Jahrbuch - Verein für Geschichte und Kultur
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32 <strong>Jahrbuch</strong> 2007<br />
2. Vom Umgang der Gesellschaft mit ihren Autoren<br />
Schreiber sind in der russlandmennonitischen Gesellschaft meist nicht sehr<br />
großzügig behandelt worden. Wohlwollende, konstruktive Kritik war die seltene<br />
Ausnahme. Autoren wurden als Besserwisser gestempelt. Viel Kritik an publizierten<br />
Werken besteht eher darin, mit einer gewissen Selbstgefälligkeit nachzuweisen,<br />
dass der Schreiber sich in irgend einem Detail, <strong>und</strong> sei es nur ein Datum,<br />
geirrt hat <strong>und</strong> folglich doch nicht alles weiß.<br />
Wo es geschlossene, koloniale Gesellschaften waren, hat man Autoren automatisch<br />
als Sprecher <strong>für</strong> die ganze Gesellschaft gesehen, was viel Misstrauen, Unbehagen<br />
oder verfehlte Kritik hervorgebracht hat. Eine Schrift wurde daran gemessen,<br />
ob sie die Gesellschaft so darstellte, wie man sich nach außen gern präsentieren<br />
wollte, oder ob „schmutzige Wäsche“ gezeigt wurde.<br />
Ein weiteres Kriterium <strong>für</strong> die Reaktion – wie es denn so sein muss – ist letztlich<br />
die Herkunft des Schreibers. „Ach ja, die Familie kennen wir doch, da wissen<br />
wir schon, was der oder die schreibt, bevor wir es lesen“.<br />
Eine Kritik, die von derartigen Leitgedanken motiviert ist, wird meist nicht sehr<br />
hilfreich sein <strong>für</strong> angehende Autoren, wird literarisch wenig kompetent sein <strong>und</strong><br />
letztlich auch der Gesellschaft nicht viel nützen.<br />
Pragmatismus <strong>und</strong> Materialismus als Gr<strong>und</strong>paradigmen der Weltanschauung in<br />
mennonitischen Gesellschaften haben viel dazu beigetragen, Künstler <strong>und</strong><br />
Schreiber in einen marginalen Stand zu verweisen. „Richtig ist, was funktioniert,<br />
vor allem was im wirtschaftlichen Bereich funktioniert. Was ist schon ein Buch<br />
im Vergleich zu einer auf Hochglanz polierten Wirtschaft? Künstler sind Spinner,<br />
die etwas produzieren, was letztlich wenig ‘hilft’...“.<br />
Ein rumänischer Dichter, der als Kriegsgefangener in ein russisches Lager kam,<br />
war erstaunt, wie herzlich <strong>und</strong> ehr<strong>für</strong>chtig die Mitgefangenen ihn aufnahmen.<br />
Wieso? – Du bist ein bekannter Schriftsteller, <strong>und</strong> wenn du das bist, kannst du<br />
uns sagen, was wir wirklich denken“ 1 . Dichter verleihen Sprache, ohne Sprachrohr<br />
sein zu wollen. Sie schaffen Worte, mit welchen vage Gedankengänge abgeklärt<br />
werden können. Vielleicht ist dieses Empfinden in Russland besonders<br />
stark gewesen, genährt von der großen literarischen Tradition des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
Aber es gilt bestimmt allgemein, <strong>und</strong> der Gütegrad eines Schriftstellers<br />
misst sich mit Sicherheit auch an seiner Fähigkeit, dem Volk auf diese Weise<br />
1 S. 20 der Literaturbeilage in Die Zeit, vom 14. Okt. 1999.