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Wenn Facebook schwermütig macht - Junges Theater Göttingen

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Materialmappe FRANK (UND FREI)<br />

1 "Ich will keine Asis als Freunde"<br />

von Hannah Pilarczyk / Spiegel online<br />

2 SCHÜLER-MOBBING-SEITE ISHAREGOSSIP.COM<br />

Gemein, anonym und schwer fassbar<br />

von Meike Laaff / taz.de<br />

3 MOBBING AUF ISHAREGOSSIP.COM<br />

Öffentlicher Hinterhalt<br />

von Frédéric Valin / taz.de<br />

4 Studie zur Internetnutzung<br />

Jugendliche werden verschwiegener im Netz<br />

von Hannah Pilarczyk / Spiegel online<br />

5 <strong>Wenn</strong> <strong>Facebook</strong> <strong>schwermütig</strong> <strong>macht</strong><br />

Von virtuellen Freunden und narzisstischen Störungen<br />

von René Weiland / dradio.de<br />

6 Streit über Internet-Pseudonyme<br />

Klarnamenzwang? Nein Danke!<br />

Spiegel online<br />

7 Null Blog<br />

von Manfred Dworschak / Spiegel online<br />

8 Die bedrohte Elite<br />

von Sascha Lobo<br />

9 Meinung im Internet<br />

Vom Elend der Nutzerkommentare<br />

von Leo Lagercrantz / sueddeutsche.de<br />

10 Offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel: Warum beleidigen Sie<br />

Menschen, die ein Grundrecht wahrnehmen?<br />

von pushthebutton.de


Druckversion ‐ Soziale Spaltung im Netz: "Ich will keine Asis als Freu... h�p://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,druck‐757280,00.html<br />

26. April 2011, 08:54 Uhr<br />

Soziale Spaltung im Netz<br />

"Ich will keine Asis als Freunde"<br />

Von Hannah Pilarczyk<br />

Cybermobbing? Porno-Schwemme? <strong>Wenn</strong> es um das Internet geht, wird eine gefährliche Entwicklung völlig<br />

unterschätzt: die soziale Spaltung. Bildungsunterschiede haben großen Einfluss darauf, wie Jugendliche<br />

das Netz nutzen - und sich gegenseitig diskriminieren.<br />

<strong>Wenn</strong> Zoe ins Internet will, muss sie sich Zuhause an den Familiencomputer im Flur setzen. Die 13-Jährige darf<br />

täglich eine Stunde ins Netz. Am häufigsten ist Zoe auf SchülerVZ. Dort hat die Realschülerin nach eigenen<br />

Angaben 300 bis 400 Freunde. Dabei lehnt sie auch viele Freundschaftsanfragen ab. "Ich will nicht, dass die<br />

asozialen Typen meine Bilder sehen", sagt sie. "Die könnten die sonst kopieren." Für asozial hält sie jemanden, der<br />

zum Beispiel eine schlechte Wohnung hat. "Bei Freundschaftsanfragen erkennt du am Namen und am Bild, ob die<br />

asozial sind. Oft sind die von der Hauptschule." Zoe hat im Sommer schlechte Erfahrungen mit Hauptschülern<br />

ge<strong>macht</strong>. Als sie auf ihrer SchülerVZ-Seite schrieb, dass sie mit einer Freundin ins Freibad gehe, folgten ihr einige<br />

Jungen aus der Hauptschule und beobachteten die Freundinnen beim Schwimmen. Außerdem lauerten dieselben<br />

Jungen einer Freundin beim Stadtbummel auf. "Das heißt aber nicht, dass alle Hauptschüler asozial sind", betont<br />

Zoe.<br />

Asis oder Asoziale - diese Begriffe fallen häufig, wenn man sich mit Jugendlichen unterhält. Manchmal sind sie nur<br />

als Schimpfworte dahergesagt, manchmal bringen sie eine bewusste Abgrenzung von sozial Schwächergestellten<br />

zum Ausdruck. Dass Kinder und Jugendliche solch politisch aufgeladenes Vokabular wie selbstverständlich<br />

verwenden, kann kaum verwundern. In Diskussionen um die Reformen von Hartz IV oder den Thesen von Thilo<br />

Sarrazin ist es dauerpräsent.<br />

Eine Leerstelle bleibt aber: nämlich das Internet. Für viele Dinge von Cybermobbing bis Porno-Schwemme muss das<br />

Internet als Sündenbock dienen, aber in Zusammenhang mit sozialer Spaltung ist es kein Thema. Das ist eine<br />

grobe Nachlässigkeit, denn nichts beeinflusst die Internetnutzung von Jugendlichen in Deutschland mehr als ihr<br />

Bildungshintergrund. Weder Geschlecht noch ethnische Zugehörigkeit sorgen für eine ähnliche Spaltung zwischen<br />

Gleichaltrigen. Zu diesem Ergebnis kamen die Forscher des "Kompetenzzentrums für informelle Bildung" (KIB) der<br />

Uni Bielefeld schon 2004. Sie hatten ausdrücklich nach Hinweisen auf soziale Ungleichheit im Netz gesucht. Doch<br />

auch Studien, die keine explizit kritische Ausrichtung haben, kommen zu demselben Schluss: Gymnasiasten und<br />

Hauptschüler weisen die mit Abstand größten Unterschiede in der Internetnutzung auf.<br />

"Die Ideologie und das Wissen einer Elite"<br />

In populären Büchern über die "Digital Natives" finden sich indes keine Hinweise auf das Zusammenspiel von<br />

Bildung und Internetnutzung. Schicht-blind sind die Netzdeuter trotzdem nicht. Als sich Don Tapscott daran <strong>macht</strong>e,<br />

mit "Growing up Digital" das erste Porträt der "Generation Internet" zu schreiben, orientierte er sich an seinen<br />

eigenen Kindern. Er staunte darüber, wie sein 7-jähriger Sohn Alex bereits E-Mails an den Weihnachtsmann<br />

verschickte und sich seine 10-jährige Tochter Nicole wie selbstverständlich in Chatrooms bewegte. Diese<br />

Beobachtungen <strong>macht</strong>e Tapscott nach eigenen Angaben schon 1993 und entwickelte daraus schließlich seine Idee<br />

der "world-changing net generation", der Welt verändernden Netz-Generation.<br />

Dass die Kinder eines Unternehmensberaters und Management-Professors, der schon Anfang der 1990er Jahre einen<br />

Apple-Computer mit Internetzugang Zuhause stehen hatte, ziemlich privilegiert sein könnten, war ihm wohl nicht in<br />

den Sinn gekommen. Dabei hatten 1998 in den USA nur 36 Prozent aller privaten Haushalte einen Internetzugang.<br />

In Deutschland waren es sogar nur acht Prozent. "Es wird eine Ideologie und das Wissen einer Elite kommuniziert",<br />

schreibt der Soziologe Christian Stegbauer über Tapscotts Thesen, "ohne dass es sich ausgewiesenermaßen um eine<br />

Elitestudie handelt."<br />

Als Elitestudie verstanden, werden Tapscotts Erkenntnisse wieder interessant. Sie zeigen, wie die privilegierte<br />

Situation eines Kindes - in diesem Fall das hohe Einkommen der Eltern und ihre Bereitschaft, dieses Einkommen für<br />

internetfähige Computer auszugeben - direkt in seinen privilegierten Umgang mit der Technik mündet. Dieser<br />

Mechanismus wirkt auch in Deutschland nach und hat das Potential, die Verteilung von Bildungschancen hierzulande<br />

noch weiter zu verschlechtern.<br />

Die aktuellsten Zahlen dazu liefert die Studie "Jugend, Information, (Multi-)Media" (kurz: JIM) des<br />

Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest. für die JIM-Studie werden jährlich über 1000 Jugendliche<br />

befragt. Die Studie wird seit 1998 durchgeführt und gilt als die verlässlichste Quelle zur Mediennutzung von<br />

Jugendlichen.<br />

Wer benutzt welche Medien?<br />

Demnach gibt es 2010 keine nennenswerten Unterschiede mehr beim reinen Internetzugang: 98 Prozent aller<br />

Schüler sind online, unabhängig von ihrem Bildungsstand. Lediglich bei der Frage, ob Jugendliche einen eigenen<br />

Computer besitzen, zeigen sich Differenzen. Rund 80 Prozent der Realschüler und Gymnasiasten haben einen<br />

eigenen PC, 52 bzw. 54 Prozent können damit auch ins Internet. Von den Hauptschülern haben nur 70 Prozent einen<br />

1 von 3 22.09.2011 15:48


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eigenen Computer und können damit zu 46 Prozent online gehen.<br />

Deutlich größere Unterschiede zeichnen sich aber beim Zugang zu anderen Medien ab: Während die Haushalte, in<br />

denen Gymnasiasten leben, zu 69 Prozent über ein Tageszeitungs-Abo bzw. zu 53 Prozent über ein<br />

Zeitschriften-Abo verfügen, liegen diese Zahlen bei Hauptschülern bei 46 Prozent bzw. 36 Prozent. Allein bei<br />

Spielkonsolen und Abo-Fernsehen hängen die Haushalte mit Haupt-und Realschülern die Gymnasiasten in Sachen<br />

Ausstattung ab.<br />

Entsprechend fächern sich auch die Nutzungsmuster zwischen den verschiedenen Schultypen auf: Laut JIM-Studie<br />

nutzen Jugendliche mit einem höheren Bildungsgrad häufiger das Internet, Tageszeitungen, MP3-Player und Bücher.<br />

Jugendliche mit einem niedrigeren Bildungsniveau schauen dagegen häufiger Fernsehen, nutzen das Handy stärker<br />

und spielen öfter computer- und Konsolenspiele.<br />

Doch auch wenn Jugendliche das gleiche Medium nutzen, heißt das nicht, dass sie es auf die gleiche Weise nutzen.<br />

Gymnasiasten machen allgemein nämlich stärker von der Vielfalt des Internets Gebrauch und nutzen insgesamt<br />

eine größere Anzahl an Online-Angeboten als Haupt-und Realschüler. Sie sind kritischer, was den möglichen<br />

Wahrheitsgehalt der gefundenen Informationen angeht, und ihnen bedeutet auch die Informationsvielfalt mehr als<br />

Schülern anderer Schultypen.<br />

Nicht zu dumm für Google<br />

Außerdem setzen Gymnasiasten und Realschüler ihren Computer deutlich häufiger als Hauptschüler dafür ein, um<br />

Zuhause für die Schule zu lernen und/oder zu arbeiten. Ebenso suchen Gymnasiasten häufiger im Netz nach<br />

Informationen für die Schule oder die Ausbildung. und nicht nur das: Wie die Forscher vom Forschungszentrum KIB<br />

feststellten, recherchieren Schüler abhängig von der Schulform auch noch anders. Selbst scheinbar allgegenwärtige<br />

Angebote wie Google oder Wikipedia sind weit davon entfernt, universell verbreitet zu sein. So suchen Jugendliche<br />

mit formal niedrigerem Bildungshintergrund viel seltener gezielt nach Informationen und machen entsprechend auch<br />

deutlich weniger Gebrauch von Suchmaschinen: Rund 28 Prozent von ihnen nutzen Dienste wie Google überhaupt<br />

nicht. Online-Lexika wie Wikipedia sind bei ihnen auch wesentlich weniger beliebt als bei Gymnasiasten.<br />

Das heißt nicht, dass Hauptschüler zu dumm für bestimmte Programme oder Seiten sind. Sie entsprechen nur nicht<br />

ihren Bedürfnissen. Dass sie zum Beispiel weniger googeln, deutet vor allem darauf hin, dass sie für sie wichtige<br />

Informationen aus anderen Quellen wie zum Beispiel dem persönlichen Umfeld beziehen.<br />

Ähnlich große Unterschiede wie bei der Informationsuche ergeben sich auch im Bereich der Online-Kommunikation:<br />

Bei Schülern mit niedrigerem Bildungsgrad sind Chats sehr beliebt. Über 20 Prozent von ihnen haben dagegen keine<br />

eigene E-Mail-Adresse. Bei Gymnasiasten beträgt der Anteil nur fünf Prozent. Wie man eine Website kontaktiert -<br />

sei es durch Feedback oder das Abonnieren eines Newsletters - hängt aber häufig davon ab, ob man eine E-Mail-<br />

Adresse hat. Deshalb zeigt sich auch hier ein deutlicher Vorsprung der Gymnasiasten: 95 Prozent haben bereits<br />

Kontakt mit einer Website aufgenommen. Bei Hauptschülern sind es nur 71 Prozent.<br />

Trägt man diese Zahlen zusammen, ergibt sich ein ziemlich eindeutiges Bild: Im Vergleich zu Haupt-und<br />

Realschülern nutzen Gymnasiasten die Vielfalt des Internets stärker und wissen gleichzeitig, wie sie am<br />

zielsichersten an Informationen kommen. Außerdem bewerten sie die gefundenen Informationen kritischer und<br />

suchen sich weitere Quellen, um den Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Diese Fähigkeiten setzen sie nicht nur für<br />

private Interessen ein, sondern auch für die Bereiche Schule und Ausbildung.<br />

Selbst bei der Wahl, in welchem Social Network Jugendliche aktiv sind, spielt der Bildungshintergrund eine<br />

entscheidende Rolle.<br />

<strong>Facebook</strong>, Jappy oder Netlog?<br />

Bis vor einem Jahr durfte Dominik nur eine halbe Stunde am Tag ins Internet. Seine Eltern fanden, dass der heute<br />

14-Jährige zu viel Zeit mit dem Computer verbrachte. Jetzt darf er unbegrenzt online sein, doch dafür hat der<br />

Gymnasiast kaum mehr Zeit: Der Stundenplan des Einserschülers ist vollgepackt, er lernt vier Sprachen. Vor einem<br />

halben Jahr ist Dominik von SchülerVZ zu <strong>Facebook</strong> gewechselt. "Da kann man mehr Sachen wie Tests oder Spiele<br />

machen", sagt er. Dominik hat rund 150 Freunde auf <strong>Facebook</strong>. Andere Social Networks interessieren ihn nicht. "Das<br />

ist jetzt nur ein Vorurteil, aber es heißt immer, dass die Asis auf Netlog sind."<br />

Was Dominik vorsichtig anspricht, ist eine wenig beachtete Realität im Netz: Social Networks sind nicht<br />

austauschbar. Jede Plattform hat ihr eigenes Profil und ihren eigenen Ruf. Deshalb ziehen verschiedene Social<br />

Networks auch anderes Publikum an. Welches Publikum das jeweils ist, ist schwierig zu bestimmen, da die Gefahr<br />

groß ist, Stereotypen festzuschreiben. Zur groben Orientierung kann man aber sagen, dass SchülerVZ bislang noch<br />

das große Auffangbecken für alle Schülerinnen und Schüler bildet. Aber schon <strong>Facebook</strong> hat ein spezielleres Profil.<br />

Weil es aus dem akademischen Umfeld und dem englischsprachigen Raum stammt, hat das Social Network einen<br />

vergleichsweise elitären Anstrich. Vor allem Gymnasiasten finden <strong>Facebook</strong> deshalb attraktiv und betonen, wie<br />

wichtig ihnen die internationale Ausrichtung ist.<br />

Das deutsche Social Network Jappy ist dagegen als eher freizügige Kontaktbörse verrufen. Wer sich dort anmeldet,<br />

wird online mit seinem Usernamen sowie Alter und Geschlecht aufgeführt, damit sich Flirtwillige schnell orientieren<br />

können. Mit 1,9 Millionen Mitgliedern in Deutschland ist Jappy im Vergleich zu den VZ-Netzwerken vergleichsweise<br />

klein, dafür sind seine User sehr aktiv. Das liegt auch daran, dass ihnen auf der Plattform ein "Rang" zugeordnet<br />

wird. Dieser berechnet sich grob nach der Aktivität eines Users auf der Seite, also danach ob er viel chattet, mailt<br />

oder Gästebucheinträge schreibt. Unter den Usern ist deshalb der Ehrgeiz weit verbreitet, möglichst viele<br />

Gästebucheinträge ("GB") zu sammeln, damit sie rangmäßig aufsteigen - oft auch mit anzüglichen Motiven und<br />

Sprüchen.<br />

2 von 3 22.09.2011 15:48


Druckversion ‐ Soziale Spaltung im Netz: "Ich will keine Asis als Freu... h�p://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,druck‐757280,00.html<br />

Kein Durchkommen mit vermeintlichen Randthemen<br />

Netlog ist ein Social Network, das in Belgien entwickelt wurde. Es ist mittlerweile in 20 Sprachen verfügbar und hat<br />

nach eigenen Angaben über 72 Millionen Mitglieder in ganz Europa. In Österreich ist Netlog eines der beliebtesten<br />

Social Networks überhaupt. In Deutschland gilt es vor allem als Plattform von Jugendlichen aus Migrantenfamilien.<br />

Das ist womöglich dadurch zu erklären, dass zum Netzwerk auch eine aktive User-Gemeinde in der Türkei gehört.<br />

Wie Jappy hat Netlog auch den Ruf, vergleichweise "prollig" zu sein. Das könnte zum einen an den lasziven<br />

Profilbildern von weiblichen Usern liegen, die schon auf der Startseite gezeigt werden. Zum anderen ist bei Netlog<br />

die Werbung sehr präsent. unter den Gruppen finden sich auch viele kommerzielle Angebote von "Top-Marken".<br />

Für solche unterschiedlichen Netzkulturen haben Jugendliche ein feines Gespür. sie melden sich nur dort an, wo sie<br />

die meisten Gleichgesinnten und Gleichgestellten vermuten. Die Abgrenzung online setzt sich aber auch in anderen<br />

Bereichen als den Social Networks fort. Die Soziologin Alexandra Klein hat ähnliche Tendenzen unter Usern einer<br />

Schülerberatungsplattform im Internet, der etwas irreführend benannten "Kids-Hotline", festgestellt. Die "Kids-<br />

Hotline" bietet Chat-, Foren- und Einzelberatung an, wobei den Usern sowohl gleichaltrige Peer-Berater als auch<br />

ausgebildete Pädagogen zur Seite stehen.<br />

Offiziell richtet sich die "Kids-Hotline" an alle Kinder und Jugendlichen bis 21 Jahre. Tatsächlich zeigte sich aber im<br />

Verlauf von Kleins Untersuchung, dass die Foren von Schülern aus Gymnasien und Realschulen dominiert wurden.<br />

Sie berieten sich gegenseitig bei Themen, die von Ferienjobs bis Schul-"Burnout" reichten und unterstützten sich<br />

auch in Sachen Liebeskummer. Hauptschüler hingegen trieben am meisten Zukunftssorgen um - wie sie<br />

Finanzprobleme in den Griff bekommen und Arbeit auch ohne Schulabschluss finden können. Mit einem Anteil von<br />

nur sechs Prozent unter allen Usern der "Kids-Hotline" bildeten die Hauptschüler aber eine absolute Minderheit -<br />

und ihre Themen blieben Randthemen.<br />

Letztlich erwies sich also auch ein Forum, das als offene Plattform angelegt worden war, als geschlossener Kreis.<br />

Wie auf einer Party, auf der ein Gast zu einem lebhaften Gesprächskreis dazu stößt und unvermittelt anfängt, über<br />

ein völlig anderes Thema zu sprechen, zeigten sich die anderen User irritiert angesichts der Geldsorgen der<br />

Hauptschüler - und wandten sich ab.<br />

Der Text ist ein leicht gekürzter und bearbeiteter Auszug aus dem Buch "Sie nennen es Leben. Werden wir von der<br />

digitalen Generation abgehängt?" von SPIEGEL-ONLINE-Redakteurin Hannah Pilarczyk. Es ist soeben im Heyne<br />

Verlag erschienen.<br />

URL:<br />

http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,757280,00.html<br />

MEHR AUF SPIEGEL ONLINE:<br />

Studie zur Internetnutzung: Jugendliche werden verschwiegener im Netz (26.11.2010)<br />

http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,731180,00.html<br />

MEHR IM INTERNET<br />

Netlog-Startseite<br />

http://de.netlog.com/<br />

Jappy-Startseite<br />

http://www.jappy.de/<br />

SPIEGEL ONLINE ist nicht verantwortlich<br />

für die Inhalte externer Internetseiten.<br />

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3 von 3 22.09.2011 15:48


Schüler‐Mobbing‐Seite isharegossip.com: Gemein, anonym und schw... h�p://www.taz.de/Schueler‐Mobbing‐Seite‐isharegossipcom/!68500/<br />

04.04.2011 21 Kommentare<br />

SCHÜLER-MOBBING-SEITE ISHAREGOSSIP.COM<br />

Gemein, anonym und schwer fassbar<br />

Schlampe, größte Hure, schwule Sau: Auf isharegossip.com<br />

hetzen Schüler gegen Schüler. Die Seite steht jetzt auf dem Index.<br />

Ist das sinnvoll? Besuch an einer Berliner Schule.<br />

VON MEIKE LAAFF<br />

In die Ecke, du Opfer! Mobbing gehört zum Schulalltag dazu.<br />

Bild: photocase.com / 106313<br />

BERLIN taz | Sie sei eine Schlampe. Steht im Internet, anonym, auf der<br />

Internetseite isharegossip.com. Seit Anfang Februar. "Anfangs war das<br />

schlimm für mich", sagt Nina*. Weil ziemlich schnell der Verdacht<br />

aufkam, dass einer aus ihrer Klasse dahintersteckt. "Das hat mich<br />

ziemlich getroffen, weil das heißt, jemand mag mich nicht."<br />

Verdächtigungen <strong>macht</strong>en die Runde. Anschuldigungen. Misstrauen.<br />

Und es ging weiter. "Amaru, der Neger" hätte ein paar Tage<br />

dringestanden. Amaru* sitzt zwei Reihen vor Nina und guckt auf seinen<br />

Tisch.<br />

In der Klasse 10a der Berliner Max-von-Laue-Oberschule hat es<br />

ziemlich viel Ärger gegeben wegen der Seite isharegossip.com. So wie<br />

an vielen anderen deutschen Schulen. Anonym können dort Lästereien,<br />

Klatsch und Tratsch und Rufmord verbreitet werden. Begriffe wie<br />

Opfer, größte Hure, schwule Sau und verfickter Hurensohn gehören<br />

dort zum Standardvokabular, teils werden die Schüler mit vollem<br />

Namen angeschwärzt, oft kann über die Verbindung von Vorname und<br />

Schulklasse eindeutig identifiziert werden, wer gemeint ist.<br />

Seit Januar haben immer mehr Schüler die Seite für sich entdeckt.<br />

Auch an der Max-von-Laue-Oberschule im behüteten West-Berliner<br />

Bezirk Steglitz. Nur zwei Tage dauerte es, bis in dem<br />

"Schlampen"-Thread über 50 Einträge standen. Das hat Nina alles<br />

ausgedruckt. Auch die Sache mit Amaru. Und ist damit zum Direktor<br />

ihrer Schule gegangen.<br />

Sechs Wochen später sitzt die 10a im Ethik-Unterricht und redet<br />

1 von 4 22.09.2011 16:14


Schüler‐Mobbing‐Seite isharegossip.com: Gemein, anonym und schw... h�p://www.taz.de/Schueler‐Mobbing‐Seite‐isharegossipcom/!68500/<br />

nochmal über die Sache. Inzwischen ist rausgekommen, wer Nina und<br />

Amaru beschimpft hat. Jemand aus der Klasse. Genauer wollen sie es<br />

vor einer Journalistin nicht verraten, aber im Gespräch wird deutlich<br />

spürbar, wer es war. Die Person hat es irgendwann freiwillig<br />

zugegeben, jetzt läuft eine Anzeige gegen sie. Der Schulleiter ließ die<br />

Polizei kommen, suspendierte sie für drei Tage.<br />

"Hinterhältig und feige"<br />

Noch immer ist das Klima in der Klasse aufgeheizt – gegen<br />

isharegossip und Leute, die da mitschreiben. "Wer das <strong>macht</strong>, kommt<br />

mit seinem Leben nicht klar". "Hinterhältig und feige" sei das, "sehr<br />

gefährlich". Amaru sagt, er war vor allem "enttäuscht und geschockt",<br />

als alles rauskam. Weil er gedacht hatte, irgendjemand aus den unteren<br />

Stufen hätte ihn auf isharegossip angepöbelt. Aber dann steckte<br />

jemand dahinter, mit dem er seit Jahren jeden Tag in einem Raum sitzt<br />

und lernt.<br />

"Diese Seite ist eine Frechheit. Und menschenverachtend", kann sich<br />

Schuldirektor Günter Schrenk noch immer aufregen. "Es hat mich sehr<br />

überrascht, dass meine Schüler bei so etwas mitmachen. Wir<br />

versuchen ihnen hier gutes Benehmen beizubringen. Achten besonders<br />

darauf, dass die Schüler sich gegenseitig respektieren und auf dem<br />

auch Gang grüßen."<br />

Der 59-Jährige sagt, er schaue sich die Seite selbst nicht an, habe sich<br />

aber von Lehrern davon berichten lassen. Er hat einen Brief aufgesetzt,<br />

nachdem er wegen der 10a die Polizei rufen musste. Bat darin die<br />

Schüler, "menschenverachtende Äußerungen zu unterlassen und euch<br />

von solchen abstoßenden Portalen zu verabschieden" – wer das nicht<br />

tue, dem drohte er mit Strafanzeigen. Die Lehrer haben diesen Brief in<br />

den Klassen vorgelesen. Viele kannten isharegossip.com damals gar<br />

nicht. Der Fall aus der 10a blieb nicht der einzige, Direktor Schrenk<br />

musste noch ein paar Mal Strafanzeigen wegen Verleumdung stellen.<br />

Diesmal gegen unbekannt.<br />

Derweil ist das Getöse um isharegossip.com groß geworden: Eltern,<br />

Lehrer und Lokalpolitiker schreien danach, die Seite sofort<br />

abzuschalten. Medienpsychologen, Psychologen und Mobbing-<br />

Experten melden sich mit den üblichen Pädagogen-Stanzsätzen zu<br />

Wort. Landes- und Lokalpolitiker planen bessere<br />

Medienkompetenzschulungen. Bundesfamilienministerin Kristina<br />

Schröder (CDU) hat sich in die Debatte eingemischt. Die Frankfurter<br />

Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Seitenbetreiber. Und die<br />

Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien hat die Seite<br />

vergangene Woche auf den Index gesetzt.<br />

Ziemlich viel Reaktion für eine Cybermobbing-Seite. Dazu beigetragen<br />

hat sicher, dass ein Jugendlicher in Berlin von zwanzig anderen<br />

verprügelt wurde – wegen eines isharegossip-Eintrags. Dass Kinder<br />

sich nicht mehr zur Schule trauten – weil auf isharegossip Amokläufe<br />

angekündigt wurden. Und dass viele Bildungsbürgereltern entsetzt sind,<br />

dass anonyme Schlampen-Schwuchtel-Fette-Sau-Pöbeleien auch an<br />

den Schulen ihrer Kinder stattfinden.<br />

Vor allem aber gibt es so viel und heftige Reaktionen, weil alle<br />

Verantwortlichen merken, wie schwer es ist, der Seite beizukommen.<br />

2 von 4 22.09.2011 16:14


Schüler‐Mobbing‐Seite isharegossip.com: Gemein, anonym und schw... h�p://www.taz.de/Schueler‐Mobbing‐Seite‐isharegossipcom/!68500/<br />

Gepostet wird anonym. IP-Adressen von Nutzern werden nicht<br />

gespeichert, bekräftigen die Macher auf isharegossip.com. Und egal<br />

ob Staatsanwaltschaft, Jugendschützer oder Journalisten: auf Anfragen<br />

reagieren die Seitenbetreiber einfach nicht.<br />

US-Domain, schwedischer Server, lettische Firma<br />

Laut Impressum verantwortet die Seite ein Mann namens Alexander<br />

Liepa mit einer Firma im lettischen Riga. Ob es nur Zufall ist, dass er<br />

den gleichen Namen trägt wie der Erfinder der Pringles-Chips, wird<br />

inzwischen im Netz spekuliert – hat doch auch er sich noch nie<br />

öffentlich zu Wort gemeldet. Anonym hat ein angeblicher Mitarbeiter<br />

der Seite einem Frankfurter Magazin ein Interview gegeben – doch<br />

auch er soll inzwischen bei der Seite ausgestiegen sein.<br />

Angemeldet wurde die Domain der Seite in den USA, gehostet wird die<br />

Seite von einem schwedischen Provider. Genauer gesagt: Von der<br />

Firma PRQ von Gottfrid Svartholm. Das ist der Mann, der die<br />

Bittorrenttracker-Seite Pirate Bay miterfand, sich deswegen vor Gericht<br />

mit der milliardenschweren US-Unterhaltungsindustrie anlegte – und<br />

heute einen bunten Strauß Webseiten hostet, die andere gerne für<br />

immer aus dem Netz tilgen würden.<br />

Eine schlechte Nachricht für alle, die hoffen, dass das Eingreifen der<br />

deutschen Staatsanwaltschaft isharegossip den Garaus machen kann –<br />

mit ein paar Briefen aus Deutschland wird ein Provider, der sowohl<br />

Thepiratebay als auch Wikileaks hostet, wohl fertig werden. Und auch<br />

die Tatsache, dass isharegossip auf dem Index steht, ist kaum mehr als<br />

Kosmetik - denn das bedeutet lediglich, dass sie in den<br />

Suchergebnissen der größten Suchmaschinen nicht mehr angezeigt<br />

wird.<br />

Auf der Berliner Max-von-Laue-Oberschule hat man erst einmal<br />

versucht, schnell und wirksam zu reagieren. Auf den Schulrechnern kann<br />

die Seite nicht mehr aufgerufen werden. Die Lehrer haben mit den<br />

Schülern darüber geredet. "Ich habe zu denen gesagt: <strong>Wenn</strong> ihr damit<br />

weiter<strong>macht</strong>, habe ich als Ethiklehrerin total versagt", erzählt zum<br />

Beispiel Christiane El-Nahri, Klassenlehrerin der 10a, auf dem Weg<br />

zum Lehrerzimmer. Das habe geholfen, da hätten die Schüler wirklich<br />

nachgedacht.<br />

"Wer ist fett und stinkt?"<br />

Fragt man die Klasse heute, sagt die Mehrheit, sie hätten isharegossip<br />

seit bestimmt vier Wochen nicht mehr angeschaut. Ihre Kollegin<br />

Christiane Schrabback hat einen andere Strategie verfolgt. Die<br />

Biologie- und Englischlehrerin hat bei isharegossip mitgelesen – und<br />

gemerkt, dass die Schüler dort oft gar nicht so anonym schreiben, wie<br />

sie denken: "Teils kann ich eingrenzen, wer etwas geschrieben hat. An<br />

den Rechtschreibfehlern und an der Wortwahl", sagt sie. "Und wenn mir<br />

das auffällt, dann sage ich das den Schülern auch."<br />

Auch auf dem Pausenhof hört man viel Reflektiertes über die<br />

Cybermobbing-Seite. Zwar kann der ganze Pulk Achtklässlerinnen<br />

mitreden, wenn es um den isharegossip-Thread "Wer ist fett und<br />

stinkt?" geht. Gilt aber als doof und unfair. Eine Zahnspangenträgerin<br />

im grauen Pullover sagt, sie sei da auch aufgetaucht. Sie zuckt mit den<br />

Schultern. "Ich finde es schlimmer, wenn mir jemand das ins Gesicht<br />

3 von 4 22.09.2011 16:14


Schüler‐Mobbing‐Seite isharegossip.com: Gemein, anonym und schw... h�p://www.taz.de/Schueler‐Mobbing‐Seite‐isharegossipcom/!68500/<br />

sagen würde", sagt sie selbstbewusst. Über ihn hätte dringestanden, er<br />

sei ein Kiffer, mischt sich ein Junge ein. "Mir egal. Ich kenne ja die<br />

Wahrheit."<br />

Andere haben mehr Angst, zum Thema auf isharegossip zu werden.<br />

"Man guckt schon, dass man sich nicht auffällig verhält", sagt eine<br />

andere Achtklässlerin, als die anderen nicht mehr dabei sind. "Keiner<br />

will mehr zeigen, dass er einen Freund hat oder so." Obwohl das alles<br />

so langsam auch vorbei sei. "Ich habe das Gefühl, da schreibt keiner<br />

mehr. Und wir reden auch nicht mehr drüber."<br />

Ein Eindruck, den man an der Max-von-Laue immer wieder hört.<br />

Irgendwie hat sich das anonyme Lästern schon wieder abgenutzt. Die<br />

Zahl der Einträge nimmt ab. "Man merkt: Die Schüler empfinden das<br />

als Schwachsinn", sagt Direktor Schrenk.<br />

geändert<br />

* Namen von der Redaktion<br />

4 von 4 22.09.2011 16:14


Mobbing auf IShareGossip.com: Öffentlicher Hinterhalt ‐ taz.de h�p://www.taz.de/Mobbing‐auf‐IShareGossipcom/!67855/<br />

22.03.2011 13 Kommentare<br />

MOBBING AUF ISHAREGOSSIP.COM<br />

Öffentlicher Hinterhalt<br />

Auf IShareGossip.com werden Amokläufe angekündigt und<br />

SchülerInnen beleidigt - oftmals sind die Opfer eindeutig<br />

identifizierbar.<br />

VON FRÉDÉRIC VALIN<br />

Sehr viel mehr als nur Lästereien: Die Seite IShareGossip.com ist berüchtigt.<br />

Bild: screenshot<br />

Und wieder ist es IShareGossip.com, das in den Blickpunkt gerät: Jene<br />

Internetseite, die ein Forum für "Neuigkeiten, Gerüchte und Lästereien"<br />

für Schüler sein will, aber in Wirklichkeit ein öffentlicher Hinterhalt ist.<br />

Die Betreiber rühmen sich, ihre Nutzer absolut anonym zu behandeln.<br />

Die Botschaft lautet: Hier könnt ihr ruhig die Sau rauslassen! So ist es<br />

dann auch.<br />

Unrühmliche Berühmtheit erlangte die Seite, als Nutzer angebliche<br />

Amokläufe an ihrer Schule ankündigten. Betroffen waren das Schadow-<br />

Gymnasium in Zehlendorf und das Spandauer Hans-Carossa-<br />

Gymnasiums - beides glücklicherweise keine ernstzunehmenden<br />

Drohungen.<br />

Was aber ernstzunehmen ist: Beinahe täglich tauchen persönliche<br />

Diffamierungen eindeutig identifizierbarer Personen auf, teilweise<br />

werden auch die Namen genannt. Da steht dann zu lesen, wer "die<br />

GRÖSTE schlampe der Schule" sei, wer den "Den gailsten arSch"<br />

habe und ob eine Mitschülerin "fett, fett, fett oder fett" sei. Man muss<br />

nicht lange suchen, um auf solche Beiträge zu kommen. "Etwas<br />

Vergleichbares hat es im deutschen Internet bisher noch nicht<br />

gegeben", sagt Margit Rolf von der Mobbing-Zentrale Hamburg.<br />

IShareGossip.com ist tatsächlich die Klowand des Internets, nur noch<br />

öffentlicher.<br />

Viele Schüler wollen bei solch übler Nachrede nicht tatenlos zusehen.<br />

Häufig versuchen Nutzer, mäßigend in die Diskussion einzugreifen und<br />

die Mobber zu Fairness und Mäßigung zu überreden. Meist mit<br />

1 von 2 22.09.2011 16:16


Mobbing auf IShareGossip.com: Öffentlicher Hinterhalt ‐ taz.de h�p://www.taz.de/Mobbing‐auf‐IShareGossipcom/!67855/<br />

geringem Erfolg. Oder sie überschwemmen die Seite, so oft es geht,<br />

mit Textfetzen aus Wikipedia-Artikeln.<br />

Was tun, wenn man Opfer geworden ist? "Es ist gut, die Beiträge durch<br />

Screenshots zu dokumentieren", sagt Stefanie Kutscher von<br />

klicksafe.de, der EU-Initiative für mehr Sicherheit im Netz. Man solle<br />

auch die Schule benachrichtigen und darüber reden: mit den Eltern, mit<br />

Lehrern und mit Hilfsangeboten wie der Nummer gegen Kummer.<br />

Der Betreiber der Seite, Alexander Liepa, hat sich bisher nur einmal<br />

öffentlich geäußert. Der Erfolg des Forums käme in erster Linie<br />

dadurch zustande, dass es die Rachegefühle und die Feigheit der<br />

Nutzer bediene. Auf die Frage, was er tun würde, wenn jemand wegen<br />

IShareGossip.com sich umbringen würde, wusste er kaum etwas zu<br />

sagen: "Eine Katastrophe wäre das, absolut katastrophal. Aber so<br />

spontan kann ich dazu nichts sagen. Da müsste ich ausführlicher drüber<br />

nachdenken."<br />

Ob er inzwischen darüber<br />

nachgedacht hat, weiß man nicht. Das Geschäftsmodell hingegen<br />

funktioniert: Inzwischen poppt bei erstem Anklicken der Seite eine<br />

Werbung für Sex-Webcams auf.<br />

2 von 2 22.09.2011 16:16


Druckversion ‐ Studie zur Internetnutzung: Jugendliche werden vers... h�p://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,druck‐731180,00.html<br />

26. November 2010, 15:25 Uhr<br />

Studie zur Internetnutzung<br />

Jugendliche werden verschwiegener im Netz<br />

Von Hannah Pilarczyk<br />

Beim Datenschutz im Internet zeichnet sich eine Trendwende ab. Laut einer neuen Studie verraten<br />

Jugendliche im Netz inzwischen weniger persönliche Informationen als früher. Gleichzeitig wird aber<br />

<strong>Facebook</strong> immer beliebter.<br />

Da dürften einige Eltern erleichtert aufatmen: Jugendliche gehen vorsichtiger mit ihren Daten im Internet um. Das<br />

ist eines der wichtigsten Ergebnisse der neuen JIM-Studie (Jugend, Information, (Multi-)Media), die an diesem<br />

Freitagnachmittag in Mannheim vorgestellt wurde. Im Vergleich zum Vorjahr geben 2010 weniger Jugendliche<br />

persönliche Informationen wie ihre Instant-Messenger-Kennung oder ihre Hobbys im Netz an. Außerdem ist die<br />

Nutzung der sogenannten "Privacy Option" sprunghaft angestiegen. Mit dieser Option können Nutzer regulieren, wer<br />

welche Informationen auf ihren Social-Network-Profilen einsehen kann.<br />

Für die jährlich erscheinende JIM-Studie werden mehr als tausend Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren zu ihrem<br />

Mediennutzungsverhalten befragt. Auftraggeber ist der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (MPFS).<br />

"Wir beobachten eine positive Entwicklung des Problembewusstseins unter Jugendlichen", sagt Thomas Rathgeb,<br />

der Leiter der Geschäftsstelle des MPFS, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. War 2009 noch das Jahr, in dem die<br />

Mitteilungsfreudigkeit von Jugendlichen stark angestiegen war, zeichnet sich 2010 eine Wende ab: Persönliche<br />

Informationen wie Hobbys geben nur noch 76 Prozent der jungen Nutzer an (2009: 83 Prozent). Auch beim<br />

Hochladen von Fotos und Filmen ist die Zurückhaltung gewachsen: 64 Prozent der Jugendlichen laden eigenes<br />

Material hoch (2009: 69 Prozent), Fotos und Filme von Freunden oder Familie werden nur von 41 Prozent ins Netz<br />

gestellt. 2009 waren es noch 51 Prozent.<br />

Viel vorsichtiger sind die Jugendlichen bei der Angabe direkter Kontaktmöglichkeiten geworden: Ihre Instant-<br />

Messenger-Kennung nennen nur noch 26 Prozent (2009: 35 Prozent). Kaum Veränderungen gibt es bei der Preisgabe<br />

der Festnetz- oder Handynummer: Hier handeln Jugendliche seit längerem äußerst bedacht, nur vier Prozent geben<br />

diese Information heraus (2009: fünf Prozent).<br />

"Die Eigenverantwortung der Jugendlichen ist gefragt"<br />

Zu der neuen Vorsicht dürften mehrere Faktoren beigetragen haben. "Jugendliche lernen voneinander", sagt Thomas<br />

Rathgeb. "<strong>Wenn</strong> einer schlechte Erfahrungen damit ge<strong>macht</strong> hat, persönliche Daten preiszugeben, spricht sich das<br />

im Freundeskreis herum und die Jugendlichen ändern ihr Verhalten." Je länger der Boom der Social Networks anhält,<br />

desto erfahrener und vorsichtiger werden die Nutzer.<br />

Aber auch unter Lehrern und Eltern ist das Problembewusstsein gestiegen. Daten- und Verbraucherschutz im<br />

Internet wird mittlerweile häufiger im Unterricht und zu Hause diskutiert, was ebenfalls zu mehr Besonnenheit bei<br />

Jugendlichen beitragen dürfte.<br />

Positiv beurteilt Rathgeb darüber hinaus auch die Selbstverpflichtung mehrerer deutscher Anbieter von Social<br />

Networks: In einem freiwilligen Verhaltenskodex hatten sich unter anderem die VZnet Netzwerke, Lokalisten und<br />

Wer-kennt-wen zu umfassendem Jugend- und Datenschutz bekannt. Diese Netzwerke weisen von sich aus auf ihre<br />

"Privacy Option" hin oder haben sie als Standard-Einstellung festgelegt. So lässt sich auch der große Anstieg bei<br />

der Nutzung der "Privacy Option" erklären: 2010 geben zwei Drittel der jungen Nutzer von Social Networks an, von<br />

diesen Kontrollmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Im Vorjahr war es nur knapp die Hälfte.<br />

Allerdings haben sich zu dem Verhaltenskodex nur deutsche Anbieter verpflichtet - und die verlieren laut JIM-Studie<br />

unter deutschen Jugendlichen an Attraktivität. SchülerVZ kann sich zwar als Marktführer behaupten: 53 Prozent aller<br />

Nutzer sind hier angemeldet (2009: 59 Prozent). Doch <strong>Facebook</strong> gewinnt explosionsartig an jungen Mitgliedern:<br />

2009 waren nur sechs Prozent aller Jugendlichen bei dem US-amerikanischen Anbieter, 2010 sind es bereits 37<br />

Prozent.<br />

Was die Intensität der Nutzung angeht, <strong>macht</strong> <strong>Facebook</strong> SchülerVZ ebenfalls Konkurrenz: Nur rund ein Drittel der<br />

User nutzt das deutsche Angebot noch am häufigsten (2009: 42 Prozent). Die Beliebtheit von <strong>Facebook</strong> wurde im<br />

Vorjahr in der JIM-Studie noch nicht abgefragt, 2010 kommt das US-Netzwerk deshalb aus dem Stand auf 19<br />

Prozent.<br />

Da <strong>Facebook</strong> deutlich nachlässiger mit Nutzerdaten umgeht als die deutschen Anbieter, wird sich das Problem des<br />

Jugend- und Datenschutzes im Internet in der Zukunft wohl in neuer Form wieder stellen. "Globale Anbieter nehmen<br />

natürlich keine Rücksicht auf die Diskussionen in Deutschland", sagt Thomas Rathgeb von der MPFS. "Hier ist die<br />

Eigenverantwortung der Jugendlichen gefragt."<br />

Siehe auch: "Kernergebnisse der JIM-Studie 2010 - Jugendliche sind Kommunikations-Junkies"<br />

1 von 2 22.09.2011 16:02


Druckversion ‐ Studie zur Internetnutzung: Jugendliche werden vers... h�p://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,druck‐731180,00.html<br />

URL:<br />

http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,731180,00.html<br />

MEHR AUF SPIEGEL ONLINE:<br />

Kernergebnisse der JIM-Studie 2010: Jugendliche sind Kommunikations-Junkies (26.11.2010)<br />

http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,731352,00.html<br />

Gastbeitrag von Innenminister de Maizière: Was "e-Konsultation" wirklich taugt (26.11.2010)<br />

http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,731118,00.html<br />

SPIEGEL-Aktion Studentenpisa: Der feine Unterschied (26.11.2010)<br />

http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,731207,00.html<br />

MEHR IM INTERNET<br />

Verhaltenskodex Social Networks<br />

https://www.fsm.de/inhalt.doc/VK_Social_Networks.pdf<br />

SPIEGEL ONLINE ist nicht verantwortlich<br />

für die Inhalte externer Internetseiten.<br />

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2 von 2 22.09.2011 16:02


<strong>Wenn</strong> <strong>Facebook</strong> schwermü�g <strong>macht</strong> ‐ Von virtuellen Freunden und ... h�p://www.dradio.de/dkultur/sendungen/poli�schesfeuilleton/151...<br />

dradio.de<br />

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1518683/<br />

ORTSZEIT:<br />

POLITISCHES FEUILLETON<br />

02.08.2011<br />

Der Erfolg von <strong>Facebook</strong> zeugt von unserem Bedürfnis nach Selbstaufwertung. (Bild: picture alliance / dpa)<br />

<strong>Wenn</strong> <strong>Facebook</strong> <strong>schwermütig</strong> <strong>macht</strong><br />

Von virtuellen Freunden und narzisstischen Störungen<br />

Von René Weiland<br />

Kaum ein anderes Medium scheint markanter sowohl für die Veränderung unserer sozialen Beziehungen als<br />

unseres Selbstbegriffs einzustehen als "<strong>Facebook</strong>". Die wuchernden Listen von Freunden,<br />

Freundesfreunden und Freundesfreundesfreunden geben bei näherem Hinsehen jedoch weniger Auskunft<br />

über unsere Beziehungen oder unsere Beziehungsfähigkeit als von unserem Bedürfnis nach Rückspiegelung<br />

und Selbstaufwertung durch die, mit denen wir uns befreundet wähnen.<br />

Seit jeher ist das Ich auf Bestätigungen durch ein Du angewiesen. Was, wenn das Ich seine Bestätigungen, statt sie<br />

von jemandem geschenkt zu bekommen, selber herausfordert? Wir reden dann von Geltungssucht, von einer<br />

narzisstischen Störung. Was auf diesem Bedürfnis aufbaut, kann sich schwerlich ein soziales Netzwerk nennen. Eher<br />

schon ist es ein pan-narzisstisches Spiegelkabinett, in dem wir uns mehr oder minder sorglos alle einander etwas<br />

vormachen. Die Frage ist allerdings, inwieweit wir dies aufs reale Leben hochrechnen können, wo sich ja nicht nur die<br />

Dinge im Raum stoßen, sondern durchaus Egos zerbrechen.<br />

Es bedarf keiner sonderlichen Urteilskraft, schon gar nicht aufwendiger soziologischer Untersuchungen, um sich vor<br />

Augen zu führen, dass virtuelle Beziehungen keine realen ersetzen können und die Fertigkeit, sich aller Welt<br />

mitzuteilen, sich mit allem und jedem zu verbandeln, nicht Einsamkeit ausschließt, sondern eine solche anzeigt. Dass<br />

das Leben insgesamt zum geisternden Chatroom werde, da ist das Leben selber vor. Wir gehen nie vollständig in<br />

unseren Absichten und Gewohnheiten auf, schon gar nicht in unseren Produkten. Solange wir leben, bleibt unser<br />

Inneres vom Außen geschieden, möge es uns auch noch so sehr bedrängen und locken. Nichts und niemand kann uns<br />

unsere Verantwortung für unser Leben nehmen, uns von unserer Freiheit erlösen, mithin von dem Gefühl der<br />

Verlassenheit, von der diese nicht zu trennen ist. Dies hat nicht zuletzt der Fall der jungen Simone Back aus Brighton<br />

gezeigt, die via <strong>Facebook</strong> ihre Absicht, Selbstmord zu begehen, ankündigte und von niemandem ihrer unzähligen<br />

"Freunde" zurückgehalten wurde.<br />

Kein Mensch, erst recht nicht <strong>Facebook</strong>, hindert uns daran, die Kontakte, die wir virtuell eingehen, real fortzuführen<br />

oder, bei Tageslicht betrachtet, schnellstens zu beenden. Nichts hindert uns daran als unsere eigene Schwermut. Wir<br />

werden <strong>schwermütig</strong>, sobald wir unser Inneres einem Außen überantworten - einem anderen Menschen, einer<br />

Institution oder eben einem Medium. <strong>Wenn</strong> der IT-Philosoph Luciano Floridi feststellt, unser "epistemologisches Ich" -<br />

also: was wir zu sein uns einbilden - würde dank der interaktiven Netzwerke wie <strong>Facebook</strong> auf unser "ontologisches<br />

Ich" - also: auf unser wahres Selbst - zurückwirken, dann stellt dieser so triviale wie kurzschlüssige Gedanke,<br />

einschließlich seiner begrifflichen Aufgeblähtheit, eine blitzblanke Theorie selbstverschuldeter Schwermut dar.<br />

Die Wahrheit eines sozialen Netzwerks liegt nicht in ihm selbst, sondern in seinem Gebrauch. Das heißt: in unserem<br />

Gebrauch von uns selber. Vom bloßen Narzissmus zur Affirmation unseres Selbst ist es noch ein langer Weg - in<br />

letzter Konsequenz ein politischer. Dasselbe Bedürfnis, das sich in Ägypten 2008, anlässlich der Afrika-Meisterschaft,<br />

als Stolz auf die eigene Fußballnationalmannschaft artikulierte und binnen kürzester Zeit über 40.000 Mitglieder zu<br />

einer <strong>Facebook</strong>-Gruppe zusammenfinden ließ; dieselbe Freude an sich selber brachte die Ägypter drei Jahre später<br />

dazu, sich, unter anderem mittels <strong>Facebook</strong>, von einem korrupten wie freudlosen Regime zu befreien.<br />

René Weiland, geboren 1957 in Berlin. Publizist. Langjähriger Mitarbeiter der RIAS-Funkuniversität. Letzte<br />

Buchveröffentlichungen: "Das Äußerste, was ein Mensch sein kann. Betrachtung und Gespräch über Thomas von<br />

Aquin" , sowie (zusammen mit Matthias Eckoldt): "Wozu Tugend? Über den Gebrauch eines missbrauchten Begriffs".<br />

© 2011 Deutschlandradio<br />

1 von 1 22.09.2011 15:45


Druckversion ‐ Streit über Internet‐Pseudonyme: Klarnamenzwang? ... h�p://www.spiegel.de/netzwelt/netzpoli�k/0,1518,druck‐778769,00...<br />

07. August 2011, 17:30 Uhr<br />

Streit über Internet-Pseudonyme<br />

Klarnamenzwang? Nein Danke!<br />

Innenminister Friedrich fordert im SPIEGEL ein Ende der Anonymität im Netz - müssen jetzt alle mit offenem<br />

Visier agieren? Die Internetforscherin Danah Boyd hält nichts vom Zwang zu offiziellen Namen. Sie fürchtet<br />

einen großen Schaden für die Kultur im Netz.<br />

CSU-Mann Hans-Peter Friedrich befeuert mit seinem Vorstoß im SPIEGEL einen aktuellen Streit. Auf der einen Seite<br />

stehen Unternehmen, die echte Namen über Werbung zu Geld machen wollen, und Politiker wie Friedrich, die sich<br />

von offiziellen Namen mehr Sicherheit versprechen. Auf der anderen Seite streiten Experten wie die<br />

Wissenschaftlerin Danah Boyd, die für Microsoft arbeitet und zu sozialen Medien forscht. In ihrem Blog erklärt sie,<br />

warum der Zwang zu Klarnamen ein Problem ist. Hier in gekürzter Fassung und deutscher Übersetzung:<br />

Das Internet diskutiert über die "nymwars", meist als Reaktion auf Google+, wo auf offizielle Namen bestanden<br />

wird. Anfangs wurden Accounts, die gegen diese Regel verstießen, massenhaft gelöscht. Nachdem die Community<br />

mit Empörung reagiert hatte, versuchten die Verantwortlichen von Google+, den Ärger mit einem "neuen und<br />

verbesserten" Verfahren zur Durchsetzung des Klarnamenzwangs aufzufangen (ohne gleich Accounts zu löschen).<br />

Das führte aber nur dazu, dass jetzt erst recht über den Wert von Pseudonymen diskutiert wird. [...]<br />

Ein Blog-Eintrag, geschrieben von Kirrily "Skud" Robert, enthält eine Liste von Gründen, die ihr Pseudonym-Nutzer<br />

genannt haben. Unter anderem:<br />

"Ich bin Lehrer an einer Highschool, Privatsphäre ist für mich äußerst wichtig."<br />

"Ich fühle mich nicht sicher dabei, meinen richtigen Namen anzugeben. Ich wurde über meine Online-Präsenz<br />

aufgespürt und Kollegen haben meine Privatsphäre verletzt."<br />

"Ich wurde gestalked. Ich habe eine Vergewaltigung überlebt. [...]"<br />

"Ich nutze diesen Nickname seit etwa sieben Jahren, weil ich Opfer von Stalking war [...]."<br />

"[Dieser Name] ist ein Pseudonym, mit dem ich mich selbst schütze. Meine Website kann recht kontrovers<br />

sein, das wurde schon einmal gegen mich verwendet."<br />

"[...] Ich möchte mit meinen Ansichten nicht konservative oder religiöse Bekannte und Verwandte<br />

beleidigen. Außerdem will ich nicht, dass die Karriere meines Mannes, der für die Regierung arbeitet, von<br />

seiner meinungsstarken Ehefrau beeinflusst wird, oder dass sich seine Mitarbeiter irgendwie unwohl fühlen<br />

wegen meiner Ansichten."<br />

"Ich sorge mich um meine Privatsphäre, weil ich in der Vergangenheit gestalked wurde. Ich werde nicht für<br />

eine Seite auf Google+ meinen Namen ändern. Der Preis, den ich dafür bezahlen müsste, ist es nicht wert."<br />

"Wir bekommen Morddrohungen über das Blog. [...]"<br />

"Diese Identität habe ich genutzt, um meine richtige Identität zu schützen. Ich bin schwul und meine<br />

Familie lebt in einem kleinen Dorf, wenn das dort bekannt wäre, würden sie Probleme bekommen."<br />

"Ich nutze ein Pseudonym, um sicherer zu sein. Als Frau bin ich auf der Hut vor Internetbelästigungen."<br />

Man kann hier ein Muster erkennen. Auf der Website "My Name Is Me" gibt es weitere Gründe für Pseudonyme.<br />

Auffällig ist, wen der Klarnamenzwang alles trifft: Darunter sind Missbrauchsopfer, Aktivisten, Lesben, Schwule, Biund<br />

Transsexuelle, Frauen und junge Menschen. [...] Die Menschen, die sich am häufigsten im Internet auf<br />

Pseudonyme verlassen, sind diejenigen, die von der Gesellschaft am meisten ausgegrenzt werden. Klarnamen-<br />

Regeln machen Menschen nicht stärker, sie sind eine autoritäre Machtausübung gegenüber verletzlichen Menschen.<br />

[...]<br />

Ich finde es lustig, dass die Leute offenbar nicht verstehen, wie sich die Klarnamenkultur bei <strong>Facebook</strong> etabliert<br />

hat. Die ersten Nutzer von <strong>Facebook</strong> waren Studenten von Elite-Colleges. [...] Sie gaben den Namen an, den sie im<br />

Zusammenhang mit ihrem College, ihrer Highschool oder ihrer Firma nutzten. Das waren nicht zwingend ihre<br />

offiziellen Namen, viele <strong>macht</strong>en Bill aus William. Aber es waren im Prinzip "echte" Namen. Als <strong>Facebook</strong> größer<br />

wurde und sich die Mitglieder mit neuen Nutzermassen anfreunden mussten, wuchs ein Unbehagen über die<br />

Klarnamennorm. Doch die war nunmal gesetzt. [...]<br />

Kaum jemand hat mitbekommen, dass sich währenddessen unzählige junge Schwarze und Latinos mit Pseudonymen<br />

bei <strong>Facebook</strong> angemeldet haben. Die meisten Menschen kriegen nicht mit, was junge Schwarze und Latinos im<br />

Internet machen. Ebenso begannen Nutzer von außerhalb der USA, unter alternativen Namen <strong>Facebook</strong> beizutreten.<br />

Und wieder bemerkte das niemand, weil aus dem Arabischen oder Malaysischen transkribierte oder mit<br />

portugiesischen Wörtern versehene Namen für die Klarnamen-Bestimmer praktisch unsichtbar waren.<br />

Echte Namen sind auf <strong>Facebook</strong> eben nicht die Regel, <strong>Facebook</strong> bezieht sich nur gerne auf diesen Mythos. Dieser<br />

Eindruck kann entstehen, weil privilegierte weiße Amerikaner größtenteils ihren echten Namen auf <strong>Facebook</strong><br />

verwenden.<br />

Es geht um mehr als lustige Namen im Internet<br />

Dann wurde Google+ gestartet und man dachte wohl, dass man Klarnamen einfach vorschreiben kann. Doch das war<br />

ein Fehler: In den 48 Stunden nach dem Start wurde die Tech-Szene in das Netzwerk hineingelassen. Nur verhält es<br />

sich mit dieser Szene so, dass sie auf eine lange Tradition von Nicknames, Alias und Pseudonymen zurückblickt.<br />

1 von 3 22.09.2011 15:47


Druckversion ‐ Streit über Internet‐Pseudonyme: Klarnamenzwang? ... h�p://www.spiegel.de/netzwelt/netzpoli�k/0,1518,druck‐778769,00...<br />

Diese Gruppe konnte die ersten sozialen Normen des Netzwerks prägen. [...] Es kam noch schlimmer für Google:<br />

Die Vertreter der Tech-Szene haben viel Spaß daran, sich laut zu äußern, wenn man sie ärgert. [...]<br />

Ich finde es gut, dass es jetzt so viel Protest gibt. Und ich bin sehr, sehr froh, dass sich tatsächlich privilegierte<br />

Menschen dieser Sache annehmen, weil ihnen die Klarnamenregeln am allerwenigsten schaden können. [...] Auf<br />

dem Spiel steht das Recht, sich selbst zu schützen, das Recht von Menschen, eine Form von Kontrolle auszuüben,<br />

die ihnen Sicherheit gibt. <strong>Wenn</strong> Unternehmen wie <strong>Facebook</strong> und Google wirklich etwas an der Sicherheit ihrer Nutzer<br />

liegt, dann müssen sie diese Vorwürfe ernst nehmen. Nicht jeder ist sicherer, wenn er seinen echten Namen angibt.<br />

Ganz im Gegenteil; viele Menschen sind weniger sicher, wenn man sie identifizieren kann. Und jene, die am<br />

wenigsten sicher sind, sind oft die, die am meisten verwundbar sind. [...]<br />

Leute verweisen darauf, dass Menschen Pseudonyme nutzen, um ihre Identität zu verschleiern und, zumindest<br />

theoretisch, ihren Ruf zu "schützen". Dahinter steckt die Annahme, dass ein Beobachter qualifiziert ist, die<br />

Reputation von jemanden einzuschätzen. Doch viel zu oft wird eine Person unpassenderweise auf Grundlage dessen<br />

eingeschätzt, was im Internet zu finden ist, ohne Kontext. [...]<br />

Vor Jahren rief mich der Mitarbeiter eines Elite-Colleges an, der für das Zulassungsverfahren zuständig ist. Er wollte<br />

einen jungen schwarzen Mann aus South Central in Los Angeles aufnehmen. Der Student hatte in seiner Bewerbung<br />

geschrieben, dass er seine von Gangs beherrschte Gegend hinter sich lassen wollte - doch der Mitarbeiter hatte<br />

sein Profil auf MySpace gefunden, das voller Gang-Insignien war. Ich wurde gefragt: "Warum lügt er uns überhaupt<br />

an, wenn wir die Wahrheit online herausfinden können?"<br />

Ich kenne die Gegend und war mir ziemlich sicher, dass der Bewerber es ernst meinte mit dem College. Gleichzeitig<br />

tat er aber das, was verlangt wurde, um in dieser Gegend zu überleben. Hätte er ein Pseudonym benutzt, hätte das<br />

College keine aus dem Kontext gerissenen Informationen über ihn bekommen und hätte keine voreiligen Schlüsse<br />

gezogen. Sie dachten, dass ihre Sichtweise die richtige ist. Ich hoffe sehr, dass er trotzdem aufgenommen wurde.<br />

Es gibt keinen universellen Kontext, egal wie oft einem Geeks auch erzählen, dass man jederzeit die eine Person<br />

für jeden sein kann. Aber nur weil Menschen das tun, was in unterschiedlichen Situationen angemessen ist, was<br />

ihrer Sicherheit dient und was sicherstellt, dass sie nicht aus dem Kontext heraus beurteilt werden, heißt das noch<br />

nicht, dass jeder ein "huckster" ist, ein Blender. Vielmehr reagieren Menschen verantwortungsvoll und vernünftig auf<br />

die strukturellen Bedingungen dieser neuen Medien.<br />

Es kann nicht angehen, dass die Privilegierten und Mächtigen denen erzählen, die das nicht sind, dass das<br />

Untergraben ihrer Sicherheit okay wäre. Man garantiert keine Sicherheit, indem man Menschen davon abhält,<br />

Pseudonyme zu benutzen. Aber man schränkt die Sicherheit von Menschen ein, wenn man es tut.<br />

Deswegen ist die Durchsetzung von Klarnamenregeln im Internet aus meiner Sicht ein Missbrauch von Macht.<br />

URL:<br />

http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,778769,00.html<br />

MEHR AUF SPIEGEL ONLINE:<br />

Streit um Online-Anonymität: Opposition wettert gegen den Klarnamen-Minister (07.08.2011)<br />

http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,778858,00.html<br />

Nach Norwegen-Attentaten: Friedrich fordert Ende der Anonymität im Netz (07.08.2011)<br />

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,778803,00.html<br />

Klarnamenzwang im Web: Frau Fake verteidigt die Pseudonyme (28.07.2011)<br />

http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,776897,00.html<br />

Netzwelt-Ticker: Google+ schmeißt Nutzer wegen Pseudonym raus (15.07.2011)<br />

http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,774616,00.html<br />

MEHR IM INTERNET<br />

Netzweltticker 26.07.2011 #11<br />

https://plus.google.com/113116318008017777871/posts/VJoZMS8zVqU<br />

Kirrily Robert: Preliminary results of my survey of suspended Google+ accounts<br />

http://infotrope.net/2011/07/25/preliminary-results-of-my-survey-of-suspended-google-<br />

accounts/<br />

Danah Boyd: <strong>Facebook</strong> and "radical transparency" (a rant)<br />

http://www.zephoria.org/thoughts/archives/2010/05/14/facebook-and-radical-transparency-<br />

a-rant.html<br />

EFF: Randi Zuckerberg Runs in the Wrong Direction on Pseudonymity Online<br />

https://www.eff.org/deeplinks/2011/08/randi-zuckerberg-runs-wrong-direction-pseudonymity<br />

Danah Boyd: "Real Names" Policies Are an Abuse of Power<br />

http://www.zephoria.org/thoughts/archives/2011/08/04/real-names.html<br />

My Name is Me<br />

http://my.nameis.me/<br />

2 von 3 22.09.2011 15:47


Druckversion ‐ Internet: Null Blog ‐ SPIEGEL ONLINE ‐ Nachrichten ‐ N... h�p://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,druck‐709492,00.html<br />

02. August 2010, 00:00 Uhr<br />

Internet<br />

Null Blog<br />

Von Manfred Dworschak<br />

Die Jugend, zur "Netzgeneration" verklärt, hat in Wahrheit vom Internet wenig Ahnung. Und die Moden des<br />

Web 2.0 - von Bloggen bis Twittern - sind den Teenagern egal. Neue Studien zeigen: Es gibt für sie immer<br />

noch Wichtigeres im Leben.<br />

Tag für Tag ist Jetlir online, oft viele Stunden bis spät in die Nacht. Fast immer ist auf dem Bildschirm das Fenster<br />

seines Chat-Programms offen. Freunde und Bekannte schreiben da gleichzeitig durcheinander. Ab und zu tippt Jetlir<br />

einen Halbsatz in den ruckelnden Strom der Dialogzeilen, irgendwas Witziges oder ein Hallo, während er sich<br />

nebenher durch die Sportvideos bei YouTube klickt.<br />

Jetlir, 17 Jahre alt, Gymnasiast aus Köln, könnte gut in einer der üblichen Geschichten über die "Netzgeneration"<br />

auftreten, die sich angeblich im Virtuellen zu verlieren droht.<br />

Der Junge ist aufgewachsen mit dem Internet; seit er denken kann, ist es da. Seine halbe Freizeit spielt sich ab<br />

zwischen <strong>Facebook</strong>, YouTube und dem Chat.<br />

Wirklich wichtig aber sind ihm andere Dinge, allen voran der Basketball. "Der Verein geht vor", sagt Jetlir. "Nie<br />

würde ich ein Training auslassen." Auch sonst hat das echte Leben Vorrechte: "<strong>Wenn</strong> sich jemand mit mir treffen<br />

will, mache ich sofort die Kiste aus."<br />

Was Jetlir vom Internet erwartet, ist eher bescheiden. Die Älteren mögen es für ein revolutionäres Medium halten,<br />

von den Segnungen der Blogs schwärmen und um die Wette twittern. Jetlir ist zufrieden, wenn seine Freunde in<br />

Reichweite sind und bei YouTube die Videos nie ausgehen. Nie würde es ihm einfallen, ein Blog zu schreiben. Er<br />

kennt auch sonst niemanden in seinem Alter, der auf so was käme. Getwittert hat er ebenfalls noch nie: "Wofür soll<br />

das gut sein?"<br />

In Jetlirs Alltag spielt das Internet eine paradoxe Rolle: Er nutzt es ausgiebig - aber es interessiert ihn nicht. Es ist<br />

unverzichtbar, aber nur, wenn sonst nichts anliegt. "Eine Nebensache", sagt er.<br />

Jetlirs Abgeklärtheit ist typisch für die Jugend von heute; das bestätigen mehrere aktuelle Studien. Ausgerechnet<br />

die erste Generation, die sich ein Leben ohne Internet nicht mehr vorstellen kann, nimmt das Medium nicht<br />

übermäßig wichtig und verschmäht seine neuesten Errungenschaften: Ganze drei Prozent der jungen Leute<br />

schreiben selbst ein Blog. Und nicht mehr als zwei Prozent beteiligen sich regelmäßig an der Wikipedia oder sonst<br />

einem vergleichbaren Freiwilligenprojekt.<br />

Nicht minder konsequent ignoriert die Null-Blog-Generation kollektive Linksammlungen wie Delicious oder<br />

Foto-Gemeinschaftsportale wie Flickr und Picasa. Das ganze hochgelobte Mitmach-Web, auch Web 2.0 genannt, ist<br />

den Netzbürgern der Zukunft offenbar völlig egal. Das ergab eine große Studie des Hans-Bredow-Instituts.<br />

Dabei schwärmen Experten seit Jahren von einer technikbeseelten Jugend neuen Typs: mobil, vernetzt und<br />

chronisch ungeduldig, verwöhnt von der Überfülle der Reize im Internet. Ihr Leben verbringe sie in steter Symbiose<br />

mit Computern und Mobiltelefonen; die Netztechnik sei ihr quasi schon ins Erbgut übergegangen. Die Medien<br />

nennen sie deshalb "Cyberkids", "Generation @" oder schlicht die "Netzgeneration".<br />

Zu den vielzitierten Wortführern der Bewegung gehören der US-Autor Marc Prensky, 64, und sein kanadischer<br />

Kollege Don Tapscott, 62. Prensky hat sich das Bild von den "Digital Natives" ausgedacht, den Eingeborenen von<br />

Digitalien, traumwandlerisch vertraut mit allem, was das Internet möglich <strong>macht</strong> an Teilhabe und<br />

Selbstinszenierung - und den Älteren in diesen Dingen uneinholbar voraus. Wer über 25 ist, zählt bei Prensky zu<br />

den "Digital Immigrants", den Zugezogenen, die sich durch ihre Unbeholfenheit verraten wie sonst die Migranten<br />

mit ihren ulkigen Akzenten.<br />

Eine kleine Industrie von Autoren, Beratern und findigen Therapeuten lebt von der immer gleichen Botschaft: Die<br />

Jugend sei durch und durch geformt von dem Online-Medium, in dem sie groß geworden ist. Speziell die Schule<br />

müsse ihr deshalb ganz neue Angebote machen; der herkömmliche Unterricht erreiche diese Jugend gar nicht mehr.<br />

Belege dafür gibt es kaum. Statt auf Studien stützen die Visionäre sich vor allem auf eindrucksvolle Einzelbeispiele<br />

jugendlicher Netzvirtuosen. Für die ganze Generation besagt das freilich wenig, wie die Forschung inzwischen weiß;<br />

sie ist zügig dabei, ihren Rückstand aufzuholen.<br />

Zahlreiche Studien haben inzwischen zusammengetragen, wie die Jugend tatsächlich mit dem Internet umgeht. Ihre<br />

Befunde lassen vom Bild der "Netzgeneration" wenig übrig - und zugleich räumen sie auf mit dem Glauben an die<br />

alles verändernde Macht der Technik.<br />

Die Erhebung des Hans-Bredow-Instituts - Titel: "Heranwachsen mit dem Social Web" - ging dabei besonders<br />

gründlich vor. Neben einer repräsentativen Umfrage kamen 28 junge Leute in ausführlichen Einzelinterviews zu<br />

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Wort. Wie sich auch hier wieder zeigte, dient das Internet vor allem der Freundschaftspflege. In den sozialen<br />

Netzwerken von <strong>Facebook</strong> bis SchülerVZ wird getratscht, gewitzelt und posiert - ganz wie im echten Leben.<br />

Sehr selten ist dagegen der Typ des Pioniers, der online mit Freunden aus Amsterdam und Barcelona Musikstücke<br />

zusammenfrickelt, über Twitter Spontan-Demos für billige Schülermonatskarten organisiert oder anderweitig<br />

einfallsreich Neuland erobert. Für die meisten Befragten ist das Internet keine neue Welt, sondern eine nützliche<br />

Erweiterung der alten. Entsprechend pragmatisch ist das Verhältnis zwischen Mensch und Medium: "Wir haben<br />

überhaupt keine Belege dafür gefunden, dass das Internet die Jugend prägt", sagt die Salzburger<br />

Kommunikationswissenschaftlerin Ingrid Paus-Hasebrink, die das Projekt geleitet hat.<br />

Die angeblich so virtuosen Netzbürger sind nicht einmal besonders geschickt darin, ihr Medium auszureizen.<br />

"Fummeln können sie", sagt der Hamburger Bildungsforscher Rolf Schulmeister. "Sie bringen jedes Programm zum<br />

Laufen, und sie wissen, wo sie sich Musik und Filme besorgen können. Aber wirklich gut darin ist auch nur eine<br />

Minderheit."<br />

Schulmeister, ein Experte für digitale Medien im Unterricht, muss es wissen: Er hat sich gerade durch mehr als 70<br />

einschlägige Studien aus aller Welt geackert. Auch er kommt zu dem Schluss, dass das Internet keineswegs die<br />

Herrschaft über die Lebenswelt übernommen habe. "Nach wie vor machen die Medien nur einen Teil der<br />

Freizeitaktivitäten aus", sagt er, "und das Internet ist nur ein Medium unter anderen. Für Jugendliche ist es immer<br />

noch wichtiger, Freunde zu treffen oder Sport zu treiben."<br />

Nach der Schule die tägliche <strong>Facebook</strong>-Sitzung<br />

Der Marke "Netzgeneration" dürfte das freilich nicht schaden. "Das ist so eine naheliegende, billige Metapher", sagt<br />

Schulmeister, "die kommt einfach immer wieder hoch."<br />

Zudem scheint allein schon die Statistik zu zeigen, wie die Technik immer größere Teile des Alltags verschlingt.<br />

Nach der jüngsten JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest haben bereits 98 Prozent der<br />

12- bis 19-Jährigen einen Zugang zum Internet, und sie verbringen damit nach eigener Schätzung im Durchschnitt<br />

134 Minuten am Tag - nur noch drei Minuten weniger als mit dem Fernsehen.<br />

Allerdings besagt die schiere Dauer wenig. Die Frage ist, was die "Cyberkids" tun, wenn sie online sind. Und darin<br />

unterscheiden sie sich wenig von früheren Jugendgenerationen: Es geht um den Austausch mit ihresgleichen. Fast<br />

schon die Hälfte der Zeit verbringen sie damit. E-Mail, Chat und soziale Netzwerke machen zusammen den größten<br />

Einzelposten in der Nutzungsstatistik aus.<br />

Tom zum Beispiel, ein Mitschüler von Jetlir, steht fast rund um die Uhr mit 30 oder 40 Freunden in Verbindung. Die<br />

Kanäle wechseln je nach Gelegenheit: morgens ein kleiner Chat am PC, in der großen Pause ein paar SMS, nach der<br />

Schule die tägliche <strong>Facebook</strong>-Sitzung, ein paar Anrufe per Handy und abends noch ein, zwei gemütliche<br />

Videotelefonate über den Internetdienst Skype.<br />

Ob die Verbindung jeweils über das Internet hergestellt wird oder nicht, ist offenbar ziemlich egal. Es kommt nicht<br />

auf die Medien oder die Geräte an; es zählt nur, wofür sie gut sind. Das können vor allem beim Internet inzwischen<br />

ganz verschiedene Dinge sein: Mal dient es als Telefon, dann wieder als eine Art besserer Fernseher. Ein, zwei<br />

Stunden guckt Tom täglich, meist bei YouTube, aber auch ganze TV-Sendungen, sofern sie irgendwo abrufbar sind.<br />

"Jeder weiß, wie man Folgen von Fernsehserien findet, die man sehen will", sagt Toms Mitschülerin Pia.<br />

Die Unterhaltung ist der zweitgrößte Posten in der Nutzungsstatistik. Inzwischen hören mehr Jugendliche ihre Musik<br />

bei diversen Abspielstationen im Internet als im Radio. Das ergab schon 2008 eine Studie der Universität Leipzig.<br />

Vor allem das Videoportal YouTube ist nebenher, weitgehend unbemerkt, zur globalen Jukebox für den Musikbedarf<br />

der Jugend geworden - kaum ein Song, der dort nicht aufzutreiben wäre.<br />

"Das ist auch praktisch, um mal was Neues zu finden", sagt Pia. Die Suche ist sehr effizient; in der Regel genügt<br />

schon eine halbe Textzeile, irgendwo auf einer Party aufgeschnappt, und YouTube liefert das Video mit dem<br />

dazugehörigen Song.<br />

So füllt sich das Internet mit den Angeboten älterer Medien; zum Teil tritt es an ihre Stelle. Und das jugendliche<br />

Publikum, immer schon auf Austausch und Unterhaltung aus, nutzt dafür nun vermehrt das Netz - nicht gerade der<br />

Stoff für eine Revolution der Lebensweise.<br />

Auch gibt es weiterhin noch ein Leben fern von Bildschirmen aller Art. Bei neun von zehn Teenagern steht laut<br />

JIM-Studie von 2009 das Treffen mit Freunden ganz oben auf der Liste der Freizeitaktivitäten jenseits der Medien.<br />

Noch bemerkenswerter: 76 Prozent der Jungen treiben mehrmals pro Woche Sport; bei den Mädchen sind es<br />

immerhin 64 Prozent.<br />

Vollends erstaunlich ist, was Anfang des Jahres in den USA herauskam: Selbst die intensivsten Mediennutzer<br />

verbringen dort nicht weniger Zeit mit körperlichen Aktivitäten als ihre übrigen Altersgenossen. Das ergab die<br />

Studie "Generation M2" der Kaiser Family Foundation.<br />

Und wie passt das alles in einen Tag? Wer einfach nur Nutzungszeiten addiert, bekommt ein falsches Bild. Die<br />

meisten Jugendlichen können problemlos gleichzeitig telefonieren, bei <strong>Facebook</strong> stöbern und nebenher Musik hören.<br />

Und sie sind wohl vor allem zu jenen Zeiten online, die sonst ungenutzt bleiben würden. "Ich bin im Internet, wenn<br />

ich nichts Besseres zu tun habe", sagt Jetlir. "Und leider auch oft, wenn ich längst schlafen sollte." Dank<br />

Mobiltelefon und MP3-Player lassen sich auch unterwegs die ehedem leeren Nischen im Tageslauf füllen. So kann<br />

die Mediennutzung stetig ansteigen, und doch bleibt reichlich Lebenszeit erhalten.<br />

Obendrein gibt es nach wie vor viele Jugendliche, denen der ganze Online-Rummel egal ist. Immerhin 31 Prozent<br />

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nutzen die sozialen Netzwerke selten oder nie. Anna würde "in einer Welt ohne Internet höchstens den<br />

Bahnfahrplan vermissen". Torben findet "einfach die Zeit zu schade" für den Computer. Er spielt Handball und<br />

Fußball; ihm genügen "zehn Minuten <strong>Facebook</strong> am Tag".<br />

Mitschüler Tom dagegen vergisst schon mal die Uhr im Hin und Her zwischen <strong>Facebook</strong> und Chat. "Es ist ein<br />

seltsames Gefühl", gesteht er, "wenn mal wieder so viel Zeit vergangen ist, ohne dass man was davon hat." Er weiß<br />

auch, dass auf andere dieser Sog noch weit stärker wirkt. "Wir kennen alle welche", bestätigt Pia, "die den ganzen<br />

Tag im Internet herumhängen" - vielleicht nur mangels besserer Angebote, wendet Jetlir ein: "<strong>Wenn</strong> man die fragt,<br />

ob sie mit rauskommen wollen, sagt auch keiner nein."<br />

Selbst eingefleischte Netzbewohner sind im Übrigen noch lange keine geborenen Experten fürs Medium. Wer aus<br />

dem Internet Nutzen ziehen will, muss erst verstehen, wie die Welt funktioniert, die aus dem Internet spricht. Und<br />

daran hapert es oft. Das Einzige, was Jugendliche den Älteren voraushaben, ist ihre Unbefangenheit am Computer.<br />

"Die probieren einfach drauflos", sagt René Scheppler, Lehrer an einer Wiesbadener Gesamtschule. "Dabei<br />

entdecken sie auch alles Mögliche. Sie verstehen nur nicht, wie es funktioniert."<br />

Gelegentlich versucht der Lehrer deshalb, die großen Fragen des Mediums aufzuwerfen. Zum Beispiel: Woher kommt<br />

eigentlich das Internet? "Dann heißt es: Wie? Was? Das ist doch einfach da!", berichtet Scheppler. "Von allein<br />

setzen die sich nicht damit auseinander. Für sie ist das wie ein Auto, es soll fahren."<br />

"Sie meinen sortieren zu können, nudeln aber einfach nur alles durch"<br />

Und weil die Schüler im Grunde unbedarft sind, neigen sie umso mehr zur Selbstüberschätzung. "Sie halten sich für<br />

die wahren Experten", sagt Scheppler, "aber wenn's drauf ankommt, können sie nicht einmal richtig googeln."<br />

Eines Tages setzte er tatsächlich Google auf den Stundenplan, Lehrziel höhere Suchtechnik. Die Klasse fand das<br />

drollig: "Google?", hieß es da, "können wir doch, machen wir doch andauernd, jetzt will uns der Herr Scheppler<br />

Google erklären!"<br />

Dann bekamen sie ihre Aufgabe: ein Plakat zur Globalisierung entwerfen am Beispiel indischer Leiharbeiter. Und nun<br />

war es am Lehrer, sich zu amüsieren: "Die kloppen bei Google ein Suchwort nach dem anderen einzeln rein, und<br />

dann geht es zappzappzapp: weg damit, taugt nichts, nächster Versuch", erzählt Scheppler. "Sie sind blitzschnell im<br />

Verwerfen, manchmal auch guter Funde. Sie meinen sortieren zu können, nudeln aber einfach nur alles durch - sehr<br />

schnell, sehr hektisch, sehr oberflächlich. Und beim ersten Treffer, der ihnen halbwegs passabel erscheint, hören sie<br />

sofort auf."<br />

Kaum einer hat eine Vorstellung, woher die Sachen stammen, die im Netz aufzustöbern sind. Bittet der Lehrer um<br />

Quellenangaben, hört er schon mal: "Das habe ich bei Google gefunden."<br />

Die neuere Forschung zum Suchverhalten bestätigt Schepplers Beobachtungen. Eine große Studie der "British<br />

Library" kam zu einem ernüchternden Schluss: Die "Netzgeneration" weiß kaum, wonach sie suchen soll, überfliegt<br />

die Funde nur flüchtig und tut sich schwer, deren Relevanz einzuschätzen: "Die Informationskompetenz junger<br />

Leute", attestieren die Autoren, "hat sich mit dem breiteren Zugang zur Technik nicht gebessert."<br />

Ein paar Schulen haben bereits erkannt, dass sie hier gefordert sind. Eine davon ist das Gymnasium, das Jetlir und<br />

Tom, Pia und Anna besuchen: die Kaiserin-Augusta-Schule in Köln. "Die Schüler sollen bei uns lernen, das Internet<br />

produktiv zu nutzen", sagt Musiklehrer André Spang, "nicht nur zum Rumklicken."<br />

Spang nutzt dafür die Werkzeuge des Web 2.0 im Unterricht. Zur Musik im 20. Jahrhundert etwa ließ er seine<br />

Zwölftklässler ein Weblog anfertigen - "die wussten gar nicht, was das ist". Nun schrieben sie Artikel zu Aleatorik<br />

und Musique concrète, komponierten einfache Zwölftonreihen und sammelten Klangbeispiele, Videos und Weblinks<br />

zum Thema. Alle konnten online verfolgen, was die anderen gerade <strong>macht</strong>en, und sich gegenseitig kommentieren -<br />

eine kleine Öffentlichkeit, die auch dem Ehrgeiz der Beteiligten förderlich war.<br />

Die Technik ist unkompliziert und schnell eingerichtet. Sie kommt deshalb auch in anderen Fächern zum Einsatz.<br />

Selbst "Wikis" nach dem Vorbild der großen Wikipedia gehören zum Repertoire. Bei Spangs Kollegen Thomas Vieth<br />

stellte eine 10. Klasse in Physik gerade eine kleine Enzyklopädie des Elektromagnetismus zusammen. "Vorher<br />

konnten wir nur Gruppenarbeiten vergeben", sagt Vieth, "und am Ende wurden die Vorträge abgenudelt. Jetzt lesen<br />

alle mit, schon allein weil die Artikel ja auch zusammenhängen und verlinkt werden müssen."<br />

Nebenher lernen die Schüler, wie sie dafür im Internet verlässliche Informationen finden. Und damit sie auch<br />

kapieren, was sie da gefunden haben, gibt es regelmäßig die altmodische "Methodenschulung": Texte lesen,<br />

verstehen, zusammenfassen. Statt dass also die Netzgeborenen mit ihrer Weltläufigkeit im Virtuellen die Schule<br />

herausfordern, muss diese ihnen mühsam beibringen, wie man sich das Online-Medium zunutze <strong>macht</strong>.<br />

Für die meisten Schüler war es das erste Mal, dass sie das Internet um eigene Schöpfungen bereichert haben. Die<br />

große Öffentlichkeit reizt sie nicht; Selbstdarsteller sind selten - selbst anonyme Rollenspiele auf virtuellen<br />

Bühnen, wie sie etwa die Online-Welt " Second Life" bietet, werden verschmäht. Die Jugend ist geradezu versessen<br />

auf reale Beziehungen: Was immer sie tut oder schreibt, ist an die eigene Gruppe gerichtet.<br />

Das gilt auch für die Gattung Video, die noch am ehesten zum Selbermachen verleitet. Immerhin 15 Prozent der<br />

jungen Leute haben schon mal ein Video hochgeladen; großteils mit dem Handy gefilmte Ware.<br />

Sven zeigt ein Beispiel auf YouTube: Man sieht ihn mit ein paar Freunden in Badehose am Seeufer; dann laufen sie<br />

zusammen ins offenbar noch schaurig kalte Wasser. "Doch, doch", versichert Sven, "so was interessiert die Leute,<br />

darüber wird gesprochen!" In der Tat stehen unterm Video schon 37 Kommentare, alle aus dem Bekanntenkreis.<br />

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"Und hier", sagt Sven und zeigt auf den Bildschirm, "hier bei <strong>Facebook</strong> hat vor kurzem jemand einfach nur einen<br />

Punkt gepostet. Trotzdem haben sieben Leute schon auf den 'Gefällt mir'-Knopf gedrückt, und 83 haben zu dem<br />

Punkt Kommentare geschrieben."<br />

Älteren mag das völlig sinnfrei vorkommen, für die Jugend gehört es zum Gruppenleben, nicht weniger wichtig als<br />

ein freundliches Winken oder eine leutselige Blödelei in der Offline-Welt. Nichts zeigt besser als der Punkt, wie<br />

normal das Internet geworden ist - das Gegenteil einer besonderen Welt, in der besondere Dinge geschehen.<br />

"Die Medien werden massenhaft genutzt, wenn sie alltagstauglich sind", sagt der Hamburger Bildungsforscher<br />

Schulmeister. "Und sie werden für Ziele genutzt, die man ohnehin anstrebt."<br />

Für die Jugendlichen ist dieser Wendepunkt jetzt erreicht. Das Internet gehört schon nicht mehr zu den Dingen, an<br />

die sie freiwillig Gedanken verschwenden. Die Aufregung um den "Cyberspace" war, wie es scheint, ein Phänomen<br />

der Altvordern, der technikvernarrten Gründergeneration. Für eine kurze Übergangszeit schien das Netz ungemein<br />

neu und anders, eine eigene revolutionäre Macht, die alles packt und umformt.<br />

Der Jugend ist das fremd. Sie spricht kaum mehr vom "Internet", nur noch von Google, YouTube und <strong>Facebook</strong>. Erst<br />

recht versteht sie nicht mehr, was es heißen soll, "ins Netz zu gehen".<br />

"Der Begriff ist sinnlos", sagt Tom. Ein Relikt aus der Zeit, als es noch etwas Besonderes war, die Vorstellung eines<br />

separaten Raums, getrennt vom echten Leben, einer eigenen geheimnisvollen Welt, die man betritt und wieder<br />

verlässt.<br />

Tom und seine Freunde sind nur noch, wie sie sagen, "on" oder "off". Und das meint einfach: erreichbar oder nicht.<br />

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07. Dezember 2009, 00:00 Uhr<br />

Intelligenz<br />

Die bedrohte Elite<br />

Von Sascha Lobo<br />

Frank Schirrmacher und der Kulturpessimismus. Eine Gegenrede.<br />

Was mich angeht, so muss ich bekennen, dass ich den geistigen Anforderungen unserer Zeit nicht gewachsen bin.<br />

Und auch nie gewachsen war. Ich bin darüber hinaus der Meinung, dass es fast allen anderen Menschen ebenso<br />

geht. Nicht nur zu unserer Zeit, sondern zu allen Zeiten. Ich bin der Überzeugung, dass Überforderung - also das<br />

gebündelte Auftreten kaum lösbar erscheinender Probleme - die wichtigste Triebfeder des zivilisatorischen<br />

Fortschritts ist. Und zwar genau dann, wenn die Reaktion auf die Überforderung keine resignative ist, sondern eine<br />

konstruktive. Ich mache Frank Schirrmacher den Vorwurf, der notwendigen Debatte um die technologische<br />

Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die digitale Gesellschaft den Stempel der Ablehnung und der Resignation<br />

aufgedrückt zu haben. Trotz seiner durchaus vorhandenen optimistischen Zwischentöne bleibt der Nachhall des<br />

Haderns mit der modernen Welt.<br />

Diese Haltung scheint mir völlig unabhängig von den konkreten Problemen der jeweiligen Gegenwart. Zu allen<br />

Zeiten gaben Tempo und Ausmaß der gesellschaftlichen Veränderungen samt ihrer Auswirkungen auf die praktisch<br />

bereits verloren gegebene Jugend der vorhergehenden Generation Grund zur Klage. Das älteste mir bekannte<br />

Beispiel führt Platon in seinem "Phaidros"-Dialog aus. Dort lässt er Sokrates in bunten Geschichten aus dem alten<br />

Ägypten auf die schädliche Erfindung der Buchstaben schimpfen. Diese verhinderten, dass die Menschen überhaupt<br />

noch auswendig lernten. Mehr noch, Sokrates hält diejenigen für einfältig, die glauben, dass "aus Buchstaben etwas<br />

Deutliches und Zuverlässiges entstehen" könnte. Ich bin kein Experte im Erkennen von verborgener Ironie, aber ich<br />

könnte mir vorstellen, dass Platon hier die Klage über den Fortschritt der Kulturtechnologie ad absurdum führen<br />

wollte - vor bald 2400 Jahren.<br />

Der Kern der Debatte ist der altbekannte Kulturpessimismus in antidigitalem Gewand, der durchaus eine<br />

interessante Funktion erfüllt. Es handelt sich um wärmende Heizdecken-Kommunikation von alten Männern für alte<br />

Männer, die sich gegenseitig bestätigen, dass früher alles besser war. Um nicht griesgrämig oder unmodern<br />

dazustehen, werden Teilaspekte gelobt, die kulturpessimistische Ablehnung der neuen Entwicklungen bleibt aber<br />

zentral.<br />

In meinen Augen hat diese Ablehnung nachvollziehbare Gründe. Die intellektuelle Elite glaubte über viele Jahre, der<br />

Erfüllung eines zutiefst menschlichen Bedürfnisses immer näher zu kommen: dem Wunsch nach der<br />

Beherrschbarkeit der Welt, die uns umgibt. Dieser Wunsch gründet sich auf das Problem der Geworfenheit in die<br />

Welt, ist also zeitlos. Es spielt sogar kaum eine Rolle, ob es sich um bedrohliche Naturgewalten oder eine<br />

Ableitung daraus handelt, nämlich die den Menschen überfordernde Technik des Alltags, die zur Bewältigung der<br />

Natur überhaupt erst erfunden wurde. Diese Parallele hat Georg Simmel 1903 zu Beginn seines Aufsatzes "Die<br />

Großstädte und das Geistesleben" beschrieben: "Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem<br />

Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft,<br />

des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren - die letzterreichte<br />

Umgestaltung des Kampfes mit der Natur, den der primitive Mensch um seine leibliche Existenz zu führen hat."<br />

Simmel skizziert die von Schirrmacher formulierte Problematik mehr als 100 Jahre, bevor sie auftritt. Wir führen<br />

einen ständigen Kampf der Selbstbehauptung gegen die Instanz, die an die Stelle der Lebensbedrohung durch die<br />

Natur getreten ist: die von uns selbst geschaffene Riesenmaschine der Zivilisation. Wir kämpfen heute gegen die<br />

einhundertste Erscheinung des Säbelzahntigers, und zwar mit der einhundertsten Modellvariante des Speers.<br />

Übersetzt ins Informationszeitalter heißt das, dass Schirrmachers alter Speer der neuen Version des<br />

Säbelzahntigers nicht mehr gewachsen ist - obwohl er doch früher so gut funktioniert hat. Aber ich bin der<br />

Überzeugung, dass die Beherrschbarkeit der eigenen Umwelt noch stets eine Illusion war, aufrechterhalten über<br />

einen kurzen Zeitraum; ein Trugbild, dem man offenbar umso lieber erliegt, je höher man in der gesellschaftlichen<br />

Hierarchie gelangt ist. Dort oben sind die Verschiebungen und Verwerfungen der Gesellschaft besonders deutlich zu<br />

spüren, nämlich in Form des Machtverlusts.<br />

Einen Hinweis darauf, dass die herbeigesehnte Beherrschung schon immer eine Illusion war, liefert das gern<br />

reproduzierte, aber unsinnige Bild des sich uferlos vermehrenden Weltwissens, des inzwischen vollkommen<br />

unbeherrschbaren Datenwusts. Die Plakativität der Vorstellung von verschiedenen Datenträgern, die<br />

aufeinandergestapelt soundso oft zum Mond reichen, mag als medial vermittelte Metapher Eindruck machen. Sie<br />

nährt aber den Trugschluss, dass das Weltwissen zu irgendeinem Zeitpunkt fassbar gewesen wäre. Schon die<br />

Bibliothek von Alexandria - damals fast wie ein Google des Altertums berüchtigt als Datenstaubsauger, der im<br />

Hafen liegenden Schiffe deren Schriftrollen abnahm und sie mit eilig angefertigten Kopien abfertigte - bestand um<br />

50 vor Christus aus rund 500.000 Schriftrollen. Bei einer durchschnittlichen Länge von acht Metern je Rolle ergäben<br />

sich 4000 Kilometer Textrollen. Bereits damals hätte man bei angenommenen fünf Minuten je Schriftrollenmeter und<br />

zwölf Lesestunden am Tag rund 75 Jahre gebraucht, um allein das in Alexandria aufgeschriebene Weltwissen zu<br />

lesen.<br />

Der Berg des Wissens ist viel, viel höher geworden seit der Antike - unbesteigbar für den Einzelnen war er seit<br />

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Beginn der Aufzeichnungen. Aus diesem Grunde brauchen wir, braucht die Gesellschaft schon immer<br />

Filtermechanismen. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war der allgemein anerkannte Filter, der vermittels der<br />

Massenmedien gesellschaftlich Relevantes von Irrelevantem schied, die Redaktion. Es handelt sich dabei um eine<br />

hierarchisch organisierte Struktur, die in einem kaum transparenten Prozess entscheidet, was die Öffentlichkeit zu<br />

interessieren hat. Redaktionen haben in der Vergangenheit unsere Wahrnehmung der Realität geprägt. Daraus ist<br />

für die unmittelbar Beteiligten oft genug der subjektive Anspruch der Deutungshoheit erwachsen, und in der<br />

Mediendemokratie schließlich eine Machtposition. Der Redakteur als Torwächter der massenmedialen Realität hat<br />

jedoch mit dem Internet im 21. Jahrhundert Konkurrenz bekommen, eine scheinbar technologische, tatsächlich aber<br />

eine soziale.<br />

Es tut uns gut, von unserem hohen Ross herabzusteigen.<br />

Im virtuellen Raum des Netzes herrschen andere Regeln als in der traditionellen Medienlandschaft. Eben noch<br />

wählte eine Redaktion aus, was ihr wichtig erschien; jetzt wird im Internet hochgespült, was ausreichend viele<br />

Menschen für interessant halten. Das redaktionsgetriebene Diktat der Relevanz wird ergänzt durch das Diktat der<br />

Interessantheit. Damit bedroht ein neuer Filter die Macht der Redaktionen. Mit dem uralten Instrument dieser<br />

Empfehlung wählt das Kollektiv im Netz aus, was es für interessant genug hält, um weiterverbreitet zu werden. Alle<br />

sozialen Netzwerke von Twitter über <strong>Facebook</strong> bis zur Gesamtheit der Weblogs basieren auf der Empfehlung: "Schau<br />

her, was ich hier Interessantes habe!" Kein Wunder, dass sich ein Journalist wie Schirrmacher stellvertretend für die<br />

Redaktionen bedroht fühlt vom Internet.<br />

Das heißt aber nicht, dass die Redaktion überflüssig wird. Professioneller Journalismus scheint mir notwendiger<br />

denn je, selbst wenn derzeit noch nicht ganz klar ist, wie er im Internet refinanziert werden kann. Die Öffentlichkeit<br />

wird aber eben nicht mehr allein durch Journalisten geprägt, sondern auch über die technologischen Bande des<br />

Internets durch die Gemeinschaft bestimmt.<br />

Der Redaktion steht hier nämlich das Kollektiv gegenüber, nicht die Maschine. Es ist ein grundsätzliches<br />

Missverständnis anzunehmen, dass eine Software wie der Algorithmus von Google auswählt, was wir wahrnehmen<br />

sollen. Google hat nur zuerst erkannt, dass letztlich keine Berechnung allein herausfinden kann, was für uns<br />

entscheidend ist. Das vermögen nur die Menschen selbst - und mit der richtigen Technologie kann man ihnen dieses<br />

Wissen entlocken. Google bestimmt heute das Netz wie kein anderes Unternehmen, weil seine Software von Anfang<br />

an versucht hat, das menschliche Denken nachzuvollziehen. Als höchstes Gut der Aufmerksamkeit sieht Google die<br />

Verlinkung einer Webseite durch einen Menschen an. Google führt sogar einen regelrechten Kampf gegen die<br />

automatisierte Relevanz der Maschinen; dem händisch erstellten Inhalt wird wesentlich mehr Beachtung geschenkt<br />

als robotergenerierten Inhalten. Ganze Abteilungen bekämpfen die maschinelle Manipulation der Auswahl, die<br />

Google uns präsentiert.<br />

Es ist zwar ebenso wahr wie gefährlich, dass vielen Menschen nur noch als Realität erscheint, was unter den ersten<br />

zehn Google-Treffern zu finden ist. Das aber ist ein Problem der Medienkompetenz in der Gesellschaft und nebenbei<br />

einer der Gründe, weshalb ich ein Schulfach Interneterziehung fordere; Eltern können heute ihren Kindern viele<br />

notwendige Erkenntnisse nicht vermitteln, weil es das Internet noch nicht gab, als sie ihre gesellschaftliche<br />

Prägung und Ausbildung erfuhren.<br />

Das Internet hat das Bewusstsein der jüngsten Generation erobert, und das auf andere Weise, als die Älteren es<br />

annehmen. Schirrmacher hat recht, wenn er die Tragweite der digitalen Vernetzung als gigantisch einschätzt. Ich<br />

halte die Auswirkungen auf die Gesellschaft und besonders auf die kommenden Generationen für so revolutionär, als<br />

wären Buchdruck, Telefon und Fernseher gleichzeitig erfunden worden. Der Kommunikationsfachmann Peter Figge<br />

erzählt die Anekdote seines zehnjährigen Sohnes, der ihn fragt, wie die Menschen ins Internet gekommen seien,<br />

bevor es Computer gab. Besser lässt sich das Verhältnis der Jugend von heute zum Netz kaum beschreiben. Das<br />

Internet wird empfunden als digitaler Teil der Realität, der nicht von der "Kohlenstoffwelt" abgelöst werden kann.<br />

Warum auch? So wesentlich die physische Begegnung uns erscheinen mag, so zahlreich sind die Beispiele dafür,<br />

dass selbst das bewegendste Gefühl des Menschen, die Liebe, eine Empfindung ist, die im Virtuellen wurzeln kann.<br />

Wer je in Audrey Hepburn verliebt war, ohne sie persönlich getroffen zu haben (also die meisten Menschen), könnte<br />

das bestätigen.<br />

Die Klage über den Niedergang der Kultur durch das Internet und die gesellschaftlichen Begleiterscheinungen<br />

verkennt neben vielen anderen Punkten - etwa der Zugänglichkeit von Wissen - die unglaubliche Renaissance der<br />

Schriftkultur, die durch das Netz bei der Jugend stattgefunden hat. Wie viel hat ein durchschnittlicher 14-Jähriger in<br />

den achtziger Jahren außerhalb des schulischen Pflichtprogramms geschrieben? Und um wie viel mehr schreibt er<br />

heute in alle Ecken und Enden des Netzes hinein? Davon mag ja das meiste orthografisch und grammatisch schwer<br />

erträglicher Unsinn sein - aber schriftliche Kommunikation geht dem Jugendlichen 2009 wohl leichter von der Hand<br />

als 1989. Ein Schritt in die richtige Richtung, der Verbesserung der Bildung, auch wenn Platons Sokrates dagegen<br />

poltern würde.<br />

Es bleibt die Kapitulation vor der Flut der Reize, die Schirrmacher beklagt, verbunden mit dem Gefühl, "aufgefressen<br />

zu werden". An dieser Stelle tut es uns, der digitalen Generation, vielleicht gut, von unserem hohen Ross<br />

herabzusteigen, jede Häme fahrenzulassen und auf die Bedürfnisse der Elterngeneration einzugehen. Die digitale<br />

Welt ist in der Tat noch viel zu kompliziert. Der Blick auf diese Realität ist uns Jüngeren verstellt, weil wir zeitgleich<br />

mit der Entwicklung der digitalen Welt sozialisiert wurden und sie deshalb als normal empfinden. Technischer<br />

Fortschritt kann aber nur dann gesellschaftlich positiv wirken, wenn er von der Mehrheit der Menschen als positiv<br />

empfunden wird. Das ist vor allem eine Frage der Bewältigung der Überforderung. Aus Schirrmachers Text spricht<br />

auch eine Verzweiflung, die weite Teile der Bevölkerung mehr oder weniger stark betrifft: die Angst, den Anschluss<br />

zu verlieren an den Lauf der Dinge. Ich glaube nicht, dass das sein muss, ich glaube an die Zivilgesellschaft, an die<br />

Kraft der Gemeinschaft und der gegenseitigen Unterstützung.<br />

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Gehen wir also in einem digitalen Marsch durch die Institutionen dorthin, wo die Überforderung jeden Tag<br />

stattfindet: in die Büros, in die Redaktionen, in die Parteien, zu unseren Eltern gewissermaßen, die vor ihren<br />

Bildschirmen sitzen und nicht weiterwissen und deshalb vielleicht Angst haben. Erklären wir ihnen, weshalb wir<br />

seltsame Fotos von uns ins Netz stellen und trotzdem erwarten, dass unsere zukünftigen Arbeitgeber nicht in<br />

diesen manchmal öffentlich zugänglichen, aber privaten Daten herumschnüffeln. Es würde ja auch niemand gern bei<br />

einer Firma arbeiten, die den Hausmüll eines Bewerbers durchwühlt, selbst wenn die Tonne vor der Tür steht.<br />

Erklären wir ihnen, dass die Gleichzeitigkeit oder das Multitasking bei uns in erster Linie die Wirkung von medialer<br />

Zerstreuung hat - die Generation vor uns hat eben nebenbei ferngesehen, unendliche viele Stunden am Tag.<br />

Erklären wir ihnen, dass der Unterschied zwischen der Veröffentlichung der eigenen Daten und der staatlichen<br />

Überwachung der gleiche ist wie der Unterschied zwischen "sich im Klo einschließen" und "im Klo eingeschlossen<br />

werden". Es geht um die Freiwilligkeit, also die Kontrolle über die Daten, zu denen andere Zugang erhalten.<br />

Erklären wir den vordigital Geprägten, dass sie herzlich eingeladen sind, teilzuhaben am digitalen Leben. Denn dort<br />

spielt es wesentlich weniger eine Rolle, wo jemand ist, ob er schön oder hässlich ist, ob er behindert ist oder alt<br />

und ob er über kanadische Gletscher oder französische Lyrik des 19. Jahrhunderts kommunizieren möchte. Zeigen<br />

wir den Älteren, was für ein ungeheurer gesellschaftlicher Fortschritt dem Netz innewohnt - gerade durch die soziale<br />

Interaktion. Wie einsam mag sich ein 15-jähriger Schwuler in einem bayerischen Bergdorf noch vor zwanzig Jahren<br />

gefühlt haben? Um wie viel einfacher wurde ihm seine Entfaltung ge<strong>macht</strong>, einfach durch das elektronisch<br />

zugängliche Wissen, dass er mit seiner Andersartigkeit nicht allein ist?<br />

Natürlich gibt es für diese positiven Entwicklungen einen Preis. Ich glaube, dieser Preis ist gut an der Machterosion<br />

der medialen Eliten zu messen. Durch die Transparenz und die Geschwindigkeit der digitalen Welt wird diesen Eliten<br />

schmerzlich bewusst, dass sie die Illusion der Beherrschung ihrer Welt nicht mehr aufrechterhalten können, was<br />

auch in der Ablehnung unserer Art der Lebensführung mündet. Oder wie es eine gewisse "Linajk" auf Twitter<br />

ausgedrückt hat: "Mein größtes Problem mit der jungen Generation ist, dass ich nicht mehr dazugehöre."<br />

URL:<br />

http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,665806,00.html<br />

FORUM:<br />

Übernehmen die Computer die Herrschaft?<br />

http://forum.spiegel.de/showthread.php?t=9453&goto=newpost<br />

MEHR AUF SPIEGEL ONLINE:<br />

Internet und Gesellschaft: Erschöpft, aber nicht geknechtet (26.11.2009)<br />

http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,663296,00.html<br />

Intelligenz und Computer: Mein Kopf kommt nicht mehr mit (16.11.2009)<br />

http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,661307,00.html<br />

MEHR IM INTERNET<br />

Internet: "Kopieren zu verteufeln, ist Heuchelei" (harvardbusinessmanager.de)<br />

http://www.harvardbusinessmanager.de/heft/artikel/a-655873.html<br />

SPIEGEL ONLINE ist nicht verantwortlich<br />

für die Inhalte externer Internetseiten.<br />

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3 von 3 22.09.2011 16:06


Meinung im Internet ‐ Vom Elend der Nutzerkommentare ‐‐ sueddeu... h�p://www.sueddeutsche.de/kultur/2.220/meinung‐im‐internet‐vo...<br />

Kultur<br />

Meinung im Internet<br />

Vom Elend der Nutzerkommentare<br />

22.09.2011, 11:13<br />

Ein Gastbeitrag von Leo Lagercrantz<br />

Das Kommentarfeld unter Artikeln: ein Trollhaus. Leo Lagercrantz<br />

war Chefredakteur einer meinungsstarken schwedischen Online-<br />

Zeitung. In seinem Gastbeitrag erklärt er, warum der geballte Hass<br />

und die Dummheit in den Nutzerkommentaren unter den Artikeln ihn<br />

erst zur Verzweiflung, dann zur Aufgabe seines Jobs gebracht<br />

haben. Jetzt plädiert er für moderierte Meinungsfreiheit.<br />

Es ist 2010. Mein Wohnzimmer ist schwach erleuchtet durch den blauen<br />

Schein, den der Bildschirm meines MacBook ausstrahlt. Es ist bald<br />

Mitternacht. Stockholm liegt im Dunkeln. Ich sitze vor dem Computer, in<br />

Beschlag genommen von einem langen E-Mail-Wechsel mit einer<br />

Benutzerin des Internet-Magazins, das ich betreibe: Newsmill, ein<br />

redaktionell betreutes Online-Debattenorgan.<br />

Der Troll ist ein unheimliches Wesen im Web. Sein historisches Vorbild gehört nicht, wie oft<br />

angenommen wird, zur nordischen Mythologie, sondern zum Volksglauben. Er wohnt im<br />

Wald und raubt Menschenkinder, die er durch seine eigene hässliche Brut ersetzt. Der<br />

schwedische Künstler John Bauer (1882 bis 1918) hat ihn immer wieder gemalt. (© Abb.:<br />

John Bauer Archiv)<br />

Ich habe von ihr verfasste Kommentare von der Seite genommen,<br />

Kommentare, die auf der Grenze zwischen einer legitimen Kritik der<br />

Einwanderung und Rassismus liegen. Jetzt will sie genau wissen, was<br />

ich mir dabei gedacht habe.<br />

Die Kommentatorin ist - im weitesten Sinne des Wortes - das, was man<br />

1 von 6 22.09.2011 14:21


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im Internet einen "Troll" nennt. Rund um die Uhr scheint sie<br />

Kommentarfelder und Benutzerforen mit Texten zu überschwemmen, die<br />

sich entweder gegen Migranten oder bekannte Feministinnen wenden.<br />

Ihre Texte sind aggressiv, aber stets gut formuliert und nie drohend.<br />

Dennoch will ich ihre Kommentare nicht auf Newsmill, auf meiner Seite.<br />

Sie tragen dazu bei, uns ein braunes Gepräge zu geben. Immer häufiger<br />

höre ich, dass Leute deshalb nicht mehr für uns schreiben wollen. Der<br />

Troll verschreckt sie.<br />

Es gibt mehrere Arten von Trollen. Viele überfluten die Kommentarfelder<br />

mit Propaganda, Hassreden und Verleumdungen - oder genauer: mit<br />

Texten, die von den meisten Menschen in unserer Gesellschaft für<br />

Hassreden gehalten werden.<br />

Andere beschäftigen sich mit einem Gegenstand, der nichts mit dem<br />

Artikel zu tun hat, zu dem das Kommentarfeld gehört. Es wird eine lange<br />

Nacht. Meine Versuche, die Frau an einer Mitarbeit auf meiner Seite zu<br />

hindern, verläuft bei weitem nicht so schmerzfrei, wie ich mir das gedacht<br />

habe.<br />

Vor zehn Jahren war ich, als junger politischer Redakteur, für die<br />

Meinungsseite der schwedischen Abendzeitung Expressen<br />

verantwortlich. In Schweden hat es immer vier Tageszeitungen gegeben,<br />

die im ganzen Land gelesen werden. <strong>Wenn</strong> jemand mit einem<br />

Debattenbeitrag Wirkung erzielen wollte, war er auf die Meinungsseiten<br />

dieser Zeitungen angewiesen.<br />

Den höchsten Respekt erwarb man sich auf der Meinungsseite von<br />

Dagens Nyheter. Im Rang folgte die Meinungsseite von Svenska<br />

Dagbladet, der anderen Morgenzeitung. Die Meinungsseite von<br />

Expressen galt jedoch - nicht zuletzt unter Politikern - als besonders<br />

wirkungsvoll. Und es war schwierig, einen Text dort unterzubringen.<br />

Veröffentlicht wurde nur, wer wirklich etwas zu sagen hatte. Jeden Tag<br />

lehnte ich, zufrieden, ein paar Dutzend eingesandte Texte ab.<br />

Ein Redakteur dieser Seite war ein echter Gatekeeper, einer, der darüber<br />

verfügte, wer Zugang zur großen Öffentlichkeit erhielt und wer zur<br />

großen Menge der Abgelehnten gehörte, die ihre Ansichten für sich<br />

behalten mussten.<br />

Ich kenne Redakteure, in den Feuilletons und den politischen<br />

Redaktionen, die es nicht nötig hatten, auf Briefe oder Mails von Lesern<br />

zu antworten, die ihnen nicht einmal den Respekt erwiesen, sie<br />

abzulehnen, und die das Telefon nicht abnahmen. Und mit den<br />

2 von 6 22.09.2011 14:21


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angenommenen Texten ging der Redakteur nach eigenem Gutdünken<br />

um, er kürzte sie, veränderte die Folge von Sätzen und Absätzen, wie es<br />

ihm passte und ohne den Autor um Einverständnis zu fragen.<br />

Dann fiel der Vorhang<br />

<strong>Wenn</strong> der Verfasser böse oder traurig wurde, galt das als Nachweis für<br />

die Integrität der Redaktion. Und der Autor kehrte ja immer wieder<br />

zurück. Was hätte er sonst auch tun sollen? Es gab ja so wenige Seiten,<br />

auf denen er publizieren konnte.<br />

Aber das war damals. Vor der Revolution. Vor der großen Meinungsflut in<br />

den Blogs, den Foren, in den sozialen Medien und auf Twitter. Sie hält<br />

noch immer an, und keiner weiß, wie die Welt der Medien in Zukunft<br />

aussehen wird.<br />

Bis zum Jahr 2006 war ich oft der schnellste Journalist in Schweden, mit<br />

den interessantesten Kommentaren zu den interessantesten<br />

Nachrichten. Dann fiel der Vorhang. In den sozialen Medien wurde ich<br />

abgehängt. Experten und andere Autoren, die etwas zu sagen hatten,<br />

taten das immer öfter in Blogs und auf den Internetseiten der Zeitungen.<br />

Für uns Papiermenschen war die Schlacht verloren. Worauf ich kündigte<br />

und ein Meinungsforum im Internet startete, eben Newsmill.<br />

Alsbald erwies sich die Debatte im Internet als unendlich viel lebendiger.<br />

Innerhalb von wenigen Stunden konnten wir mehr Perspektiven auf das<br />

interessanteste Ereignis des Tages anbieten, als meine alte Zeitung in<br />

einer ganzen Woche zustande brachte. Schnell wurden wir zu einer<br />

echten Konkurrenz für die Meinungsseiten der Tageszeitungen. Die<br />

aufregendsten Texte entstanden in den Kommentarfeldern, wenn<br />

bekannte Autoren die Debatte mit den Benutzern der Seite weiterführten.<br />

Im Jahr 2008 war es ein Fest, Redakteur eines Meinungsforums im<br />

Internet zu sein. Vielleicht war es diese Euphorie, vielleicht war es aber<br />

auch Ignoranz: Aber ich merkte nicht, wie der Troll kam, sich niederließ<br />

und die Kommentarfelder in Beschlag nahm.<br />

Wer ein Troll ist, und wer ein gewöhnlicher anonymer Kommentator, ist<br />

nicht leicht zu sagen. Der Troll selbst ist davon überzeugt, dass er oder<br />

sie ein mutiger Verfechter der Wahrheit ist, innerhalb einer Gesellschaft,<br />

die nach falschen Kompromissen strebt, in einer medialen Welt, die von<br />

"Feministinnen", "Gutmenschen" oder "Zionisten" beherrscht wird, die -<br />

natürlich - insgeheim von den "Muslimen" übernommen werden.<br />

Solche Menschen, die heute Trolle sind, hat es immer gegeben. Der<br />

Unterschied aber besteht darin, dass sie früher keine Machtbasis<br />

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besaßen. Diesen oft einwandererfeindlichen und immer bitteren Stimmen<br />

die Seiten der Papierzeitung zur Verfügung zu stellen, dieser Gedanke<br />

war uns völlig fremd. Nicht einmal auf den Leserbriefseiten waren sie<br />

willkommen. Doch dann wurde das Kommentarfeld im Netz erfunden.<br />

Der Einzug der Trolle in die Öffentlichkeit war ein Faktum. Es wurde<br />

unmöglich, sie zu übersehen. Sie waren überall. Jetzt waren sie es, die<br />

sich anschickten, die Öffentlichkeit zu übernehmen.<br />

Eines gibt es, was alle Trolle gemein haben: Sie geben nicht auf. Der<br />

durchschnittliche Troll liefert zehnmal so viel Textmenge wie ein<br />

gewöhnlicher Journalist. Und die Qualität seiner Arbeit ist, trotz allen<br />

Gerüchten, oft nicht schlechter als die eines etablierten Journalisten.<br />

Der Troll ist nicht immer ein Internet-Nerd. Er kann ein Frührentner auf<br />

dem Land sein. Oder ein pensionierter Diplomat mit einer beachtlichen<br />

Karriere. Oder eine erfolgreiche, eher melancholische Geschäftsfrau.<br />

Mehr als durch Klassenzugehörigkeit oder Geschlecht zeichnen sich die<br />

Trolle dadurch aus, dass sie traurig und einsam sind.<br />

Das ist meine Erfahrung. Während meines letzten Jahres bei Newsmill<br />

war ich gezwungen, den größten Teil der Zeit, in der ich nicht schlief, mit<br />

der Jagd nach ihnen zu verbringen. Es waren nämlich nicht nur die alten<br />

und vertrauten Autoren, die mir aus Angst vor dem Troll den Rücken<br />

zukehrten. Dass auf unserer Seite keine Werbung erschien, deutete<br />

vielmehr darauf hin, dass die Anzeigenkunden sie scheuten wie die Pest.<br />

Traurig und einsam<br />

Der Troll hatte schneller als ich verstanden, dass publizistische Macht<br />

nicht mehr durch eine Familie von Eigentümern oder durch eine<br />

Konzernführung verliehen wurde. Heute nimmt man sich publizistische<br />

Macht. Ich fühlte mich wie ein Kammerjäger.<br />

Ich hatte ernsthaft vor, die Seite auszuräuchern und mein Haus wieder<br />

herzurichten, sauber und ordentlich. Ich schloss Debatten und zwang<br />

anonyme Autoren, sich erkennen zu geben. Einige warf ich einfach<br />

hinaus. Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten. Meine Mailbox<br />

wurde mit wütenden und oft anonymen Nachrichten überschwemmt.<br />

Einige Benutzer, viel mehr, als ich erwartet hatte, wandten sich an mich,<br />

ohne ihre Identität zu verbergen, und warfen mir "Zensur" vor.<br />

Ich versuchte, mein Verhalten zu erklären, in Foren, Mails und<br />

Blogeinträgen: kein Rassismus und kein Frauenhass auf der Seite, deren<br />

Redakteur ich bin, nein, danke. Doch die Hoffnung, dass der Kampf<br />

gegen den Troll so leicht zu gewinnen wäre, erwies sich als Irrtum. Der<br />

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einung im Internet ‐ Vom Elend der Nutzerkommentare ‐‐ sueddeu... h�p://www.sueddeutsche.de/kultur/2.220/meinung‐im‐internet‐vo...<br />

Troll reagierte nicht, indem er aufhörte, auf der Seite zu schreiben. Er<br />

forderte mich auch nicht auf, meine Sachen zu packen und zu<br />

verschwinden. Nein, viel schlimmer: Er fing an, mit mir zu diskutieren.<br />

Und er hörte nicht mehr auf.<br />

Es wurden viele Abende, die ich mit E-Mail-Wechseln verbrachte oder mit<br />

Telefongesprächen, in denen der Troll verlangte, das ich genau angab,<br />

wo denn die Grenzen zwischen Integrationskritik und Rassismus,<br />

Antisemitismus und Israelkritik, Frauenhass und Gender-Forschung<br />

verlaufe. In den meisten Fällen wurde ich gezwungen zuzugeben, dass<br />

die Ansichten des Trolls tatsächlich veröffentlichbar waren.<br />

Es war nun nach Mitternacht. Es gibt eine Grenze, versuchte ich zu<br />

erklären, wie viele politisch unkorrekte Texte man als Redakteur<br />

unterbringen kann. Der Troll, der sich für mich nun in eine Autorin<br />

verwandelt hatte, bat um Entschuldigung für ihre undeutliche<br />

Aussprache. Sie habe ein Glas Wein getrunken. Dann sagte sie, dass es<br />

aber offenbar keine Grenze dafür gebe, wie viele korrekte und<br />

nichtssagende Kommentare ich auf der Seite veröffentlichen könne.<br />

Zu meiner Verteidigung konnte ich nicht mehr viel anführen. Auch ich<br />

trank ein Glas Wein. Als wir auflegten, war ich äußerst unsicher, ob sie<br />

oder ich im Recht war. Doch als ich am nächsten Morgen aufwachte und<br />

die Kommentarfelder wieder übervoll waren mit<br />

"einwanderungskritischen" Kommentaren, hatte ich das Gefühl, dass der<br />

Fortschritt der Medien in einem einzigen großen Kater bestand. Kurze<br />

Zeit darauf verließ ich Newsmill. Ich tat es nicht nur mit dem Gefühl, vom<br />

Troll besiegt worden zu sein, sondern auch im Wissen, dass mein Kampf<br />

sinnlos gewesen war.<br />

Jedes Mal, wenn ein einsamer Täter ein extremistisches Attentat begeht,<br />

taucht der Vorwurf auf: "Es waren die rechten Medien (alternativ: die<br />

populistischen Politiker), die den Verrückten inspirierten." Diese Debatte<br />

wurde zum Beispiel in Schweden nach dem Mord an Olof Palme geführt.<br />

In den USA gab es Publizisten, die nach dem Attentat von Tucson die<br />

Schuld bei Sarah Palin suchten. Doch nach den Anschlägen von Utøya<br />

wurde der Troll zum ersten Mal zur Rechenschaft gezogen. Vieles deutet<br />

darauf hin, dass Anders Breivik selbst ein Troll war. Mehrere große<br />

Tageszeitungen in Skandinavien fassten darauf drastische Beschlüsse -<br />

wie etwa, die Kommentarfelder wenn nicht ganz, doch bis auf weiteres zu<br />

schließen.<br />

Persönlich verstärkte das Massaker in Norwegen mein Gefühl,<br />

gescheitert zu sein. Nicht weil ich "zensierte". Sondern weil ich es nicht<br />

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Meinung im Internet ‐ Vom Elend der Nutzerkommentare ‐‐ sueddeu... h�p://www.sueddeutsche.de/kultur/2.220/meinung‐im‐internet‐vo...<br />

früher und entschlossener tat.<br />

Der Autor, geboren 1971, begann seine journalistische Laufbahn 1999 als<br />

Musikkritiker der schwedischen Abendzeitung Expressen. Ein Jahr später<br />

wurde er politischer Redakteur und Leitartikler. Er verließ die Zeitung im<br />

Dezember 2007, um das Internet-Magazin Newsmill zu gründen. Seit<br />

Dezember 2010 ist er freier Autor.<br />

Deutsch von Thomas Steinfeld.<br />

URL:<br />

1.1147168<br />

Copyright:<br />

Quelle:<br />

http://www.sueddeutsche.de/kultur/meinung-im-internet-vom-elend-der-nutzerkommentare-<br />

sueddeutsche.de GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH<br />

(SZ vom 22.09.2011/pak)<br />

Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung<br />

Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.<br />

6 von 6 22.09.2011 14:21


pushthebutton.de<br />

http://w w w .pushthebutton.de/2011/09/20/offener-brief-an-bundeskanzlerin-merkel-w arum-beleidigen-sie-<br />

menschen-die-ein-grundrecht-w ahrnehmen/#<br />

Offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel: Warum beleidigen Sie<br />

Menschen, die ein Grundrecht wahrnehmen?<br />

Heddesheim/Berlin, 20. September 2011. Beim Zeitungskongress 2011 des Bundesverbands Deutscher<br />

Zeitungsverleger (BDZV) hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Leistungsschutzrecht und zu<br />

Bloggern geäußert – leider muss man annehmen, dass ihre Aussagen entweder einer umfassenden<br />

Unkenntnis oder einer sturen Arroganz entspringen.<br />

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin!<br />

Laut Financial Times Deutschland werden Sie, Frau Merkel, so zitiert:<br />

“Qualität lässt sich durch Blogger nicht ersetzen.”<br />

Diese Aussage impliziert, dass deutsche Blogger und Bloggerinnen also keine Qualität liefern.<br />

Diese Aussage zeigt aber auch, dass Sie, Frau Merkel, in der Sache<br />

wenig bis keine Ahnung haben und nicht wissen, was Sie vor sich<br />

hinreden.<br />

Durch das Internet haben die Menschen (nicht nur) in Deutschland die<br />

Möglichkeit, sich ohne einen “Filter” auszustauschen, sich selbst und<br />

andere Menschen zu informieren.<br />

Das Internet ermöglicht eine Meinungsfreiheit ganz im Sinne des Artikel 5<br />

Grundgesetz von bislang ungeahnter Qualität und Quantität.<br />

Diese Freiheit führt dazu, dass Menschen nicht mehr von Zeitungen<br />

abhängig sind. Beispielsweise zum Projekt Stuttgart21 und dem Protest,<br />

der sicherlich nicht in dieser Form verlaufen wäre, wenn es das Internet<br />

nicht gegeben hätte.<br />

Die ortsansässigen Zeitungen haben die Menschen einseitig und noch<br />

schlimmer: gar nicht informiert. Damit sind die Zeitungen mitverantwortlich<br />

für diese fatale Situation und einen Streit in Baden-Württemberg, der<br />

wichtige Ressourcen auffrisst, die besser investiert sein könnten.<br />

Ist es das, was Sie unter “Qualität” verstehen, Frau Merkel? Gefilterte,<br />

interessengeleitete Informationen?<br />

Ist das Ihre Haltung zum Grundgesetz und zur Meinungsfreiheit, Frau<br />

Merkel?<br />

Angela Merkel spricht pauschal allen<br />

deutschen Bloggerinnen und Bloggern die<br />

"Qualität ihrer Inhalte" ab. Bild: Armin<br />

Linnartz/CC By-Sa<br />

Steht es Ihnen gut an, hunderttausende Ihrer bloggenden Mitbürgerinnen<br />

und Mitbürger die Qualität ihrer Meinungsbeiträge und Informationen abzusprechen, nur um einem Interessenverband<br />

von Zeitungen, die sich über Jahre dumm und dämlich verdienen konnten, einen Gefallen zu tun?<br />

Sie werden zitiert:<br />

“Was nützt es, der Schnellste zu sein, wenn dadurch Verlässlichkeit und Qualität leiden?”<br />

Können Sie sich an Erfurt und Winnenden erinnern, Frau Merkel? Wie Presse und Rundfunk die Menschen belagert<br />

haben? Ist Ihnen bekannt, wie die Bild-Zeitung beinahe täglich Menschen entwürdigt? Warum vermisse ich bloß mal<br />

eine vernünftige Aussage von Ihnen in dieser Richtung?<br />

Ihre Haltung ist in meinen Augen mehr als enttäuschend. Sie können sicher sein, dass sehr, sehr viele Bürgerinnen<br />

und Bürger das genauso beurteilen. Als einen Affront gegen jeden, der sich publizistisch betätigt, ob professionell oder<br />

als Laie.<br />

Ihnen ist vielleicht nicht bewusst, dass sich Gesellschaft immer ändert und auch die Kommunikation.


Selbstherrliche Politiker, die sich Doktortitel erschleichen (Sie kennen ein paar davon), werden durch privates<br />

Engagement als Betrüger enttarnt. Erst das Internet hat dies möglich ge<strong>macht</strong>. Welchen Anteil haben daran die<br />

Zeitungen? Ein Bundespräsident ist zurückgetreten, weil ein Bürger genau zugehört hat und sich die Frage gestellt<br />

hat, ob der Mann tatsächlich eine grundgesetzwidrige Erklärung für Wirtschaftskriege abgegeben hat. Wo war die<br />

Aufmerksamkeit der Zeitungen?<br />

Politiker, die dummes Zeug reden, müssen damit rechnen, dass ihre Aussagen sich rasend schnell verbreiten und<br />

sich die Menschen im Land selbst eine eigene Meinung dazu bilden. Ohne verschwurbelte Interpretationen von mit der<br />

Macht kuschelnden Zeitungen.<br />

<strong>Wenn</strong> Sie, Frau Merkel, entschlossen sind, das Internet und die großartigen Möglichkeiten, die es zur<br />

Meinungsbildung und -verbreitung bietet, nicht anzuerkennen, dann ist das Ihre Entscheidung. Alle Bürgerinnen und<br />

Bürger im Land haben dasselbe Recht, für sich zu entscheiden, ob sie Ihre Haltung gut oder schlecht finden. Ob<br />

diesen Ihre Ignoranz gefällt oder ob sie diese ablehnen.<br />

Die Zeitungen, denen Sie weitreichende Versprechungen in Sachen “Leistungsschutzrecht” machen, ziehen sich<br />

immer mehr aus der Fläche zurück. Die Qualität der Zeitungsinhalte wird durch Outsourcing und Sparmodelle immer<br />

schlechter. Täglich duplizieren Tageszeitungen Inhalte von Agenturen. Viele Mitarbeiter werden mies bezahlt. Ist das<br />

eine Leistung? Ist das schützenswert? Die Zeitungen verlieren seit Jahren Abonnenten – weil diese nicht mehr von der<br />

angeblichen Qualität der Zeitungen überzeugt sind. Willkommen in der Realität Frau Merkel.<br />

Niemand zwingt die Zeitungen, auch nur einen Artikel ins Internet zu stellen. Und tun sie es doch, reicht eine kurze<br />

Code-Zeile und Google findet die Zeitungsangebote nicht mehr. Jeder Verleger kann für sich entscheiden, ob er das<br />

möchte.<br />

Viele Inhalte der Zeitung sind nicht durch die Redaktionen selbst erarbeitet, sondern Übernahmen von möglichst<br />

kostenfrei angeliefertem Material. Welche angebliche Leistung soll hier geschützt werden?<br />

Mario Sixtus hat diese unverschämte Forderung auf den Punkt gebracht:<br />

Verlegerforderung Leistungsschutzrecht: Ja, habt ihr denn überhaupt keinen Stolz?<br />

In Berlin haben Sie gerade erleben können, dass mit den Piraten eine Partei gewählt wurde, die kein ordentliches Profil<br />

hat, aber ein Versprechen: Transparenz, Datenschutz und die digitale Gesellschaft sollen gefördert werden. Und das<br />

allein reichte für acht Prozent.<br />

Darüber, Frau Merkel, sollten Sie sich mal den Kopf zerbrechen.<br />

Und dann Äußerungen tätigen, die qualitativ mehr hergeben als das, was man von Ihnen in Bezug auf das Internet und<br />

die Menschen, die darüber kommunizieren, bislang von Ihnen gehört hat.<br />

Dass Sie sich der “Initiative gegen ein Leistungschutzrecht” anschließen, erwarte ich nicht wirklich von Ihnen, Frau<br />

Merkel. Aber sehr, sehr viele Menschen haben das bereits getan und werden es tun.<br />

Und ein kleiner Tipp in Sachen Bedienung von Verbandsinteressen, Frau Merkel, der BDI ist auch gegen das<br />

Leistungsschutzrecht und im Zweifel etwas einflussreicher als der BDZV.<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

Hardy Prothmann<br />

Bürger, Journalist, Blogger<br />

P.S. Vielleicht habe ich Sie auch komplett falsch verstanden, Frau Merkel – ich habe die Informationen aus einer<br />

“Qualitätszeitung” und darauf sollte man sich doch verlassen können, oder?

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