es wie immer, still und leise, ohne<br />

Abschied von irgend einer Person,<br />

auch nicht von meiner Oma, fuhr<br />

ich zurück zum Einsatz. Ich wollte<br />

keine Tränen sehen, sondern die<br />

fröhlichen Gesichter, die ich gesehen<br />

hatte, in meinen Gedanken behalten.<br />

Wie auf der Heimfahrt genoss ich<br />

Inges Großeltern<br />

die Bahnfahrt durch die schönen<br />

Landschaften unserer Heimat, Österreichs und Italiens. Abgesehen<br />

von einigen Luftalarm-Meldungen erreichte ich wohlbehalten<br />

Neapel.


Partisanensuche mit Straßenbahn<br />

Doch der Stützpunkt war zu meiner großen Überraschung<br />

nach Norden in den Hafen von Triest verlegt worden. Dort<br />

wurden zurückkehrende Urlauber und Mariners von versenkten<br />

Schiffen gesammelt. Die Tage dort waren eintönig<br />

und stupide, nur Wache schieben und warten auf ein neues<br />

Kommando.<br />

Eine Abwechselung gab es, die lustig gewesen wäre, wenn<br />

nicht es nicht einen ernsten Hintergrund gegeben hätte. Nach<br />

dem Sturz von Mussolini war die Lage in Italien politisch<br />

und militärisch instabil. Das Gerücht machte die Runde, dass<br />

sich Partisanengruppen gebildet haben. Im einem Vorort vier<br />

Kilometer vor Triest war der Ölhafen, und von dort wurden<br />

verdächtige Bewegungen gemeldet. Ein Stoßtrupp wurde<br />

zusammengestellt, um die Lage zu sondieren. Wir, ein Leutnant<br />

und 18 Matrosen, kaperten einen Straßenbahnwagen,<br />

denn es führte eine Linie dort hin. Ein Kamerad fühlte sich<br />

fachlich zur Führung der Straßenbahn prädestiniert. Es ging<br />

los, nach ca. einem Kilometer ging es leicht bergab und die<br />

Fahrt beschleunigte sich in beunruhigender Weise. Die<br />

ersten Häuser waren erreicht und der Bremsvorgang wurde<br />

eingeleitet, aber die Fahrgeschwindigkeit verringerte sich<br />

nicht wesentlich. Der Fahrer war wahrscheinlich doch nicht<br />

so fachlich geschult. Aber dann musste er doch irgendwie den<br />

richtigen Hebel erwischt haben. Es gab ein ohrenbetäubendes<br />

Quietschen und mit einmal einen Ruck. Wir quetschten uns<br />

wie die Heringe in einer Büchse im vorderen Bereich des Wagens.<br />

Wenn Partisanen dort gewesen und das gesehen hätten, wäre<br />

ihnen vor lauter Lachen das Schießen vergangen. Das war an<br />

Land mein „großer kämpferischer Einsatz“. Von einem<br />

Partisanen war weit und breit nichts zu sehen.<br />

95


Abschuss<br />

Endlich ging es wieder los, Richtung Livorno an der Westküste.<br />

Es war die „San Pedro“ mit Nachschub für die Besatzung<br />

der Insel Korsika. Die vorherige Besatzung war abgelöst und<br />

die meisten verhaftet worden. Nach Kenntnis unseres neuen<br />

Flakleiters hatte diese Truppe Heeresgut gestohlen, und zwar<br />

in einem so hohen Umfang, dass eine Division einen Monat<br />

lang hätte verpflegt werden können.<br />

Die „San Pedro“ war ein 6000 BRT großes Schiff und mit 40<br />

Mariners an sechs Flakständen bewaffnet. Ich war wieder<br />

auf einen der drei Stände Achtern und zum Geschützführer<br />

ernannt. Zum zweiten Mal übernahm ich eine derart verantwortliche<br />

Aufgabe.<br />

Diese Fahrt war von keinen großen Ereignissen geprägt, außer,<br />

dass wir einen unserer Fesselballons, die als Schutz vor Luftangriffen<br />

dienten, in einer stürmischen Gewitternacht selbst<br />

abgeschossen. Die ereignete sich nicht aus Unkenntnis, sonder<br />

aus Versehen. Die Nacht war so dunkel, dass man noch nicht<br />

einmal den Nebengeschützstand sehen konnte, wenn nicht<br />

gerade ein Blitz durch die Nacht zuckte. Der hintere Ballon<br />

war entweder durch den starken Regen heruntergedrückt<br />

worden, oder er hatte Wasserstoffgas verloren, was die näher<br />

liegende Annahme war, denn der vordere Ballon war ja oben.<br />

Wir bemerkten diesen Umstand nicht. Wenn die Blitze durch<br />

die Nacht zuckten, sah der Ausguck ein Objekt, das uns verfolgte<br />

und angriff. Er löste Feueralarm aus. Nach ein paar<br />

Feuerstößen mit Leuchtspurmunition gab es eine Explosion<br />

mit kurzem Feuerschein, und der Spuk war zu Ende. Wir<br />

hatten kein feindliches Schnellboot, keinen Zerstörer erlegt,<br />

sondern unseren Ballon. Mit solchen Kriegserlebnissen konnte<br />

man die Heimatfront nicht begeistern, man machte sich<br />

höchstens lächerlich. Aber was soll’s, so makaber es klingen<br />

96


mag, ein Krieg hat auch seine lustigen Seiten und nicht nur<br />

Tot und Verderben.<br />

Das Schicksal meint es gut mit mir<br />

In Afrika war es noch ernster geworden. Rommel war inzwischen<br />

von Hitler abgelöst worden, und der neue General machte es<br />

auch nicht besser. Ohne ausreichenden Nachschub kann kein<br />

Heer Siege vollbringen. Das Afrika-Korps zog sich immer mehr<br />

Richtung Tunesien zurück. Nach Löschen der Ladung im Hafen<br />

von Bastia ging es nach zwei Tagen zurück nach Liverno. Die<br />

Zufälle des Lebens sind wunderlich und manchmal mit nichts<br />

zu erklären. Wir hatten Freiwache, und ich fuhr mit meiner<br />

Mannschaft mit dem Vorortzug nach Pisa, die wunderschöne<br />

Stadt in der Toscana. Wir erlebten einen Fliegeralarm, aber<br />

keinen Angriff von Flugzeugen. Nach einer Stunde war wieder<br />

Ruhe eingekehrt. Wir verlebten noch einen feuchtfröhlichen<br />

Tag. Nach der Rückkehr zum Hafen Livorno sahen wir die<br />

Verwüstungen im Hafen und in der Stadt. Ein Schiff war versenkt<br />

worden, einige Schiffe teils schwer, teils leicht beschädigt.<br />

Auch an unserem Schiff war die vordere Backbordseite aufgerissen.<br />

Es gab einige Tote und Verletzte. Das Schicksal hatte<br />

es mit mir gut gemeint. Was wäre gewesen, wenn ich keine<br />

Freiwache gehabt hätte? Die Frage bohrte noch lange in mir.<br />

Gefangennahme<br />

Es war der 10. Oktober 1943, als ich die „Argentina“ betrat.<br />

Ich weiß dieses Datum so genau, weil es nur wenige Tage vor<br />

meiner Gefangennahme durch die Engländer war.<br />

Ich hatte keine Freude beim Antritt meiner neuen Dienstaufgabe.<br />

Die „Argentina“ war ein kleines 3600 BRT großes italienisches<br />

Schiff. Die Seeleute waren aus der Region, und wir<br />

97


waren mit vierzehn Mariners und einem unsympathischen<br />

Flakleiter an Board. Der Mann posierte sich in voller Größe<br />

als Person mit Spitzbart wie ein Admiral und mit dem Orden<br />

„Deutsche Kreuz in Gold“. Seine „zündende“ Rede gipfelte<br />

im Durchhalteappell für Führer und Vaterland. Aber es zündete<br />

nicht mehr so bei uns, denn die Kriegslage war uns bekannt.<br />

In Russland bahnte sich die Katastrophe an, und auch im<br />

Staub der Wüste Lybiens war das Afrika-Korps in den letzten<br />

Zügen. General Badoglio in Italien ergab sich den Alliierten,<br />

und die Italiener waren uns gegenüber nicht sonderlich gut<br />

gestimmt. Wir mussten wachsam sein. Wir waren überwiegend<br />

junge Burschen, und einige der Seeleute sahen nicht gerade<br />

vertrauenswürdig aus. Am 14. Oktober liefen wir aus, das<br />

Ziel war Griechenland, denn da sah es für unsere Wehrmacht<br />

auch nicht rosig aus. Die Partisanen machen ihnen sehr zu<br />

schaffen.<br />

Im Hafen von Split (auf Italienisch Spalato genannt) übernahmen<br />

wir Heu- und Strohballen, die über das ganze Deck gelagert<br />

wurden, angeblich als Schutz bei Bombenangriffen.<br />

Der 16. Oktober 1943, der Schicksalstag meines Marinelebens.<br />

In früher Morgenstunde liefen wir aus dem Hafen Split aus.<br />

Wir fuhren Richtung Süden, schlängelten uns durch die Inseln.<br />

Gegen 14.00 Uhr näherte sich ein Fernaufklärer vom Typ<br />

„Wellington“. Er kam nicht bis in die Nähe unserer Geschütze<br />

und drehte nach zwei Umkreisungen in respektvollem Abstand<br />

wieder Richtung Italien ab. Wir waren in der Nähe der Insel<br />

Korcula. Die Adria war glatt wie ein Spiegel, es wehte kein<br />

Lüftchen, und ich genoss diese Ruhe.<br />

Gegen 16.00 Uhr legte ich mich auf dem Geschützstand auf<br />

einer Matratze zum Schlafen. Im Unterbewusstsein hörte<br />

ich ein leichtes Wummern, dann ein Pfeifen, und dann in<br />

unmittelbarer Nähe den Einschlag der Granate. Ich war im Nu<br />

98


wach. Durch das Fernglas waren nur zwei Rauchsäulen zu<br />

sehen, und es war klar, es konnten nur Zerstörer sein. Aber<br />

wie kommen Feindzerstörer hierher, die Front war doch in<br />

Afrika? Mit größter Geschwindigkeit kamen sie immer näher<br />

und ihre Buggeschütze feuerten mit ihren 100mm-Kanonen<br />

unablässig. Die Aufschläge waren jedoch sehr ungenau und<br />

gingen weit vor uns oder weit an Steuerbordseite ins Wasser.<br />

Der Flakleiter gab Anweisung zur Bewachung der Italiener,<br />

die sich freuten, und den Befehl zur Versenkung des Schiffes.<br />

Zwei Mariners gingen in den Maschinenraum und legten die<br />

Sprengsätze an. Ich baute mit einem Kameraden die Flakwaffen<br />

ab, die wir anschließend einzeln über Bord warfen.<br />

Anschließend wurden die Heu- und Strohballen mit Benzin<br />

übergossen und angesteckt.<br />

Die Tommys hatten das Schießen eingestellt. Dadurch war<br />

die Hektik nicht mehr so groß, und wir konnten mit weniger<br />

Erregung und Nervosität die Backbordboote durch die Seeleute<br />

zu Wasser bringen lassen. Dass wir von ihnen eventuell<br />

angegriffen werden könnten, das war unsere geringste Sorge,<br />

denn wir waren ja noch bewaffnet. Wir wollten versuchen, vor<br />

Eintreffen der Zerstörer an die Küste zu kommen, denn die<br />

Insel war keine 500 Meter von unserem Schiff entfernt.<br />

In unserem Boot waren acht italienische Seeleute und wir<br />

Mariners vom Achterngeschütz. Die Seeleute waren nicht<br />

begeistert, und ich merkte auch beim Rudern, wie lustlos sie<br />

die Riemen durch das Wasser zogen. Als das letzte Boot vom<br />

Schiff abgelegt und außer Gefahr war, erfolgten die zwei<br />

Explosionen auf der Steuerbordseite. Das Schiff hatte unmittelbar<br />

danach Schlagseite. Wir konnten die Zerstörer nicht sehen,<br />

da unser Schiff zwischen ihnen und uns lag. Um so erstaunter<br />

war ich, als ein Zerstörer schon kurz danach am Bug zu sehen<br />

war. Als sie sahen, dass wir versuchten, zur Küste zu gelangen,<br />

feuerten sie ein paar Maschinengewehrschüsse über unsere<br />

99


Köpfe ab. Die Seeleute warfen die Riemen über Bord, standen<br />

von ihren Sitzen auf, winkten und klatschten in die Hände<br />

und riefen: „Bravo Inglesis! Bravo Inglesis!“<br />

Mir wurde ganz mulmig zumute, aber zwei meiner Kameraden<br />

hatten noch ihre Maschinenpistolen und ich meine Beretta.<br />

Bevor der Zerstörer in Rufnähe war, holte ich meinen Wehrpass<br />

aus der Tasche, zerriss ihn und ließ die Schnipsel ins Wasser<br />

fallen, ebenso meine Pistole. Auch die Maschinenpistolen<br />

wurden auf diese Weise entsorgt.<br />

Als wir an Bord des englischen Zerstörers gingen, war der<br />

Empfang ganz anders, als wir es uns vorgestellt hatten. Die<br />

Italiener kletterten zuerst am Fallreep an Bord, mit viel Palaver.<br />

Doch sie wurden nicht als Verbündete begrüßt, sondern einige<br />

bekamen sogar von den Matrosen einen Tritt in den Hintern.<br />

Sie wurden an der Bugspitze, wo die Kettenlast ist, eingesperrt.<br />

Wir folgten den Italienern mit der bangen Frage, was<br />

die Engländer wohl mit uns machen werden, wenn schon<br />

die Italiener einen Tritt kriegen? Doch es geschah etwas für<br />

mich Unfassbares. Als wir an Bord kletterten, reckten sich uns<br />

hilfsbereite Hände entgegen. Wir mussten uns in einer Reihe<br />

hinstellen, wurden abgetastet und auf Waffen kontrolliert.<br />

Als ich an die Reihe kam, wurden auch meine Taschen durchsucht,<br />

und dabei fand der Matrose noch zwei Pistolenkugeln,<br />

die ich in der Aufregung ganz vergessen hatte zu entsorgen.<br />

Er sah mich an, mir war kotzübel, ich schloss die Augen, und<br />

da spürte ich etwas an meinen Lippen. Als ich die Augen aufschlug,<br />

fummelte er mit einer Zigarette vor meinem Mund<br />

rum. Ich nahm sie dankbar und mit Erleichterung an. Anschließend<br />

wurden wir in den Mannschaftsraum geführt.<br />

Dort wurden wir von einem Offizier, der deutsch sprach, zu<br />

Gefangenen seiner Majestät erklärt und über die militärische<br />

Lage aufgeklärt.<br />

100


Ein verlorenes Jahr als Kriegsgefangener in Afrika<br />

(1943)<br />

Im Zwiespalt der Gefühle<br />

Ich wusste nicht, sollte ich über die Gefangennahme glücklich<br />

oder enttäuscht sein! Ich war im Zwiespalt meiner Gefühle. Die<br />

gesamte Mannschaft hatte die Gefangennahme ohne Schaden<br />

überstanden, und das machte mich froh. Dass ich mir durch<br />

„Heldenmut“ kein „Eisernes Kreuz“ verdienen konnte, aber<br />

mit „gesundem Kreuz“ in Gefangenschaft kam, machte mich<br />

überglücklich. Hoffentlich komme ich auch eines Tages gesund<br />

nach Hause.<br />

Nach der Aufklärung durch den englischen Offizier über die<br />

militärische Lage war mir die Behandlung der Italiener<br />

einigermaßen klar. Die Alliierten waren Anfang Oktober auf<br />

Sizilien gelandet. Der Überläufer Marschall Badoglio putschte<br />

am 8. September 1943 und fiel der deutschen Wehrmacht in den<br />

Rücken. Doch die Engländer liebten den Verrat, nicht aber<br />

den Verräter.<br />

Auf dem englischen Zerstörer<br />

Nach den Ausführungen des Offiziers mussten wir uns entkleiden<br />

und unter die Dusche stellen. Nach dem Abtrocknen<br />

wurden die Haare, Schamhaare und Achselhaare mit einem<br />

Entlausungsmittel besprüht. Dann konnten wir uns wieder<br />

anziehen. An unseren Uniformen fehlten einige Knöpfe und<br />

Abzeichen, auch mein Käppi war nicht mehr auffindbar. Ich<br />

konnte diese Sachen verschmerzen, denn dafür gab es ein<br />

sehr gutes Essen. Zusätzlich fühlten einige Tommys kameradschaftlich<br />

mit uns und gaben uns Zigaretten und Schokolade.<br />

101


Ich sah mich in den Mannschaftsräumen um und musste feststellen,<br />

dass die Backen (Tische) und Banken genauso an der<br />

Decke mit Halterungen zur Schlafenszeit befestigt waren, wie<br />

auf dem Schulschiff, auf dem ich ausgebildet worden war.<br />

Auch die Hängematten und die kleinen Schränkchen für den<br />

persönlichen Bedarf waren ganz ähnlich beschaffen.<br />

Es war Schlafenszeit. In der Hängematte ließ es sich gut liegen.<br />

Bei mir weckte es Erinnerungen an die Schulschiffzeit auf<br />

der „Schlesien“. Ich hatte eine gute seemännische Ausbildung<br />

erhalten und hatte einige Waffensysteme kennengelernt, so<br />

dass ich damals die Hoffnung hatte, weiter auf einem Kriegsschiff<br />

Dienst tun zu können. Dazu war es nicht gekommen.<br />

Die Zeit bei der Bordflak-Süd Mittelmeer war mit gefahrvollen<br />

Fahrten und Kämpfen gegen Flugzeuge verbunden. Wenn ich<br />

andererseits an die letzten drei Dampfer denke, auf denen ich<br />

gefahren war, so waren es in gewisser Hinsicht Erholungsfahrten<br />

gewesen, die am Ausgang des Krieges keinen Anteil<br />

hatten. Ich bin dem Schicksal dankbar, dass ich nie direkt auf<br />

einen Menschen schießen musste. Jetzt machte mir nur Sorgen,<br />

was wird sein, wenn der Krieg zu Ende ist. Was erwartet mich<br />

zu Hause? Mit diesen Gedanken schlief ich ein.<br />

Von Italien nach Tunesien<br />

Am Morgen wurden wir früh geweckt und bekamen wieder<br />

ein gutes Essen vorgesetzt. Die Mannschaft war sehr kulant<br />

zu uns, es gab keine bösen Worte. Die Anlandung war der<br />

Hafen Bari. Als wir von Bord gingen, wurden wir mit militärischem<br />

Gruß verabschiedet. Der Offizier, der deutsch sprach,<br />

wünschte uns eine annehmbare Gefangenschaft und eine gesunde<br />

Heimkehr nach dem Krieg.<br />

Im Hafen wurden wir von englischen Fallschirmjägern übernommen,<br />

die schon mehrere Gefangene in ihrer Obhut hatten.<br />

102


In Marschordnung ging es quer durch die Stadt bis am anderen<br />

Ende, wo ein Fußballstadion war, das als Sammelstelle<br />

für Gefangene aller Waffengattungen diente. Ich staunte sehr<br />

über die Organisation. Als wir ankamen, wurden wir registriert,<br />

bekamen gleich eine Büchsenration zum Essen (Meat and<br />

Beans), und gegen Mittag wurde ein Transport zusammengestellt<br />

und ab ging es zum Bahnhof, wo uns eine johlende<br />

Meute Italiener erwartete. Aber unsere Bewachung, es waren<br />

meistens Schwarze, sorgte dafür, dass keiner der Gefangenen<br />

körperlich zu Schaden kam.<br />

In den Abendstunden kamen wir in der Hafenstadt Taranto<br />

an. Es war der 17. Oktober. Wieder war ein Fußballstadion<br />

unser Aufenthaltsort. Dieser Aufenthalt dauerte drei Tage bis<br />

zum 20. Oktober. Es waren harte Tage. Nur mit einer Decke<br />

und auf blankem Boden zu schlafen war nicht angenehm.<br />

Aber ich habe es ohne Erkältung überstanden.<br />

Am 21. Oktober wurden wir ca. 200 Gefangene im Hafen von<br />

Taranto auf ein Landungsboot der Amis verfrachtet und landeten<br />

nach eineinhalb Tagen in Tunesien an der nördlichen Spitze<br />

im Hafen von Bzerta. Das Lager Bizerta war einige Stunden<br />

entfernt von der Stadt in einer flachen, ebenen Gegend, wo<br />

kaum ein Strauch oder Baum stand.<br />

Im Lager Bizerta<br />

Wir Neuankömmlinge wurden mit Hallo begrüßt. Ich suchte<br />

den Teil des Lagers, zu dem ich hingehörte. Entlang der Lagerstraße<br />

waren Schilder aufgestellt, die für mich fremd waren.<br />

So stand auf den Schildern „Freies Saxonia“, „Für Sachsen“,<br />

„Freies Colonia“ (Westfalen), „Freies Bavaria“ (Bayern), „Freies<br />

Thuringia“. Ich suchte vergebens „Freies Prussia“, mein Preußen.<br />

Ich fand es nicht. Wo war das großdeutsche Reich, wo waren<br />

Führer und Vaterland? Ich reihte mich ein in die Masse<br />

103


Mensch, in der alle Schattierungen noch eine Einheit bildeten,<br />

Landsleute aus allen Gauen unserer Heimat, einschließlich<br />

der Österreicher, der Auslandsdeutschen, der sogenannten<br />

Beutegermanen, die als Soldat zu dienen gezwungen worden<br />

waren. Die sogenannten „Freien“, die sich zusammengefunden<br />

hatten, waren nur eine kleine Zahl Abtrünniger. Wir<br />

wurden in 2-Mann-Zelten untergebracht und einmal am Tag<br />

mit Kost aus Büchsen abgefüttert.<br />

Algier, Lager 210<br />

Am 25. Oktober ging es ab nach Algier Lager 210. Es war ein<br />

großes Lager mit einigen 80 Personen fassenden Zelten. Wir<br />

von unserem Dampfer waren noch immer zusammen. Die<br />

erste Maßnahme, die wir über uns ergehen lassen mussten,<br />

war die Entlausung. Wir mussten alle Bekleidungsstücke bis<br />

auf die nackte Haus ausziehen, die Bekleidung in einen netzartigen<br />

Sack werfen, die anschließend durch die Entlausungsmaschine<br />

musste. In dieser Zeit wurden wir von einem Ärzteteam<br />

auf Ungeziefer untersucht. Die Kopf- und Schamhaare<br />

sowie die Haare in den Achselhöhlen wurden mit einem<br />

Pulver bestäubt.<br />

Nun begann das eintönige Lagerleben, und eine Latrinenparole<br />

jagte die andere. Jeder versuchte,, durch positive Nachrichten,<br />

die meist Wunschgedanken waren, die Stimmung unter den<br />

Gefangenen zu verbessern. Eines Morgens beim Zählappell<br />

wurde mein Name aufgerufen, und ich stellte mich zu einigen<br />

anderen Gefangenen, die vor mir aus dem Glied raus getreten<br />

waren. Mir war nicht wohl bei dieser Sache, denn ich war der<br />

einzige von unserem Schiff. Aber meine Sorgen waren unbegründet.<br />

104


In der Wüste<br />

Wir waren 20 Mann, und es ging per LKW in die Wüste. Nach<br />

drei Stunden Fahrt kamen wir in unserem neuen Lager an. Es<br />

war das Verhörlager 203. Ein kleines Lager für uns 20 Mann,<br />

ein Zelt für die Wachmannschaft, eines für die Verhöre und<br />

zwei 10-Mann-Zelte für uns. Das Zelt für die Verhörzeremonie<br />

lag etwas abseits von unseren Zelten. Zur Ehrenrettung der<br />

Britten muss ich sagen, dass wir korrekt und anständig in den<br />

Verhören behandelt wurden.<br />

Mit Ausnahme der Verpflegung. Es gab täglich eine Schüssel<br />

Reis, mit Wasser und Salz gekocht, eine Mandarine und einen<br />

Kanten Weißbrot. Man konnte die Hoffnung haben, gesundheitlich<br />

über die Runden zu kommen.<br />

Als ich zum ersten Mal zum Verhör musste, war es ein Auftritt<br />

in drei Akten. Beim ersten Eintritt ins Verhörzelt stramme<br />

Haltung und Ehrenbezeugung mit Hitlergruß. Von den rechts<br />

und links neben den Eingang stehenden Wachsoldaten wurde<br />

ich aufgefordert, raus zu gehen.<br />

Beim zweiten Mal der gleicher Auftritt, gleiche Ehrenbezeugung<br />

- und von links eine Backpfeife mit der Aufforderung, nochmals<br />

vor das Zelt zu treten und beim Eintreten anständig zu grüßen.<br />

Da habe ich begriffen, dass der Führerbefehl, im Heer ab 1943<br />

mit dem Hitlergruß Ehrenbezeugung zu leisten, hier keine<br />

Gültigkeit mehr hatte. Beim dritten Eintritt zackig gegrüßt,<br />

höfliche Aufforderung zum Sitzen.<br />

Vor mir hinter dem Tisch saßen ein französischer, ein englischer<br />

und ein amerikanischer Offizier. Alles aufzuführen, was und<br />

wie gefragt wurde und wie das Verhör geführt wurde, würde<br />

zu weit führen. Ich konnte nur darüber staunen, was<br />

die Alliierten über unsere Schiffe, Ausrüstung und Standorte<br />

wussten. Sogar über die Besatzungen einzelner Schiffe wussten<br />

105


sie Bescheid. Ich war und bin überzeugt, dass durch uns bei<br />

den Verhören lediglich ihr Wissens über die deutsche Marine<br />

im Mittelmeer gefestigt werden sollte.<br />

Es waren langweilige Tage, wenn man nicht wieder zum Verhör<br />

musste. Einen lustigen Tag hatte ich aber doch durch meine<br />

Unkenntnis im Kochen geschaffen. Jeden Tag musste ein<br />

anderer Kamerad die zwei Kochkessel mit fünfzig Liter<br />

Fassungsvermögen anheizen, den einen für den Reis, den<br />

anderen für Kaffee. An dem Tag, an dem ich dran war, lief<br />

zunächst alles glatt. Die Kessel mit Wasser waren schnell<br />

geheizt. Als das Wasser zum Sieden kam, nahm ich den 25-Kilogramm-Reissack<br />

und schüttete den gesamten Inhalt in den<br />

Kessel. Es dauerte nicht lange, und das Wasser kochte wieder,<br />

und ich rührte den Reis mit der Kelle, damit er nicht anbrennt.<br />

Wer wollte schon angebrannten Reis essen!<br />

Ich rührte und rührte. Der Reis wurde dickbreiig, und das<br />

Rühren wurde mir immer schwerer. Ich füllte Wasser nach,<br />

denn ich hatte im Kessel noch genug Freiraum, um Wasser<br />

nachgießen zu können. Der Brei wurde immer dicker und<br />

dicker, und im Kessel sagte es „Blub, blub!“ Und mit jedem<br />

Blubbern wurde der Brei noch dicker. In meiner Aufregung<br />

füllte ich mit dem Schöpfbecher Reis in den zweiten Kesse,<br />

aber im ersten blubberte es immer weiter. Nochmals mit dem<br />

Schöpfbecher Reis vom ersten in den zweiten Kessel umfüllen,<br />

Wasser in Kessel eins nachgießen - es blubberte immer noch.<br />

Endlich kam die Rettung in Gestalt unseres verantwortlichen<br />

Kochs ehrenhalber. Wladislaus Wabinski, ein Oberschlesier,<br />

der sich bereit erklärt hatte, während unserer Zeit im Verhörlager<br />

uns zu bekochen. Er hatte lediglich verlangt, dass jeder<br />

mal früh morgens die Kessel anheizen musste. Und ich war<br />

derjenige, der sich am dämlichsten anstellte. Doch er war ein<br />

Gemütsmensch und sagte nur: „Pironje, du bist ein Dussel,<br />

kennen wir jetzt jeden Tag morgens, mittags und abends Reis<br />

fressen.“ Er bereinigte die Chose, indem er den zweiten Kessel<br />

106


leerte und den Inhalt beider Kessel im Wüstensand vergrub.<br />

Die Briten haben davon nichts mitbekommen.<br />

Einigen Tagen danach wurden wir zurück ins Durchgangslager<br />

210 gebracht, wo noch täglich mehrere Gefangene ankamen,<br />

meistens Afrika-Kämpfer, denn der Kampf um Afrika war<br />

seit der Landung der Amis endgültig verloren.<br />

Im Lager in Oran<br />

Am 10. November ging es ab nach Oran, einen weiteres Durchgangslager.<br />

Am 11. November kamen wir an. Die Zelte für<br />

je 10 Mann waren auf einer leichten Anhöhe aufgebaut, was<br />

uns noch viel Ärger verursachen sollte. Der Tagesrhythmus<br />

war langweilig. Der Buschfunk brachte eine nicht beweisbare<br />

Meldung nach der anderen. Ich hielt Ausschau nach eventuellen<br />

Bekannten, mit denen ich gemeinsam auf einem der Dampfer<br />

gefahren war, und nach Landsleuten aus der Heimat.<br />

Dabei lernte ich einen kennen, der war aus Götz bei Brandenburg.<br />

Er war in Italien in Gefangenschaft geraten und Infanterist.<br />

Sein Interesse galt meinen Bordschuhen, leichten Halbschuhen<br />

aus Segeltuch und einem Sohlenrand mit Leder. Er bot mir<br />

seine Knobelbecher als Tausch an, und nach vielem Drängen<br />

gab ich nach, denn er hatte am linken Bein oberhalb des<br />

Knöchels eine starke Wunde und in den Stiefeln viele Schmerzen.<br />

Mehr als vier Wochen verbrachte ich in diesem Lager. Es waren<br />

eine eintönige und langweilige Zeit, und ich immer in Gedanken<br />

an zu Hause und daran, wie es weitergehen wird.<br />

Dann setzte die Regenzeit setzte ein. Ströme von Wasser stürzten<br />

die Anhöhe runter. Einziger Trost war, dass die Zelte dicht<br />

hielten. An der Rückseite hatten wir viel Sand angeschüttet,<br />

so dass kein Wasser ins Zelt fließen konnte. Nur eins bereitete<br />

uns Sorgen. Zum Essenfassen oder zur Toilette mussten wir<br />

107


ei diesem starken Regen immer ca. 80 Meter bis Essenbaracke<br />

laufen, die unterhalb der Baracken an der Zufahrtstraße lag.<br />

Das Essenholen war stets ein Wettlauf mit den Wassermassen,<br />

zumal der Boden aufgeweicht und schlammig war. Das<br />

Urinieren war dagegen einfach, kurze Schritte vor das Zelt, das<br />

war’s. Meine Stiefel waren in dieser Zeit Gold wert. Ich hatte<br />

keinen schlechten Tausch gemacht.<br />

Casablanca<br />

Nach langen Wochen, es war der 21. Dezember, ging es für<br />

mich weiter in Richtung Casablanca. Es war nun kurz vor<br />

Weihnachten, und unter uns herrschte eine gedrückte Stimmung,<br />

gepaart mit der frohen Erwartung, wohin es geht, was uns<br />

Neues erwartet. Die Fahrt in Viehwagons war nicht gerade<br />

angenehm zu ertragen. Am Tag vor Heilig Abend erreichten<br />

wir Casablanca.<br />

Es war noch immer Regenzeit. Kalte Winde fegten vom<br />

Atlantik über unser Lager. Im eigentlichen Sinn war es gar kein<br />

Lager, sondern nur eine große freie Fläche Land, umzäunt<br />

von doppelt gesichertem Stacheldrahtzaun, mit Furchen<br />

und Löchern im Boden, und jeder hat nur eine Wolldecke,<br />

die keinen Schutz vor dem Regen bot. Einige Gefangene<br />

musste man aus dem Lager ins Lazarett bringen. Ich habe es<br />

überstanden, ohne Erkältung, ohne Husten. Es ist für mich<br />

wie ein Wunder.<br />

Weihnachten in Casablanca, Heiligabend, das schlimmste<br />

Fest, das ich bisher erlebt habe.<br />

Am 26. Dezember, dem zweiten Weihnachtsfeiertag, traten<br />

wir wieder zum Abmarsch an. Wohin? Zirka 200 Gefangene<br />

setzten sich in Bewegung, teils mit Hoffnung auf eine Besserung<br />

unseres Zustands, teils mit Zweifeln in den Gesichtern.<br />

108


Nach Amerika<br />

Wir betraten das Hafengelände und sahen nur amerikanische<br />

Kriegsschiffe, Transporter und Kriegsmaterial. Wir mussten<br />

einen der Transporter betreten, am Bug sah ich den Namen.<br />

Es ist die „Empress of Shanghai“, ein Amerikaner. Am Hafenkai<br />

sehe ich eine Uhr, es ist 12:30 Uhr MEZ. Ich betrat das Schiff<br />

und damit amerikanischen Boden und sah einer ungewissen<br />

Zeit entgegen. Ich bin nicht gottgläubig, aber in diesem<br />

Moment hoffe ich, dass das ungewisse Etwas, das immer in<br />

meinen Gedanken war und mich bisher begleitet hat, weiter<br />

meine Hoffnung tragen möge.<br />

Die „Empress of Shanghai“ war nach meiner Schätzung ein<br />

10.000 BRT großes Schiff. Außer uns ca. 200 Gefangenen<br />

waren Soldaten auf Urlaub, Verwundete und auch ein Teil<br />

Zivilisten an Bord. Als wir an Bord waren, stürzten sich die<br />

Soldaten wie die Wilden auf die Holzbetten, die als Doppelt<br />

übereinander installiert waren. Wir von der Marine, wir waren<br />

vierzehn, sahen uns dagegen erst einmal um und entdeckten<br />

ein Shap (Raum) mit Hängematten. Sie waren in derselben<br />

Art, wie sie auch auf unseren Schiffen üblich waren. Hängematten<br />

sind vor allem bei Seegang besser als Betten, aber auf<br />

dieser Überfahrt hatten wir so gut wie keinen großen Seegang.<br />

Jeden Tag durften wir einmal für eine Stunde an Deck frische<br />

Luft schnappen. Die Verpflegung war gut. Diese Umstellung<br />

auf die gute Verpflegung hat ein Teil der Gefangenen nicht<br />

gleich vertragen, und so wurden die Toiletten übermäßig in<br />

Beschlag genommen.<br />

109


110


Drei Jahre als Kriegsgefangener in den USA<br />

(1944 - 1946)<br />

Ankunft in Virginia<br />

Am 2. Januar 1944 liefen wir im Hafen Norfolk im Staate<br />

Virginia ein. Als wir von Bord gingen mussten wir ein Spalier<br />

von Home-Guard, Armeesoldaten und Polizei durchlaufen.<br />

Alle zwei Meter stand links und rechts ein Bewacher. Ich<br />

hatte den Eindruck, dass die Amis mehr Furcht vor uns hatten<br />

als wir vor ihnen. Die Zivilisten bestaunten uns Ankömmlinge,<br />

aber es gab kein Pöbeln, sondern nur stille und mitleidige<br />

Gesichter.<br />

Die weitere Organisation ließ uns Deutsche erstaunen, zumal<br />

wir politisch durch die Nazi-Partei so geschult waren, die besten<br />

Arbeiter, die besten Techniker, überhaupt die Herrenrasse der<br />

Welt zu sein. Hier wurden wir eines Besseren belehrt.<br />

Von der Erfassung der Personalangaben, über Fotografieren,<br />

Entlausung und danach Empfang der Gefangenenkleidung<br />

mit Schuhen, Unterwäsche, Jacken bis zur Wollmütze, es war<br />

ja Winter, bis zum Einstieg in einen Waggon zum Abtransport<br />

in ein Lager dauerte es für uns ca. 200 Mann gerade einmal<br />

vier Stunden.<br />

Der Zug war ein Sonderzug der Pullman Corporation mit<br />

normalen Wagen. Es gab gepolsterte Sitze, rückklappbare<br />

Lehnen, so dass man bequem auf gegenüberliegenden Sitzen<br />

schlafen konnte. Ich konnte es bei diesem Komfort, der uns<br />

geboten wurde, kaum glauben, dass ich Kriegsgefangener<br />

war.<br />

Die Fahrt dauerte zwei Tage und führte uns von Norfolk über<br />

Cincinnati West-Virginia, Indianapolis bis nach Rockfort Illinois,<br />

111


in die Nähe des Michigansees. Es sollte für mich und meine<br />

Kameraden nur ein Durchgangslager sein, das „Lager Camp<br />

Grant“, das wir am 5. Januar 1944 erreichten.<br />

Im Lager Camp Grant<br />

In diesem Lager waren alle Waffengattungen der Wehrmacht<br />

vertreten. Meine Annahme, unsere ehemaligen Vorgesetzten<br />

hätten keine Befehlsgewalt mehr, war ein gefährlicher Irrtum.<br />

Fanatische Nazis wachten darüber, dass keine abwertenden<br />

Äußerungen über den sich als verloren abzeichnenden Krieg<br />

gemacht wurden. Das hatte bereits einer meiner Kameraden<br />

als Warnung erfahren, nachdem er nur geäußert hatte, dass<br />

der Krieg bald verloren ist und wir glücklich sein sollten, hier<br />

zu sein. Prompt lag auf seinem Bett ein Seil zur Schlinge<br />

geformt, als wir vom Essen zurückkamen. Diese Warnung war<br />

eindeutig.<br />

“Papago Park“ in der Nähe von Phönix in Arizona<br />

Am 2. Februar 1944 wurden alle kriegsgefangenen Mariner aufgerufen,<br />

mit Verpflegung versorgt und zum Bahnhof Rockford<br />

gefahren. Wir waren ca. 60 Mann und wurden in einem<br />

Pullman-Wagen untergebracht. An den beiden Eingängen war<br />

während der dreitägigen Fahrt Militärpolizei als Bewachung<br />

postiert. Es war für mich wie ein Traum und unvorstellbar,<br />

aber es war doch die Wirklichkeit. Ich erlebte Amerika mit<br />

seinen unendlichen Weiten, nachts die voll beleuchteten<br />

Städte, ganz ohne Angst vor Bomben. Die Fahrt zum neuen<br />

Lager ging durch die vielfältigsten Landschaftsformen, über<br />

flaches, grünes Land, über Berge und Täler, durch steiniges<br />

ödes Flachland und durch trockene Wüsten. Unser neues<br />

Lager, „Papego Park Arizona“, lag in der Nähe der Hauptstadt<br />

Phönix. Was mir sehr gefiel war, dass es in diesem Lager nur<br />

112


Angehörige der Kriegsmarine gab, die Offiziere eingeschlossen.<br />

Das Lager war in vier Compound (Teillager) für Matrosen und<br />

ein Compound für Offiziere eingeteilt. Insgesamt 2300 Mariners<br />

und 100 Offiziere, unter ihnen Kapitänleutnant Friedrich<br />

Guggenberger, der zweimal vergeblich ausbrach und später in<br />

der Bundeswehr diente.<br />

Arizona ist ein Staat mit viel Wüste, die durch zahlreiche<br />

Bewässerungskanäle durchzogen ist. Das typische Bild seiner<br />

Landschaft sind die Saguaro-Kaktusbäume und der Baumwollanbau.<br />

Unser Lager bestand aus primitiven Baracken, die uns<br />

als Unterkünfte dienten. Das Essen und die Betreuung in<br />

sozialen und ärztlichen Dingen waren hervorragend. Für die<br />

Anschaffung persönlicher Dinge wie Seife, Zahnpasta und<br />

andere Toilettendinge bekam man drei Dollar in 10 und 50<br />

Cent aufgeteilt als Coupons. Wer arbeiten ging, der konnte<br />

sich bis zu 10 Dollar hinzu verdienen und sich damit im Lagershop<br />

Dinge des persönlichen Bedarfs kaufen.<br />

In der Baumwollernte<br />

Arbeit gab es genug. Wir wurden vorwiegend auf den<br />

Baumwollfeldern eingesetzt. Nach dem Frühstück und dem<br />

Zählappell warteten die Farmer mit ihren alten, wackligen<br />

LKW’s schon vor dem Tor. Baumwolle selbst ist leicht, aber<br />

das Pflücken ist gar nicht so leicht. Nach acht Stunden Arbeit<br />

spürt man es stark im Kreuz. Diese Arbeit war gewöhnungsbedürftig.<br />

Die Baumwollkapsel war bei der Reife vorn spitz<br />

wie eine Nadel, und beim Herausziehen der Baumwollknospe<br />

konnte man sich, und das passierte täglich, die Fingerspitzen<br />

aufreißen. Eine andere Gefahr war die Black Widow (Schwarze<br />

Witwe), eine Spinne, die manchmal in der Knospe war.<br />

Wurde man gebissen, schwoll der Arm an. Das war unangenehm,<br />

aber mit einer Spritze war das nach einigen Tagen<br />

wieder vorbei. Die andere Gefahr lauerte zwischen den Reihen<br />

113


im Schatten, wohin sich Klapperschlangen gern verkrochen.<br />

Zum Glück kam das selten vor, denn meistens halten sich diese<br />

Schlangen im steinigen Geröllgebiet auf.<br />

Mit Spinnen und Schlangen habe ich selbst keine Bekanntschaft<br />

gemacht, aber die tägliche Hitze von 35 Grad machte<br />

mit am Anfang zu schaffen, nicht nur mir, sondern auch den<br />

meisten meiner Kameraden. So wurde auch mal das Khaki-<br />

Hemd ausgezogen, das verschwitzt am Körper klebte. Das<br />

wurde aber nicht gern gesehen, wegen der Moral, so bigott<br />

waren die Amis. So kam es mal zu einem Streik, als ein Sheriff<br />

vorbei kam und uns so oben ohne sah. Unser Wachposten und<br />

der Sheriff bekamen sich in die Wolle, und wir sollten wieder<br />

unsere Hemden anziehen. Wir hatten nicht die Absicht und<br />

legten die Arbeit nieder und wollten zurück ins Lager. Als der<br />

Farmer kam, waren der Posten und der Farmer für uns und<br />

der Sheriff musste sich geschlagen geben. So lernte ich ein<br />

bisschen Freiheit in Amerika kennen.<br />

Eines Tages wurde ich in eine Truppe delegiert, die an den<br />

Bewässerungskanälen das Gras beseitigen musste. Einige von<br />

uns, die mähen konnten und sich dafür gemeldet hatten,<br />

bekamen eine Sense. Ich wurde mit einigen Kameraden dazu<br />

bestimmt, an einer Straßenbrücke, unter der ein einen Meter im<br />

Durchmesser messendes Rohr hindurch führte, lange Stangen<br />

wie ein Gitter ins Wasser zu stecken, damit das abgemähte<br />

Gras aufgefangen wurde. Mittels einer Gabel mussten wir anschließend<br />

das aufgefangene Gras rausfischen. Durch diese<br />

Arbeit an der Straße hatte ich das erstmal Kontakt mit der<br />

Zivilbevölkerung. Die Leute, mit denen wir sprechen konnten,<br />

waren sehr wissbegierig, aber sehr unwissend. Zu mir kam<br />

mal ein Mann, nahm mir meinen Hut vom Kopf, sah mich<br />

ungläubig an, fasst mich an die Stirn. Ich fragte ihn, was das<br />

bedeuten soll, und er sagte: „Wo sind deine Hörner und das<br />

Hakenkreuz auf der Stirn?“ Der Posten klärte mich auf. In<br />

114


den Comic- und Hetzfilmen wurden wir „Krauts“, wie sie<br />

uns nannten, öfters mit Hörnern gezeigt, so, wie die Wikinger<br />

früher ihre Helme mit Hörnern hatten. Viele Amis wussten<br />

noch nicht einmal, dass Deutschland in Europa lag und wo<br />

ihre Boys kämpften.<br />

Rotes-Kreuz-Delegation<br />

Eines Tages im Mai 44 inspizierte eine Schweizer Rote-Kreuz-<br />

Delegation unser Lager. Es gab ja bei uns im Lager keine<br />

Beanstandungen. Die Verpflegung war gut, und wir bekamen<br />

unsere Salztablette, da wir wegen der großen Hitze viel schwitzten<br />

und der Körper dadurch viel Salz verlor. Auch die notwendigen<br />

Impfungen gegen Krankheiten erhielten wir. Die ärztliche<br />

Betreuung war ausgezeichnet. Vom Zahnarzt bekam ich meine<br />

erste Plombe verpasst.<br />

Warum diese Delegation? Zu meinem Erstaunen wurde ich<br />

mit einigen Mariner aufgerufen, nach vorn zu kommen. Ein<br />

Mitarbeiter der Delegation musterte uns einen Moment und<br />

putzte uns vor versammelter Mannschaft runter. Wir waren<br />

die, die noch nicht an unsere Angehörigen geschrieben hatten.<br />

Ja, wem sollte ich schon schreiben? Ich war gewillt, nach<br />

Kriegsende nicht mehr nach Deutschland zurück zu gehen.<br />

Meine Familienbande waren ja nicht mehr so ausgeprägt,<br />

allein durch das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin. Aber<br />

da war ja noch Oma und Tante Hilde, mit denen ich immer verbunden<br />

war. Und Freunde? Mein Freund Heiner war schon<br />

1943 in Russland gefallen. Das Rote Kreuz gab mir eine rote<br />

Karte, mit der ich verpflichtet war, irgendeinen Angehörigen<br />

zu benachrichtigen. Ich schrieb an Oma. Als die Karte der<br />

Delegation übergeben wurde, zögerte ich noch, ob es richtig<br />

war, nicht an meine Mutter zu schreiben. Doch die Bedenken<br />

ließ ich fallen, sie wird sich schon mit ihrem Alfred weiterhin<br />

amüsieren.<br />

115


Die Lampe und der Arrest<br />

Das Lagerleben lief weiter seinen Gang. Ich hatte mich damit<br />

beschäftigt, eine Tischlampe aus Sperrholz zu bauen. Laubsäge<br />

und das benötigte Material bekam ich aus dem Materiallager.<br />

Ein Elektriker, der außerhalb des Lagers arbeitete,<br />

besorgte mir eine Fassung sowie Schalter und Kabel. Es war<br />

ein sechseckiger Schirm mit Märchenmotiven. Ich war stolz<br />

auf meine Arbeit, aber die Freude sollte nicht lange anhalten.<br />

Bei einer Baracken-Kontrolle sah der Master-Sergeant, was bei<br />

uns dem Hauptfeldwebel entspricht, die Lampe und wollte<br />

sie haben. Ich sollte auch einige Dollar dafür bekommen. Ich<br />

verneinte.<br />

Nach der Kontrolle dauerte es nicht lange, und er kam mit<br />

einem Militärpolizisten zurück. Als ich ihn an der Tür sah,<br />

nahm ich die Lampe vom Nachttischschrank und zerschlug<br />

sie auf dem Boden. Ich war in den jungen Jahren sehr impulsiv,<br />

und meine Unvernunft war stärker als mein Verstand. Als<br />

der Sergeant die zerschlagene Lampe sah, war er erst sehr erstaunt.<br />

Er sagte kein Wort zu mir, zum Polizisten nur einige<br />

Worte, und dann wurde ich abgeführt. Außerhalb des Lagers<br />

war ein ca. 50 mal 40 Meter großes, mit Stacheldraht umzäuntes<br />

Gelände, eine Baracke für 20 Personen, nur mit Holzpritschen<br />

und zwei Toiletten. An der einen Ecke ein kleines Holzhäuschen<br />

mit Toilette und Möglichkeit zum Waschen und Duschen.<br />

Mir war gar nicht wohl zumute. Jeden Morgen bekam ich<br />

einen Liter Wasser und einen Kanten Weißbrot. Ich wartete<br />

schon den dritten Tag auf eine Verurteilung. Aber es tat sich<br />

nichts. Am vierten Tag kam der Sergeant mit einer großen<br />

Einkaufstüte, sah mich an und übergab sie mir. Ohne ein Wort<br />

zog er wieder ab.<br />

Es war eine Wundertüte mit gut belegten Broten, Apfelsinen<br />

und Pepsi-Cola. Ich war baff. Da ich schon mal gelesen<br />

116


hatte, dass Halbverhungerte oder Verdurstete, was auf mich<br />

noch nicht zutraf, sich nicht gleich den Bauch voll schlagen<br />

sollen, teilte ich mir alles ein. Es ist mir gut bekommen. Am<br />

sechsten Tag holte mich der Sergeant raus und machte mir<br />

den Vorschlag, gegen Bezahlung eine Lampe zu bauen. Ich<br />

war einverstanden und beschämt über seine kulante Art, mit<br />

mir umzugehen.<br />

Für die neue Lampe bekam ich vier Dollar, für die damalige<br />

Zeit eine Menge Geld. Einige Tage später wurde ich in einer<br />

Truppe von 150 Mann nach „Camp Beale“ in Kalifornien zur<br />

Obsternte abkommandiert.<br />

Zur Obsternte nach Kalifornien<br />

Es war nach internationalem Recht möglich, alle drei bis sechs<br />

Monate mit den Gefangenen einen Lagerwechsel durchzuführen.<br />

Der Sinn war, mögliche Vorbereitungen für Fluchtversuche zu<br />

unterbinden. Aber wer dachte schon an Fluchtversuch, da wir<br />

doch ein bombiges Leben hatten.<br />

Am 5. Juni 1944 kamen wir an. Die Fahrt mit der Bahn im<br />

Pullman-Coupe war schon Luxus und die Durchfahrt durch<br />

den Staat Arizona mit seinen Wüstengebieten und die Rocky<br />

Mountains berauschend. Geprägt wird der Südwesen Arizonas<br />

durch die Sonora-Wüste mit ihren riesigen Saguaro-Kaktusbäumen.<br />

Das Klima in Kalifornien ist trockene, und die Luft<br />

ist sauber. Im Sommer steigt die Temperatur manchmal bis<br />

auf 40 Grad.<br />

Bei der ersten Ansicht des Lagers nahm ich an, dass wir am<br />

Rande einer Stadt waren. Aber es war ein riesiges Militärareal.<br />

Links und rechts der Straßen standen einstöckige Holzbaracken.<br />

In jeder Straße gab es einen Einkaufsshop, ein Kasino,<br />

sogar eine kleine Kirche. Die Gebäudekomplexe waren alle<br />

117


quadratisch angeordnet. Für uns 150 Mann war ein mit<br />

Doppelzaun abgezäuntes Gelände borgesehen. Wir hatten<br />

einen Sportplatz, einen Einkaufsshop und, was ich als das<br />

Beste empfand, voll klimatisierte Baracken.<br />

An dieser Militärstadt schloss sich war ein Truppenübungsplatz<br />

an. Er sollte dem Hörensagen nach fünfzig Quadratkilometer<br />

groß sein.<br />

Aprikosen- und Pfirsichernte<br />

In den ersten zwei Monaten war ich zur Aprikosen- und<br />

Pfirsichernte eingeteilt. Diese Arbeit machte mir sehr viel Spaß,<br />

da die vom Baum gepflückten Früchte am besten schmecken.<br />

Doch nach einiger Zeit wollte ich keine mehr sehen. Ich hatte<br />

mich übergegessen. Außerdem wurde ich davon stark hartleibig.<br />

In diesen riesigen Plantagen wurde die Arbeit von Wanderarbeitern<br />

ausgeführt, die aus vielen Staaten der USA kamen.<br />

Diese Wanderarbeiter führten nach meiner Auffassung eine<br />

Art Zigeunerleben. Ihr Zuhause war ein PKW mit Wohnwagen.<br />

Mit Kind und Kegel zogen sie von Staat zu Staat, dorthin, wo<br />

gerade Saisonarbeit angeboten wurde, ob Baumwolle-,<br />

Gemüse- oder Obsternte. Sie fühlten sich als freie Bürger,<br />

waren immer fröhlich. Ich dagegen war bei dieser Akkordarbeit<br />

nach Feierabend fix und alle. Unsere Gruppe, wir waren<br />

fünfzehn Mann, schaffte selten die geforderte Norm, und so<br />

wurden wir von der Erntearbeit abgezogen. Einige Zeit des<br />

Nichtstuns tat mir ganz gut.<br />

Ich beschäftigte mich mit Tätigkeiten, die mich früher entweder<br />

nicht interessierten oder von denen ich keine Ahnung hatte. So<br />

spielte ich Fuß- und Handball, lernte Kartenspiele von Rommè,<br />

Doppelkopf bis Skat. Ich nahm mir vor, auch an einem Lehr-<br />

118


gang der englischen Sprache teilzunehmen. Aber noch fehlte<br />

eine Lehrkraft.<br />

Suche nach Blindgängern<br />

Eine neue Arbeit stand bevor: Blindgänger suchen. Wir waren<br />

zwölf Mann, ausgerüstet mit einem Seitengewehr, Gamaschen<br />

und einem Beutel. Diese Ausrüstung hatte folgende Bedeutung:<br />

Die Gamaschen waren der Schutz gegen Schlangenbisse, das<br />

Seitengewehr diente dazu, Stöcke von den Büschen zu schneiden,<br />

und in dem Beutel war giftiger Weizen, der an den Rand der<br />

Erdhörnchenhöhlen gestreut wurde. Erdhörnchen waren voller<br />

Ungeziefer und Krankheitsüberträger.<br />

Unsere Arbeit war nicht gefährlich, aber strapaziös, nur<br />

laufen und nochmals laufen. Auf dem Truppenübungsplatz<br />

wurden täglich Artillerie-Schießübungen durchgeführt.<br />

Bevor wir das Lager per LKW verließen, wurden im Hauptquartier<br />

die Zeit und die Planquadrate festgelegt, damit wir<br />

nicht in einen Schussbereich gerieten. In einer Linie in einem<br />

Abstand von Mann zu Mann von 10 Metern durchkämmten<br />

wir das Gelände nach Blindgängern. Wurde einer gefunden,<br />

wurde ein Stock von einem Gebüsch abgeschnitten, ein rotes<br />

Fähnchen daran befestigt und so die Stelle gekennzeichnet.<br />

Der Posten meldete den Fund per Feldtelefon, dann kam das<br />

Sprengkommando mit einem Jeep. Wurde ein Erdloch beim<br />

Suchen der Granaten gesehen, wurden rings um das Loch ein<br />

paar Giftkörner gestreut. Entfernte man sich ein paar Schritte,<br />

kamen die Erdhörnchen aus ihrem Bau und fraßen die<br />

Körner. Es dauerte dann keine Minute, und sie hatten das<br />

Zeitliche gesegnet.<br />

Die Gefahren in unserer Tätigkeit gingen von den im Busch<br />

lebenden Tieren aus. Schlangen, Taranteln, Vogelspinnen,<br />

Hyänen und sogar Pumas. Aber wir hatten ja unseren Förster<br />

119


und den Wachposten. Der Posten war ein putziges Kerlchen.<br />

Er sprach gut deutsch und war der Sohn jüdischer Einwanderer<br />

aus dem Fränkischen. Da er Plattfüße hatte, war er nicht fronttauglich.<br />

Aber auch bei unserer Bewachung war er nicht gerade<br />

eine Größe. Es war ja verständlich, dass er uns in dem teils<br />

unübersichtlichen Gelände mit Büschen, Senken und leichten<br />

Anhöhen nicht alle in Sicht hatte. Aber sein Ausspruch „Wenn<br />

ihr abhauen wollt, schieß ich euch in den Arsch“ ging uns auf<br />

den Geist.<br />

Bei unserer Aktion hatten wir täglich eine Stunde Ruhepause,<br />

die wir im Schatten der wenigen Bäume genossen. Nach dieser<br />

Lauferei in der Hitze überwältigte uns regelmäßig die Müdigkeit.<br />

Auch unseren Posten überfiel sie. Sein Gewehr lehnte<br />

er an einen Baum, während er im Gras lag und selig schnarchte.<br />

Einer unserer Kameraden schlich zum Gewehr, entfernte<br />

das Schloss, nahm es auseinander und verteilte es auf sechs<br />

Mann. Ich schlief nicht, beobachtete die Aktion und war über<br />

das Desinteresse des Försters erstaunt, der mit Gleichmut die<br />

Sache betrachtete. Als der Posten munter wurde und das Malheur<br />

sah, wurde er erst rot im Gesicht, dann blass. Nun wollte<br />

er keinem mehr in den Arsch schießen und bettelte um das<br />

Schloss. So fuhren wir ins Camp zurück, mit einem bitterbösen<br />

Posten und wir in Sorge, was mit den sechs Kameraden passieren<br />

wird, die die Schlossteile hatten. Sie bekamen alle drei Tage<br />

Arrest, und der Posten wurde umgesetzt.<br />

Es kamen sechs Neue, und die Arbeit ging noch 14 Tage, dann war<br />

ich einige Zeit arbeitslos. Unser Kamerad, der als Dolmetscher<br />

fungierte, fragte den Förster, warum er die Sache nicht<br />

unter bunden hatte. Er sagte „Ich wusste, dass ihr nicht flüchten<br />

wolltet. Ihr wolltet nur euren Spaß, na ja, den hattet ihr.“<br />

120


Ärger in der Wäscherei<br />

Nach einigen Tagen Nichtstun bekam ich Arbeit in der Wäscherei,<br />

an der Bügelmaschine für Hosen. Die Wäscherei unterhielt<br />

ein Jude im Range eines Obersts als Privatunternehmer. Alle<br />

Shops und anderen Unternehmen des riesigen Militärobjektes<br />

lagen in jüdischer Hand, und alle waren Offiziere. Ich hatte<br />

nichts gegen Juden, zumal ich mit meinem Nachbarsohn Joshi<br />

Papendick immer ein gutes Verhältnis hatte, und wir immer<br />

auf Abzahlung bei den Juden kaufen konnten. Aber es war nicht<br />

gerecht, dass einige der jüdischen Offiziere ihre Verachtung uns<br />

gegenüber offen zum Ausdruck brachten. Und so war unsere<br />

Reaktion entsprechend. Wir wussten es damals nicht besser.<br />

Da ich wieder die Norm nicht erfüllte, dieses Mal wollte ich<br />

nicht, kam ich an die Mangelmaschine. Wir waren acht Mann,<br />

die Bettlaken und Bezüge durch die Rollen jagen mussten. Auf<br />

jeder Seite war vor der Mangel eine Schiene mit einem Querbrett.<br />

Darauf wurden die Laken von zwei Mann handgerecht<br />

gepackt und auf die untere Rolle gelegt, wobei die obere Rolle<br />

das Laken mit einer rasenden Geschwindigkeit in die anderen<br />

Rollen zog, während mein Gegenüber und ich die Seiten der<br />

Laken glattziehen mussten. Dass Glattziehen gelang bei der<br />

Geschwindigkeit nicht immer, und so kamen einige Laken<br />

zerknautscht am Ende heraus. Ich stand am Kontroller und<br />

stellte die Geschwindigkeit etwas langsamer. Es dauerte nicht<br />

lange, und der Oberst kam zur Kontrolle, schimpfte mit mir<br />

und stellte den Kontroller auf Schnelldurchlauf. Als er weg<br />

war, stellte ich den Kontroller wieder langsam. Wir waren uns alle<br />

einige, dass durch diese Geschwindigkeit die Laken einwandfrei<br />

gemangelt wurden. Aber der Oberst sah das anders.<br />

Das Spielchen mit dem Kontroller, er Geschwindigkeit rauf,<br />

ich wieder runter, sobald er weg war, verschaffte mir nach<br />

einigen Stunden die Bekanntschaft mit zwei Militärpolizisten.<br />

121


Sie begleiteten mich zu einem Jeep. Ich hatte ganz schön<br />

Muffsausen. Mein Verdacht, dass ich das Lager eine Weile<br />

nicht wiedersehen würde, sollte sich bestätigen. Ich landete<br />

im Arrest.<br />

Erneut im Arrest<br />

Von außen sah er wie eine Holzbaracke aus, aber innen waren<br />

15 cm dicke Betonwände, ein vergittertes Fenster, ca. 25 cm<br />

im Quadrat, wahrscheinlich zum Luftholen, denn Sicht nach<br />

Draußen gab es keine, schließlich eine Holzpritsche und zwei<br />

Decken.<br />

Gespeist wurde vorzüglich, pro Tag ein Liter Wasser und ein<br />

Kanten Brot. Ich verfluchte mich selber, dass ich durch meine<br />

Dummheit in diese Lage gekommen war. Jetzt hatte ich Zeit<br />

und Muße, auch einmal an zu Hause zu denken. Die zweite<br />

Karte vom „Roten Kreuz“ musste ich an meine Mutter schicken,<br />

da machte ich mir kaum Hoffnung, Nachricht zu erhalten,<br />

zumal, wenn der liebe Alfred, ihr Liebhaber, die Karte abgefangen<br />

haben sollte. Das lag durchaus im Bereich des Möglichen,<br />

denn unser Verhältnis war sehr gespannt. Was machten meine<br />

Freundinnen, vor allem Inge Arnswald, der kleine freche Spatz,<br />

die Unnahbare? Wenn man in einer Einzelzelle eingesperrt<br />

ist, kommt das Gehirn ins Trudeln, und es kommen nur krause<br />

Gedanken in den Sinn.<br />

Einige Tage hatte ich schon abgesessen, ohne dass eine Verurteilung<br />

durch einen Gerichtsoffizier erfolgte, als ich etwas<br />

sehr überraschendes erlebte. Die Wache der Arrestbaracke<br />

erfolgte im 12-Stunden-Takt. Die Wachmannschaft bestand<br />

jeweils aus einem Sergeanten und sechs Soldaten. Eine neue<br />

Ablösung erfolgte, und gegen Abend, ich wollte mich gerade<br />

zum Schlafen hinlegen, kam der Wachhabende in meine Zelle.<br />

Das selbst war schon merkwürdig, da das Wasser und das<br />

122


Brot nur durch die Türklappe gereicht wurden und lediglich<br />

zur Notdurft die Tür aufgeschlossen wurde.<br />

Wir führten ein langes Gespräch, als Verhör betrachtete ich<br />

das nicht, denn ich erzählte auf seine Fragen hin meine halbe<br />

Lebensgeschichte - und er mir die seine. Seine Eltern hatten eine<br />

kleine Landwirtschaft in der Nähe der polnischen Westgrenze.<br />

Er sprach ein gutes Deutsch mit oberschlesischem Akzent.<br />

Seine Mutter war deutscher Abstammung, sein Vater Pole.<br />

Seine Anwesenheit in den USA verdankte er seiner Flucht vor<br />

Kriegsbeginn über das englische Konsulat.<br />

Ich fragte ihn, warum er mich so freundlich behandelt. Er<br />

sagte sinngemäß, dass ich kein Soldat in Polen oder Russland<br />

war, sondern nur Matrose in Italien, also konnte ich in seiner<br />

Heimat keine Verbrechen begangen haben. Sein Vater habe<br />

auch gute Deutsche kennen gelernt.<br />

Solange er mit seiner Truppe Nachtdienst hatte, genoss ich<br />

diese Nächte mit ihm bei belegten Broten und Pepsi-Cola<br />

oder Mineralwasser.<br />

Das Gegenteil lernte ich nach der Wachablösung kennen. In<br />

dieser Truppe war auch unser ehemaliger Wachposten vom<br />

Blindgänger-Suchkommando. Zwei Tage musste ich mich mit<br />

hartem Weißbrot und erwärmtem Wasser begnügen, das er<br />

zuvor einige Stunden bei Sonnenlicht auf das Fensterbrett der<br />

Wachstube gestellt hatte. Ich nahm es mit Gleichmut, mich<br />

dagegen zu beschwerden wäre sinnlos gewesen.<br />

Am zwölften Tag meiner Inhaftierung war Appell mit dem<br />

Lagerkommandanten angesagt. Ich war der einzige Häftling<br />

im Arrest und musste Dienstgrad, Name Alter und Grund der<br />

Haft melden. Bei dieser Aussage „Haft“ schwieg ich, und der<br />

Wachhabende informierte ihn, auch, dass nicht bekannt ist,<br />

wieviele Tage ich Arrest habe. Ich kam zurück in meine Zelle.<br />

Eine Stunde später wurde ich mit einem Jeep zum Provost-<br />

123


Marchel (Militär-Richter) gebracht und zur Urteilverkündung<br />

vorgeführt. Ich wurde zu 14 Tagen bei Wasser und Brot verurteilt.<br />

Da ich schon 12 Tage eingesessen hatte, musste ich noch zwei<br />

Tage absitzen. Ich habe es überstanden. Der Nachteil war nur,<br />

dass ich in dieser Zeit keine Arbeit hatte und mir somit die<br />

Möglichkeit genommen war, außer den drei Dollar Taschengeld<br />

zusätzlich Geld zu verdienen, um meinen Lagerlebensstandard<br />

mit Eis und Schokolade zu versüßen. Ich war Nichtraucher,<br />

und so reichten die drei Dollar vom Internationalen Roten<br />

Kreuz für die täglichen Bedürfnisse an Seife, Rasierseife,<br />

Zahnputzmittel und neue Unterwäsche. Meine Sturheit und<br />

mein Übermut hatte mich das zweite Mal ins Kalabusch, so<br />

nannten wir Mariner den Arrest, gebracht.<br />

Hier im „Camp Beale“ ging der Aufenthalt zu Ende, und es<br />

ging zurück nach Arizona. Aber es ging nicht nach Papego<br />

Park, sondern in das „Camp Mesa“ östlich der Hauptstadt<br />

Phönix.<br />

Camp Mesa<br />

Ankunft war der 20. Oktober<br />

1944. „Camp Mesa“ war aber<br />

kein Marinelager, sondern hier<br />

waren alle Waffengattungen<br />

vertreten. Von meiner alten<br />

Truppe war nur noch Gerhard<br />

Baatz mit mir zusammen.<br />

Als Unterkunft gab es keine<br />

Baracken, sondern nur 6-Mann-<br />

Zelte, die mit Holzpritschen,<br />

je zwei Decken und einem<br />

Kanonenofen in der Mitte eingerichtet<br />

waren. Es war sehr In Camp Mesa 1944<br />

124


primitiv. Als Arbeit war Baumwollpflücken und nochmals<br />

Baumwollpflücken angesagt.<br />

Ich kannte die harte Arbeit ja schon aus der Zeit in „Papego<br />

Park“, aber hier gab es nur Akkordarbeit. 67 englische Pfund<br />

mussten geschafft werden. Diese Norm wurde nur von sehr<br />

wenigen geschafft, von mir nicht. Aufgrund dessen gab es<br />

keine Entlohnung, auch nicht für die geschaffte Menge.<br />

Die Lagerleitung bestand aus Unteroffizieren und Feldwebeln<br />

der anderen Waffengattungen. Da waren noch viele alte<br />

stramme Nazis dabei, und sie bestimmten das Lagerlebens.<br />

Streik und selbst genähte Hose<br />

Deshalb wurde gestreikt. Sechs Wochen mussten wir bei Wasser<br />

und Brot sowie wöchentlich einmal eine warme Suppe<br />

auskommen. Die Folge? Gereizte<br />

Stimmung und zwei Tote durch<br />

Schwarzwasserfieber. Als Repressalie<br />

durchsuchten die<br />

Amis täglich unsere Zelte. Tätlichkeiten<br />

durch die Amis habe<br />

ich nicht festgestellt. Zugleich<br />

habe ich ihre Gelassenheit bewundert<br />

und mich gefragt,<br />

was in Deutschland mit Kriegsgefangenen<br />

passiert wäre, die<br />

im Lager gestreikt hätten?<br />

Als der Streik beendet war, gab<br />

es für uns keine Arbeit. Langeweile<br />

machte sich breit. Sport<br />

und Kartenspiele waren die<br />

einzige Zerstreuung, aber das Mit Gerhart Baats<br />

125


konnte mich nicht zufrieden stellen. Von „Camp Beale“ hatte<br />

ich aus der Wäscherei zwei weiße Bettlaken mitgehen lassen.<br />

Ich wollte mir eine Hose mit breitem Hosenbeinschlag selbst<br />

nähen, aber mit fehlte das Schnittmuster. In einem Camp mit<br />

Hunderten von PW (Prisoners of War) muss sich doch ein<br />

Schneider finden lassen! Und ich fand ihn. Er nahm Maß,<br />

machte den Zuschnitt und erklärte mir die Nähtechnik. Ich<br />

bezahlte mit zwei Stangen Zigaretten Camel. Billiger konnte<br />

ich keine Hose bekommen. Die Langeweile war wie weggeblasen,<br />

ich hatte eine Aufgabe. Stich für Stich, Naht für Naht,<br />

teilweise wieder auftrennen usw., aber in vier Wochen war<br />

die Hose fertig. (Bild mit zwei Kameraden vorhanden.)<br />

Erste Nachrichten von Zuhause<br />

Im Frühjahr 1945 ging es wieder auf die Baumwollfelder. Die<br />

neue Saat war aufgegangen, und die Pflänzchen mussten<br />

verzogen werden.<br />

Weite Felder, Kilometer lang und der Planet brannte unbarmherzig<br />

auf den Leib. Es war schlimmer als die Pflückarbeit. Der<br />

Schweiß machte die Innenhand wund, Salben und Kühlung<br />

brachten kaum Linderung. Ich habe es überstanden, und das<br />

Vergessen dere Schmerzen kam in Form eines lieben Briefes<br />

aus der Heimat. Inge Arnswald hatte mir die erste Hoffnung<br />

und Freude nach Amerika gebracht. Den ganzen Inhalt kann<br />

ich nicht wiedergeben, aber die Freude, dass ich gesund bin,<br />

und die Traurigkeit, wieviele Bekannte gefallen oder durch<br />

Bombenangriffe umgekommen waren, war dem Brief zu entnehmen.<br />

Mein Zuhause Große Gartenstraße 8 war zerbombt.<br />

Mama und Alfred waren im Moment des Bombenangriffs<br />

nicht zu Hause. Inge Arnswald hatte meine Schwester Inge<br />

bei sich aufgenommen, von der sie auch meine Adresse hatte.<br />

126


Von nun an kamen öfter Briefe, auch von Oma und Mama.<br />

Aber meine Gedanken und Träume drehten sich seit dem ersten<br />

Brief von Inge Arnswald nur noch um sie. Ich begann zu<br />

spinnen. Träumte von Haus und zwei Kindern in einer glücklichen<br />

Ehe. Aber wollte sie mich überhaupt, mich, der in einem<br />

solchen sozialen Milieu aufgewachsen war? Ihre Eltern<br />

lebten in geordneten Verhältnissen. Bisher waren wir uns in<br />

Freundschaft verbunden, was ihr Vater auch duldete. Aber<br />

mehr? Immerhin, seit ich im letzten Urlaub bei Mutter Oma<br />

Groczek in Butterlake war, wusste ich, dass ich bei den Großeltern<br />

angekommen war. Es war eine große Herzlichkeit.<br />

Der Krieg neigte sich dem Ende entgegen, und ich ließ meinen<br />

Gedanken freien Lauf.<br />

Kriegsende<br />

Am 6. Mai 1945 wurde ich abkommandiert ins Nebenlager<br />

Continental (Nebenlager Compound) direkt an der Hauptstraße<br />

10 zwischen Tucson und Nogales an der Mexikanischen<br />

Grenze.<br />

Es war ein kleines Lager für 150 Mann mit Sechs-Mann-Zelten<br />

wie in Camp Mesa. Unser Kommandant war Leutnant Beppo<br />

Beaumont, ein kleiner, dicklicher, gutmütiger Mann. Hier<br />

wurden wir zur Kartoffel- und Möhrenernte eingesetzt. In der<br />

Kartoffelernte, die vollmechanisiert war, wurden wir nur am<br />

Sortierband eingesetzt.<br />

Mit uns auf den Feldern arbeiteten nur Latinos, Menschen<br />

aus Mittel- und Südamerika. Sie arbeiteten und lebten unter<br />

unmenschlichen Bedingungen, wenig Lohn und schlechte<br />

Unterkünfte. Ihr Vorgesetzter war ein Mexikaner, fies und<br />

brutal.<br />

Hier im Lager Continental überraschte uns das Kriegsende,<br />

der V-Day, der 8. Mai, der Siegestag der Amis. Die Bewohner<br />

127


der Städte, die Farmer und Bewacher waren wie berauscht,<br />

und wir natürlich niedergeschlagen. Wir waren die Verlierer<br />

und bekamen das kurzfristig zu spüren. Das Essen wurde<br />

mies, der Shop wurde geschlossen, und es gab keine Sachen<br />

des täglichen Bedarfs mehr. Vor allem keine Zigaretten. Für<br />

die Raucher war das wie ein moralisches Todesurteil.<br />

Ich war immun, kein Raucher, mir war ein Becher Eis lieber.<br />

Meine neue Arbeitsstelle war die SS-Ranch in der Nähe der<br />

mexikanischen Grenze. Wir nannten sie so, weil der Rancher<br />

Samuel Strong hieß.<br />

Auf der SS-Ranch<br />

Er hatte Tausende Rinder und dementsprechend ein riesiges<br />

Weideland. Wir, wir waren 10 Mann, hatten die Aufgabe,<br />

Kleeheu unter Dach zubringen. Es war eine gute Arbeit, teilweise<br />

jedoch auch schwer. Technisch und organisatorisch war<br />

die Farm auf einem so hohen Niveau, wie ich es in der Heimat<br />

noch nie gesehen hatte. Mein Nationalgefühl, wir sind die<br />

Besten, wir haben die beste Technik der Welt, bekam einen<br />

Riss.<br />

Der Ablauf war rationell durchorganisiert. Ein kleiner Caterpillar<br />

(Kleintraktor mit Raupen), seitwärts ein Elevator zur<br />

Heuaufnahme mit einer Presse, links und rechts je ein Mann,<br />

der eine steckte den Draht im oberen und unteren Drittel des<br />

Heuballens durch, der andere machte einen Kreuzknoten.<br />

Wenn der gepresste Ballen ausgestoßen wurde, entspannte<br />

sich der Ballen und wurde in seiner Form gehalten. Hinter der<br />

Presse war eine Einachser-Plattform von ca. 2 x 2 Meter angekoppelt.<br />

Auf dieser Plattform wurden 16 Stück von einem<br />

Mann gestapelt. War die Plattform voll, zog er einen Hebel,<br />

die Plattform senkte sich nach hinten und die Ballen blieben<br />

in Quadratform auf dem Feld liegen. Die Ballen wurden<br />

128


von vier Mann auf einen Plattenwagen aufgeladen und unter<br />

Dach gebracht. Das war wie eine Scheune nur mit Dach und<br />

Stützpfeilern, aber ohne Wände.<br />

Der Planet brannte unbarmherzig auf uns nieder, und die<br />

Versorgung durch den Rancher für uns und seine Cowboys<br />

mit eisgekühltem Wasser und geschnittenen Pampelmusen in<br />

50-Liter-Metallbehältern war immer gewährleistet. Konnte man<br />

es als Kriegsgefangener besser haben? Mittag um 12 Uhr war<br />

Feierabend, und es gab ein kräftiges Essen, meist ein Stück<br />

Fleisch mit roten Bohnen.<br />

Als wir schon 14 Tage dort waren fragte uns der Vormann im<br />

Auftrag des Ranchers, ob wir jeden Tag eine Stunde länger<br />

arbeiten würden, denn die Regenzeit würde bald einsetzen,<br />

und das Heu müsste unters Dach. Wir mussten das nicht<br />

machen, sprachen uns jedoch mit den Posten ab und sagten<br />

zu. Für uns war das sehr gewinnbringend, denn in dieser<br />

Stunde schafften wir zwei Wagen mehr, und jeder bekam<br />

einen Dollar und eine Schachtel Zigaretten. Ein Labsal für die<br />

Raucher. Die Sonne machte mir ganz schön zu schaffen. Aber<br />

nach fünf Tagen war die Arbeit beendet, und es ging wieder<br />

zurück zum Hauptslager Papago Park. Am dem 14. September<br />

wurde Papego Park wieder für eine lange Zeit mein Zuhause.<br />

Für ein langes Jahr in Papago Park<br />

Es war ein Jahr ohne besondere Ereignisse, nur mit viel Arbeit<br />

in den Bauwollfeldern, oder bei der Bereinigung der Bewässerungsanlagen.<br />

Ich besuchte einige Male Seminare für englische<br />

Sprache. Aber in Rechtschreibung und Grammatik war ich ja<br />

schon in der Schule nicht besonders gut gewesen. Durch meine<br />

Lungenentzündung und zwei Kuraufenthalte 1935 war ich<br />

ein halbes Jahr der Schule fern geblieben, so dass ich in der 5.<br />

Klasse sitzen bleiben musste. Ich will mich damit nicht ent-<br />

129


schuldigen, denn ich hatte ja auch die Möglichkeit, durch die<br />

Abendschule einiges nachzuholen. Aber eine gewisse Trägheit<br />

und der Sport waren ein schlechter Ratgeber. In den Seminaren<br />

war ich gemeinsam mit Schülern, die schon das Abitur oder<br />

Reifezeugnis hatten. Ich merkte schon bei einigen ihre Überheblichkeit<br />

und spürte an ihren dummen Bemerkungen, dass<br />

ich nicht in dieses Seminar passte. Mein Selbstwertgefühl litt<br />

sehr darunter, und ich hörte wieder auf.<br />

130


Fußball, Handball und Kartenspiele waren nun meine Freizeitgestaltung,<br />

bis ich einen älteren Kameraden kennen lernte,<br />

der in der Schachmannschaft spielte. Er wollte einer Gruppe<br />

junger Soldaten das Schachspielen beibringen. Ich war begeistert,<br />

und das war meine Schule, an der ich immer teilnahm, wenn<br />

ich nicht in einem anderen Lager zum Arbeitseinsatz war.<br />

131


Blackfoot, Idaho<br />

Der Tag der Verlegung kam schneller als gedacht. Meine<br />

Abkommandierung erfolgte am 26. September 1945 nach<br />

Blackfoot, Idaho. Blackfoot liegt am Highway 15 zwischen<br />

Pocatello und Idaho Falls.<br />

Idaho ist Kartoffel- und Rübenland, und unsere Aufgabe<br />

wurde es, diese aus der Erde zu holen. Untergebracht waren<br />

wir in einer heißluftbeheizten Landwirtschaftshalle. Die<br />

Ernte erfolgte meist mit Körperkraft, die Kartoffeln zwar<br />

auch maschinell, die Rüben jedoch nur manuell. Es war, Gott<br />

sei Dank, nur eine kurze Zeit, die zudem betreffs der Freizeit<br />

auch ihr Gutes hatte. Um die Halle herum war in drei Meter<br />

Abstand ein nur 50 Zentimeter hoher Stacheldrahtzaun<br />

gezogen, als Zeichen einer „Verbotenen Zone“. Nicht für uns,<br />

sondern für die Bevölkerung. Ich benutzte, wie ein großer Teil<br />

meiner Kameraden, die Gelegenheit, abends in der Dunkelheit<br />

Stadtbesichtigungen zu machen. Die Menschen beachteten<br />

uns nicht so besonders, sie waren es gewöhnt, denn zur Saison<br />

waren des Öfteren Kriegsgefangene hier.<br />

Weiter nach Camp Bukey<br />

Am 5. November 1945 waren wir wieder in Papago Park.<br />

Anschließend ging es am 17. November gleich ins Camp<br />

Bakey ca. 30 Kilometer von Phönix zur Baumwollernte. Camp<br />

Bakey war ein kleines Zeltlager für uns 15 Mann und 3 Posten. Es<br />

lag am Rande eines Feldweges. Hinter unserem Lager befand<br />

sich ein riesiges Weideland. Um das Lager herum war wie in<br />

Idaho ein bisschen Stacheldrahtzaun. In der Nähe standen<br />

zwei kleine Zelte, in denen Mexikaner campierten, die dort<br />

ihre große Schafherde hüteten. Es war eine idyllische Zeit.<br />

132


Einige Kameraden und ich gingen öfter zu den Mexis, denn<br />

wenn es Abend wurde, klimperten sie bis spät abends auf ihren<br />

Gitarren, und wir waren ihre Gäste. Es waren arme Burschen,<br />

die Hirten, aber gastfreundlich, und das trockene Fladenbrot<br />

aus Mais schmeckte.<br />

Die Posten kümmerten sich kaum um uns, nur um zehn Uhr<br />

zur Zählung mussten wir da sein. Und wir waren immer<br />

pünktlich da, denn wer wollte nach Ende des Krieges und bei<br />

dieser Betreuung noch abhauen. In diesem Zeltlager fühlte ich<br />

mich nicht als Kriegsgefangener. Das riesige Weideland ringsherum,<br />

nur hier und da ein Baum. Wenn ich träumte, wurde<br />

der Stacheldraht mit seiner geringen Höhe zur grünen Hecke<br />

um einen Garten. Sentimental zu sein hat auch etwas Gutes.<br />

Es ist keine Schwäche, sondern es kommen die Gedanken,<br />

wie man sich sein weiteres Leben vorstellt. Zurückblickend<br />

auf mein Jugendleben wollte ich nicht mehr zurück in das<br />

soziale Umfeld meiner Familie. Mein Traum, und träumen<br />

darf man ja, waren eine liebe Frau, ein Haus und zwei Kinder.<br />

Mein Beruf als Former würde mir die finanzielle Grundlage<br />

ermöglichen.<br />

Das Weihnachtsfest 1945 war trostlos. Wir erhielten zwar eine<br />

Sonderration vom Hauptlager, aber die gewisse Feierlichkeit fehlte.<br />

Wenn ich im Hauptlager gewesen wäre, hätte ich vielleicht<br />

den Weg zur Weihnachtsmesse gefunden, auch wenn ich im<br />

Prinzip kein Kirchgänger war. Dazu widersprachen meine<br />

Erfahrungen mit einigen Vertretern Gottes zu sehr meinen<br />

christlichen Vorstellungen. Aber mein seelisches Gemüt war<br />

aus dem Gleichgewicht geraten, und Weihnachten sind nun<br />

einmal Tage, an denen das Herz eine andere Meinung hat als<br />

das Gehirn.<br />

Einige Wochen später änderte sich alles schlagartig. Mit dem<br />

Auftrag, das Lager in einigen Tagen aufzulösen, kam auch<br />

133


Post. Ich erhielt wieder einen Brief von Inge Arnswald. Es war<br />

ein trauriger Brief, aber auch mit einigen hoffnungsvollen<br />

Zeilen, die meine Gedanken anregten. Die traurige Nachricht<br />

war, dass mein Großvater gestorben war. Oma lebte jetzt mit<br />

Tante Hilde zusammen. Inges Freundin Melitta, mit der<br />

gemeinsam sie beim Reichsarbeitsdienst war, war bei<br />

dem schweren Bomben angriff am 20. April 45 ums Leben<br />

gekommen. Brandenburg war stark zerstört, aber die lieben<br />

Zeilen von Inge Arnswald gaben mir große Hoffnung auf eine<br />

Zukunft zu zweit.<br />

Aufbruch Richtung Europa<br />

Am 5. Februar 1946 war ich wieder zurück in Papago Park.<br />

Zu meiner großen Überraschung wurde ich neu eingekleidet<br />

und gegen Tetanus sowie Paratyphus geimpft. Außerdem<br />

konnte ich im Shop einkaufen. Es ging nach Hause. Am 19.<br />

Februar 1946 ging es mit der Bahn nach Kalifornien, nach San<br />

Francisco.<br />

Am 21. Februar trafen wir in San Francisco ein und wurden<br />

gleich weiter zum Hafen Oakland und um 17 Uhr an Bord auf<br />

der „DS Cap Douglas“ gebracht. Es war ein Schiff der Lyberti-<br />

Klasse, die in 100 Tagen zusammengeschweißt worden war.<br />

Die Meinung der Amis war, dass dieser Typ ein „Seelenverkäufer“<br />

ist, also kein sicheres Schiff, dem man eine große<br />

Fahrt über den Atlantik zutrauen konnte. Dieser Überzeugung<br />

war ich nicht, denn es brachte uns heil nach England. Bei<br />

ruhiger See auf dem Pazifiks ging es entlang der Küste bis<br />

zum Panama-Kanal. Der Dampfer hatte nicht viel drauf, die<br />

Fahrt dauerte 12 Tage.<br />

134


Durch den Panama-Kanal nach Liverpool<br />

Am 3. März 1946 kamen wir in Panama an, und nach einigen<br />

Stunden begann die Durchschleusung durch den Kanal. In<br />

einer Enzyklopädie habe ich einmal gelesen, dass man kaum<br />

irgendwo in Lateinamerika die Pracht und die Vielfalt des<br />

Dschungels mit seinen Mangrovenbäumen, Liliengewächsen,<br />

Papageien und Affen ruhiger und gefahrloser genießen kann<br />

als an Deck eines Schiffes im Panama-Kanal. Tatsächlich<br />

wurde die Durchfahrt ein für mich einmaliges Erlebnis.<br />

Am 6. März 46 erreichten wir den Hafen Colón an der Ostküste<br />

Panamas. Am nächstfolgenden Tag ging es gleich<br />

weiter, südlich an Kuba vorbei Richtung England. Mit der<br />

Ankunft am 20. März 46 im Hafen von Liverpool (England)<br />

war für uns die Hoffnung verbunden, dass es gleich weiter<br />

nach Deutschland gehen würde. Das war ein großer Irrtum<br />

und eine große Enttäuschung. Nach der Anlandung ging es<br />

in eine große Lagerhalle der Hapag-Lloyd. Wir mussten uns<br />

alle entkleiden, und unsere Seesäcke wurden kontrolliert.<br />

Zur Ehrenrettung der englischen Soldaten muss ich sagen,<br />

es waren genau solche arme Hunde wie wir, und es war für<br />

mich verständlich, dass sie mit ihren gierigen und hungrigen<br />

Augen auf unsere aus Amerika mitbrachten Sachen schielten<br />

- und sich bedienten.<br />

Nach der Filzung war mein Seesack bloß noch halbvoll.<br />

Nach der Filzung wurden wir auf Militärfahrzeuge verladen,<br />

und es ging ab zum Lager 17 Cheffild. Dort verbrachte ich<br />

meine trostloseste Zeit meiner Gefangenschaft. Es war ein<br />

Durchgangs lager. Entweder nach Hause fahren oder noch in<br />

England bleiben, wir sollten es ganz schnell erfahren. Ich war<br />

ja im Oktober 43 von der englischen Marine gefangen genommen<br />

worden, dann aber in amerikanische Obhut gegeben, da sie<br />

1943 selbst nicht in der Lage waren, uns zu verpflegen.<br />

135


136


Kriegsgefangenschaft in England (1946 - 1947)<br />

In Yorkshire<br />

Nach ca. drei Wochen Nichtstun, in den sogenannten Nissenhütten<br />

vegetierend und von schmaler Kost lebend, kam ich<br />

ins Hauptlager 53 Brayton-Selby Yorkshire. Es war einen Tag<br />

vor Inge Arnswald zwanzigstem Geburtstag am 12. April 1946.<br />

Ich bekam in Cheffild noch einen lieben Brief, in dem ich für<br />

mich eine Hoffnung sah, dass meine Träume in Erfüllung gehen<br />

könnten.<br />

Im Lager 53 Yorkshire (vorn, 2. von rechts)<br />

Im Hauptlager waren sämtliche Waffengattungen und Gefangene<br />

aus allen Gauen Deutschlands vertreten. Es bildeten<br />

sich Parteien sämtlicher Couleurs mit einigen Agitatoren. Sogar<br />

ein Kommunist hielt Seminare ab und erhielt von den älteren<br />

Kameraden Zulauf. Ich hielt mich da raus, trotz meiner Vorbe-<br />

137


lastung durch Oma und Onkel Willi, denn ich wollte erst einmal<br />

abwarten, was sich zu Haus alles tun wird.<br />

Von meinen alten Kameraden war ich jetzt vollständig getrennt,<br />

aber ich fand einen neuen Kameraden, mit dem mich eine<br />

gute Freundschaft bis zu unserer Trennung in der Heimat<br />

verband. Es dauerte eine<br />

gewisse Zeit, bis ich mit<br />

der neuen Umgebung<br />

vertraut war. Die Engländer<br />

waren toleranter als<br />

die Amis. Wir erhielten<br />

einen Ausweis, mit dem<br />

wir berechtigt waren, uns<br />

bis zum Einbruch der<br />

Dunkelheit im Umkreis von<br />

Yorkshire-Land frei zu bewegen.<br />

Die meisten PW’s<br />

arbeiteten in der Landwirtschaft,<br />

einige hatten<br />

schon Liebschaften mit<br />

den englischen Mädchen<br />

angefangen, und sogar<br />

Kinder waren schon ge-<br />

Geburtsstätte Gesindehaus<br />

138<br />

zeugt worden. Außerdem<br />

waren schon Maßnahmen<br />

für die Rückführung der<br />

PW’s in die Heimat eingeleitet worden. Es ging nach der politischen<br />

Einordnungen eines jeden, nämlich A = Nazi, B = Mitläufer<br />

und C = keine Partei. Ich war unter C 9 = September 47<br />

eingeteilt, und so konnte ich hoffen, nach Hause zu kommen.<br />

Ich nutzte die Tage auf meine Art.


Hühnerfarm und Hühnerjagd<br />

Das Lager lag auf einer leichten Anhöhe direkt an der Hauptstraße<br />

Brayton-Selby. Meine erste Arbeit war bei einem Bauern,<br />

auf dessen Viehweiden ich die Diesteln und Brennnessel<br />

umzumähen hatte. Eintöniger ging es nun wirklich nicht.<br />

Aber ich erhielt in dieser kurzen Zeit meiner Schwerstarbeit<br />

immer ein gutes Frühstück!!! Anfang Mai 46 wurde ich auf eine<br />

Hühnerfarm beordert. In der Nähe von Selby hatte ein Lord<br />

riesige Ländereien, und die Hühnerfarm war einige Kilometer<br />

entfernt von unserem Lager.<br />

Für mich war das Neuland und ein interessantes Arbeitsgebiet,<br />

wobei ich eine gute Lehrmeisterin hatte. Helen, so hieß<br />

sie, war 49 Jahre alt. Ihr Mann arbeitete in der Rinderaufzucht,<br />

ebenfalls bei „seiner Lordschaft“. Helen und ich hatten täglich<br />

ca. 3000 Hühner zu versorgen. Meine Aufgabe bestand darin,<br />

Kot von den Litzen zu kratzen und Eier einzusammeln. Es war<br />

ein riesiges Freilauf-Areal mit 12 ehemaligen Militärbaracken.<br />

Das Futter wurde uns per LKW geliefert, die Wege zu den<br />

Baracken waren zementiert, und der große Handwagen für<br />

den Futtertransport gummibereift. Es war für uns beide eine<br />

Zeit ausfüllende und schwere Arbeit. Ich hatte mich schnell<br />

eingearbeitet, und mir machte es sogar Freude, mit dieser<br />

freundlichen Frau zusammen zu arbeiten. Nach Feierabend<br />

war ich die erste Zeit ganz schön groggi. Die ca. 400 m bis zu<br />

der Wegkreuzung, an der ich von einem Militär-LKW immer<br />

abgeholt und morgens abgeladen wurde, fielen mir schwer.<br />

Als ich bei der Durchsuchung in der Hapag-Lloyd-Lagerhalle<br />

in Liverpool durch die Wachsoldaten vom Inhalt meines Seesacks<br />

erleichtert worden war, hatte ich mir geschworen, das<br />

bei bestmöglicher Gelegenheit wieder zu beschaffen. Hier war<br />

die Möglichkeit gegeben. In der Nähe eines kleinen Wäldchens<br />

war ein ca. 500 qm großes, wildwachsendes Areal mit hohen<br />

139


Brennnesselpflanzen. Dort jagte ich einige Hühner und erschlug<br />

sie mit einer Weidengerte. Dies passierte so zwei- bis<br />

dreimal die Woche. Es fiel<br />

nicht auf, wenn in der Nähe<br />

Federn und Blut lagen,<br />

zumal ab und an auch mal<br />

Füchse ihr Leckerli holten.<br />

Durchs Lagertor nahm ich<br />

es in meinem Regenmantel<br />

(heute Natopelle genannt)<br />

mit. Wir wurden ja kaum<br />

kontrolliert. Josef Oesterreich,<br />

mein neuer Freund,<br />

hatte einen Landsmann aus<br />

Hessen, der Koch war, und<br />

der lies schon mal einige<br />

Schilling für die Hühner<br />

springen.<br />

Zum Geldverdienen hatte ich<br />

auch noch andere Möglichkeiten,<br />

z.B. auch durch Ver-<br />

In englischer Gefangenschaft<br />

bindungen von Josef, indem<br />

wir in der Rüben- und Kartoffelpflanzzeit die Jungpflanzen<br />

durch Hacken verzogen. Sonnabends und sonntags war ich<br />

mit dabei, damit diese Tage nicht so öde waren.<br />

Zukunftsträume<br />

Die Tage der Freude konnte ich zählen. Das waren die, an denen<br />

wieder Post ankam und auch ein lieber Brief von Inge<br />

Arnswald dabei war. Ich sehnte schon sehr den Tag herbei, an<br />

dem wir uns das erste Mal wieder gegenüberstehen. Werden<br />

sich meine Hoffnungen erfüllen? Was wird uns nach dieser<br />

Kriegsnot erwarten? Was wird ihr Vater sagen, der nichts<br />

140


dagegen hatte, dass ich ihr Freund war, würde er mich als ihren<br />

Mann akzeptieren? Ich hatte nur Gedanken für sie. Wenn ich<br />

sie als Frau bekomme, würde ich ihr ein guter Ehemann sein.<br />

Zwei Kinder wären mein Wunsch, ihnen ein guter Vater zu sein<br />

und sie in einem besseren Milieu aufzuziehen als das, in dem<br />

ich groß geworden bin. Mit guten Ratschlägen verheirateter,<br />

älterer Kameraden wurde ich sehr bedacht. Aber nicht nur die<br />

Liebe zu Inge Arnswald beschäftigte mich, sondern auch der Gedanke,<br />

was wird, wenn sich meine Wünsche nicht erfüllen.<br />

Mein anderer Zukunftsgedanke war abstrakter, aber, wie mir<br />

damals schien, keines falls abwegig. Ich würde versuchen, von<br />

Westdeutschland nach Kanada auszu wandern. Der Gedanke, in<br />

dem alten Milieu der Familie mit dem lieben Alfred zusammen<br />

leben zu müssen, war für mich nicht akzeptabel. Doch ich<br />

glaubte fest an eine Zukunft mit Inge Arnswald. Noch war<br />

ich Gefangener, aber schon im Einbürgerungsprozess ins zivile<br />

Leben. Der englische Ausweis gab mir das Gefühl, ein freier<br />

Mann zu sein, wenn nicht noch das Barackenleben wäre.<br />

Ich konnte ins Kino, zum Fußballspiel und sonst wohin im<br />

Gebiet Yorkshire gehen, allerdings nur bis zum Einbruch der<br />

Dunkelheit.<br />

Landwirtschaft und Fallen stellen<br />

Im Oktober wurde ich von der Hühnerfarm abgezogen. Die<br />

Legetätigkeit nahm ab, und das Schlachten begann, um Platz<br />

für die Aufzucht neuer Küken zu schaffen. Für mich folgten<br />

einige Tage in der Kartoffelernte und anschließend beim<br />

Dreschen - und Weihnachten kam immer näher. Die Dreschzeit<br />

war sehr interessant. Es gab noch keine Mähdrescher. Die<br />

Ernte erfolgte wie bei unseren Bauern: Getreide mähen, Garben<br />

aufstellen, einige Tage trocken lassen und anschließend das<br />

Getreide auf einem freien Feld in Dieme lagern. Dieme sind<br />

große, rechteckige Lagerstätten in der Größenordnung von<br />

141


30 x 10 m. An der Ernte beteiligte sich das ganze Dorf. In der<br />

Winterzeit wurde das Getreide gedroschen. Eine Dampfmaschine,<br />

unseren Dampfwalzen ähnlich, nur breite Vorderräder<br />

statt der Walze und hintendran eine riesige Dreschmaschine,<br />

die mit den Riemen der Dampfmaschine angetrieben<br />

wurde. Rings um den Diemen stand eine Unmenge Terrier,<br />

die auf die Ratten und Mäuse warten, die aus den Diemen<br />

huschten. Je näher wir dem Boden kamen, desto mehr Ratten<br />

und Mäuse flohen den Terriern vor die Schnauze. England<br />

war als Ratten-, Karnickel- und Kräheninsel benannt. Es gab<br />

Unmengen von dem Viehzeug.<br />

Karnickel und Krähen fangen war Josefs und mein Spaß. Als<br />

wir in der Kartoffelernte waren, beobachteten wir den Jäger<br />

seiner Lordschaft, wie er seine Schlingen für den Karnickelfang<br />

aufstellte und eigneten uns etliche der Schlingen an. Wir<br />

stahlen sie. Alle Felder in dieser Gegend sind mit Steinwällen<br />

oder Hecken eingefasst. In diesen Hecken stellten wir Sonnabend<br />

am späten Nachmittag die Schlingen auf, und Sonntagmorgen<br />

kontrollierten wir. Zwei bis drei Karnickel waren immer im<br />

Sack. Für uns gab es einige Schillinge und für den Koch Arbeit,<br />

der die natürlich auch nicht umsonst tat. Das Weihnachtsfest<br />

wurde von der Lagerleitung dürftig beliefert. Wir spürten,<br />

dass das Land genau wie unsere Heimat noch an den Folgen<br />

des Krieges zu knabbern hatte.<br />

Harter Winter<br />

Es kam der erste Schnee, und ich freute mich zunächst wie ein<br />

kleiner Junge, denn es war nach sieben Jahren, nach Einsatz<br />

im Mittelmeer und Gefangenschaft in Afrika und im Süden<br />

der USA der erste Winter für mich. Dieser Winter wird lange<br />

in meiner Erinnerung bleiben. Es war ein strenger und sehr<br />

kalter Winter mit ungeheuer viel Schnee. Wir wurden alle zum<br />

142


Schneeräumen eingesetzt, und die Bevölkerung honorierte das<br />

und bedachte uns mit heißem Tee und Sandwichbroten.<br />

Der Winter ging so langsam zu Ende, und es sollte danach<br />

noch schlimmer kommen. Die Schneeschmelze setzte rasant<br />

ein, und im ganzen Bereich Yorkshire gab es Hochwasser so weit<br />

das Auge sehen konnte. Felder und Straßen waren überflutet.<br />

Zum Glück lag unser Lager auf etwas höherer Ebene, doch<br />

wir waren ringsherum vom Wasser eingeschlossen. Die Verpflegung<br />

musste rationiert werden, aber am Hungertuch<br />

brauchten wir nicht nagen. Als nach ca. drei Wochen die Straßen<br />

wieder frei und die Wiesen und Felder noch etwas unter Wasser<br />

waren, gingen Josef und ich wieder auf Karnickelfang. Die<br />

Karnickel suchten vor dem Wasser Schutz und hielten sich<br />

auf den Hecken oder auf größeren Baumstümpfen auf. Es war<br />

ein leichtes, sie zu fangen. Nur das Wasser war sehr kalt, denn<br />

wir mussten schon die Schuhe ausziehen und die Hosenbeine<br />

hochkrempeln. Zu dieser Zeit gab es für uns Gefangene zwar<br />

keine Arbeit, doch Langeweile gab es für uns zwei nicht.<br />

Auf Krähenjagd<br />

Von April bis Mai war die Brutzeit der Krähen, und die Krähen<br />

waren eine Sorge für die Gutsbesitzern. Die meisten Zufahrtswege<br />

ihrer Schlösser oder Herrschaftshäuser waren mit Pappeln<br />

umsäumt. Auch in ihren Parkanlagen sind diese Bäume<br />

Standard. In den Pappeln nisteten und brüteten die Krähen.<br />

Bevor die Jungvögel flügge wurden und am Nestrand das<br />

Flügelschlagen trainierten, begann unsere Jagd. Krähen bauen<br />

ihre Nester bis in die äußerste Spitze des Baumes, dorthin,<br />

wo es sehr wackelig wird. Die Jagd war einfach, aber anstrengend.<br />

Mit einem drei Meter langen Stab kletterte einer von<br />

uns rauf und stieß mit dem Stab gegen das Nest, bis je nach<br />

Gelegegröße ein oder zwei Jungkrähen zu Boden segelten. Der<br />

143


Untenstehende nahm sie in Empfang, auf dem Boden waren sie<br />

unfähig zu entkommen, und drehte ihnen den Hals um. In der<br />

Zeit, in der der erste wieder runter kletterte, stieg der zweite<br />

den nächsten Baum hoch. An einem Jagdausflug schafften wir<br />

beide acht bis zehn Bäume. Der Fang war zufriedenstellend.<br />

Unser Fang von 10 bis 14 Stück wurde an Ort und Stelle samt<br />

Federkleid enthäutet und ausgenommen.<br />

Josefs Landsmann, der Koch, machte noch eine kleine Füllung<br />

rein und briet sie so. Die Krähen gingen weg wie warme Semmeln<br />

- als Täubchen.<br />

Einmal wurden wir von einem Bediensteten seiner Lordschaft<br />

erwischt, aber zu unserem Erstaunen lediglich ermahnt, keine<br />

Äste abzubrechen.<br />

In Goole<br />

Die Zeit der Untätigkeit sollte bald zu Ende gehen. Am<br />

17. Mai 1947 kam ich in das Städtchen Goole an der Humber.<br />

Dort gab es eine kleine Hafenstadt. Die Schiffe, die dort einliefen,<br />

wurden nicht am Kai entladen, sondern in Schleusenkammern.<br />

Das war wegen der Gezeiten erforderlich. Mit der<br />

Flut liefen die Schiffe ein, die Tore wurden geschlossen, denn<br />

sonst würden die Schiffe bei Ebbe auf Grund liegen, da der<br />

Humberfluss nicht tief ist.<br />

Ich war enttäuscht von Goole. Wir waren 20 Mann, die dorthin<br />

abkommandiert worden waren und in einem saalartigen<br />

Gebäude untergebracht. In der ganzen Zeit bis zum 8. August<br />

1947 haben wir nur rumgelungert. Diese Tage waren nur zum<br />

Spazierengehen gedacht. Eines Tages ging ich an der Humber<br />

entlang und setze mich am Deich ins Gras und beobachtete<br />

das Ein- und Auslaufen der Schiffe. Ich träumte, wie es sein wird,<br />

wenn ich eines Tages mit einem Schiff nach Hause komme. Ich<br />

war bei diesen Träumen eingeschlafen und wurde erst wach,<br />

144


als das kalte Wasser meine Beine umspülte. Ich hatte nicht an<br />

die Flut gedacht.<br />

Eine Abwechselung waren unsere täglichen Tanzübungen, die<br />

ein Kamerad, der Tanzlehrer war, mit uns durchführte. Aber<br />

außer einem langsamen Walzer mit dem Lied „Ich tanze mit<br />

dir in den Himmel hinein“ habe ich nichts gelernt.<br />

Was mir an Goole gefallen hatte, das war das Fish-and-Chips-<br />

Essen. Fish and Chips waren ein vorzüglicher Snack und sehr<br />

billig.<br />

Wertvolles Honorar<br />

Bei einem Spaziergang wurde ich von einem salopp gekleideten<br />

Neger auf Deutsch angesprochen. Er sei Reporter und möchte<br />

über Gefangene, über ihr Leben in England und über ihre<br />

Gedanken für die Zukunft schreiben, auch darüber, wohin sie<br />

entlassen werden. Es war ein interessantes Gespräch. Vor<br />

allem seine intelligente Art, wie er alles formulierte, erstaunte<br />

mich. Meine Bereitschaft, ihm meine Gedanken, wie ich alles<br />

hier empfunden habe, offen darzulegen, imponierte ihm wohl.<br />

Wir führt unser Gespräch im Cafe Bistro des Kaufhauses<br />

Woolworth. Als „Honorar“ konnte ich mir einige Dinge des<br />

täglichen Bedarfs wie Rasierpinsel, Klingen, Seife aussuchen.<br />

Für mich war es selbstverständlich, bescheiden zu sein und<br />

nach einigen Sachen aufzuhören, den Korb weiter zu füllen.<br />

Aber er forderte mich auf, weitere Dinge zu nehmen. Ich war<br />

überglücklich, und in der Heimat wurde mir erst richtig<br />

bewusst, was für ein kleines Vermögen ich bekommen hatte.<br />

145


Endlich zurück nach Deutschland<br />

Am 9. August 1947 kam ich wieder zurück zum Hautlager 53,<br />

wo mir eröffnet wurde, dass ich in die Heimat entlassen werde.<br />

Nachdem ich neu eingekleidet war, ging es mit einem Trupp<br />

ab nach Lager 9 in der Nähe Leicesters.<br />

Die 14 Tage Wartezeit waren noch grausame Tage des Zweifelns<br />

und der Unsicherheit, aber dann ging es Schlag auf Schlag. Am<br />

26. August 1947 in Harwick 17.00 Uhr auf die Fähre, nachts um<br />

1 Uhr am 27. August 1947 in Hoek van Holland angelandet.<br />

Umsteigen auf die Bahn, und um 8:00 Uhr am 27. August 1947<br />

passierte ich die Grenze bei Bentheim. Am 27.8.47 kam ich um<br />

17:30 Uhr in Münsterlager, Niedersachsen an.<br />

146


Sie wollten in Kontakt bleiben!<br />

147


148


Ein neues Leben, der Zukunft entgegen (1947)<br />

Chaoslager<br />

Münsterlager war ein Auffanglager für alle ehemaligen<br />

Gefangenen. Es war ein Chaotenlager. Schlägereien und Diebstahl<br />

waren an der Tagesordnung, und man konnte sich nur mit<br />

Seesack unter dem Kopf schlafen legen. Ehemalige Mariners<br />

zu finden war nicht schwer. Auch wir aus Brandenburg und<br />

Umgebung fanden uns.<br />

Wir waren sieben Mann. Während der ärztlichen Untersuchung,<br />

des Toilettengangs und des Essenfassens waren immer zwei<br />

Mann als Wache eingeteilt, und ich konnte beruhigt diese Sachen<br />

erledigen.<br />

Am schlimmsten sahen die aus der russischen Gefangenschaft<br />

aus. Hohlwangig, abgemagert, in zerschlissenen Wattejacken<br />

oder Mänteln und teilweise nur mit Lumpen um die Beine.<br />

Als ich dieses Elend sah, wurde mir erst bewusst, dass meine<br />

Gefangenschaft gegenüber ihrer ein Erholungsurlaub gewesen<br />

war.<br />

In die russische Zone?<br />

Es war schon sonderbar, mit welchen Mitteln wir davon abgehalten<br />

werden sollten, nicht in die russische Zone einzureisen.<br />

Die Hetze gegen die Russen, ihre ehemaligen Verbündeten im<br />

Kampf gegen Deutschland, war schon widerlich. Das Hauptargument<br />

der Engländer war die Drohung, wir würden gleich<br />

bei Ankunft im Heimatort von den Russen nach Sibirien<br />

transportiert.<br />

149


Wir sieben Brandenburger ließen uns von dieser Hetze nicht<br />

abschrecken, zumal einige von uns schon von ihren Eltern<br />

aufgeklärt worden waren, wie es in der Heimat war. Wir sollten<br />

Entlassungsschein Vorderseite<br />

150


nur nicht gleich nach Hause kommen, sondern ins russische<br />

Quarantänelager Glöwen fahren.<br />

Entlassungsschein Rückseite<br />

151


Nachdem wir ärztlich untersucht worden waren und 50<br />

Reichsmark sowie die Entlassungspapiere erhalten hatten,<br />

ging es am 5. September 1947 ins Lager Friedland, für mich<br />

der letzte Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in Westdeutschland.<br />

Am gleichen Tag ging es bei Heiligenstadt zu<br />

Fuß über die Zonengrenze. Ich hatte doch ein mulmiges<br />

Gefühl, als ich den ersten russischen Soldaten, einen Mongolen,<br />

sah. Von Heiligenstadt ging es gleich weiter nach Glöwen ins<br />

Quarantänelager.<br />

In Magdeburg hatten wir Aufenthalt. Als wir auf den nächsten<br />

Zug nach Glöwen warteten kam mir der Gedanke, doch<br />

gleich nach Brandenburg zu fahren. Die Sehnsucht auf ein<br />

Wiedersehen mit Oma und Inge Arnswald war groß. Aber die<br />

Vernunft siegte. Ich wollte kein Risiko eingehen.<br />

Im Quarantänelager Glöwen<br />

Als wir in Glöwen ankamen, empfingen uns der deutsche<br />

Lagerleiter und anschließend ein russischer Offizier. Der<br />

russische Offizier war ganz schön dickleibig und mit viel Orden<br />

behangen. Ich glaube, er war schon im Rentenalter. Er war<br />

ganz jovial. Wir mussten uns in eine Linie anstellen, die Seesäcke<br />

öffnen, und er kontrollierte mit dem Hinweis „Soldatten,<br />

ich nur gucken“ die Seesäcke. Er sah mal hier rein, mal dort,<br />

grabbelte mit der Hand in einigen rum, drehte sich um und<br />

ging zum Tor. Das war’s.<br />

Dann kam ein deutscher Sanitäter. Nachdem wir uns ausgezogen<br />

hatten, bestäubte er jedem von uns die Kopf- und<br />

Schamhaare und die Haare unter den Achseln. Diese Aktion<br />

wurde noch zweimal durchgeführt. Gleich am Tag der Ankunft<br />

mussten wir unsere Angehörigen benachrichtigen.<br />

152


Wiedersehen<br />

Die Vorstellung, dass ich hier vier Wochen nutzlos verbringen<br />

sollte, war grauenhaft. Eines Tages, es war der zwölfte Tag<br />

meines stumpfen Daseins, wurde ich zur Wache gerufen. Was<br />

war da los? Voller gemischter Gefühle trottete ich los. Als ich<br />

die Wache betrat, traute ich meinen Augen nicht. Da standen<br />

meine Oma und Inge Arnswald im Raum. Ich war wie im<br />

Traum. Oma nicht betrachtend, wie ich zu meiner Schande<br />

gestehen muss, ging ich Inge entgegen, und wir lagen uns<br />

in den Armen und küssten uns voller Freude im Glück des<br />

Wiedersehens. Dann kam der Schreck. War nicht Oma die<br />

wichtigste Person, der mein Willkommensgruß gehörte? Ich<br />

drehte mich zu Oma um und stammelte einige Worte zur Entschuldigung,<br />

Aber sie lächelte nur unter Tränen und sagte: „Du<br />

bist gesund wieder zu Hause, und das ist gut, deine Freundin<br />

hat mit mir um dich bange gehabt.“ Jetzt heulten wir alle drei.<br />

Nachdem wir uns einige Zeit unterhalten hatten, sagte Oma<br />

beiläufig, dass sie beide in der Nähe bei einer Frau Klettwitz<br />

übernachten und erst am anderen Tag wieder abreisen.<br />

Das Haus, indem sie übernachteten, war ganz in der Nähe,<br />

hinter einem Wäldchen, das an unser Lager grenzte. Das Lager<br />

hatte keine Wachtürme. Nur eine Streife ging im Stundentakt<br />

ums Lager. Das hatte ich schon ausgekundschaftet. Meine Sehnsucht,<br />

Inge zu sehen, war so groß, die Unruhe stark. Ich musste<br />

es wagen, aus dem Lager zu flüchten. Ich nahm ein Stück<br />

Palmolive-Seife und aus der Kaffeebüchse ca. 150 Gramm<br />

Kaffee. Als es dunkel war, stand ich in der Nähe des Zaunes<br />

am letzten Haus und wartete die Streife ab. Mir schlug das<br />

Herz bis zum Hals. Auch Angst war dabei. Dann war es soweit,<br />

die Streife war um die Ecke, und ich kroch unter dem Stacheldrahtzaun<br />

durch. Das Haus fand ich sofort, als ich durch das<br />

kleine Wäldchen hindurch war.<br />

153


Zukunftsplanung, Ende der Gefangenschaft<br />

Oma und die Hausbesitzerin waren sehr erschrocken, nur<br />

Inge machte ein glückliches Gesicht, und wir lagen uns gleich<br />

wieder in den Armen. Nach Übergabe des Geschenks an die<br />

Gastgeberin war der Schreck verschwunden. Beide Damen<br />

brühten sich gleich einige Tassen Bohnenkaffee auf. Sie genossen<br />

diesen Trank. Wir hörten ihr Plappern bis ins Schlafzimmer.<br />

Inge und ich hatten uns viel zu erzählen, aber es blieb nicht<br />

aus, dass wir uns in seliger und glücklicher Umarmung liebten.<br />

In dieser Nacht wurde unsere Zukunft geplant. Wir legten<br />

fest, dass wir auch gegen<br />

den Widerstand ihres Vaters<br />

gemeinsam durchs Leben<br />

gehen werden.<br />

Noch bevor es hell wurde<br />

schlich ich mich zurück ins<br />

Lager. Zu meiner Überraschung<br />

wurde ich zwei<br />

Tage später, am 20. September<br />

1947 aus der Quarantäne<br />

entlassen. Ich erhielt eine<br />

Fahrkarte zum Heimatort<br />

und einen russischen Entlassungsschein.<br />

Nach vier<br />

Jahren Gefangenschaft ver-<br />

Entlassungsschein Vorderseite<br />

ließ ich Glöwen als freier<br />

Mensch. Es war ein erhabenes<br />

Gefühl, in das sich die bange Frage nach der Zukunft<br />

mischte. Ich dachte an die gehässige Propaganda in England<br />

und Münsterland über die Russen, die angeblich alle, die in<br />

westlicher Gefangenschaft waren, nach Sibirien bringen würden.<br />

Diese Gedanken verwischten schnell, da ich Inge und Oma<br />

vertraute, die mir versicherten, dass nur Soldaten, die in Russ-<br />

154


land gekämpft haben,<br />

wegen Verbrechen in<br />

Russland überprüft<br />

werden.<br />

So stand ich nun auf<br />

dem Bahnhof von<br />

Glöwen und wartete<br />

auf den Zug Wittenberg-Berlin.<br />

Dann kam<br />

der Zug am späten<br />

Nachmittag und war<br />

voller Menschen. Die<br />

Abteile waren voll,<br />

auf den Dächern der<br />

Waggongs und auf<br />

den Trittbrettern an<br />

den Seiten, überall<br />

Menschen über Menschen.<br />

Wie sollten wir<br />

Bescheinigung<br />

sieben Brandenburger<br />

da noch mitkommen? Ein Päckchen Lucky Strike tat Wunder,<br />

zwei Personen zogen mich durch das Fenster ins Abteil. So<br />

kam ich heil bis Berlin. Mit der S-Bahn ging es von dort weiter<br />

bis Potsdam, und anschließend zügig mit dem Personenzug<br />

nach Hause.<br />

Zurück in Brandenburg<br />

Auf dem Hauptbahnhof in Brandenburg kannten meine<br />

Gefühle keine Grenzen. Ich konnte meine Glückstränen nicht<br />

mehr aufhalten. Ich war zu Hause, ich war wieder ein freier<br />

Mann.<br />

155


156


157


Auf dem Bahnsteig wurden wir sieben Mann von Schwarzhändlern<br />

und anderen zwielichtigen Gestalten bestürmt, ob<br />

wir was kaufen oder verkaufen wollten. Wir konnten uns<br />

kaum erwehren. Die waren wie die Flöhe im Pelz. Auf dem<br />

Bahnhofsvorplatz verabschiedeten wir sieben Mann uns mit<br />

den besten Wünschen auf ein Wiedersehen. Vom Bahnhof<br />

führte die Große Gartenstraße, die Straße meiner Jugendzeit,<br />

direkt zur Stadtmitte. An der Ecke Blumenstraße blieb ich stehen<br />

und betrachtete das Straßenbild. Es war schockierend für<br />

mich. Außer den Eckhäusern war die Blumenstraße, die Straße<br />

meiner Freunde und der Ausgangspunkt unserer Streiche,<br />

total zerbombt. Links und rechts die Gartenstraße war bis<br />

zum Trauerberg ebenfalls ein Opfer englischer Bomben geworden.<br />

Da auch das Haus meiner Kindheit nicht mehr stand, führte mein<br />

erster Weg mich zu Oma. Die Steinstraße und die Nebenstraßen<br />

waren dem Bombenhagel entgangen. Mama und Tante Hilde<br />

waren ausgebrannt und wohnten jetzt bei Oma, Mama in<br />

einer verwanzten Dachwohnung, während Tante Hilde ein<br />

Zimmer in der Wohnung von Oma hatte. Auch Onkel Willi<br />

war nach der Entlassung aus dem KZ Buchenwald bei Oma<br />

eingezogen und schlief auf der Couch im Wohnzimmer. Ich<br />

konnte da also nicht wohnen und musste mir eine andere<br />

Bleibe suchen.<br />

Zuhause<br />

Mir kam der Gedanke, dass mir Inge helfen könnte. So ging<br />

ich zu ihrer Wohnung in der Kleiststraße 4, und Mutter Arnswald<br />

empfing mich wie einen verlorenen Sohn, unter Tränen<br />

und mit freudiger Überraschung. Ich konnte ja nicht ahnen,<br />

dass Inge ihr schon das Treffen und den Beischlaf in Glöwen<br />

gebeichtet hatte.<br />

158


Inge arbeitete bei der Firma Roll in der Hauptstraße als Näherin.<br />

Es war kurz vor Feierabend, und ich wartete klopfenden<br />

Herzens auf das Widersehen. Dann stürmte eine große Gruppe<br />

Frauen aus der Tür, darunter Inge. Sie sah mich in meiner<br />

schwarz gefärbten Ami-Uniform, und wir lagen uns vor allen<br />

Menschen in den Armen und schämten uns nicht unserer<br />

Tränen. Nach einer kurzen Erklärung für die Kolleginnen ging<br />

es nach Hause. Ich hatte ein Zuhause gefunden und war der<br />

glücklichste Mensch. Aus unserer jahrelangen Jugendfreundschaft<br />

war eine Liebe geworden. Trotz der Abneigung meiner<br />

Mutter und Schwester gegen Inge und trotz des Widerstandes<br />

ihres Vaters in eine Heirat mit mir armen Schlucker, bauten<br />

wir unser Leben in Liebe und Treue selbständig auf. Doch es<br />

sollten noch harte Jahre vor uns liegen.<br />

„Einbürgerung“<br />

Meine ersten Maßnahmen waren die Gänge zur sowjetischen<br />

Kommandantur, zur deutschen Meldestelle und zum Arbeitsamt,<br />

um die nötigen Papiere und Stempel zu erhalten. In zwei<br />

Tagen waren die Gänge erledigt, und ich war wieder anerkannter<br />

Bürger der Stadt Brandenburg. Nach einer Aussprache mit<br />

Mama und Schwester Inge war ich vor die Tatsache gestellt,<br />

dass von meinen Sachen, einschließlich meines Rennrads,<br />

nichts mehr vorhanden war. Angeblich ausgebombt.<br />

Später erfuhr ich von Bekannten, dass alles für Lebensmittel<br />

verscherbelt wurde. Ich zog die Konsequenzen, und der Fall<br />

war für mich erledigt.<br />

Da Inge und ich uns schon versprochen hatten, wohnte ich<br />

mit Genehmigung von Mutter Arnswald bei ihnen, war aber<br />

in der Büttelstraße 8 bei Oma gemeldet. Als Heimkehrer hatte<br />

ich bis vier Wochen Zeit, mir eine Arbeitsstelle zu suchen. Ich<br />

nahm mir diese Zeit, holte mir erstmal einen Herrenanzug<br />

von der Volkssolidarität und 50,- Mark Heimkehrergeld. Die<br />

159


erste Zeit ging ich jedoch am liebsten in meiner Heimkehreruniform<br />

auf die Dienststellen, denn da hatte man immer Vorteile.<br />

Inge arbeitete ja in einer Näherei, die mit Stoff zu tun hatte. Ich<br />

machte auf Bitten von Inge meine Aufwartung bei der Chefin,<br />

bei Frau Roll. Ich wurde überschwänglich empfangen und<br />

musste über meine Gefangenschaft berichten. Es hatte sich<br />

gelohnt. Ich bekam Stoff, der für die Anfertigung eines<br />

Anzuges reichte.<br />

Arbeit<br />

Anfang Oktober ging ich zu meiner ehemaligen Arbeitsstelle<br />

Elisabeth-Hütte. Als ich meine, vom Kriegsdienst verschonten<br />

Kollegen traf, wurde ich mit dem schon Satz begrüßt: „Na, da<br />

kommt ja der Kriegsverlängerer.“ Ich hätte mich wohl damals<br />

doch nicht freiwillig melden sollen.<br />

Am 4. Oktober 1947 wurde ich vom Arbeitsamt vermittelt,<br />

und am 17. Oktober als Former eingestellt. Die Hallen der<br />

Metall- und Graugußgießerei waren durch die Bombenangriffe<br />

auf das Arado-Flugzeugwerk, das in der Nähe lag, mit<br />

zerstört worden. An der Havelseite war aber die seit der Nazi-<br />

Zeit leerstehende Halle heil geblieben und diente jetzt als<br />

Arbeitsstätte für die Belegschaft. Ich gewöhnte mich schnell<br />

ein.<br />

Der Fabrikant Wiederholz war enteignet und dafür zu meiner<br />

Verwunderung der ehemalige Arbeitsfront-Leiter als Betriebsleiter<br />

eingesetzt worden. Die Arbeitsfront war die Nazi-<br />

Gewerkschaft. Es war also nicht nur in Westdeutschland so,<br />

dass Nazis in Positionen eingesetzt wurden, sondern auch bei<br />

uns. Meine Sorge sollte es nicht sein, ich hatte Arbeit, nur das<br />

zählte für mich.<br />

160


Die Lebensmittelkarte war nicht berauschend. Sie reichte nur<br />

für die Hälfte des Monats. Wir Former hatten aber die Möglichkeit,<br />

einen Kochtopf im Monat aus Silumin, einer Aluminium-<br />

Legierung, für den eigenen Gebrauch herzustellen. Manchmal<br />

gelang es mir, zwei im Monat aus dem Werk zu schaffen. Die<br />

Töpfe tauschten wir am Wochenende bei den Bauern gegen<br />

Nahrungsmittel.<br />

Hochzeitsvorbereitungen<br />

Es war eine schwierige Zeit, und es ging dem Winter zu. Die<br />

Lebensmittelkarten reichten nicht bis zum Monatsende. Ich<br />

konnte den Gürtel immer enger schnallen. Der Kampf ums<br />

Überleben war allgegenwärtig. Mutter Arnswald, einst eine<br />

dralle Person mit einer wohlgeformten Figur, war nur noch<br />

ein Schatten ihrer selbst.<br />

Inge und ich waren trotz dieser zeitmäßig bedingten Misere<br />

frohen Mutes, unser Los zu verbessern. Wir beide waren fest<br />

entschlossen, eine Familie aufzubauen.<br />

Wir saßen abends des Öfteren mit Mutter Arnswald zusammen<br />

und schmiedeten Pläne. Wir waren der festen Überzeugung,<br />

dass es besser werden wird, dass der Aufschwung wird<br />

kommen muss. Hauptsache, wir beide behalten unsere Arbeit.<br />

Mutter Arnswald machte sich Sorgen wegen unserer Hochzeitsabsichten.<br />

Sie meinte, wir sollten damit noch warten, bis der<br />

Vater aus der Gefangenschaft kommt. Ich wusste oder konnte<br />

es mir vorstellen, dass er mich nicht als Schwiegersohn<br />

akzeptieren würde. Inge sprach mit mir darüber, wollte aber<br />

auch nicht vom Vater an einen Bauernsohn auf dem Lande<br />

verkuppelt werden. So beschlossen wir, so bald wie möglich<br />

zu heiraten.<br />

161


Bis zum Hochzeitstag ereigneten sich Dinge, die zum Teil<br />

gut, zum anderen Teil schlecht waren. Onkel Willi kam nach<br />

Brandenburg zurück, da er den Posten als Bürgermeister eines<br />

Dorfes in Thüringen, den er zwischenzeitlich wahrgenommen<br />

hatte, aufgegeben hatte. Ich konnte Pfarrer Gobel in der<br />

Tismarstraße mit 100 Gramm Bohnenkaffee und einem Päckchen<br />

Zigaretten davon überzeugen, dass er uns kirchlich traut,<br />

obwohl ich nicht konfirmiert war. Die kirchliche Trauung war<br />

Inges Wunsch.<br />

Zu den schlechten Dingen gehörte, dass Margitta und Heiner<br />

bei einem Diebstahl erwischt worden waren, Mama entzogen<br />

wurden und ins Heim in der Landesanstalt Görden kamen.<br />

Außerdem spürte ich in einem Gespräch mit Mama ihre<br />

Abneigung gegen Inge. Wir konnten keinen Besuch meiner<br />

Familie zu unserer Hochzeit erwarten.<br />

Das Leben ging weiter. Die Liebe zu Inge ging mir über alles. In<br />

meinem Herzen war das Gefühl, war die feste Überzeugung,<br />

die Frau fürs Leben gefunden zu haben. Mit Inge wollte ich<br />

das Familienleben aufbauen, das ich mir in meinen Träumen<br />

ersehnt und das ich in meiner Kindheit nicht hatte.<br />

Hochzeit<br />

Der Termin wurde auf den 6. Dezember 1947, auf den Nikolaus-<br />

Tag, festgelegt. Inge und ich hatten alles gut organisiert. Mutter<br />

Arnswald verstand es - wie, wusste ich allerdings nicht -<br />

zum Polterabend einige Bleche mit Streuselkuchen zu backen.<br />

So viele Kinder wie an diesem Tag hatte ich noch nie in der<br />

kleinen Kleiststraße gesehen. Am Abend feierten wir mit den<br />

meisten Arbeitskollegen bei Alkohol und einem kleinen Imbiss.<br />

Die Beseitigung der gepolterten Scherben war anstrengend. Es<br />

kamen zwei Waschkörbe voll Scherben zusammen.<br />

162


Die Hochzeitszeremonie fand im Standesamt in der Kanalstraße<br />

statt. Die Hochzeitskutsche der Firma Dankert, eine weiße<br />

Kutsche, die von zwei Schimmeln gezogen wurde, war in dieser<br />

Notzeit schon ein Ereignis. Die Außenstehenden wussten<br />

nicht, dass unser beider Hochzeitskleidung nur geliehen war.<br />

Alle spendeten, Freunde und Arbeitskollegen, und trugen<br />

zum Gelingen der Trauung bei.<br />

Die kirchliche Trauung fand in der Jakobskapelle in der Jakobstraße<br />

statt. Pfarrer Gobel tat sein Bestes. Es war ein sonniger,<br />

kalter Wintertag, und die kleine Kapelle konnte gar nicht alle<br />

Menschen fassen, die in dieser Notzeit mal eine glückliche<br />

Stunde mit uns miterleben wollten. Ich erlebte die Freude<br />

und das Glück meiner Inge, dass ich ihren Wunsch nach einer<br />

kirchlichen Trauung erfüllen konnte. Es war gar nicht so leicht<br />

gewesen, Pfarrer Gobel zu dieser Trauung zu überreden, da<br />

ich zwar getauft, aber nicht konfirmiert war. Ich war eben ein<br />

Atheist. Aber die Liebe siegt immer, und „der liebe Gott war<br />

mit uns“.<br />

Die Hochzeitsfeier fand nur im keinem Kreis der Familie in<br />

der kleinen Wohnung von Inges Mutti, die ich auch Mutti<br />

nennen durfte, statt. Von Inges Familie sind alle zur Feier gekommen,<br />

nur von meiner kam keiner. Es war eine bescheidene<br />

Feier, aber trotzdem eine glückliche. Onkel Willi war einen<br />

Tag vorher gekommen und brachte uns eine Gans. Weiß der<br />

Teufel, woher er die organisiert hatte. Es war für diese Zeit ein<br />

Festessen, und alle waren einmal für einen Tag satt. Inge und<br />

ich waren die glücklichsten Menschen in dieser Runde.<br />

Für mich war es eine eigenartige Lage, denn von meiner<br />

Familie kam niemand. Richtig vermisst habe ich nur Oma.<br />

Warum kam sie nicht? Ich habe sie nie danach gefragt, und<br />

trotzdem hatte Inge mit ihr danach bis zu ihrem Tod ein gutes<br />

163


Verhältnis. Wir dachten an meinen Schwiegervater, der noch<br />

in französischer Gefangenschaft war.<br />

Wir hatten das Glück, ein eigenes Zimmer zu bekommen. Der<br />

Nachbar meiner zukünftigen Schwiegermutter, Herr Thiele, war<br />

Witwer und hatte eine Drei-Zimmer-Wohnung. Ein Zimmer<br />

davon hatte einen separaten Eingang vom Flur aus. Das wurde<br />

unser Zimmer.<br />

Die Hochzeitsnacht verbrachten wir in unserem Zimmer. Wir<br />

liebten uns, schmiedeten Pläne für die Zukunft. Wir hatten<br />

beide Arbeit und blickten voller Zuversicht voraus.<br />

Die Tage danach sahen schon etwas anders aus. Der Alltag<br />

hatte uns wieder. Es ging auf die Weihnachtsfeiertage zu, und<br />

die sollten besinnliche Tage werden. Außer den Lebensmittelkarten<br />

gab es zum Fest Sonderzuteilungen, außerdem tauschte<br />

ich den Anzugsstoff von Inges Chefin gegen Naturalien ein.<br />

Der Enthusiasmus von Inge, ihre Fröhlichkeit, ihre Fähigkeit,<br />

aus dem Bisschen, das wir hatten, ein gutes Weichnachtsfest mit<br />

einem ausgezeichneten Festessen zu gestalten, überwältigten<br />

mich.<br />

Ich habe ein Juwel gefunden, und es hat sich gelohnt, um es<br />

zu kämpfen. Mein Anteil an unserer Ehe wird sein, ihr ein guter<br />

Ehemann und guter Vater unserer Kinder zu werden. Den<br />

Querelen von Mama und Schwester werde ich ohne Wenn und<br />

Aber widerstehen.<br />

164


Inhalt<br />

Kindheit in armen Verhältnissen<br />

(1923 – 1934) 5<br />

Jugend zwischen Prügel und Jungenstreichen<br />

(1934 – 1938) 15<br />

Vorkriegsjahr und Kriegsbeginn, Radsport und Lehre<br />

1938 – 1940) 37<br />

Vorbereitung auf den Fronteinsatz<br />

(1941) 55<br />

Im Krieg in Mittelmeer und Adria<br />

(1941 – 1943) 63<br />

Ein verlorenes Jahr als Kriegsgefangener in Afrika<br />

(1943) 101<br />

Drei Jahre als Kriegsgefangener in den USA<br />

(1944 - 1946) 111<br />

Kriegsgefangenschaft in England<br />

(1946 - 1947) 137<br />

Ein neues Leben, der Zukunft entgegen<br />

(1947) 149


<strong>Kurt</strong> <strong>Ostwald</strong> wurde am 31. August 2923 in Werdershof im<br />

Sächsisch-Anhaltinischen geboren. Schon bald nach der<br />

Geburt zog seine Familie nach Brandenburg an der Havel. In<br />

dieser Stadt verbrachte er nicht nur seine Kindheit, sondern<br />

auch sein Berufsleben.<br />

Diese Biografie reicht von seiner Geburt am 23. August 1923<br />

bis zu seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im Jahr<br />

1947 und der anschließenden Hochzeit mit seiner Jugendfreundin<br />

Inge.<br />

<strong>Kurt</strong> <strong>Ostwald</strong> schildert eindringlich die Hungerjahre um<br />

1930 und die bedrückenden Verhältnisse in seiner Familie.<br />

Der Vater hatte die Familie verlassen, der Stiefvater erwies<br />

sich als Kleinkrimineller. Lebhaft erzählt <strong>Kurt</strong> <strong>Ostwald</strong> von<br />

den vielen Streichen seiner Jugendzeit, aber auch von seiner<br />

Liebe zum Radsport und zum Rudern.<br />

Um dem familiären Milieu zu entfliehen, meldete er sich freiwillig<br />

zur Marine. Während des Krieges wurde er im Mittelmeer<br />

zwischen Italien, Tunesien und Griechenland als Schütze<br />

auf verschiedenen Transportschiffen eingesetzt. Am<br />

16. Oktober 1943 geriet er in Gefangenschaft, aus der er erst<br />

vier Jahre später wieder freikam.<br />

Sein Weg als Kriegsgefangener führte ihn auf 32.275 Kilometern<br />

von Italien über Afrika in die USA und schließlich<br />

nach England. Sehr detailreich und spannend schildert er die<br />

Bedingungen in den verschiedenen Lagern sowie seine<br />

Erlebnisse im Guten wie im Schlechten. Es sind Jahre der Entbehrungen,<br />

aber auch der kleinen Freuden. Kraft gaben ihm<br />

der feste Glaube an einen Neubeginn in besseren sozialen<br />

Verhältnissen und die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben<br />

mit Inge Arnswald. So wird dieser Abschnitt seiner Biografie<br />

auch die Geschichte einer großen Liebe. Einer Liebe, die bis<br />

heute andauert.<br />

http://kurt-ostwald.gurran.eu/

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