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StGB Allgemeiner Teil - Hamm und Partner, Rechtsanwälte

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Arbeitsunterlagen<br />

zum Sommerlehrgang 2012<br />

26. August bis 02. September 2012<br />

Heringsdorf/Usedom<br />

„Aktuelle Entscheidungen des B<strong>und</strong>esgerichtshofs <strong>und</strong> ihre<br />

Bedeutung für die Praxis der Strafverteidigung"<br />

Referenten:<br />

Rechtsanwalt Prof. Dr. Rainer <strong>Hamm</strong>, Frankfurt a.M.<br />

Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Prof. Dr. Christoph Krehl, Karlsruhe<br />

Übersicht:<br />

Vorwort ............................................................................................................................................ 3<br />

<strong>StGB</strong> <strong>Allgemeiner</strong> <strong>Teil</strong> .................................................................................................................... 4<br />

<strong>StGB</strong> Besonderer <strong>Teil</strong> .................................................................................................................... 98<br />

Nebenstrafrecht ........................................................................................................................... 217<br />

Verfahrensrecht ........................................................................................................................... 268<br />

Inhaltsverzeichnis ........................................................................................................................ 418


Vorwort<br />

Das hier vorgelegte Skript dient wie in den vergangenen Jahren in erster Linie dazu, den<strong>Teil</strong>nehmern des<br />

Sommerlehrgangs die Vorbereitung auf die Vorträge <strong>und</strong> Diskussionen an den Kurstagen zu erleichtern.<br />

Darüber hinaus soll es aber auch die tägliche Arbeit der Verteidigerinnen <strong>und</strong> Verteidiger in den Strafprozessen<br />

vor Tatgerichten <strong>und</strong> in der Revision erleichten, indem es die wichtigsten Judikate des letzten Jahres<br />

seit dem Sommerlehrgang 2011 in Marbella systematisch geordnet bereitstellt.<br />

Die hier abgedruckten Entscheidungen sind alle auch auf den Datenbanken des BGH unter<br />

www.b<strong>und</strong>esgerichtshof.de (bzw. des BVerfG unter www.b<strong>und</strong>esverfassungsgericht.de) verfügbar. Die<br />

allerneuesten Entscheidungen findet man auch bis zu ihrem Abdruck in den Fachzeitschriften als pdf-<br />

Versionen im Volltext bei http://www.hammpartner.de/de/rechtswissen/rechtsprechung.html. Zum Nachweis<br />

von Parallelf<strong>und</strong>stellen empfehlen wir auch die in regelmäßigen Abständen auf CD-ROM aktualisierte<br />

Volltextdokumentation BGH-Nack (Heymanns, letzte Edition Juni 2012), die auch den Vorzug hat,<br />

dass sie sich in der Register-Funktion wie ein Gesetzeskommentar mit den jeweiligen Links auf alle seit<br />

1990 mit Gründen versehenen BGH-Entscheidungen in Strafsachen nutzen lässt.<br />

Soweit wir hier neben dem Entscheidungsdatum <strong>und</strong> dem Aktenzeichen Hinweise auf F<strong>und</strong>stellen <strong>und</strong><br />

Entscheidungsanmerkungen angebracht haben, erheben diese keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das<br />

gilt auch für gelegentliche Hinweise auf die Online-Entscheidungssammlung BeckRS unter http://beckonline.beck.de,<br />

wo man über z.B. das Modul Strafrecht auch Zugang zu Gesetzestexten, Kommentaren,<br />

Formularbüchern, jeweils mit Querverlinkungen zu den zitierten Normen, Gerichtsentscheidungen <strong>und</strong><br />

Aufsätzen z.B. in der dort auch im Volltext verfügbaren NStZ <strong>und</strong> der NJW.<br />

Dass gleichwohl die in den Skripten des Deutsche Strafverteidiger e.V. ausgewählt wiedergegenene Entscheidungssammlung<br />

über einen Berichtszeitraum von einem Jahr sich nicht nur bei den Lehrgangsteilnehmern,<br />

sondern auch in der Fachöffentlichkeit erfreuen, zeigen die hohen Klick- <strong>und</strong> Douwnloadzahlen<br />

unter der Rubrik Wissenswertes/Skripte bei http://www.deutsche-strafverteidiger.de, wo noch sämliche<br />

Skripte der Sommerlehrgänge seit 2001 als Volltext PdFs <strong>und</strong> teilweise auch als word-Dateien verfügbar<br />

sind <strong>und</strong> bei http://www.hammpartner.de/de/rechtswissen/fachliteratur.html, wo nur das jeweils aktuelle<br />

Skript zum Herunterladen bereitgestellt ist.<br />

Wir danken allen Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen, die bei der Auswertung der laufenden Rechtsprechung mitgeholfen<br />

haben. Unser Dank gilt insbesondere den beiden Mitarbeiterinnen der Praxis <strong>Hamm</strong><strong>Partner</strong>,<br />

Frau Melanie Kilinc <strong>und</strong> Frau Susanne Graul, die sich bei der technischen Herstellung des Manuskripts<br />

große Verdienste erworben haben.<br />

Frankfurt/Karlsruhe im August 2012 Rainer <strong>Hamm</strong>, Christoph Krehl<br />

3


4<br />

<strong>StGB</strong> <strong>Allgemeiner</strong> <strong>Teil</strong><br />

<strong>StGB</strong> § 2 VI; <strong>StGB</strong> § 66b; GVG § 132 II - Zurückstellung nachträgliche Sicherungsverwahrung<br />

BGH, Urt. v. 14.07.2011 - 4 StR 16/11 - NStZ 2011, 693<br />

1. Maßgebend für die Frage, welches Rechtsmittel statthaft ist, ist das Verfahrensrecht. Danach sind<br />

Urteile solche Entscheidungen, die eine mündliche Verhandlung <strong>und</strong> eine öffentliche Verkündung<br />

voraussetzen. Ohne Bedeutung ist, ob eine mündliche Verhandlung <strong>und</strong> eine öffentliche Verkündung<br />

wirklich stattgef<strong>und</strong>en haben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die betreffende Entscheidung<br />

nach dem Gesetz nur auf Gr<strong>und</strong> mündlicher Verhandlung <strong>und</strong> im Wege öffentlicher Verkündung<br />

hätte ergehen dürfen.<br />

2. § 300 StPO gilt auch für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft.<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg vom 27. Oktober<br />

2010 mit den Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die Sache wird zur zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Der Verurteilte, um dessen nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung es im vorliegenden Verfahren<br />

geht, war vom Landgericht mit Urteil vom 28. Juli 1993 wegen Gefangenenmeuterei unter Einbeziehung der Einzelstrafen<br />

aus dem Urteil des Bezirksgerichts Neubrandenburg vom 24. Februar 1992 <strong>und</strong> unter Auflösung der dort<br />

gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden. Gegenstand der einbezogenen<br />

Entscheidung ist eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung (ein Jahr Freiheitsstrafe) <strong>und</strong> Mordes<br />

(14 Jahre Freiheitsstrafe). Sämtliche Straftaten beging der Verurteilte im Beitrittsgebiet. Das Strafende war auf den<br />

18. Februar 2011 notiert. Bereits vor Erreichen des Strafendes hatte die Staatsanwaltschaft mit Antragsschrift vom 1.<br />

Juli 2010, bei Gericht eingegangen am 6. Juli 2010, beantragt, gemäß § 66b Abs. 1 <strong>StGB</strong> a.F. nachträglich die Unterbringung<br />

des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Hiervon informierte das Landgericht den<br />

Verurteilten. Durch eine als "Beschluss" bezeichnete Entscheidung vom 27. Oktober 2010 hat das Landgericht diesen<br />

Antrag ohne Hauptverhandlung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass zwar die „Voraussetzungen<br />

des § 66b Abs. 1 in Verbindung mit § 66 <strong>StGB</strong> … zu bejahen" seien, nach dem Urteil des Europäischen<br />

Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (NJW 2010, 2495) <strong>und</strong> dem Beschluss des erkennenden<br />

Senats vom 12. Mai 2010 (4 StR 577/09, NStZ 2010, 567, 568) aber eine Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten<br />

nach § 66b <strong>StGB</strong> nicht verhängt werden könne, da im Zeitpunkt der Tatbegehung die Straftat nicht mit Sicherungsverwahrung<br />

bedroht gewesen sei. Die Staatsanwaltschaft hat gegen die ihr am 2. November 2010 zugestellte<br />

Entscheidung am 4. November 2010 "sofortige Beschwerde" eingelegt. Mit einem am 2. Dezember 2010 beim<br />

Landgericht eingegangenen Schriftsatz gleichen Datums hat sie dieses Rechtsmittel sodann als Revision bezeichnet<br />

<strong>und</strong> die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts gerügt. Das vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertretene Rechtsmittel<br />

hat mit der Verfahrensrüge Erfolg.<br />

I. Mit Beschluss vom 3. Februar 2011 hatte der Senat die Entscheidung über das Rechtsmittel im Blick auf das vom<br />

5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs mit Beschluss vom 9. November 2010 (5 StR 394/10 u.a., NJW 2011, 240; zum<br />

Abdruck in BGHSt bestimmt) eingeleitete Anfrageverfahren zurückgestellt. Die Sache ist nunmehr entscheidungsreif,<br />

nachdem der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs in den den Anfrageverfahren zugr<strong>und</strong>e liegenden Strafsachen<br />

mit Beschluss vom 23. Mai 2011 zur Sache entschieden hat, ohne zuvor den Großen Senat für Strafsachen anzurufen.<br />

II. Die zulässige Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet zu Recht, dass das Landgericht über ihren Antrag ohne<br />

die nach § 275a Abs. 2 <strong>und</strong> 3 StPO erforderliche Hauptverhandlung entschieden hat.<br />

1. Gegen die Entscheidung des Landgerichts ist das Rechtsmittel der Revision statthaft (§ 333 StPO).<br />

Zwar hat das Landgericht seine Entscheidung als "Beschluss" bezeichnet. Dies führt aber nicht dazu, dass eine Beschwerde<br />

nach §§ 304 ff. StPO das statthafte Rechtsmittel wäre. Auf die Bezeichnung der Entscheidung kommt es<br />

nicht an. Maßgebend für die Frage, welches Rechtsmittel statthaft ist, ist das Verfahrensrecht. Danach sind Urteile


solche Entscheidungen, die eine mündliche Verhandlung <strong>und</strong> eine öffentliche Verkündung voraussetzen. Ohne Bedeutung<br />

ist, ob eine mündliche Verhandlung <strong>und</strong> eine öffentliche Verkündung wirklich stattgef<strong>und</strong>en haben. Ausschlaggebend<br />

ist vielmehr, ob die betreffende Entscheidung nach dem Gesetz nur auf Gr<strong>und</strong> mündlicher Verhandlung<br />

<strong>und</strong> im Wege öffentlicher Verkündung hätte ergehen dürfen. Sind Verhandlung <strong>und</strong> Verkündung in einem solchen<br />

Fall entgegen dem Gesetz unterblieben, handelt es sich für die Frage der Anfechtbarkeit dennoch um ein Urteil<br />

(BGH, Urteil vom 1. Juli 2005 – 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180, 186; Beschluss vom 17. Februar 2010 - 2 StR 524/09,<br />

BGHSt 55, 62, 63 f.; vgl. weiter BGH, Beschlüsse vom 20. Dezember 1955 - 5 StR 363/55, BGHSt 8, 383, 384, <strong>und</strong><br />

vom 30. Oktober 1973 - 5 StR 496/73, BGHSt 25, 242, 243, zu "Urteilen", die verfahrensrechtlich Beschlüsse waren).<br />

Nach § 275a Abs. 2 StPO ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auf Gr<strong>und</strong> einer<br />

Hauptverhandlung zu entscheiden. Diese Entscheidung ergeht durch Urteil (§ 275a Abs. 2 i.V.m. § 260 Abs. 1<br />

StPO). Dieses ist gr<strong>und</strong>sätzlich in öffentlicher Verhandlung zu verkünden (§ 169 GVG). Ein schriftliches Verfahren<br />

ist für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei der vom Gesetzgeber gewählten Hauptverhandlungslösung<br />

nicht vorgesehen; insbesondere kommt eine analoge Anwendung der Regelungen über das Zwischenverfahren<br />

nicht in Betracht (BGH, Urteil vom 6. Dezember 2005 - 1 StR 441/05, NStZ-RR 2006, 74). Dass die<br />

Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel zunächst irrtümlich als "sofortige Beschwerde" bezeichnet hat, ist nach § 300<br />

StPO ebenfalls unschädlich. Diese Vorschrift gilt auch für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft (Meyer-Goßner,<br />

StPO, 54. Aufl., § 300 Rn. 2). Im Übrigen hat sie selbst das Rechtsmittel noch innerhalb der Revisionsbegründungsfrist<br />

als "Revision" bezeichnet.<br />

2. Die Verfahrensrüge ist zulässig <strong>und</strong> begründet. Entgegen der Vorschrift des § 275a Abs. 2 StPO hat das Landgericht<br />

ohne Hauptverhandlung entschieden. Die Entscheidung beruht auf dieser Gesetzesverletzung. Das kann der<br />

Senat bereits deswegen nicht ausschließen, weil die Strafkammer bei der Entscheidung neben dem Vorsitzenden mit<br />

zwei Berufsrichtern, aber nicht mit Schöffen besetzt war. In ordnungsgemäßer Besetzung für eine Hauptverhandlung<br />

wäre das Ergebnis möglicherweise ein anderes gewesen. Die vom 1. Strafsenat in seinem Urteil vom 6. Dezember<br />

2005 (aaO S. 75) aufgeworfene Frage, ob das Beruhen zu verneinen ist, wenn zwingend vorgeschriebene formale –<br />

also ohne jede wertende Würdigung feststellbare – Voraussetzungen für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung<br />

fehlen, bedarf auch hier keiner Entscheidung. Das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht hat mit Urteil vom 4.<br />

Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.; dort Rn. 164) die vom Landgericht zu Gr<strong>und</strong>e gelegte <strong>und</strong> auch vom Senat in seinem<br />

Beschluss vom 12. Mai 2010 (4 StR 577/09, NStZ 2010, 567) vertretene Auffassung, § 2 Abs. 6 <strong>StGB</strong> i.V.m. Art. 7<br />

Abs. 1 Satz 2 MRK stehe einer rückwirkenden Anwendung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung<br />

entgegen, verworfen. Die vollständige Verbüßung der Strafe <strong>und</strong> die Haftentlassung des Verurteilten stehen<br />

der Fortsetzung des Verfahrens nicht entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juli 2005 – 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180, 181<br />

f.). Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist rechtzeitig gestellt<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 – 2 StR 272/05, BGHSt 50, 284, 290; Beschluss vom 26. Mai 2010<br />

– 2 StR 263/10, BGHR StPO § 275a Antrag 2). Die Erfüllung der formellen Voraussetzungen der nachträglichen<br />

Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 oder 2 <strong>StGB</strong> a.F. kann auf der Gr<strong>und</strong>lage der bisherigen Feststellungen<br />

jedenfalls nicht verneint werden; insoweit verweist der Senat auf die Darlegungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts in<br />

seiner Terminzuschrift <strong>und</strong> die darin wiedergegebenen Ausführungen des Generalstaatsanwalts in Rostock.<br />

III. Das Landgericht wird nunmehr in der gebotenen Form <strong>und</strong> nach Einholung der Gutachten von zwei Sachverständigen<br />

nach Maßgabe des § 275a Abs. 4 Satz 2 <strong>und</strong> 3 StPO über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche<br />

Anordnung der Sicherungsverwahrung zu befinden haben. Dabei ist der Antrag unter allen in Betracht kommenden<br />

rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen (BGH, Urteil vom 6. Dezember 2005 – 1 StR 441/05, NStZ-RR 2006, 74,<br />

75). § 66b <strong>StGB</strong> ist in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung anzuwenden (§ 2 Abs. 6 <strong>StGB</strong>; Art. 316e<br />

Abs. 1 Satz 2 EG<strong>StGB</strong>; Art. 316e Abs. 2 EG<strong>StGB</strong> gilt nur für die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung,<br />

BT-Drucks. 17/3403 S. 50 <strong>und</strong> Kinzig NJW 2011, 177, 180). Zwar hat das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht diese Vorschrift<br />

in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.) für mit dem Gr<strong>und</strong>gesetz unvereinbar erklärt. Jedoch<br />

hat es in Ziff. III. des Urteilstenors eine Weitergeltungsanordnung getroffen; diese hat Gesetzeskraft (BGBl. I S.<br />

1003, 1004 f.). Danach ist § 66b Abs. 2 <strong>StGB</strong> a.F., der in den sog. Altfällen Rückwirkung entfaltet (BVerfG aaO Rn.<br />

148, 149), bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, nur noch nach den<br />

engen Maßgaben in Ziff. III. 2. Buchst. a des Tenors anzuwenden. Im Gegensatz dazu hatte das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

nach der Fassung der Weitergeltungsanordnung (Ziff. III. 1. in Verbindung mit Ziff. II. 1. Buchst. b des Tenors<br />

des Urteils vom 4. Mai 2011) die weitere Anwendung des § 66b Abs. 1 <strong>StGB</strong> a.F. nach Maßgabe der Gründe<br />

seines Urteils angeordnet <strong>und</strong> diese damit an sich nur von einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung (Rn. 172) abhängig<br />

gemacht (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Mai 2011 – 4 StR 650/10). Jedoch hat es mit Senatsbeschluss vom 8.<br />

Juni 2011 (2 BvR 2846/09) klargestellt, dass die im Urteil vom 4. Mai 2011 festgesetzten höheren Verhältnismäßig-<br />

5


keitsanforderungen an die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in allen Fällen mit Rückwirkung –<br />

<strong>und</strong> damit auch in dem hier zu entscheidenden – gelten. Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird daher in<br />

materieller Hinsicht zu prüfen haben, ob eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten<br />

Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist <strong>und</strong> dieser an einer psychischen<br />

Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes vom 22. Dezember 2010 zur Therapierung <strong>und</strong> Unterbringung<br />

psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz – ThUG; BGBl. I. 2300) leidet.<br />

<strong>StGB</strong> § 6, BtMG § 29 – Besitz BtM Auslandsbezug<br />

BGH, Beschl. v. 03.11.2011 - 2 StR 201/11 - StV 2012, 286<br />

Im Sinne des § 6 Nr. 5 <strong>StGB</strong> vertreibt Betäubungsmittel, wer allein oder durch seine Mitwirkung<br />

ihren in der Regel entgeltlichen Absatz an andere fördert (BGHSt 34, 1, 2); gefordert wird eine Tätigkeit,<br />

die ein Betäubungsmittel entgeltlich in den Besitz eines anderen bringen soll. Von den zahlreichen<br />

<strong>Teil</strong>akten des Handeltreibens werden durch den "Vertrieb" nur solche erfasst, die unmittelbar<br />

auf Weitergabe gerichtet sind.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird<br />

a) die Verfolgung mit Zustimmung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts gemäß § 154a Abs. 2 StPO auf den Vorwurf der Beihilfe<br />

zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit versuchter Durchfuhr von<br />

Betäubungsmitteln beschränkt,<br />

b) das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 6. Januar 2011 im Schuldspruch dahin abgeändert, dass der<br />

Angeklagte wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit<br />

versuchter Durchfuhr von Betäubungsmitteln verurteilt ist,<br />

c) das vorgenannte Urteil im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge<br />

in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe<br />

von vier Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus dem Tenor ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg;<br />

im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Nach den Feststellungen erklärte sich der Angeklagte für einen Kurierlohn von 3.000 Euro bereit, einen Drogentransport<br />

auf dem Luftweg von Mexiko über Frankfurt am Main nach Brüssel durchzuführen. Die ihm von seinem<br />

Auftraggeber übergebenen <strong>und</strong> mit Drogen präparierten Koffer bewahrte er mehrere Tage in seinem Hotelzimmer in<br />

Mexiko auf, bevor er sie am Tag seines Abfluges bis Brüssel durchcheckte. Bei der Kontrolle seines Transitgepäcks<br />

am Frankfurter Flughafen am 24. September 2010 wurden 1.537,1 Gramm Kokain mit 1.267,8 Gramm Wirkstoff<br />

aufgef<strong>und</strong>en.<br />

2. Mit Zustimmung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts beschränkt der Senat gemäß § 154a Abs. 2 StPO die Verfolgung auf<br />

den Vorwurf der Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit versuchter<br />

Durchfuhr von Betäubungsmitteln. Die Beschränkung erfolgt, weil Zweifel bestehen, ob auf den vom Angeklagten,<br />

einem italienischen Staatsangehörigen, ausschließlich im Ausland ausgeübten Besitz an den Betäubungsmitteln<br />

das deutsche Strafrecht anwendbar ist.<br />

a) Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> liegen nach den Urteilsgründen nicht vor. Entsprechende Feststellungen<br />

hat das Landgericht nicht getroffen mit der Folge, dass entsprechende Ermittlungen vom Revisionsgericht<br />

nachgeholt werden müssten.<br />

b) Entgegen der Auffassung des Landgerichts ergibt sich die Anwendung deutschen Strafrechts auch nicht schon aus<br />

§ 6 Nr. 5 <strong>StGB</strong>, denn diese Vorschrift, nach der für den "unbefugten Vertrieb von Betäubungsmitteln" das Weltrechtsprinzip<br />

gilt, erfasst nicht deren Besitz (st. Rspr. Senat, StV 1984, 286; BGH NStZ 2010, 521). Insoweit kommt<br />

es nicht auf den Begriff des "Handeltreibens" im Sinne des § 29 BtMG an, der "jede eigennützige auf den Umsatz<br />

von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit" erfasst (vgl. BGHGS, NJW 2005, 3790, 3792 mwN) <strong>und</strong> der den Besitz<br />

von Betäubungsmitteln als unselbständiges, im täterschaftlichen Handeltreiben aufgehendes <strong>Teil</strong>stück des Gesche-<br />

6


hens umfasst (BGHSt 30, 359 ff; 25, 290). Der Begriff des "Vertriebs" ist vielmehr autonom auszulegen. Im Sinne<br />

des § 6 Nr. 5 <strong>StGB</strong> vertreibt Betäubungsmittel, wer allein oder durch seine Mitwirkung ihren in der Regel entgeltlichen<br />

Absatz an andere fördert (BGHSt 34, 1, 2); gefordert wird eine Tätigkeit, die ein Betäubungsmittel entgeltlich<br />

in den Besitz eines anderen bringen soll (Kühl, Lackner/ Kühl, <strong>StGB</strong> 27. Aufl. § 6 Rn. 2; Eser, Schönke/Schröder<br />

<strong>StGB</strong> 28. Aufl. § 6 Rn. 6; Heintschel-Heinegg, Beck OK <strong>StGB</strong> Ed. 14 § 6 Rn. 3). Von den zahlreichen <strong>Teil</strong>akten des<br />

Handeltreibens werden durch den "Vertrieb" nur solche erfasst, die unmittelbar auf Weitergabe gerichtet sind (vgl.<br />

auch Schrader NJW 1986, 2874, 2876). Auch nach seinem Sinn <strong>und</strong> Zweck gebietet § 6 Nr. 5 <strong>StGB</strong> keine andere<br />

Auslegung. Vom Schutzzweck her sachgerecht <strong>und</strong> vom Gesetzgeber erkennbar gewollt ist es, dem Betäubungsmittelhandel,<br />

der wegen seiner grenzüberschreitenden Gefährlichkeit auch Inlandsinteressen berührt, durch Anwendung<br />

des deutschen Strafrechts auf den Händler entgegenzuwirken, gleich welcher Staatsangehörigkeit er ist <strong>und</strong> wo er die<br />

Tat begangen hat (BGHSt 34, 1, 3). Dies ist für den Auslandbesitz als solchen nicht anzunehmen. Eine andere Beurteilung<br />

ist auch nicht deshalb geboten, weil der Besitz an Betäubungsmitteln vorliegend mit dessen Vertrieb (hier in<br />

Form der Beihilfe zum Handeltreiben) in Tateinheit steht (vgl. insoweit BGH, NStZ 2010, 521). Allein die tateinheitliche<br />

Begehungsweise bewirkt nicht, dass eine Tathandlung auch materiell-rechtlich von der anderen erfasst wird.<br />

3. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist der Angeklagte aber nicht nur der Beihilfe zum Handeltreiben mit<br />

Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig, sondern auch der versuchten Durchfuhr von Betäubungsmitteln<br />

gemäß § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 BtMG (Senat, Beschlüsse vom 20. Juni 2007 - 2 StR 221/07 <strong>und</strong> vom 7. Mai 2008 - 2<br />

StR 144/08). Der Senat hat den Schuldspruch selbst geändert. Beide Taten stehen im Verhältnis der Tateinheit (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 16. Dezember 1983 - 2 StR 693/83). § 265 StPO steht dem nicht entgegen, zumal schon die<br />

zugelassene Anklage die versuchte Durchfuhr umfasste. Die Änderung des Schuldspruchs führt zur Aufhebung des<br />

Strafausspruchs. Die Kammer hat zwar im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt, dass das Schwergewicht der<br />

Tat auf der Beihilfe lag <strong>und</strong> der daneben verwirklichte Besitz von Betäubungsmitteln die Tat gegenüber anderen<br />

Kurierfällen "nicht schwerwiegender erscheinen lässt" (UA S. 11). Der Senat kann gleichwohl nicht ausschließen,<br />

dass die Kammer bei veränderten Strafrahmen eine mildere Strafe verhängt hätte.<br />

<strong>StGB</strong> § 9 I; <strong>StGB</strong> § 25 II; StPO § 7 I; StPO § 338 Nr. 4 - örtliche Zuständigkeit Handeltreiben<br />

BGH, Beschl. v. 14.07.2011 - 4 StR 139/11 - StraFo 2011, 391<br />

Zur örtlichen Zuständigkeit beim Handeltreiben i.S.d. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG: Die in der Annahme<br />

des Lieferangebots liegende Tathandlung des vollendeten Handeltreibens schließt den Zugang<br />

der Erklärung bei dem Adressaten mit ein mit der Folge, dass ein Handlungsort im Sinne des § 9<br />

Abs. 1 <strong>StGB</strong> auch an dem Ort gegeben ist, an dem die Annahmeerklärung den Adressaten erreicht.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dortm<strong>und</strong> vom 12. August 2010 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum<br />

Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels<br />

zu tragen. Ergänzend zum Verwerfungsantrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts bemerkt der Senat:<br />

1. Die Verfahrensrüge, mit der nach § 338 Nr. 4 StPO i.V.m. § 7 Abs. 1 StPO die fehlende örtliche Zuständigkeit des<br />

erkennenden Gerichts geltend gemacht wird, greift nicht durch. Das Landgericht Dortm<strong>und</strong> war örtlich zuständig,<br />

weil nach der bei Eröffnung des Hauptverfahrens gegebenen Sachlage in tatsächlicher Hinsicht davon auszugehen<br />

war, dass jedenfalls die dem Angeklagten unter Nr. 4 der Anklage zur Last gelegte Tat auch in Dortm<strong>und</strong> begangen<br />

wurde.<br />

a) Handeltreiben mit Betäubungsmitteln ist ein Tätigkeits- <strong>und</strong> kein Erfolgsdelikt. Für die Frage, ob der Gerichtsstand<br />

des Tatorts gemäß § 7 Abs. 1 StPO i.V.m. § 9 Abs. 1 <strong>StGB</strong> begründet ist, ist deshalb allein auf den Handlungsort<br />

abzustellen (BGH, Beschlüsse vom 31. März 2011 – 3 StR 400/10 Rn. 21; vom 17. Juli 2002 – 2 ARs 164/02,<br />

NStZ 2003, 269; vgl. auch Weber, BtMG, 3. Aufl., vor §§ 29 ff. Rn. 83). Die Bestimmung des Handlungsorts beurteilt<br />

sich dabei nach der Tatsachengr<strong>und</strong>lage, wie sie sich im Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptverfahrens darstellt<br />

(vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. März 2011 – 3 StR 400/10 Rn. 24; vom 31. März 2011 – 3 StR 460/10; Meyer-<br />

Goßner, StPO, 54. Aufl., § 338 Rn. 31; Wiedner in Graf, StPO, § 338 Rn. 80).<br />

b) Das Zusammenwirken von Veräußerer <strong>und</strong> Erwerber von Betäubungsmitteln stellt sich nach der Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs nicht als Mittäterschaft, sondern jeweils als selbständige Täterschaft dar, weil sich beide als<br />

Geschäftspartner gegenüberstehen <strong>und</strong> gegensätzliche Interessen verfolgen, so dass ihr gemeinsames Tätigwerden<br />

7


allein durch die Art der Deliktsverwirklichung vorgegeben ist (BGH, Beschluss vom 31. März 2011 – 3 StR 400/10<br />

Rn. 22; Urteil vom 9. Oktober 1996 – 3 StR 220/96, BGHSt 42, 255, 259). Aus dem gleichen Gr<strong>und</strong> führt das Zusammenwirken<br />

zwischen Veräußerer <strong>und</strong> Erwerber auch nicht zu einer Beteiligung des einen an der jeweiligen Tat<br />

des andern (vgl. BGH, Urteil vom 30. September 2008 – 5 StR 215/08, NStZ 2009, 221; Beschluss vom 17. Juli<br />

2002 – 2 ARs 164/02 aaO). Dass das vom Angeklagten im Fall II. 2 der Urteilsgründe erworbene Marihuana von<br />

dem Lieferanten des Angeklagten zuvor in Dortm<strong>und</strong> gelagert worden war, vermag daher – entgegen der Auffassung<br />

der Strafkammer – keinen Handlungsort für die Tat des Angeklagten zu begründen.<br />

c) Ein die örtliche Zuständigkeit des erkennenden Gerichts begründender Gerichtsstand nach § 7 Abs. 1 StPO ergibt<br />

sich hier daraus, dass nach der Sachlage im Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte<br />

dafür vorlagen, dass der Angeklagte bei der ihm unter Nr. 4 der Anklage der Staatsanwaltschaft Dortm<strong>und</strong><br />

vom 15. Juni 2009 angelasteten Tat auch in Dortm<strong>und</strong> gehandelt hatte. Ausweislich der Angaben des Zeugen<br />

A. in seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung am 2. Februar 2009 (SA I, 48 f.) war davon auszugehen, dass<br />

der Zeuge dem Angeklagten in einem aus Dortm<strong>und</strong> geführten Telefonat ein Kilogramm Haschisch zum Kauf angeboten<br />

<strong>und</strong> der Angeklagte das Angebot sogleich angenommen hatte. Damit hat der Angeklagte auch im Bezirk des<br />

Landgerichts Dortm<strong>und</strong> eine auf die Tatbestandsverwirklichung des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG gerichtete Tätigkeit<br />

entfaltet. Denn die in der Annahme des Lieferangebots liegende Tathandlung des vollendeten Handeltreibens<br />

schließt den Zugang der Erklärung bei dem Adressaten mit ein (vgl. Weber, aaO, § 29 Rn. 380, 364; Körner, BtMG,<br />

6. Aufl., § 29 Rn. 331, 300; Rahlf in MK-<strong>StGB</strong>, § 29 BtMG Rn. 282) mit der Folge, dass ein Handlungsort im Sinne<br />

des § 9 Abs. 1 <strong>StGB</strong> auch an dem Ort gegeben ist, an dem die Annahmeerklärung den Adressaten erreicht (vgl. Werle/Jeßberger<br />

in LK, 12. Aufl., § 9 Rn. 82).<br />

2. Die Rüge, mit der sich die Revision gegen die Verwertung der Erkenntnisse aus der in dem Ermittlungsverfahren<br />

gegen den Zeugen A. durchgeführten Telekommunikationsüberwachung wendet, ist nicht zulässig erhoben (§ 344<br />

Abs. 2 Satz 2 StPO). In ihrem den Widerspruch der Verteidigung gegen die Verwertung zurückweisenden Beschluss<br />

hat sich die Strafkammer zur Darlegung der im Zeitpunkt der Anordnung der Telekommunikationsüberwachung<br />

gegebenen Verdachtslage u.a. auf die Ausführungen in der polizeilichen „Beantragung von Telekommunikationsmaßnahmen“<br />

vom 10. August 2007 gestützt. Deren Inhalt wird von der Revision nicht mitgeteilt.<br />

<strong>StGB</strong> § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c, § 299 Vertragsarzt kein Amtsträger<br />

BGH, Beschl. v. 29.03.2012 - GSSt 2/11 ZWH 2012, 275 m. Anm. Brockhau, NZWiSt 2012, 268 m. Anm. Kraatz<br />

LS: Ein niedergelassener, für die vertragsärztliche Versorgung zugelassener Arzt handelt bei der<br />

Wahrnehmung der ihm in diesem Rahmen übertragenen Aufgaben (§ 73 Abs. 2 SGB V; hier: Verordnung<br />

von Arzneimitteln) weder als Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c <strong>StGB</strong><br />

noch als Beauftragter der gesetzlichen Krankenkassen im Sinne des § 299 <strong>StGB</strong>.<br />

Ein niedergelassener, für die vertragsärztliche Versorgung zugelassener Arzt handelt bei der Wahrnehmung der ihm<br />

in diesem Rahmen übertragenen Aufgaben (§ 73 Abs. 2 SGB V, hier: Verordnung von Arzneimitteln) weder als<br />

Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c <strong>StGB</strong> noch als Beauftragter der gesetzlichen Krankenkassen im<br />

Sinne des § 299 <strong>StGB</strong>.<br />

Gründe:<br />

I. 1. In dem beim 5. Strafsenat anhängigen Verfahren hat das Landgericht die Angeklagte, eine für die „r. “ GmbH<br />

(im Folgenden: R. ) tätige Pharmareferentin, wegen Bestechung im geschäftlichen Verkehr in 16 Fällen zu einer<br />

Gesamtgeldstrafe verurteilt. Diese Verurteilung wird von der Angeklagten mit der Revision umfassend angefochten.<br />

a) Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen praktizierte R. seit spätestens 1997 unter der Bezeichnung<br />

„Verordnungsmanagement“ ein Prämiensystem für die ärztliche Verordnung von Medikamenten aus ihrem Vertrieb.<br />

Danach sollte der verschreibende Arzt 5 % der Herstellerabgabepreise als Prämie dafür erhalten, dass er Arzneimittel<br />

des Unternehmens verordnete. Die Zahlungen wurden als Honorar für fiktive wissenschaftliche Vorträge ausgewiesen.<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieses Prämiensystems über-gab die Angeklagte in insgesamt 16 Fällen verschiedenen Vertragsärzten<br />

Schecks über einen Gesamtbetrag von etwa 18.000 Euro.<br />

b) Das Landgericht, dessen Urteil in GesR 2011, 164 (m. Anm. Geis, GesR 2011, 641) abgedruckt ist, hat das Verhalten<br />

der Angeklagten als Bestechung im geschäftlichen Verkehr im Sinne von § 299 Abs. 2 <strong>StGB</strong> gewertet, wobei<br />

es hinsichtlich jeder einzelnen Scheckzahlung von jeweils einer Bestechungstat im materiellen Sinne ausgegangen<br />

8


ist. Eine Strafbarkeit nach § 334 <strong>StGB</strong> hat es verneint, weil die Vertragsärzte nicht als Amtsträger angesehen werden<br />

könnten. Diese seien nicht zur Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung bestellt <strong>und</strong> würden wegen<br />

ihrer Eigenverantwortung <strong>und</strong> ihrer weitreichenden Entscheidungsbefugnisse auch von der Allgemeinheit nicht als<br />

verlängerter Arm der Verwaltung wahrgenommen. Die Vertragsärzte seien jedoch Beauftragte der Krankenkassen im<br />

Sinne des § 299 <strong>StGB</strong>. Ungeachtet ihrer öffentlich-rechtlichen Organisationsform seien die Krankenkassen insoweit<br />

als „geschäftliche Betriebe“ anzusehen.<br />

2. Auf die Revision der Angeklagten hat der 5. Strafsenat dem Großen Senat für Strafsachen die Frage vorgelegt, ob<br />

ein niedergelassener, für die vertragsärztliche Versorgung zugelassener Arzt Amtsträger im Sinne der Straftaten im<br />

Amt (§§ 331 ff. <strong>StGB</strong>) ist, wenn er im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung von Kassenpatienten tätig wird<br />

<strong>und</strong> diesen Medikamente verordnet. Hilfs-weise für den Fall der Verneinung dieser Frage hat der Senat angefragt, ob<br />

ein solcher Arzt in diesen Fällen Beauftragter eines geschäftlichen Betriebs im geschäftlichen Verkehr im Sinne des<br />

§ 299 <strong>StGB</strong> ist. Die Frage der Amtsträger-eigenschaft des Vertragsarztes stelle sich in einer Vielzahl von Fällen.<br />

Höchst-richterliche Entscheidungen dazu gebe es bisher nicht. Der 5. Strafsenat hat sich damit dem 3. Strafsenat<br />

angeschlossen, der dem Großen Senat dieselbe Rechtsfrage, bezogen auf die vertragsärztliche Verordnung von<br />

Hilfsmitteln, vorgelegt hat. Die Entscheidung darüber hat der Große Senat für Strafsachen einstweilen zurückgestellt.<br />

3. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat beantragt, die Vorlegungsfrage dahin-gehend zu beantworten, dass ein Arzt zwar<br />

nicht als Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c <strong>StGB</strong>, aber als Beauftragter der gesetzlichen Krankenkassen<br />

im Sinne des § 299 <strong>StGB</strong> handelt, wenn er als niedergelassener, für die vertragsärztliche Versorgung zugelassener<br />

Arzt in Wahrnehmung der ihm in diesem Rahmen nach § 73 Abs. 2 SGB V übertragenen Aufgaben Arzneimittel<br />

verordnet.<br />

II. Die Vorlegung ist wegen gr<strong>und</strong>sätzlicher Bedeutung zulässig (§ 132 Abs. 4 GVG). Der Große Senat für Strafsachen<br />

beantwortet die gestellte Frage wie aus der Entscheidungsformel ersichtlich.<br />

III. Der niedergelassene, für die vertragsärztliche Versorgung zugelassene Arzt handelt bei der Verordnung von<br />

Arzneimitteln nicht als ein für die Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung bestellter Amtsträger<br />

im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c <strong>StGB</strong>.<br />

1. Allerdings zählen die gesetzlichen Krankenkassen zu den in dieser Vorschrift genannten Einrichtungen.<br />

a) Für den Bereich des Sozialversicherungsrechts definiert § 1 Abs. 2 SGB X Behörde – ebenso wie § 1 Abs. 4<br />

VwVfG, § 6 Abs. 1 AO – als jede Stelle, die Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahrnimmt. Mit diesem Behördenbegriff<br />

des Staats- <strong>und</strong> Verwaltungsrechts ist der strafrechtliche Begriff der Behörde jedoch nicht deckungsgleich;<br />

für diesen kommt es maßgeblich auf den Zweck der im jeweiligen Einzelfall anzuwendenden strafrechtlichen Vorschrift<br />

an (vgl. MünchKomm<strong>StGB</strong>/Radtke, § 11 Rn. 96; LK-<strong>StGB</strong>/Hilgendorf, 12. Aufl., § 11 Rn. 93). Der durch das<br />

Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. März 1974 (BGBl I S. 469) eingefügte Zusatz „sonstige Stelle“<br />

erfasst – über den engeren Behördenbegriff im organisatorischen Sinne hinaus – unter Einschluss der Körperschaften<br />

<strong>und</strong> Anstalten des öffentlichen Rechts auch andere Einrichtungen, soweit diese zur Wahrnehmung von Aufgaben der<br />

öffentlichen Verwaltung berufen sind (BTDrucks. 7/550, S. 209). Der B<strong>und</strong>esgerichts-hof sieht in ständiger Rechtsprechung<br />

eine sonstige Stelle als behördenähnliche Einrichtung an, die rechtlich befugt ist, bei der Ausführung von<br />

Gesetzen <strong>und</strong> bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben mitzuwirken, ohne selbst Behörde im verwaltungsrechtlichen<br />

Sinne zu sein (BGH, Urteil vom 19. Dezember 1997 – 2 StR 521/97, BGHSt 43, 370, 376; Urteil vom 19. Juni 2008<br />

– 3 StR 490/07, BGHSt 52, 290, 293; Urteil vom 9. Juli 2009 – 5 StR 263/08, BGHSt 54, 39, 41). Mag die Organisationsform<br />

der betreffenden Stelle schon wegen der durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13. August 1997<br />

(BGBl I S. 2038) vorgenommenen Ergänzung des Amtsträgerbegriffs („unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung<br />

gewählten Organisationsform“) im Regelfall keine entscheidende Bedeutung mehr haben, so kommt ihr doch weiterhin<br />

indizielle Bedeutung zu, wenn im Einzelfall eine Körperschaft des öffentlichen Rechts in Rede steht (BGH, Urteil<br />

vom 9. Juli 2009 aaO).<br />

b) Gemessen daran sind die gesetzlichen Krankenkassen jedenfalls sonstige Stellen der öffentlichen Verwaltung im<br />

Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c <strong>StGB</strong>. Dabei ergibt sich der spezifisch öffentlich-rechtliche Bezug, der eine<br />

Gleichstellung ihrer Tätigkeit mit behördlichem Handeln rechtfertigt, aus den gesetzlich vorgegebenen Verbandsstrukturen<br />

auf Landes- <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esebene (§§ 207 ff. SGB V), der Gesetzesbindung der Krankenkassen sowie aus<br />

dem Umstand, dass sie bei ihrer Aufgabenerfüllung staatlicher Rechtsaufsicht unterliegen (§§ 87, 90 SGB IV; § 195<br />

Abs. 1 SGB V). Indem sie auf der Gr<strong>und</strong>lage des für sie in den §§ 1, 2 SGB V formulierten gesetzlichen Auftrags als<br />

solidarische <strong>und</strong> eigenverantwortliche Krankenversicherung ihren beitragspflichtigen Pflichtmitgliedern (vgl. §§ 5<br />

ff., 226 SGB V) Leistungen zur Verfügung stellen, nehmen sie – in mittelbarer Staatsverwaltung (BVerfG, Beschluss<br />

vom 9. April 1975 – 2 BvR 879/73, BVerfGE 39, 302, 313; Baier in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, 76.<br />

Lfg., § 29 SGB IV Rn. 11) – Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahr.<br />

9


c) Die im geltenden Recht der gesetzlichen Krankenversicherung vorhandenen wettbewerblichen Elemente, etwa das<br />

dem gesetzlich Versicherten gemäß § 173 SGB V zustehende Recht der Wahl der Krankenkasse, sind nicht geeignet,<br />

dieses Auslegungsergebnis in Frage zu stellen. Das Handeln der Krankenkassen wird trotz des zwischen ihnen bestehenden<br />

Konkurrenzverhältnisses <strong>und</strong> der vom Gesetzgeber zur Sicherung der Beitragssatzstabilität eingeführten<br />

Mechanismen insgesamt nach wie vor von sozialversicherungsrechtlichen, den Interessen der Allgemeinheit dienenden<br />

Normen beherrscht. Diese bilden ein Sonderrecht, dem die gesetzlichen Kassen als Träger öffentlicher Aufgaben<br />

unterworfen sind.<br />

2. Die Vertragsärzte sind jedoch nicht dazu bestellt, im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen Aufgaben der öffentlichen<br />

Verwaltung wahrzunehmen.<br />

a) Zwar steht außer Frage, dass das System der gesetzlichen Krankenversicherung als Ganzes eine aus dem Sozialstaatsgr<strong>und</strong>satz<br />

des Art. 20 Abs. 1 GG folgende Aufgabe erfüllt, durch deren Wahrnehmung in hohem Maße Interessen<br />

nicht allein der einzelnen Versicherten, sondern der Allgemeinheit wahrgenommen werden. Auch wenn die Leistungen<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung letztlich den jeweils Versicherten zukommen <strong>und</strong> das System insgesamt<br />

die gesetzliche Aufgabe hat, "die Ges<strong>und</strong>heit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

zu bessern" (§ 1 SGB V), stehen bei der Ausgestaltung des Systems die Gesichtspunkte der solidarischen<br />

Finanzierung (§ 3 SGB V), der (eingeschränkten) Zwangs-Mitgliedschaft der Versicherten (§§ 5 ff. SGB V)<br />

sowie der Erfüllung allgemeiner ges<strong>und</strong>heitspolitischer Anliegen (vgl. etwa §§ 20 ff. SGB V) im Vordergr<strong>und</strong>. So<br />

bestimmt etwa § 1 SGB V, dass die Krankenkassen auf ges<strong>und</strong>e Lebensverhältnisse hinzuwirken haben; die vertragsärztliche<br />

Versorgung ist den Zielen der Qualität, Humanität, Wirtschaftlichkeit <strong>und</strong> Beitragssatzstabilität verpflichtet<br />

(§§ 70, 71 SGB V). Das Vertragsarztsystem der gesetzlichen Krankenversicherung ist darauf ausgerichtet,<br />

eine flächendeckende, gleichmäßige, an allgemeinen Qualitätsstandards <strong>und</strong> solidarischen Wirtschaftlichkeits-<br />

Gesichtspunkten ausgerichtete Versorgung der Gesamtbevölkerung der B<strong>und</strong>esrepublik mit Leistungen der Heil- <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge sicherzustellen. Dies ist unzweifelhaft eine öffentliche Aufgabe.<br />

b) Jedoch ist das in den §§ 72 ff. SGB V geregelte System der vertrags-ärztlichen Versorgung so ausgestaltet, dass<br />

der einzelne Vertragsarzt keine Aufgabe öffentlicher Verwaltung wahrnimmt. Öffentliche Verwaltung im Sinne von<br />

§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c <strong>StGB</strong> ist nicht allein die Gesamtheit der von Hoheitsträgern ausgeübten Eingriffs- <strong>und</strong><br />

Leistungsverwaltung; vielmehr sind auch Mischformen sowie die Tätigkeit von Privatrechtssubjekten erfasst, wenn<br />

diese wie ein "verlängerter Arm" hoheitlicher Gewalt tätig werden (BGH, Urteile vom 19. Dezember 1997 – 2 StR<br />

521/97, BGHSt 43, 370, 377; vom 3. März 1999 – 2 StR 437/98, BGHSt 45, 16, 19; vom 15. März 2001 – 5 StR<br />

454/00, BGHSt 46, 310, 312; vom 16. Juli 2004 – 2 StR 486/03, BGHSt 49, 214, 219; vom 2. Dezember 2005 – 5<br />

StR 119/05, BGHSt 50, 299, 303; vom 27. November 2009 – 2 StR 104/09, BGHSt 54, 202, 212; vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>,<br />

59. Aufl., § 11 Rn. 22a mwN). Für die Zuordnung der Tätigkeit von Privaten zum Bereich öffentlicher Verwaltung<br />

kommt es darauf an, dass der Ausführende dem Bürger nicht auf der Ebene vertraglicher Gleichordnung mit der<br />

gr<strong>und</strong>sätzlichen Möglichkeit individueller Aushandlung des Verhältnisses entgegentritt, sondern quasi als ausführendes<br />

Organ hoheitlicher Gewalt. Es fehlt Rechtbeziehungen im Rahmen öffentlicher Verwaltung daher typischerweise<br />

ein bestimmendes Element individuell begründeten Vertrauens, der Gleichordnung <strong>und</strong> der Gestaltungsfreiheit.<br />

Letztlich beruht die Bestimmung des Begriffs der Wahrnehmung von Aufgaben öffentlicher Verwaltung im Sinne<br />

von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c <strong>StGB</strong> auf einer wertenden Abgrenzung. Dies gilt insbesondere in Bereichen, die<br />

nicht zur unmittelbaren staatlichen Verwaltung zählen. Zu prüfen ist jeweils, ob der Tätigkeit der betreffenden Person<br />

im Verhältnis zum Bürger der Charakter – wenn auch nur mittelbar – eines hoheitlichen Eingriffs zukommt oder<br />

ob das persönliche Verhältnis zwischen den Beteiligten so im Vordergr<strong>und</strong> steht, dass ein hoheitlicher Charakter der<br />

Erfüllung öffentlicher Aufgaben dahinter zurücktritt. Letzteres ist nach Ansicht des Großen Senats im Verhältnis<br />

zwischen Vertragsarzt <strong>und</strong> Patient der Fall.<br />

aa) Die Vertragsärzte üben Ihren Beruf in freiberuflicher Tätigkeit aus (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG), auch wenn<br />

die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung zur <strong>Teil</strong>nahme an dieser Versorgung nicht nur berechtigt, sondern<br />

auch verpflichtet (§ 95 Abs. 3 Satz 1 SGB V). Der Vertragsarzt ist nicht Angestellter oder bloßer Funktionsträger<br />

einer öffentlichen Behörde; er wird im konkreten Fall nicht aufgr<strong>und</strong> einer in eine hierarchische Struktur integrierten<br />

Dienststellung tätig, sondern aufgr<strong>und</strong> der individuellen, freien Auswahl der versicherten Person. Er nimmt damit<br />

eine im Konzept der gesetzlichen Krankenversicherung vorgesehene, speziell ausgestaltete Zwischenposition ein, die<br />

ihn von dem in einem öffentlichen Krankenhaus angestellten Arzt, aber auch von solchen Ärzten unterscheidet, die<br />

in einem staatlichen System ambulanter Heil-fürsorge nach dem Modell eines Poliklinik-Systems tätig sind.<br />

bb) Das Verhältnis des Versicherten zum Vertragsarzt wird wesentlich bestimmt von Elementen persönlichen Vertrauens<br />

<strong>und</strong> einer der Bestimmung durch die Krankenkassen entzogenen Gestaltungsfreiheit: Nach § 76 Abs. 1 Satz 1<br />

SGB V können die Versicherten unter den zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Ärzten (<strong>und</strong> anderen<br />

10


Leistungserbringern) frei wählen. Sowohl der Gegenstand als auch die Form <strong>und</strong> die Dauer der Behandlung sind<br />

einem bestimmenden Einfluss der Krankenkasse entzogen <strong>und</strong> ergeben sich allein in dem jeweiligen persönlich geprägten<br />

Verhältnis zwischen Patient <strong>und</strong> Vertragsarzt. In diesem Verhältnis steht der Gesichtspunkt der individuell<br />

geprägten, auf Vertrauen sowie freier Auswahl <strong>und</strong> Gestaltung beruhenden persönlichen Beziehung in einem solchen<br />

Maß im Vordergr<strong>und</strong>, dass weder aus der subjektiven Sicht der Beteiligten noch nach objektiven Gesichtspunkten<br />

die Einbindung des Vertragsarztes in das System öffentlicher, staatlich gelenkter Daseinsfürsorge überwiegt <strong>und</strong> die<br />

vertragsärztliche Tätigkeit den Charakter einer hoheitlich gesteuerten Verwaltungsausübung gewinnt.<br />

cc) Auch die Regelungen über die Ausstellung einer vertragsärztlichen Verordnung von Arznei-, Heil- oder Hilfsmitteln<br />

rechtfertigen nicht die Annahme, der Vertragsarzt handle insoweit in Ausführung öffentlicher Verwaltung. Die<br />

Verordnung konkretisiert zwar die gesetzlichen Leistungsansprüche der Versicherten auf Sachleistungen (§ 2 Abs. 2<br />

Satz 1 SGB V); sie ist aber untrennbarer Bestandteil der ärztlichen Behandlung <strong>und</strong> vollzieht sich innerhalb des<br />

personal geprägten Vertrauensverhältnisses zwischen der versicherten Person <strong>und</strong> dem von ihr gewählten Vertragsarzt;<br />

sie ist vom Arzt an seiner aus § 1 BÄO folgen-den Verpflichtung auszurichten, ohne dass die gesetzliche Krankenkasse<br />

hier-auf einwirken könnte (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 1993 – 4 RK 5/92, BSGE 73, 271, 282).<br />

c) Dass der Vertragsarzt keine Aufgabe öffentlicher Verwaltung wahrnimmt, entspricht im Übrigen auch der zivilrechtlichen<br />

Betrachtungsweise. Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat in Zivilsachen mehrfach hervorgehoben, dass – von wenigen<br />

Ausnahmen abgesehen – die ärztliche Heilbehandlung ihrem Gr<strong>und</strong>gedanken nach mit der Ausübung eines<br />

öffentlichen Amts unvereinbar sei. Zwischen dem Vertragsarzt <strong>und</strong> dem Patienten kommt ein zivilrechtliches Behandlungsverhältnis<br />

zustande. Im Fall der Schlechterfüllung des Behandlungsvertrags haftet der Arzt nicht nach<br />

Amtshaftungsgr<strong>und</strong>sätzen (BGH, Urteil vom 19. Dezember 1960 – III ZR 185/60, VersR 1961, 225, 226; Urteil vom<br />

9. Dezember 1974 – III ZR 131/72, BGHZ 63, 265, 270; Urteil vom 28. Juni 1994 – VI ZR 153/93, BGHZ 126, 297,<br />

301 f.; vgl. auch Geigel, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 14 Rn. 211; Kap. 28 Rn. 130). Dass dieses bürgerlich-rechtliche<br />

Rechtsverhältnis von den Vorschriften des Sozialversicherungsrechts überlagert wird, ändert daran<br />

nichts.<br />

d) Da es der vertragsärztlichen Tätigkeit in ihrer konkreten Gestalt <strong>und</strong> Ausprägung somit – unbeschadet des Umstands,<br />

dass das Vertragsarztsystem insgesamt eine öffentliche Aufgabe erfüllt – schon am Charakter der Wahrnehmung<br />

einer Aufgabe öffentlicher Verwaltung mangelt, kommt es auf die Frage einer formellen oder konkludenten<br />

„Bestellung“ im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c <strong>StGB</strong> nicht entscheidend an. Insoweit ist nur ergänzend auszuführen:<br />

Nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs setzt eine Bestellung im Sinne der genannten Vorschrift<br />

keinen förmlichen Bestellungsakt voraus (BGH, Urteile vom 15. Mai 1997 – 1 StR 233/96, BGHSt 43, 96, 102 f.;<br />

vom 9. Juli 2009 – 5 StR 263/08, BGHSt 54, 39, 43). Die Zulassung eines Arztes zur vertragsärztlichen Versorgung<br />

(§ 95 SGB V) ist aber schon deshalb keine Bestellung im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c <strong>StGB</strong>, weil es insoweit<br />

an einer der Krankenkasse unmittelbar zurechenbaren Entscheidung fehlt (vgl. § 96 Abs. 1, 2 SGB V). Im Übrigen<br />

kann nicht jede Zulassung oder Hinzuziehung zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben als Bestellung angesehen<br />

werden (vgl. BGH, Urteil vom 21. August 1996 – 2 StR 234/96, BGHSt 42, 230, 232); vielmehr kann der Begriff nur<br />

mit Blick auf den Charakter der Aufgabe bestimmt werden, zu deren Erfüllung die Privatperson herangezogen wird.<br />

IV. Der gemäß § 95 SGB V zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Arzt handelt bei der Verordnung von<br />

Medikamenten auch nicht als Beauftragter eines geschäftlichen Betriebes (§ 299 Abs. 1 <strong>StGB</strong>).<br />

1. Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat die Frage, ob eine gesetzliche Krankenkasse die Merkmale eines geschäftlichen Betriebes<br />

im Sinne von § 299 Abs. 1 <strong>StGB</strong> erfüllt, bislang noch nicht entschieden (vgl. aber – bejahend zu § 12 UWG –<br />

RG, Urteil vom 16. April 1935 – 4 D 1189/34, JW 1935, 1861 für eine Allgemeine Ortskrankenkasse). Dafür spricht,<br />

dass der geschäftliche Betrieb zwar daraufhin angelegt sein muss, dauerhaft am Wirtschaftsleben teilzunehmen, im<br />

Unterschied zum Gewerbebetrieb aber nicht darauf, Gewinn zu erzielen (BGH, Urteil vom 13. Mai 1952 – 1 StR<br />

670/51, BGHSt 2, 396, 401 f. zu § 12 UWG). Deshalb können gr<strong>und</strong>sätzlich zum Kreis der geschäftlichen Betriebe<br />

neben gemeinnützigen <strong>und</strong> sozialen Einrichtungen auch – unabhängig von ihrer Organisationsform <strong>und</strong> davon, ob sie<br />

öffentliche Aufgaben wahrnehmen – staatliche Stellen zählen, sofern sie durch den Austausch von Leistung <strong>und</strong><br />

Gegenleistung am Wirtschaftsleben teilnehmen (BGH, Urteil vom 13. Mai 1952 aaO, S. 403; Münch-<br />

Komm<strong>StGB</strong>/Diemer/Krick, § 299 Rn. 7; NK-<strong>StGB</strong>/ Dannecker, 3. Aufl., § 299 Rn. 24).<br />

2. Auf die Entscheidung dieser Frage kommt es hier aber letztlich nicht an, da der Vertragsarzt bei der Verordnung<br />

von Arzneimitteln jedenfalls nicht als Beauftragter der Krankenkassen handelt.<br />

a) Beauftragter im Sinne des § 299 <strong>StGB</strong> ist, wer, ohne Angestellter oder Inhaber eines Betriebes zu sein, auf Gr<strong>und</strong><br />

seiner Stellung im Betrieb berechtigt <strong>und</strong> verpflichtet ist, auf Entscheidungen dieses Betriebes, die den Waren- oder<br />

Leistungsaustausch betreffen, unmittelbar oder mittelbar Einfluss zu nehmen (BGH, Urteil vom 13. Mai 1952 – 1StR<br />

670/51, BGHSt 2, 396, 402; Kühl, <strong>StGB</strong>, 27. Aufl., § 299 Rn. 2; MünchKomm<strong>StGB</strong>/Diemer/Krick, § 299 Rn. 5;<br />

11


LK-<strong>StGB</strong>/ Tiedemann, 12. Aufl., § 299 Rn. 16; SSW-<strong>StGB</strong>/Rosenau, § 299 Rn. 9; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 299<br />

Rn. 10; NK-<strong>StGB</strong>/Dannecker, 3. Aufl., § 299 Rn. 22). Ob dem Verhältnis des Beauftragten zu dem jeweiligen geschäftlichen<br />

Betrieb eine Rechtsbeziehung zu Gr<strong>und</strong>e liegt oder dieser lediglich durch seine faktische Stellung im<br />

oder zum Betrieb in der Lage ist, Einfluss auf geschäftliche Entscheidungen auszuüben, ist unerheblich (vgl. nur<br />

Rosenau, Diemer/Krick <strong>und</strong> Dannecker, jeweils aaO). Schon vom Wortsinn her ist dem Begriff des Beauftragten die<br />

Übernahme einer Aufgabe im Interesse des Auftraggebers immanent, der sich den Beauftragten frei auswählt <strong>und</strong> ihn<br />

bei der Ausübung seiner Tätigkeit anleitet, sei es, dass er ihm im Rahmen eines zivilrechtlichen Auftrags- oder Geschäftsbesorgungsvertrags<br />

(§§ 665, 675 BGB) Weisungen erteilt (vgl. dazu Dannecker <strong>und</strong> Tiedemann, jeweils aaO)<br />

oder ihn bevollmächtigt (vgl. RG, Urteil vom 29. Januar 1934 – 2 D 1293/33, RGSt 68, 70, 74 f.), sei es, dass der<br />

Beauftragte faktisch mit einer für den geschäftlichen Betrieb wirkenden Befugnis handelt (zu einem solchen faktisch<br />

wirkenden „personalen Befugniselement“ vgl. Geis, wistra 2005, 369, 370; ders., wistra 2007, 361, 362; Reese,<br />

PharmR 2006, 92, 97; Schmidl, wistra 2006, 286, 287).<br />

b) Gemessen daran fehlt es dem nach § 95 SGB V zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Arzt bei seiner<br />

Verordnungstätigkeit im Ergebnis an der Beauftragteneigenschaft.<br />

aa) Einer Annahme der Beauftragtenstellung steht allerdings nicht schon entgegen, dass die gesetzlichen Krankenkassen<br />

zu den Vertragsärzten – von Ausnahmefällen abgesehen (vgl. dazu §§ 73b Abs. 4, 73c Abs. 3, 140b Abs. 1<br />

SGB V) – keine unmittelbaren Rechtsbeziehungen aufnehmen dürfen <strong>und</strong> die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung<br />

(§ 95 SGB V) keine Entscheidung der Krankenkassen ist, sondern der Verwaltungsakt eines rechtlich <strong>und</strong><br />

organisatorisch selbständigen, mit eigenen Wahrnehmungszuständigkeiten ausgestatteten Selbstverwaltungsorgans in<br />

Gestalt des Zulassungsausschusses. Ebenso wenig hindert der Umstand, dass der Vertragsarzt einen freien Beruf<br />

ausübt <strong>und</strong> in diesem Zusammenhang regelmäßig Inhaber einer eigenen ärztlichen Praxis <strong>und</strong> damit eines Betriebes<br />

im Sinne von § 299 <strong>StGB</strong> ist, die Anwendbarkeit dieser Strafvorschrift (so aber Bernsmann/Schoß, GesR 2005, 193,<br />

195 f.; Brockhaus/Dann/Teubner/Tsambikakis, wistra 2010, 418, 421; Klötzer, NStZ 2008, 12, 14; Reese, PharmR<br />

2006, 92, 97; Sobotta, GesR 2010, 471, 474; Taschke, StV 2005, 406, 410). Für einen Beauftragten ist die fehlende<br />

Einordnung in den geschäftlichen Betrieb auf der Gr<strong>und</strong>lage der Ausübung einer eigenen geschäftlichen oder freiberuflichen<br />

Tätigkeit sogar typisch (LK-<strong>StGB</strong>/ Tiedemann, 12. Aufl., § 299 Rn. 16). Was die Strafbarkeit des Betriebsinhabers<br />

angeht, ist nur die Vorteilsnahme bezüglich seines eigenen Betriebs vom Anwendungsbereich des § 299<br />

<strong>StGB</strong> ausgenommen (Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 299 Rn. 10c).<br />

bb) Jedoch legt die Stellung des Vertragsarztes im System der gesetzlichen Krankenversicherung die Annahme nicht<br />

nahe, er handele bei der Verordnung eines Arzneimittels als Beauftragter der gesetzlichen Krankenkassen. Gemäß §<br />

72 Abs. 1 Satz 1 SGB V wirken die Leistungserbringer, also auch die Vertragsärzte, mit den Krankenkassen zur<br />

Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung zusammen; gemäß § 72 Abs. 2 Satz 1 SGB V ist diese Versorgung<br />

durch Vereinbarungen zwischen den kassenärztlichen Vereinigungen <strong>und</strong> den Verbänden der Krankenkassen so zu<br />

regeln, dass eine ausreichende, zweckmäßige <strong>und</strong> wirtschaftliche Versorgung der Versicherten gewährleistet ist <strong>und</strong><br />

die ärztlichen Leistungen angemessen vergütet werden. Das in den nachfolgenden Vorschriften des SGB V im Einzelnen<br />

ausgestaltete System der Selbstverwaltung bezweckt die Sicherstellung der ärztlichen Behandlung der gesetzlich<br />

Versicherten vor dem Hintergr<strong>und</strong> eines prinzipiellen Interessengegensatzes zwischen den an dieser Versorgung<br />

Beteiligten (Sproll in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, 70. Lfg., SGB V, § 72 Rn. 2). Da der Ausgleich<br />

dieser in § 72 Abs. 2 Satz 1 SGB V gekennzeichneten gegenläufigen Interessen vom Gesetzgeber der kollektivvertraglichen<br />

Normsetzung <strong>und</strong> vertraglichen Regelungen zwischen den Vertragsärzten <strong>und</strong> ihren Vertretungen, den<br />

kassenärztlichen Vereinigungen, einerseits <strong>und</strong> den Krankenkassen andererseits im Rahmen eines Systems der<br />

Selbstverwaltung überantwortet worden ist (vgl. Sproll aaO), begegnen sich die an der ärztlichen Versorgung Beteiligten<br />

in kooperativem Zusammenwirken (vgl. Taschke, StV 2005, 406, 409) <strong>und</strong> da-mit notwendig auf einer Ebene<br />

der Gleichordnung. Schon dieses gesetzlich vorgegebene Konzept gleichgeordneten Zusammenwirkens steht der<br />

Annahme einer Beauftragung des Vertragsarztes durch die gesetzlichen Krankenkassen entgegen. Es kommt hinzu,<br />

dass die gesetzliche Krankenkasse keinerlei <strong>und</strong> der Vertragsarzt nur in geringem Maße Einfluss auf das Zustandekommen<br />

des einzelnen Behandlungsverhältnisses nehmen kann, auf dessen Gr<strong>und</strong>lage sich die ärztliche Verordnung<br />

eines Arzneimittels zu Lasten der Krankenkasse vollzieht. Vielmehr liegt diese Entscheidung beim Patienten, der<br />

gemäß § 76 SGB V seinen Vertragsarzt frei wählen kann. Den gewählten Arzt hat die Krankenkasse zu akzeptieren.<br />

Dieser wird vom Versicherten als „sein“ Arzt wahrgenommen, den er beauftragt hat <strong>und</strong> dem er sein Vertrauen<br />

schenkt. Auch aus objektiver Sicht wird der Vertragsarzt – wie bereits dargelegt – bei wertender Betrachtung in<br />

erster Linie in dessen Interesse tätig.<br />

cc) Dass die Entscheidungen des Vertragsarztes bei der Verordnung von Medikamenten <strong>und</strong> Hilfsmitteln auch Relevanz<br />

für die gesetzlichen Krankenkassen haben, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Vielmehr führt eine sach-<br />

12


gerechte Bewertung der ärztlichen Verordnung vor dem Hintergr<strong>und</strong> des sozial-rechtlichen Regelungsgefüges ebenfalls<br />

zu dem Ergebnis, dass der Vertrags-arzt nicht als Beauftragter der Krankenkassen anzusehen ist. Insoweit gilt<br />

Folgendes:<br />

(1) Nach der neueren Rechtsprechung des B<strong>und</strong>essozialgerichts erwirbt der Apotheker, der die kassenärztliche Verordnung<br />

des Vertragsarztes durch Abgabe eines Arzneimittels an den Versicherten ausführt, einen unmittelbaren<br />

Vergütungsanspruch aus Vorschriften des öffentlichen Rechts. Rechtsgr<strong>und</strong>lage ist insoweit § 129 SGB V i.V.m. den<br />

nach § 129 Abs. 2 <strong>und</strong> Abs. 5 Satz 1 SGB V abgeschlossenen Verträgen (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 3<br />

KR 13/08 – R, BSGE 105, 157, Tz. 15 f.). Gemäß § 129 SGB V geben die Apotheken nach Maßgabe der ergänzenden<br />

Rahmenvereinbarungen <strong>und</strong> Landesverträge (vgl. dazu § 129 Abs. 2, 5 Satz 1 SGB V) vertragsärztlich verordnete<br />

Arzneimittel an Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung ab. § 129 SGB V begründet somit im Zusammenspiel<br />

mit den konkretisierenden vertraglichen Vereinbarungen eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung <strong>und</strong> Berechtigung<br />

für die Apotheken zur Abgabe von vertragsärztlich verordneten Arzneimitteln an die Versicherten. Im<br />

Gegenzug erwerben die Apotheken dabei einen durch öffentlich-rechtliche Vorschriften näher ausgestalteten gesetzlichen<br />

Anspruch auf Vergütung gegen die Krankenkassen, der in § 129 SGB V als selbstverständlich vorausgesetzt<br />

wird (BSG aaO, Tz. 16). Der Vertragsarzt wird danach nicht als Vertreter der Krankenkasse beim Zustandekommen<br />

jedes einzelnen Kaufvertrages über ein verordnetes Medikament tätig. Ob eine solche Vertreterstellung (vgl. dazu<br />

BGH, Beschluss vom 25. November 2003 – 4 StR 239/03, BGHSt 49, 17, 19; BSG, Urteil vom 16. Dezember 1993<br />

– 4 RK 5/92, BSGE 73, 271, 278) als tauglicher Anknüpfungspunkt für die Eigenschaft des Vertragsarztes als Beauftragter<br />

der gesetzlichen Krankenkassen in Betracht kommt (so OLG Braunschweig, Beschluss vom 23. Februar 2010<br />

– Ws 17/10, NStZ 2010, 392; ebenso Pragal, Die Korruption innerhalb des privaten Sektors <strong>und</strong> ihre strafrechtliche<br />

Kontrolle durch § 299 <strong>StGB</strong>, 2006, S. 165 ff.; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 299 Rn. 10b ff.; LK-<strong>StGB</strong>/Tiedemann, 12.<br />

Aufl., § 299 Rn. 18; NK-<strong>StGB</strong>/Dannecker, § 299 Rn. 23c; einschränkend: Schuhr, NStZ 2012, 11, 14; a.A.: Bernsmann/Schoß,<br />

GesR 2005, 193, 195 f.; Geis, wistra 2005, 369; ders. GesR 2006, 345, 347; ders. wistra 2007, 361;<br />

Klötzer, NStZ 2008, 12; Kölbel, wistra 2009, 129, 132; Reese, PharmR 2006, 92, 96 ff.; Sahan, ZIS 2007, 69;<br />

Taschke, StV 2005, 406, 410 f.; Tsambikakis, JR 2011, 538, 540 f.), bedarf daher keiner Entscheidung.<br />

(2) Die Rechtsmacht des Vertragsarztes zur Konkretisierung des Anspruchs des gesetzlich Versicherten ist ferner<br />

dahin eingeschränkt, dass er (lediglich) die medizinischen Voraussetzungen des Eintritts des Versicherungsfalles der<br />

Krankheit mit Wirkung für den Versicherten <strong>und</strong> die Krankenkasse verbindlich feststellt. Gr<strong>und</strong>lage dafür ist die aus<br />

dem jeweiligen Behandlungsverhältnis erwachsene medizinische Diagnose <strong>und</strong> die daraufhin von ihm festgesetzte,<br />

im Einzelfall erforderliche Behandlung (vgl. nur BSG, Urteil vom 16. Dezember 1993 – 4 RK 5/92, BSGE 73, 271,<br />

282; dazu Geis, GesR 2006, 345, 350; zusammenfassend: Klötzer, NStZ 2008, 12, 15; ähnlich SSW-<strong>StGB</strong>/ Rosenau,<br />

§ 299 Rn. 11). Das Gesetz bringt die mit einer Medikamentenverordnung verb<strong>und</strong>ene Rechtsfolge in diesem Zusammenhang<br />

durch die Formulierung zum Ausdruck, sie gehe „zu Lasten“ der Krankenkasse (vgl. etwa § 130a Abs.<br />

1 Satz 1 SGB V); die sie treffende Leistungspflicht hat danach die einem Reflex vergleichbare Wirkung. Über die<br />

Konkretisierung <strong>und</strong> die Reichweite dieser die Krankenversicherung treffende Leistungspflicht kann der Vertragsarzt<br />

auch nicht abschließend <strong>und</strong> alleinverantwortlich entscheiden. Die Grenzen sind vielmehr bereits durch abstraktgenerelle<br />

Regelungen allgemein festgelegt. Gemäß § 92 SGB V beschließt der Gemeinsame B<strong>und</strong>esausschuss zur<br />

Sicherung der ärztlichen Versorgung die erforderlichen Richtlinien. Diese beschreiben auch den Umfang der Arzneimittelleistungen<br />

im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung (Sproll in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung,<br />

68. Lfg., § 92 Rn. 35). Schon damit ist der Katalog der für eine Verordnung durch den Vertragsarzt in Betracht<br />

kommenden Medikamente vorgegeben (i. E. ebenso SSW-<strong>StGB</strong>/Rosenau, § 299 Rn. 11).<br />

(3) Es kommt hinzu, dass es in vielen Fällen der vertragsärztlichen Verordnung letztlich der sie entgegennehmenden<br />

Apotheke obliegt, das abzugebende Arzneimittel auszuwählen. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn der Arzt das<br />

Medikament nur unter seiner Wirkstoffbezeichnung verordnet, sondern auch dann, wenn er ein bestimmtes Arzneimittel<br />

bezeichnet, die Ersetzung durch ein wirkstoffgleiches aber nicht ausdrücklich ausschließt. Seit dem Inkrafttreten<br />

des Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetzes (AABG) vom 15. Februar 2002 (BGBl I S. 684) ist nämlich die<br />

aut-idem-Substitution, die dem Apotheker die Abgabe eines wirkstoffgleichen, aber preisgünstigeren Medikaments<br />

ermöglicht, zum Regelfall geworden, den der Arzt aktiv ausschließen muss <strong>und</strong> gegebenenfalls gesondert zu begründen<br />

hat (§ 73 Abs. 5 SGB V; vgl. dazu BTDrucks. 14/7144, S. 5; dazu Adolf in jurisPK-SGB V, § 73 Rn. 105; Wigge,<br />

PharmR 2002, 2 ff.; Hofmann/Nickel, SGb 2002, 425 ff.). Darüber hinaus legt § 129 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB V<br />

dem Apotheker zusätzlich die Verpflichtung auf, dem Versicherten preisgünstige importierte Arzneimittel auszuhändigen,<br />

wenn die Preisersparnis gegenüber dem Bezugsarzneimittel eine bestimmte Schwelle überschreitet. § 129<br />

Abs. 1 Satz 2 bis 4 so-wie Abs. 1a SGB V enthalten weitere Bestimmungen über die Pflicht des Apothekers zur<br />

Ersetzung des vom Arzt verordneten Arzneimittels. Satz 3 <strong>und</strong> 4 der Vorschrift erweitern die Möglichkeiten, den<br />

13


Apotheker zur Ersetzung eines ärztlich verordneten Arzneimittels zu verpflichten, indem die Ersetzung ausdrücklich<br />

als möglicher Gegenstand eines Vertrags zwischen Krankenkassen <strong>und</strong> Apotheken nach Abs. 5 genannt wird <strong>und</strong> im<br />

Übrigen eine Ersetzung durch solche Arzneimittel angeordnet wird, für die der jeweilige pharmazeutische Unternehmer<br />

eine Rabattvereinbarung nach § 130a Abs. 8 SGB V geschlossen hat (Einzelheiten bei Hess in Kasseler<br />

Kommentar-SGB V, 71. Lfg., § 129 Rn. 4 ff.; Schneider in jurisPK-SGB V, § 129 Rn. 4 ff.).<br />

dd) Auch die rechtlichen Bindungen, die sich für den Vertragsarzt aus der Pflicht zur Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes<br />

ergeben, machen ihn nicht zum Beauftragten im Sinne des § 299 <strong>StGB</strong>. Allerdings steht die Behandlung<br />

des Versicherten durch den Vertragsarzt einschließlich der Verordnung von Arzneimitteln (auch) unter dem Gebot<br />

der Wirtschaftlichkeit (§§ 70 Abs. 1 Satz 2, 72 Abs. 2 SGB V), dem ein hoher Stellenwert zuzumessen ist (BSG,<br />

Urteil vom 28. April 2004 – B 6 KA 24/03 R, MedR 2004, 577, 578 mwN). Gemäß § 12 Abs. 1 SGB V dürfen die<br />

Leistungen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten, gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 SGB V dürfen die Leistungserbringer<br />

keine nicht notwendigen oder unwirtschaftlichen Leistungen erbringen. Dass der Vertragsarzt bei der Verordnung<br />

von Medikamenten auch auf die wirtschaftlichen Belange der Krankenkassen Bedacht zu nehmen hat, ändert<br />

aber nichts daran, dass die ärztliche Behandlung, in die sich die Verordnung von Arzneimitteln einfügt, in erster<br />

Linie im Interesse des Patienten <strong>und</strong> in seinem Auftrag erfolgt. Bei der erforderlichen wertenden Gesamtbetrachtung<br />

steht diese Bindung an den Patienten im Vordergr<strong>und</strong>. Von daher kann die Verpflichtung auf das Wirtschaftlichkeitsgebot<br />

nicht bewirken, dass der Arzt aus dem Auftragsverhältnis zu dem Patienten gleichsam herausgebrochen<br />

<strong>und</strong> zum Beauftragten der Krankenkasse wird. Mithin stehen dem dieselben Gründe entgegen, die auch dagegen<br />

sprechen, den Vertragsarzt als Amtsträger der Krankenkasse im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c <strong>StGB</strong> zu qualifizieren.<br />

Gemäß § 106 Abs. 1 SGB V trifft den Vertragsarzt die Pflicht zur Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Versorgung<br />

auch nicht unmittelbar im Verhältnis zu den gesetzlichen Krankenkassen. Die Überwachung der Wirtschaftlichkeit<br />

der Verordnung von Arzneimitteln obliegt insoweit gleichermaßen den kassenärztlichen Vereinigungen, die<br />

zu diesem Zweck gemeinsam mit den Krankenkassen (vgl. § 72 Abs. 1 Satz 1 SGB V) Prüfungsstellen <strong>und</strong> Beschwerdeausschüsse<br />

errichtet haben (§ 106 Abs. 4 SGB V). Danach können die gesetzlichen Krankenkassen nicht in<br />

eigener Verantwortung darüber entscheiden, ob die Einrede der Unwirtschaftlichkeit, der Nichterforderlichkeit oder<br />

der Unzweckmäßigkeit einer vertragsärztlichen Medikamentenverordnung berechtigt ist; sie sind insoweit auf die in<br />

§ 106a Abs. 3, 4, § 106 Abs. 4 SGB V geregelten Befugnisse beschränkt, im Einzelfall unter Einschaltung der kassenärztlichen<br />

Vereinigung Wirtschaftlichkeitsprüfungen durch eine Prüfungsstelle zu beantragen.<br />

3. Da nach alledem der Vertragsarzt bei der Verordnung von Medikamenten nicht Beauftragter im Sinne des § 299<br />

<strong>StGB</strong> ist, kann dahin gestellt bleiben, ob die Anwendbarkeit des § 299 <strong>StGB</strong> auf Fälle der vorliegenden Art auch aus<br />

den weiteren, im Schrifttum angeführten Gründen ausgeschlossen ist (eingehend dazu etwa LK-<strong>StGB</strong>/Tiedemann,<br />

12. Aufl., § 299 Rn. 32 mwN).<br />

4. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> der seit längerem im strafrechtlichen Schrifttum geführten Diskussion sowie im Hinblick<br />

auf gesetzgeberische Initiativen (vgl. dazu etwa BTDrucks. 17/3685) zur Bekämpfung korruptiven Verhaltens im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen verkennt der Große Senat für Strafsachen nicht die gr<strong>und</strong>sätzliche Berechtigung des Anliegens,<br />

Missständen, die – allem Anschein nach – gravierende finanzielle Belastungen des Ges<strong>und</strong>heitssystems zur Folge<br />

haben, mit Mitteln des Strafrechts effektiv entgegenzutreten. Die Anwendung bestehender Strafvorschriften, deren<br />

Tatbestandsstruktur <strong>und</strong> Wertungen der Erfassung bestimmter Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Erbringung<br />

von Ges<strong>und</strong>heitsleistungen nach den Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung als strafrechtlich<br />

relevant entgegenstehen, auf der Gr<strong>und</strong>lage allein dem Gesetzgeber vorbehaltener Strafwürdigkeitserwägungen ist<br />

der Rechtsprechung jedoch versagt.<br />

14


<strong>StGB</strong> § 13 Abs. 1, § 323c Garantenpflicht Vorgesetzter für Untergebene<br />

BGH, Urt. v. 20.10.2011 - 4 StR 71/11 - NJW 2012, 1237 = NStZ 2012, 142 = wistra 2012,<br />

LS: Aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter kann sich eine Garantenpflicht zur<br />

Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben. Diese beschränkt sich indes –<br />

unabhängig von den tatsächlichen Umständen, die im Einzelfall für die Begründung der Garantenstellung<br />

maßgebend sind – auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten <strong>und</strong> umfasst nicht<br />

solche Taten, die der Mitarbeiter lediglich bei Gelegenheit seiner Tätigkeit im Betrieb begeht.<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Siegen vom 8. Juli 2010 mit den zugehörigen<br />

Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte M. in den Fällen III.1, III.9 <strong>und</strong> III.16 der Urteilsgründe<br />

freigesprochen worden ist.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung <strong>und</strong> zur Nötigung<br />

in zehn Fällen freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer Revision, die sie wirksam beschränkt<br />

hat <strong>und</strong> die sie auf die Verletzung materiellen Rechts stützt, gegen die Freisprüche in den Fällen III.1, III.9<br />

<strong>und</strong> III.16 der Urteilsgründe. In diesem Umfang hat das Rechtsmittel, das vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertreten wird,<br />

Erfolg.<br />

I. Das Landgericht hat folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen: Der Angeklagte war in der Straßenbauabteilung<br />

der Stadt H. beschäftigt. Nach deren Zusammenlegung mit der Grünflächenabteilung der Stadt im städtischen<br />

Bauhof im Frühsommer 2006 war er Vorarbeiter einer Kolonne, der außer ihm die Mitangeklagten S. , K. <strong>und</strong> B.<br />

angehörten. Zwischen Februar 2006 <strong>und</strong> Juli 2008 wurde der ebenfalls beim städtischen Bauhof angestellte, aber in<br />

einer anderen Kolonne tätige Geschädigte D. während der Arbeitszeit wiederholt Opfer demütigender körperlicher<br />

Übergriffe von Seiten der Mitangeklagten, die hierfür bisweilen auch Knüppel, Ketten oder andere Werkzeuge verwendeten.<br />

Unter anderem kam es zu folgenden Vorfällen: Am 22. Februar 2006 drängten die Mitangeklagten den<br />

Geschädigten D. in eine Friedhofskapelle. Die Mitangeklagten K. <strong>und</strong> B. hielten den Geschädigten an den Armen<br />

fest, während der Mitangeklagte S. ihm mit einem Holzknüppel mehrere wuchtige Schläge gegen den Oberkörper<br />

versetzte. Nach einem Positionstausch zwischen den Mitangeklagten S. <strong>und</strong> K. schlug dieser ebenfalls mehrfach auf<br />

den Geschädigten ein. Sodann ließen die Mitangeklagten den Geschädigten, der eine Rippenfraktur erlitten hatte <strong>und</strong><br />

wegen der starken Schmerzen mehrere St<strong>und</strong>en nicht bewegungsfähig war, in der Kapelle zurück <strong>und</strong> entfernten sich<br />

(Fall III.1). Anfang 2008 forderten die Mitangeklagten S. <strong>und</strong> K. einem gemeinsamen Tatplan entsprechend den<br />

Geschädigten auf, sich einen vermeintlichen Schaden an einem der zum Bauhof gehörenden Fahrzeuge anzuschauen,<br />

packten ihn, als er sich dem Fahrzeug genähert hatte, von hinten <strong>und</strong> stießen seinen Kopf heftig auf die Motorhaube<br />

(Fall III.9). Im Frühjahr 2008 erhielt der Geschädigte D., weil er sich für eine berufliche Fortbildung angemeldet<br />

hatte, beim Beladen eines Fahrzeugs Schläge zunächst vom Mitangeklagten S. , sodann vom Mitangeklagten K. (Fall<br />

III.16). Das Landgericht ist zwar zu dem Ergebnis gekommen, dass der Angeklagte bei diesen drei Taten anwesend<br />

war; eine ihm mit der Anklageschrift zur Last gelegte aktive Tatbeteiligung in Form psychischer Unterstützung hat<br />

es jedoch nicht festgestellt. An einer Verurteilung wegen einer durch Unterlassen begangenen Beihilfe hat es sich<br />

gehindert gesehen, weil es eine Garantenstellung des Angeklagten verneint hat. Eine Strafbarkeit nach anderen Vorschriften<br />

hat das Landgericht nicht erörtert.<br />

II. Der Freispruch hält rechtlicher Prüfung nicht stand.<br />

1. Allerdings hat das Landgericht entgegen der Auffassung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts die Strafbarkeit wegen eines<br />

unechten Unterlassungsdeliktes zu Recht abgelehnt. Die dafür erforderliche Garantenstellung im Sinne einer besonderen<br />

Pflichtenstellung, die über die für jedermann geltende Handlungspflicht hinausgeht (BGH, Urteil vom 19.<br />

April 2000 – 3 StR 442/99, NJW 2000, 2754), hatte der Angeklagte nach den insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen<br />

Feststellungen nicht.<br />

a) Eine solche Garantenstellung ergibt sich zum einen nicht aus einer dem Angeklagten von seiner Arbeitgeberin, der<br />

Stadt H., übertragenen Pflicht zum Schutz der Rechtsgüter des Geschädigten vor Angriffen durch Dritte. Dabei kann<br />

dahinstehen, ob die Stadt H. eine solche Schutzpflicht – etwa aus § 618 BGB (vgl. Senatsurteil vom 25. Juni 2009 –<br />

4 StR 610/08, BGHR <strong>StGB</strong> § 222 Pflichtverletzung 9) – überhaupt traf <strong>und</strong> welche konkreten Vorgesetztenpflichten<br />

sich ferner aus dem Arbeitsvertrag des Angeklagten mit der Stadt H. ergaben. Selbst wenn hier eine solche – gr<strong>und</strong>-<br />

15


sätzlich mögliche (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 2009 – 5 StR 394/08, BGHSt 54, 44, 48 f.; Weigend in LK-<strong>StGB</strong>,<br />

12. Aufl., § 13, Rn. 60; Rogall, ZStW 98, 573, 619) – arbeitsvertragliche Übertragung einer Schutzpflicht im Interesse<br />

nachgeordneter Mitarbeiter anzunehmen sein sollte, würde sich diese jedenfalls nicht auf den Geschädigten erstreckt<br />

haben. Dieser befand sich zu keinem der Tatzeitpunkte innerhalb des personellen Verantwortungsbereichs des<br />

Angeklagten. Nach den Feststellungen der Strafkammer war der Angeklagte weder der planmäßige Vorgesetzte des<br />

Geschädigten, noch war der Geschädigte ihm <strong>und</strong> der von ihm geführten Kolonne aus anderen Gründen, etwa vertretungsweise,<br />

zugeordnet.<br />

b) Ebenso wenig ergibt sich eine Garantenstellung aus einer der Stadt H. obliegenden <strong>und</strong> vom Angeklagten im<br />

Rahmen des Arbeitsverhältnisses übernommenen Pflicht zur Überwachung der Mitangeklagten S., K. <strong>und</strong> B. mit<br />

dem Ziel, von diesen ausgehende Straftaten zum Nachteil des Geschädigten zu verhindern.<br />

aa) Zwar kann sich aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter je nach den Umständen des einzelnen<br />

Falles eine Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben. Diese beschränkt<br />

sich indes auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten <strong>und</strong> umfasst nicht solche Taten, die der Mitarbeiter<br />

lediglich bei Gelegenheit seiner Tätigkeit im Betrieb begeht (vgl. RGSt 58, 130; BGH, Urteil vom 17. Juli 2009 – 5<br />

StR 394/08, BGHSt 54, 44 mit Besprechung Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 918; vgl. auch BGH, Urteil vom 6. Juli<br />

1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106; OLG Karlsruhe, GA 1971, 281; Weigend, aaO, § 13, Rn. 56; Stree/Bosch in<br />

Schönke/Schröder, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 13, Rn. 53; Lackner/Kühl, <strong>StGB</strong>, 27. Aufl., § 13, Rn. 14; Wohlers in Kindhäuser/Neumann/Paeffgen,<br />

<strong>StGB</strong>, 3. Aufl., § 13, Rn. 53; Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 13, Rn. 37 f.; Roxin, Strafrecht AT<br />

II, § 32 Rn. 134 ff; Schünemann, wistra 1982, 41; Schall, FS Rudolphi, S. 267; Rogall, ZStW 98, 573, 618; Tiedemann,<br />

Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl., Rn. 183 ff.; gegen eine Garantenstellung des Geschäftsherrn wegen des Gr<strong>und</strong>satzes<br />

der Eigenverantwortlichkeit SK-Rudolphi, <strong>StGB</strong>, § 13, Rn. 32 ff.; Otto, Jura 1998, 409, 413; Heine, Die strafrechtliche<br />

Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, S. 116 ff.). Betriebsbezogen ist eine Tat dann, wenn sie einen<br />

inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Begehungstäters oder mit der Art des Betriebes aufweist<br />

(vgl. Spring, Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung, 2009, S. 137, mwN; Roxin, aaO, Rn. 141; Weigend, aaO;<br />

enger Rogall, aaO, S. 618 f.; Schünemann, aaO S. 45). Die Beschränkung der Garantenhaftung des Betriebsinhabers<br />

auf betriebsbezogene Taten ist unabhängig davon geboten, welche tatsächlichen Umstände für die Begründung der<br />

Garantenstellung im Einzelfall maßgebend sind (vgl. Schünemann, aaO S. 45; Rogall, aaO, 616; [Autoritätsstellung];<br />

Roxin, aaO, § 32, Rn. 137; Schall, aaO, S. 277 ff.; Weigend, aaO; Stree/Bosch, aaO [Herrschaft über den Betrieb als<br />

Gefahrenquelle]; zur Begründung der Garantenstellung des Geschäftsherrn i.Ü. vgl. Spring, aaO, S. 124 ff.). Weder<br />

mit einem auf dem Arbeitsverhältnis beruhenden Weisungsrecht gegenüber Mitarbeitern noch mit der Herrschaft<br />

über die „Gefahrenquelle Betrieb“ (Schall, aaO, S. 279) oder unter einem anderen Gesichtspunkt lässt sich eine über<br />

die allgemeine Handlungspflicht hinausgehende, besondere Verpflichtung des Betriebsinhabers begründen, auch<br />

solche Taten von voll verantwortlich handelnden Angestellten zu verhindern, die nicht Ausfluss seinem Betrieb oder<br />

dem Tätigkeitsfeld seiner Mitarbeiter spezifisch anhaftender Gefahren sind, sondern die sich außerhalb seines Betriebes<br />

genauso ereignen könnten (vgl. OLG Karlsruhe, GA 1971, 281, 283; Roxin, aaO, Rn. 139, 141).<br />

bb) Gemessen daran handelte es sich bei den Misshandlungen des Geschädigten D. durch die Mitangeklagten nicht<br />

um betriebsbezogene Straftaten. Sie standen weder in einem inneren Zusammenhang zur von den Mitangeklagten im<br />

Rahmen des Arbeitsverhältnisses zu erbringenden Tätigkeit, noch hat sich in ihnen eine gerade dem Betrieb des<br />

städtischen Bauhofs spezifisch anhaftende Gefahr verwirklicht. Insbesondere war den Mitangeklagten die Schikanierung<br />

des Geschädigten weder als <strong>Teil</strong> der „Firmenpolitik“ – etwa um einen unliebsamen Mitarbeiter zum Verlassen<br />

des Unternehmens zu bewegen – von der Betriebsleitung aufgetragen worden, noch nutzten die Mitangeklagten<br />

ihnen durch ihre Stellung im Betrieb eingeräumte arbeitstechnische Machtbefugnisse zur Tatbegehung aus (vgl.<br />

Mühe, Mobbing am Arbeitsplatz - Strafbarkeitsrisiko oder Strafbarkeitslücke?, 2006, S. 239).<br />

cc) Entgegen der Auffassung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts ist eine andere Bewertung auch nicht deshalb geboten, weil<br />

die Taten Bestandteil einer Serie wiederkehrender <strong>und</strong> sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstreckender<br />

Misshandlungen waren. Zwar wird die Betriebsbezogenheit solcher mit dem Begriff „Mobbing“ bezeichneter Tatserien<br />

bisweilen mit der Begründung bejaht, dass sich eine in der Betriebsgemeinschaft allgemein angelegte Gefahr<br />

verwirkliche, weil für solche Taten der abgegrenzte soziale Raum des Betriebes ohne ausreichende Ausweichmöglichkeiten<br />

für das um seinen Arbeitsplatz <strong>und</strong> damit seine wirtschaftliche Existenz fürchtende Opfer konstitutiv seien<br />

(in diesem Sinne etwa Mühe, aaO, S. 244 ff.; Wolmerath, Mobbing, 3. Aufl., S. 80; dagegen Fehr, Mobbing am<br />

Arbeitsplatz, 2007, S. 195 ff.). Damit würde das Merkmal der Betriebsbezogenheit jedoch jedenfalls für Fälle wie<br />

den vorliegenden überdehnt. Die Gefahr auch wiederholter, unter Kollegen begangener Körperverletzungen besteht<br />

in jedem Unternehmen mit mehr als einem Mitarbeiter, ist also keine gerade dem konkreten Betrieb – hier dem städtischen<br />

Bauhof – innewohnende Gefahr (ebenso auf den konkreten Betrieb abstellend Roxin, aaO, Rn. 139; Wei-<br />

16


gend, aaO; Wohlers, aaO). Auch ändert sich am Fehlen eines inneren Zusammenhangs zwischen dem Betrieb des<br />

Bauhofs bzw. dem Aufgabenbereich der Mitangeklagten <strong>und</strong> der Misshandlung des Geschädigten nichts dadurch,<br />

dass diese wiederholt begangen wurde. Insbesondere verlieren die Körperverletzungstaten hierdurch nicht ihren<br />

Charakter als Exzesstaten. Ließe man allein das iterative Moment für die Annahme der Betriebsbezogenheit ausreichen,<br />

würde die mit diesem Merkmal bezweckte <strong>und</strong> im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG gebotene (vgl. Weigend,<br />

aaO, Rn. 18 f. mwN) Einschränkung der Haftung des Geschäftsherrn aufgegeben <strong>und</strong> dieser im Ergebnis doch für<br />

eine insgesamt straffreie Lebensführung seiner Mitarbeiter während der Arbeitszeit verantwortlich gemacht.<br />

2. Dass das Landgericht eine Strafbarkeit gemäß § 357 <strong>StGB</strong> verneint hat, ist aus Rechtsgründen ebenfalls nicht zu<br />

beanstanden. Es kann dahinstehen, ob der Angeklagte <strong>und</strong> die Mitangeklagten als Angestellte des kommunalen Bauhofs<br />

als Amtsträger im Sinne der Vorschrift anzusehen sind. § 357 Abs. 1 <strong>StGB</strong> setzt eine „im Amt“ begangene<br />

rechtswidrige Tat des Untergebenen voraus, wovon nur in Ausübung des Amtes begangene Taten umfasst sind<br />

(BGH, Urteil vom 19. Dezember 1952 – 1 StR 353/52, BGHSt 3, 349, 352), nicht aber solche, die lediglich bei Gelegenheit<br />

der Amtsausübung verübt werden (vgl. MünchKomm <strong>StGB</strong>/Schmitz, § 357, Rn. 11 mwN). Insofern gelten<br />

die Ausführungen unter II.1.b) zum fehlenden Zusammenhang zwischen dem Tätigkeitsbereich der Mitangeklagten<br />

<strong>und</strong> den zum Nachteil des Geschädigten begangenen Straftaten entsprechend.<br />

3. Der Freispruch hat jedoch keinen Bestand, weil das Landgericht eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung<br />

gemäß § 323c <strong>StGB</strong> nicht geprüft, insoweit also seiner umfassenden Kognitionspflicht (vgl. BGH, Urteile vom<br />

23. März 1993 – 1 StR 21/93, BGHSt 39, 164, 165 mwN, <strong>und</strong> vom 8. Oktober 1996 – 5 StR 458/96, NStZ 1997,<br />

127) nicht genügt hat.<br />

a) Ein Unglücksfall im Sinne des § 323c <strong>StGB</strong> ist ein plötzlich eintretendes Ereignis, das erheblichen Schaden an<br />

Menschen oder Sachen anrichtet <strong>und</strong> weiteren Schaden zu verursachen droht (BGH, Urteil vom 10. Juni 1952 – 2<br />

StR 180/53, BGHSt 3, 65, 66). Als solches Ereignis kommt auch eine Straftat Dritter in Betracht (BGH, Urteile vom<br />

8. Oktober 1996 – 5 StR 458/96, NStZ 1997, 127; vom 10. Juni 1952 – 2 StR 180/53, BGHSt 3, 65, 66; vom 24.<br />

Februar 1982 – 3 StR 34/82, BGHSt 30, 391). Ein drohender Schaden reicht für die Annahme eines Unglücksfalles<br />

aus (vgl. Spendel in LK-<strong>StGB</strong>, 11. Aufl., § 323c, Rn. 42 mwN).<br />

b) Die Feststellungen des Landgerichts lassen zunächst die Prüfung nicht zu, ob der Angeklagte die erforderliche<br />

Hilfeleistung dadurch unterlassen hat, dass er die Straftaten der Mitangeklagten nicht verhindert hat. Die Urteilsgründe<br />

teilen nicht mit, ob der Angeklagte im Fall III.9 von der „Absprache“ der übrigen Angeklagten wusste, den<br />

Geschädigten überraschend zu attackieren – die Möglichkeit eines Eingreifens während der Verletzungshandlung<br />

liegt hier angesichts der zeitlichen Kürze des Geschehensablaufs anders als bei den Fällen III.1 <strong>und</strong> III.16 mit ihren<br />

zeitlich gestreckten Abläufen fern – <strong>und</strong> ob der Angeklagte als Vorgesetzter, ggfs. unter Androhung arbeitsrechtlicher<br />

Maßnahmen, die Mitangeklagten erfolgreich dazu hätte bewegen können, die Misshandlungen zu unterlassen<br />

bzw. zu beenden. Ausgeschlossen ist dies nach den bisherigen Feststellungen auch unter Berücksichtigung der „ausgeprägt<br />

dominanten Wesensart“ des Mitangeklagten S. nicht. Hinsichtlich des Falles III.1 wird der neue Tatrichter<br />

insoweit außerdem zu prüfen haben, ob im Zeitpunkt der Tat, die am 22. Februar 2006 <strong>und</strong> damit vor der Zusammenlegung<br />

von Straßenbauabteilung <strong>und</strong> Grünflächenabteilung im Frühsommer 2006 begangen wurde, der Angeklagte<br />

überhaupt Vorgesetzter jedenfalls einiger der Mitangeklagten war; nach den bisherigen Feststellungen war der<br />

Angeklagte zu jener Zeit wie der Mitangeklagte K. bei der Straßenbauabteilung der Stadt H. , die Mitangeklagten S.<br />

<strong>und</strong> B. jedoch bei der Grünflächenabteilung beschäftigt.<br />

c) Im Fall III.1 ist dem Senat darüber hinaus die Prüfung der Strafbarkeit des Angeklagten nach § 323c <strong>StGB</strong> unter<br />

dem Gesichtspunkt eines tatbestandlichen Unterlassens der Hilfeleistung – etwa des Herbeiholens eines Arztes oder<br />

einer sonstigen Unterstützung des Geschädigten – im Anschluss an die durch die Mitangeklagten begangene Misshandlung<br />

anhand der Urteilsgründe nicht möglich. Insbesondere enthalten sie keine Feststellungen zum Vorstellungsbild<br />

des Angeklagten von Art <strong>und</strong> Ausmaß der Verletzungen des Geschädigten D. , der eine Rippenfraktur erlitt<br />

<strong>und</strong> unter starken Schmerzen für mehrere St<strong>und</strong>en bewegungsunfähig in der Kapelle ausharrte, nachdem ihn der<br />

Angeklagte <strong>und</strong> die übrigen Kolonnenmitglieder dort zurückgelassen hatten.<br />

17


<strong>StGB</strong> § 21 – Situationsgerechtes Verhalten bei Alkoholikern kein Indiz gegen verm. Schuldfähigkeit<br />

BGH, Beschl. v. 10.01.2012 - 5 StR 517/11 - StraFo 2012, 109<br />

1. Unauffälligem <strong>und</strong> ungetrübtem Erinnerungsvermögen kommt bei alkoholgewöhnten Tätern nur<br />

ein beschränkter Beweiswert zu, weil gerade erfahrene <strong>und</strong> alkoholgewöhnte Trinker sich häufig im<br />

Rausch noch motorisch kontrollieren <strong>und</strong> sich äußerlich geordnet verhalten können, obwohl ihr<br />

Hemmungsvermögen möglicherweise schon erheblich beeinträchtigt ist.<br />

2. Auch situationsgerechtes Verhalten nach der Tat weist nur eingeschränkten Beweiswert auf, da<br />

der Täter durch die Tat oder die Gefahr der Entdeckung "ernüchtert" sein kann.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bremen vom 7. Juni 2011 gemäß § 349 Abs. 4<br />

StPO im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung<br />

zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, wobei es sechs Monate zur Kompensation rechtsstaatswidriger<br />

Verfahrensverzögerung als vollstreckt erklärt hat. Die auf Verfahrensrügen <strong>und</strong> die näher ausgeführte Sachbeschwerde<br />

gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg (§ 349 Abs. 4<br />

StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Gegen den Schuldspruch ist aus den zutreffenden Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts revisionsgerichtlich<br />

nichts zu erinnern. Insbesondere hat das Landgericht eine alkoholbedingt aufgehobene Steuerungsfähigkeit<br />

des Angeklagten im Sinne des § 20 <strong>StGB</strong> rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.<br />

2. Hingegen begegnet die Begründung der Strafkammer, mit der sie auch eine erhebliche Beeinträchtigung der<br />

Schuldfähigkeit nach § 21 <strong>StGB</strong> ausgeschlossen hat, durchgreifenden rechtlichen Bedenken.<br />

a) Das Landgericht hat eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten verneint, obgleich dieser die<br />

Taten in stark alkoholisiertem Zustand begangen hatte (maximale Blutalkoholkonzentration 2,75 ‰, wahrscheinliche<br />

Blutalkoholkonzentration von 2,33 ‰, UA S. 30). Zur Begründung führt es im Anschluss an ein mündlich erstattetes<br />

Gutachten der Sachverständigen aus, dass „der Grad der Alkoholisierung wenig aussagekräftig sei, da der Angeklagte<br />

zum Tatzeitpunkt alkoholgewöhnt gewesen sei. Der Angeklagte habe angegeben, dass er sich angetrunken, aber<br />

nicht schwer betrunken gefühlt habe. Sein Erinnerungsvermögen habe sich nicht wesentlich eingeschränkt gezeigt, er<br />

habe betont, gewusst zu haben, was er tat.“ Überdies spreche für eine genaue Planung der Tat, dass „der Angeklagte<br />

über einen längeren Zeitraum geplant Personen zur Verteidigung um sich geschart habe <strong>und</strong> den Angreifern letztlich<br />

gezielt im Erdgeschoss zuvorgekommen sei.“ Schließlich spreche sein „gezieltes Rückzugsverhalten“, in dem er sich<br />

freiwillig gestellt <strong>und</strong> auf Notwehr berufen hat, gegen „eine relevante Beeinträchtigung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit“<br />

(UA S. 30 f.).<br />

b) Diese Begründung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Bei einem Täter, der zur Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration<br />

zwischen 2,3 <strong>und</strong> 2,7 ‰ aufwies, ist die Annahme einer erheblichen Herabsetzung seiner<br />

Hemmungsfähigkeit regelmäßig in einem hohen Grad wahrscheinlich (vgl. BGH, Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR<br />

48/86, BGHSt 34, 29, 31; Beschluss vom 31. Mai 1988 – 3 StR 203/88, BGHR <strong>StGB</strong> § 21 Blutalkoholkonzentration<br />

13; vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 20 Rn. 21 mwN). Eine erheblich verminderte Hemmungsfähigkeit lässt sich bei<br />

einer solchen beträchtlichen Alkoholisierung nur ausschließen, wenn gewichtige Anzeichen für den Erhalt einer<br />

Hemmungsfähigkeit sprechen (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 1997 – 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 68 ff.; Beschluss<br />

vom 26. November 1997 – 2 StR 553/97, NStZ-RR 1998, 107; hierzu ferner Fischer, aaO, Rn. 22 ff.). Es<br />

erscheint bereits durchgreifend zweifelhaft, ob die von der Strafkammer festgestellten nicht überaus aussagekräftigen<br />

Umstände namentlich mit Blick auf die Höhe der – sogar mittels einer verhältnismäßig tatzeitnah entnommenen<br />

Blutprobe – ermittelten Alkoholintoxikation hinreichend tragfähig gewesen wären. Zudem ist die tatrichterliche<br />

Bewertung mit weiteren Fehlern behaftet. So lässt das Landgericht, das ersichtlich dem Sachverständigengutachten<br />

folgt, unerörtert, dass unauffälligem Verhalten sowie zielstrebigem <strong>und</strong> planvollem Vorgehen trotz Alkoholgewöhnung<br />

<strong>und</strong> ungetrübtem Erinnerungsvermögen nur ein beschränkter Beweiswert zukommt, weil gerade erfahrene <strong>und</strong><br />

alkoholgewöhnte Trinker sich häufig im Rausch noch motorisch kontrollieren <strong>und</strong> sich äußerlich geordnet verhalten<br />

18


können, obwohl ihr Hemmungsvermögen möglicherweise schon erheblich beeinträchtigt ist (vgl. hierzu BGH, Urteil<br />

vom 9. August 1988 – 1 StR 231/88, BGHSt 35, 308, 311). Weiter berücksichtigt das Landgericht nicht erkennbar,<br />

dass auch situationsgerechtes Verhalten nach der Tat nur eingeschränkten Beweiswert aufweist, da der Täter durch<br />

die Tat oder die Gefahr der Entdeckung „ernüchtert“ sein kann (BGH aaO).<br />

3. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass ein neues Tatgericht im Falle einer Anwendung des § 21 <strong>StGB</strong> auf<br />

eine noch mildere Freiheitsstrafe erkennen könnte (§ 337 StPO), wenngleich sich dies mit Blick auf das Tatbild nicht<br />

aufdrängt.<br />

<strong>StGB</strong> § 21 bei BAK über 2 ‰<br />

BGH, Beschl. v. 07.02.2012 - 5 StR 545/11<br />

Solange nicht auf der Gr<strong>und</strong>lage einer schlüssigen Beweiswürdigung ein geringerer Alkoholkonsum<br />

festgestellt wird, gebietet es der Zweifelssatz, den vom Gericht errechneten Maximalwert der Blutalkoholkonzentration<br />

mit der sich daraus ergebenden Indizwirkung der Beurteilung der Schuldfähigkeit<br />

zugr<strong>und</strong>e zu legen, wenn keine gegenteiligen Beweisanzeichen vorhanden sind.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 14. September 2011 gemäß §<br />

349 Abs. 4 StPO im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung an eine andere Jugendkammer<br />

des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

4. Es wird davon abgesehen, dem Beschwerdeführer die Kosten des Rechtsmittels aufzuerlegen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung<br />

unter Einbeziehung eines weiteren Urteils zu einer Einheitsjugendstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> zwei Monaten verurteilt.<br />

Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg<br />

(§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Gegen den Schuldspruch ist aus den zutreffenden Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts revisionsgerichtlich<br />

nichts zu erinnern. Insbesondere hat die Jugendkammer eine alkoholbedingte Aufhebung der Steuerungsfähigkeit<br />

des Angeklagten (§ 20 <strong>StGB</strong>) rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.<br />

2. Hingegen begegnet die Begründung, mit der sie auch eine erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit nach §<br />

21 <strong>StGB</strong> abgelehnt hat, durchgreifenden rechtlichen Bedenken.<br />

a) Nach den Feststellungen war der Tat vom 13. Dezember 2010 ein Trinkgelage im Innenhof der Altmarktgalerie in<br />

der Dresdner Innenstadt vorausgegangen, an dem neben dem Angeklagten drei weitere junge Leute teilnahmen <strong>und</strong><br />

das sich über mehr als fünf St<strong>und</strong>en erstreckte. Bereits zuvor hatte der Angeklagte Alkohol konsumiert. Ausgehend<br />

von den Trinkmengenangaben des Angeklagten in der Hauptverhandlung (vgl. UA S. 10, 12) gelangt sie durch<br />

Rückrechnung zu einer maximalen Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit beim Angeklagten von „2,07 ‰ bzw. 2,44<br />

‰“, mithin Werten, bei denen „gr<strong>und</strong>sätzlich eine alkoholbedingte Verminderung der Einsichts- <strong>und</strong> Steuerungsfähigkeit<br />

zu diskutieren“ sei (UA S. 21). Im Anschluss an das Sachverständigengutachten findet die Jugendkammer<br />

indes im Tatgeschehen keinerlei Anhaltspunkte für eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit des Angeklagten:<br />

„Durch keinen der Zeugen seien körperliche <strong>und</strong> neurologische Ausfallerscheinungen des Angeklagten<br />

berichtet worden. Der Angeklagte selbst könne sich genau erinnern. Das Tatgeschehen wie auch das Nachtatgeschehen<br />

zeigten keinerlei Ausfallerscheinungen“ (UA S. 21). Vielmehr sei der Angeklagte „offensichtlich zielgerichtet<br />

<strong>und</strong> absichtsvoll vorgegangen“ (UA S. 22).<br />

b) Diese Begründung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Eine Blutalkoholkonzentration von maximal<br />

2,44 ‰ legt die Annahme einer erheblichen Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit nahe, die nach ständiger<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs für eine Tat wie die vorliegende ab einer Blutalkoholkonzentration von 2,2<br />

‰ in Betracht zu ziehen ist (BGH, Urteil vom 22. November 1990 – 4 StR 117/90, BGHSt 37, 231, 235; Urteil vom<br />

12. Januar 1994 – 3 StR 633/93, BGHR <strong>StGB</strong> § 21 Blutalkoholkonzentration 27; Beschluss vom 25. Februar 1998 –<br />

2 StR 16/98, BGHR <strong>StGB</strong> § 21 Blutalkoholkonzentration 34). Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen<br />

gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische<br />

Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorlie-<br />

19


gen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der festgestellte<br />

Wert ein gewichtiges Beweisanzeichen für die Stärke der alkoholischen Beeinflussung. Zwar ist gr<strong>und</strong>sätzlich der<br />

eingeschränkte Beweiswert aufgr<strong>und</strong> von Trinkmengenangaben errechneter Blutalkoholwerte zu beachten. Die Bewertung<br />

der Jugendkammer, der Angeklagte habe seinen eigenen Alkoholkonsum in der Hauptverhandlung überhöht<br />

dargestellt, vermag der vom Sachverständigen berechneten <strong>und</strong> vom Landgericht übernommenen Blutalkoholkonzentration<br />

nicht die Bedeutung im Sinne einer Feststellung zu nehmen. Solange nämlich nicht auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

einer schlüssigen Beweiswürdigung, die hier indes fehlt, ein geringerer Alkoholkonsum festgestellt wird, gebietet es<br />

der Zweifelssatz, den von der Jugendkammer errechneten Maximalwert mit der sich daraus ergebenden Indizwirkung<br />

der Beurteilung der Schuldfähigkeit zugr<strong>und</strong>e zu legen, wenn keine gegenteiligen Beweisanzeichen vorhanden<br />

sind (vgl. Schöch in LK, 12. Aufl., § 20 Rn. 111 mwN).<br />

c) Als in diesem Sinne kontraindikatorische psychodiagnostische Beurteilungskriterien kommen dabei nur solche<br />

Umstände in Betracht, die Hinweise darauf geben können, ob das Steuerungsvermögen des Täters trotz der erheblichen<br />

Alkoholisierung voll erhalten geblieben ist (BGH, Beschluss vom 30. Juli 1997 – 3 StR 144/97, NStZ 1997,<br />

592). Den vom Landgericht herangezogenen Umständen kommt eine solche Bedeutung nicht zu. Das Verhalten des<br />

Angeklagten bei der Tatbegehung weist keine Merkmale auf, die aussagekräftige Rückschlüsse auf die Steuerungsfähigkeit<br />

zulassen. Vielmehr zeigt das Tatbild im Gegenteil Besonderheiten, die auf eine alkoholbedingte erhebliche<br />

Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit des Angeklagten schließen lassen können (spontane, rasche Verfolgung des<br />

nach einer geringfügigen, bereits beruhigten Auseinandersetzung weggehenden Geschädigten; wuchtiger Stich mit<br />

einem „Wehrmachtsehrendolch“ in seinen Oberbauch) <strong>und</strong> die von der Jugendkammer in diesem Zusammenhang<br />

nicht behandelt werden. Unerörtert bleibt auch der Umstand, dass die Gruppe um den Angeklagten auf ihrem Heimweg<br />

„laut grölend <strong>und</strong> ‚Dynamo-Sprüche‘ brüllend“ (UA S. 10) durch die Dresdner Innenstadt zog. Das Verhalten<br />

des Angeklagten nach der Tat (Flucht mit der Straßenbahn, Entsorgung des Dolchs im Schnee) hat nur geringe Aussagekraft,<br />

zumal durch die Tat eine wesentliche Ernüchterung eingetreten sein kann. Sein angeblich genaues Erinnerungsvermögen<br />

ist angesichts seiner dreimal abgewandelten Einlassung zum Tatablauf, die das Landgericht jeweils –<br />

in nachvollziehbarer Weise – für nicht glaubhaft hält, kein wesentliches Kriterium. Dass der Angeklagte den Zeugen<br />

nicht durch Torkeln oder Lallen oder ähnliche Ausfallerscheinungen aufgefallen ist, genügt alleine nicht, eine erhebliche<br />

Verminderung seines Steuerungsvermögens auszuschließen.<br />

d) Ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei der Tat infolge seiner Alkoholisierung erheblich vermindert war oder<br />

dies zumindest nicht auszuschließen ist (§ 21 <strong>StGB</strong>), bedarf deshalb erneuter Prüfung. Der Senat verkennt nicht, dass<br />

der Alkoholisierung – namentlich bei einer Ahndung nach Jugendstrafrecht – nicht unbedingt maßgebliche strafmildernde<br />

Wirkung zukommen muss. Die entsprechende Gewichtung obliegt indes dem Ermessen des Tatgerichts.<br />

3. Darüber hinaus liegt ein Rechtsfehler darin, dass die Jugendkammer eine Unterbringung nach § 64 <strong>StGB</strong> nicht<br />

geprüft hat. Die im Zusammenhang mit der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten wiedergegebenen Ausführungen<br />

des Sachverständigen zur Frage eines „chronischen Abhängigkeitsverhaltens“ (UA S. 22) veranlassen den<br />

Senat zu dem Hinweis, dass eine Alkoholabhängigkeit nicht zwingende Voraussetzung für die Annahme eines Hanges<br />

ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. November 2003 – 1 StR 406/03, BGHR <strong>StGB</strong> § 64 Hang 2, <strong>und</strong> vom 4. April<br />

1995 – 4 StR 95/95, BGHR § 64 Abs. 1 Hang 5). Denn hierunter fällt nicht nur eine chronische, auf körperlicher<br />

Sucht beruhende Abhängigkeit, sondern es genügt eine eingewurzelte, aufgr<strong>und</strong> psychischer Disposition bestehende<br />

oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu<br />

sich zu nehmen, ohne dass diese den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss (BGH, Beschlüsse<br />

vom 18. August 1998 – 5 StR 363/98, <strong>und</strong> vom 18. Juli 2007 – 5 StR 279/07). Eine solche Neigung liegt bei dem<br />

festgestellten Alkoholmissbrauchsverhalten des Angeklagten („Alpha- <strong>und</strong> Betaalkoholismus“, UA S. 22) nicht von<br />

vornherein fern (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2010 – 5 StR 510/09, NStZ-RR 2010, 234).<br />

4. Angesichts der Bestätigung des Schuldspruchs kann der Senat trotz der Zurückverweisung der Hauptsache die auf<br />

§ 74 JGG <strong>und</strong> § 473 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Kostenentscheidung bereits jetzt treffen.<br />

20


<strong>StGB</strong> § 21 Verminderte Schuldfähigkeit durch Suchtdruck<br />

BGH, Beschl. v. 13.12.2011 - 5 StR 423/11<br />

Eine physische Rauschmittelabhängigkeit kann aufgr<strong>und</strong> hohen Suchtdrucks eine rauschunabhängige<br />

Minderung der Schuldfähigkeit begründen.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kiel vom 21. Juni 2011 nach § 349 Abs. 4 StPO<br />

im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben. Die weitergehende Revision des Angeklagten<br />

gegen das vorgenannte Urteil wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Im Umfang der Aufhebung<br />

wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit Diebstahl (Einsatzstrafe: fünf<br />

Jahre Freiheitsstrafe), wegen Diebstahls in weiteren vier Fällen <strong>und</strong> wegen versuchten Diebstahls – unter Freisprechung<br />

im Übrigen – zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt, seine Unterbringung<br />

in einer Entziehungsanstalt angeordnet <strong>und</strong> bestimmt, dass fünf Monate der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen<br />

sind. Die mit der allgemeinen Sachrüge geführte Revision des Angeklagten hat im Umfang der Beschlussformel<br />

Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts konsumiert der 24-jährige Angeklagte bereits seit seinem 12. Lebensjahr<br />

regelmäßig Alkohol; darüber hinaus besteht bei ihm eine psychische Abhängigkeit von Betäubungsmitteln. Er<br />

ist vielfach, insbesondere wegen Diebstahls, vorbestraft. In zwei Fällen hatte er bei Einbrüchen Feuer gelegt. Gegenstand<br />

der vorliegenden Verurteilung sind zum <strong>Teil</strong> unter den Voraussetzungen des § 243 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> verübte<br />

Diebstähle, mit denen sich der Angeklagte eine Einkommensquelle für den Drogenerwerb verschaffen wollte. Im<br />

Zusammenhang mit einem Einbruch in ein Firmengebäude in der Kieler Innenstadt, bei dem der Angeklagte „Kaffeeutensilien“<br />

sowie zahlreiche kleine Taschenlampen erbeutete, steckte er einen Archivraum, in dem große Mengen<br />

alter Akten lagerten, in Brand. Der betreffende Gebäudeteil brannte ab; es entstand ein Sachschaden in Höhe von<br />

r<strong>und</strong> 750.000 €. Zwei Polizeibeamte erlitten im Rahmen ihrer Diensttätigkeit leichte Rauchvergiftungen.<br />

2. Die Urteilsfeststellungen rechtfertigen den Schuldspruch. Demgegenüber hält der Rechtsfolgenausspruch sachlichrechtlicher<br />

Nachprüfung nicht stand. Die Prüfung der Voraussetzungen einer Einschränkung der Schuldfähigkeit des<br />

Angeklagten gemäß §§ 20, 21 <strong>StGB</strong> weist Erörterungsmängel auf. Das Landgericht hat die Möglichkeit einer erheblichen<br />

Verminderung der Schuldfähigkeit nur unter dem Gesichtspunkt einer aktuellen Drogenintoxikation des Angeklagten<br />

im Zeitpunkt der Taten geprüft <strong>und</strong> nur diese – in nachvollziehbarer Weise – ausgeschlossen. Es setzt sich<br />

zum einen nicht mit der naheliegenden Möglichkeit einer sogar physischen Rauschmittelabhängigkeit des Angeklagten<br />

auseinander, der seit seiner Jugend regelmäßig Alkohol <strong>und</strong> Drogen konsumiert, sich in der „Szene der Drogenabhängigen<br />

in Kiel“ aufhält (UA S. 5) <strong>und</strong> dessen Leben durch Drogen <strong>und</strong> Beschaffungskriminalität bestimmt ist<br />

(UA S. 30). Eine solche kann aufgr<strong>und</strong> hohen Suchtdrucks eine rauschunabhängige Minderung der Schuldfähigkeit<br />

begründen (vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 20 Rn. 11a). Zum anderen befasst es sich nicht mit der Frage, ob die vom<br />

Sachverständigen festgestellte, nicht näher klassifizierte „schwere Persönlichkeitsstörung“ des vom „Scheitern in<br />

seinem Leben“ (UA S. 30) geprägten Angeklagten Auswirkungen auf seine Schuldfähigkeit hatte. Insbesondere<br />

hinsichtlich der begangenen Brandstiftung, in der die Strafkammer ein „Handlungsmuster“ (UA S. 23) des Angeklagten<br />

erblickt, hätte Anlass für eine solche Prüfung bestanden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Juli 2001 – 5 StR<br />

287/01 – <strong>und</strong> vom 17. Oktober 1995 – 5 StR 530/95).<br />

3. Der Senat hebt den gesamten Rechtsfolgenausspruch auf. Damit soll gegebenenfalls auch eine Prüfung einer Unterbringung<br />

nach § 63 <strong>StGB</strong> ermöglicht werden; nach den Feststellungen ist der Betäubungsmittelmissbrauch des<br />

Angeklagten das „sek<strong>und</strong>äre Phänomen“ seiner schweren Persönlichkeitsstörung (UA S. 30). Da es keine Hinweise<br />

auf einen völligen Ausschluss der Schuldfähigkeit gibt, kann demgegenüber der Schuldspruch bestehen bleiben.<br />

4. Hinsichtlich des Ausspruchs über den Vorwegvollzug eines <strong>Teil</strong>s der Strafe vor der Maßregel <strong>und</strong> seiner Bemessung<br />

weist der Senat auf folgendes hin: Die erlittene Untersuchungshaft ist gemäß § 51 <strong>StGB</strong> von der Vollstreckungsbehörde<br />

auf den nach § 67 Abs. 2 <strong>StGB</strong> vorweg zu vollstreckenden Strafteil anzurechnen (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 23. April 1991 – 4 StR 121/91, BGHR <strong>StGB</strong> § 67 Abs. 2 Vorwegvollzug, teilweise 8); dieser ist daher<br />

im Urteilstenor gr<strong>und</strong>sätzlich nicht um die Dauer der bisherigen Untersuchungshaft zu kürzen. Die Anordnung des<br />

Vorwegvollzugs eines <strong>Teil</strong>s der Freiheitsstrafe vor der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat allerdings zu<br />

unterbleiben, wenn sich der mögliche Vorwegvollzug durch die vom Angeklagten seit seiner Festnahme erlittene<br />

21


Polizei- <strong>und</strong> Untersuchungshaft bereits erledigt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Oktober 2007 – 2 StR 354/07,<br />

NStZ 2008, 212, 213).<br />

<strong>StGB</strong> § 24 II Trotz allgemeiner Furcht vor Entdeckung freiwilliger Rücktritt<br />

BGH, Beschl. v. 08.02.2012 - 4 StR 621/11 - NStZ-RR 2012, 167<br />

Eine bloß möglich erscheinende allgemeine Furcht vor Entdeckung der Tat vermag die Freiwilligkeit<br />

eines Rücktritts vom Versuch nicht in Frage zu stellen.<br />

1. Auf die Revisionen der Angeklagten Sch., S. <strong>und</strong> H. wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 23. Mai<br />

2011, soweit es diese Angeklagten betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben<br />

a) im Fall II. 1 der Urteilsgründe <strong>und</strong><br />

b) in den Gesamtstrafenaussprüchen.<br />

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtsmittel dieser Angeklagten, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weiter gehenden Revisionen der Angeklagten Sch., S. <strong>und</strong> H. sowie die Revision des Angeklagten Schw.<br />

werden verworfen.<br />

3. Der Angeklagte Schw. hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten Sch. <strong>und</strong> S. der versuchten schweren räuberischen Erpressung, der versuchten<br />

Erpressung sowie der Nötigung, den Angeklagten Schw. der versuchten Erpressung sowie der Nötigung <strong>und</strong> den<br />

Angeklagten H. der Beihilfe zur versuchten schweren räuberischen Erpressung schuldig gesprochen. Es hat den<br />

Angeklagten Sch. unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe von neun Monaten aus einem weiteren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von zwei Jahren <strong>und</strong> vier Monaten, den Angeklagten S. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem<br />

Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten, den Angeklagten Schw. zu einer solchen von sieben Monaten <strong>und</strong> den Angeklagten H. zu<br />

einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 70 Euro verurteilt. Ferner hat das Landgericht eine Lederweste des Angeklagten<br />

S. eingezogen. Gegen ihre Verurteilung wenden sich die Angeklagten jeweils mit der Sachrüge. Die Angeklagten<br />

Sch., S. <strong>und</strong> Schw. beanstanden darüber hinaus das Verfahren, der Angeklagte Schw. macht ein Verfahrenshindernis<br />

geltend. Die Rechtsmittel der Angeklagten Sch., S. <strong>und</strong> H. haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen<br />

<strong>Teil</strong>erfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Dem Rechtsmittel des Angeklagten<br />

Schw. bleibt insgesamt der Erfolg versagt.<br />

I. Das vom Angeklagten Schw. geltend gemachte Verfahrenshindernis der nicht hinreichend konkretisierten Anklage<br />

besteht nicht. Auch die von ihm <strong>und</strong> den Angeklagten Sch. <strong>und</strong> S. erhobenen Verfahrensrügen haben keinen Erfolg.<br />

Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen in den Antragsschriften des Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom 30. November<br />

2011 Bezug genommen.<br />

II. Soweit die Angeklagten Sch. <strong>und</strong> S. in den Fällen II. 2 <strong>und</strong> II. 3 der Urteilsgründe wegen versuchter Erpressung<br />

<strong>und</strong> wegen Nötigung verurteilt worden sind, hat die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgr<strong>und</strong> der von den<br />

Angeklagten jeweils erhobenen Sachbeschwerde keinen Rechtsfehler zu deren Nachteil ergeben. Die Verurteilung<br />

des Angeklagten Schw. ist insgesamt frei von diesen beschwerenden Rechtsfehlern.<br />

III.<br />

1. Demgegenüber hält die Verurteilung der Angeklagten Sch., S. <strong>und</strong> H. im Fall II. 1 der Urteilsgründe rechtlicher<br />

Nachprüfung nicht stand.<br />

a) Das Landgericht hat nicht geprüft, ob die Angeklagten vom Versuch der schweren räuberischen Erpressung mit<br />

strafbefreiender Wirkung zurückgetreten sind (§ 24 Abs. 2 Satz 1 <strong>StGB</strong>). § 24 Abs. 2 Satz 1 <strong>StGB</strong> verlangt ohne<br />

Rücksicht auf die Frage, ob ein beendeter oder unbeendeter Versuch vorliegt, die Verhinderung der Tatvollendung.<br />

Dabei bestehen gr<strong>und</strong>sätzlich die gleichen Anforderungen wie beim Alleintäter, so dass insbesondere das Verhalten<br />

des Zurücktretenden für das Ausbleiben der Vollendung zumindest mitursächlich werden muss. Unter Absatz 2 Satz<br />

1 hat die Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs auch die Fälle gefasst, in denen die Beteiligten an der Tat den<br />

Rücktritt einvernehmlich durchführen (BGH, Urteil vom 14. Mai 1996 - 1 StR 51/96, BGHSt 42, 158, 162; Senatsbeschluss<br />

vom 4. April 1989 - 4 StR 125/89, NStZ 1989, 317, 318). Dabei wird es als ausreichend angesehen, wenn<br />

ein Beteiligter mit dem Rücktritt des anderen einverstanden ist. Handeln alle Beteiligten einvernehmlich, kann das<br />

22


schlichte Nicht-Weiterhandeln für die Erfolgsverhinderung im Sinne von § 24 Abs. 2 Satz 1 <strong>StGB</strong> ausreichen (vgl.<br />

Senatsbeschluss aaO; Lilie/Albrecht in LK-<strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 24 Rn. 42; SSW-<strong>StGB</strong>/Kudlich/Schuhr, § 24 Rn. 58,<br />

jew. mwN). Diese Gr<strong>und</strong>sätze gelten auch für den Gehilfen, der anderenfalls bei einem wirksamen Rücktritt des<br />

Haupttäters, der bereits zur Erfolgsverhinderung führt, trotz Rücktrittswillens überhaupt nicht zurücktreten könnte<br />

(BGH, Beschluss vom 28. Oktober 1998 - 5 StR 176/98, BGHSt 44, 204, 208).<br />

b) Danach können die Angeklagten Sch., S. <strong>und</strong> H. im vorliegenden Fall jeweils als Tatbeteiligte vom Versuch der<br />

schweren räuberischen Erpressung zurückgetreten sein, indem sie einverständlich die gegenüber dem Geschädigten<br />

W. erhobene Forderung zur Zahlung einer "Strafe" in Höhe von 5.000 Euro nach dem Treffen mit dem Geschädigten<br />

in der „ Bar“ nicht weiter verfolgten. Anlass für eine Erörterung der Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 Satz 1 <strong>StGB</strong><br />

boten insbesondere die Feststellungen, die das Landgericht zum Inhalt des zwischen dem Angeklagten H. <strong>und</strong> dem<br />

Geschädigten W. am 22. Januar 2010 geführten Telefongesprächs getroffen hat (UA 35/36). Der Zeuge sprach den<br />

Angeklagten H. nach Absprache mit der Polizei, an die er sich inzwischen gewandt hatte, auf die Modalitäten einer<br />

Übergabe des von den Angeklagten geforderten Geldbetrages an. H. verhielt sich jedoch abwehrend <strong>und</strong> versuchte,<br />

die vom Landgericht als erwiesen angesehene, ursprünglich unter Drohungen erhobene Forderung ungeschehen zu<br />

machen. Er gab dem Geschädigten unter Anderem zu verstehen, er müsse kein Geld beschaffen, da es eine entsprechende<br />

Forderung nicht (mehr) gebe. Ein weiteres Telefongespräch ähnlichen Inhalts führte der Angeklagte H. mit<br />

dem Geschädigten am 27. Januar 2010. Dass der Angeklagte H. diese Gespräche mit dem Geschädigten nur nach<br />

vorheriger Abstimmung mit dem Mitangeklagten Sch. führte, der im „Charter S. “ der „Hells Angels“ die Position<br />

des „Präsidenten“ einnahm, ist nahe liegend. Im Hinblick darauf <strong>und</strong> vor dem Hintergr<strong>und</strong> der im Urteil dargelegten<br />

hierarchischen Struktur dieser Gruppierung hätte die Strafkammer die Möglichkeit eines Rücktritts der Angeklagten<br />

vom Versuch der schweren räuberischen Erpressung im Sinne des § 24 Abs. 2 Satz 1 <strong>StGB</strong> nicht unerörtert lassen<br />

dürfen.<br />

2. Die Aufhebung der Verurteilung der Angeklagten Sch., S. <strong>und</strong> H. im Fall II. 1 der Urteilsgründe zieht die Aufhebung<br />

der gegen diese Angeklagten verhängten Gesamtstrafen nach sich. Die für sich genommen rechtsfehlerfreie<br />

Entscheidung über die Einziehung der Weste des Angeklagten S. kann bestehen bleiben, da dieser Gegenstand als<br />

Tatmittel auch im Fall II. 3 der Urteilsgründe Verwendung gef<strong>und</strong>en hat.<br />

III. Für die neue Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:<br />

1. Für den Fall, dass ein strafbefreiender Rücktritt der Angeklagten in Betracht kommen sollte, wird insbesondere zu<br />

prüfen sein, ob dieser freiwillig erfolgt ist. Ohne die Feststellung weiterer Umstände vermag die vom Landgericht<br />

angestellte Erwägung, die Angeklagten hätten "offenbar" wegen des einsetzenden Drucks der polizeilichen Ermittlungen<br />

von ihrer Geldforderung gegen den Geschädigten W. Abstand genommen, als bloß möglich erscheinende<br />

allgemeine Furcht vor Entdeckung der Tat die Freiwilligkeit nicht in Frage zu stellen (Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 24<br />

Rn. 19a mwN).<br />

2. Beim Angeklagten Sch. wird die erforderliche erneute Gesamtstrafenbildung wiederum unter Einbeziehung der<br />

Bewährungsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Rostock vom 15. Juli 2010 vorzunehmen sein. Nach der neueren<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist der Ausgleich für die Nichterstattung von Leistungen zur Erfüllung einer<br />

Bewährungsauflage (vgl. § 58 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 56f Abs. 3 Satz 2 <strong>StGB</strong>) jedoch regelmäßig durch eine die<br />

Strafvollstreckung verkürzende Anrechnung auf die Gesamtfreiheitsstrafe zu bewirken (BGH, Beschluss vom 20.<br />

März 1990 - 1 StR 283/89, BGHSt 36, 378, 383 f.; Senatsbeschluss vom 19. Mai 1992 - 4 StR 207/92). Die allgemeine<br />

Berücksichtigung der in diesem Umstand liegenden Härte, wie sie im angefochtenen Urteil ihren Ausdruck<br />

gef<strong>und</strong>en hat, reicht nicht aus. Der Umfang der Anrechnung ist in der Urteilsformel zum Ausdruck zu bringen (BGH,<br />

jew. aaO).<br />

23


<strong>StGB</strong> § 24 Rücktrittshorizont<br />

BGH, Urt. v. 02.02.2012 - 3 StR 401/11 - NStZ 2012, 343<br />

1. Unbeendet ist ein Versuch auch dann, wenn der Täter den Erfolgseintritt zwar zunächst für möglich<br />

hält, aber nachfolgend - etwa aufgr<strong>und</strong> weiterer Wahrnehmungen - <strong>und</strong> noch in einem engen<br />

zeitlichen <strong>und</strong> räumlichen Zusammenhang mit dem Tatgeschehen zur gegenteiligen Auffassung<br />

gelangt [sog. Korrektur des Rücktrittshorizonts].<br />

2. Verstoß gegen § 229 StPO.<br />

Auf die Revisionen des Angeklagten <strong>und</strong> der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 1.<br />

Juli 2011 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über<br />

die Kosten der Rechtsmittel <strong>und</strong> die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von sechs Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten rügt allgemein die Verletzung materiellen Rechts <strong>und</strong><br />

beanstandet weiter, die Hauptverhandlung sei entgegen § 229 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 StPO länger als drei Wochen<br />

unterbrochen gewesen. Die Staatsanwaltschaft stützt ihre zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision auf die<br />

Sachrüge <strong>und</strong> führt aus, das Landgericht habe zu Unrecht einen strafbefreienden Rücktritt des Angeklagten vom<br />

tateinheitlich hinzutretenden Versuch eines Heimtückemords angenommen. Beide Rechtsmittel haben Erfolg.<br />

I. Die Revision der Staatsanwaltschaft<br />

Die Annahme des Landgerichts, der dem Angeklagten vorgeworfene Versuch eines Tötungsverbrechens sei - aus<br />

dessen Sicht - noch nicht beendet gewesen, weshalb er hiervon durch freiwillige Aufgabe der weiteren Tatausführung<br />

mit strafbefreiender Wirkung zurückgetreten sei (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 <strong>StGB</strong>), begegnet durchgreifenden<br />

rechtlichen Bedenken.<br />

1. Nach den Feststellungen hielten sich der Angeklagte, das spätere Tatopfer W. sowie die Zeugen P. <strong>und</strong> Z. in der<br />

Nacht zum 29. Oktober 2010 wie gewöhnlich beim Zentralen Omnibusbahnhof in Hannover auf <strong>und</strong> konsumierten<br />

zusammen Alkohol. Als erster entfernte sich P.. Er begab sich in den von ihm <strong>und</strong> W. als gemeinsame Unterkunft<br />

genutzten Raum in einem in der Nähe befindlichen verlassenen Gebäude <strong>und</strong> legte sich dort schlafen. Am frühen<br />

Morgen wollte auch W. die Unterkunft aufsuchen. Er lud den Angeklagten ein mitzukommen <strong>und</strong> mit ihm zu essen.<br />

Neben dem schlafenden P. setzten sich beide einander gegenüber an den Tisch <strong>und</strong> verzehrten ein Fleischgericht,<br />

von dem sie sich mit einem Küchenmesser jeweils Scheiben abschnitten. Gegen 3.00 Uhr hielt W. die Mahlzeit für<br />

beendet <strong>und</strong> legte das Messer beiseite. Aus nicht zu klärenden Gründen fasste der Angeklagte nun den Entschluss,<br />

W. zu töten. Hierzu wollte er die während des gemeinsamen Essens herrschende <strong>und</strong> aus W.s Sicht unverändert<br />

fortbestehende gute <strong>und</strong> friedliche Stimmung ausnutzen. Er bat W. deshalb nochmals um das Messer. In der Annahme,<br />

der Angeklagte wolle sich noch ein Stück Fleisch abschneiden, holte W. das Messer - Klingenlänge etwa 10 cm<br />

- aus der Ablage unter dem Tisch hervor <strong>und</strong> übergab es dem Angeklagten. Dieser nahm es an sich, stand auf <strong>und</strong><br />

versetzte dem auf seinem Stuhl sitzenden W. mit den Worten "Ich werde dich töten" <strong>und</strong> "Du sollst ausbluten" zunächst<br />

von vorn, dann, um den Tisch herumgehend, von hinten in schneller Abfolge insgesamt sieben Stiche in den<br />

Brust-, Rücken- <strong>und</strong> Nackenbereich. "Nachdem der Angeklagte insgesamt siebenmal zugestochen hatte, ließ er von<br />

… W. ab, obwohl aus seiner Sicht der Zeuge noch nicht tödlich verletzt war." W., der eine dicke Lederjacke trug,<br />

blutete zwar, zeigte sich aber sonst nicht beeinträchtigt. Vom Geschehen überrascht <strong>und</strong> um keinen weiteren Angriff<br />

des Angeklagten zu provozieren, blieb er sitzen <strong>und</strong> war bemüht, sich nicht zu bewegen. Der Angeklagte beobachtete<br />

den so verharrenden W. noch einige Minuten <strong>und</strong> entfernte sich dann. Nun erhob sich W., weckte P. <strong>und</strong> bat diesen,<br />

Hilfe zu holen. Beim Verlassen des Gebäudes traf P. auf den heimkehrenden Z. <strong>und</strong> verständigte mit diesem zusammen<br />

die Polizei. W., der durch einen der Stiche in den Rücken einen akut lebensbedrohlichen Pneumothorax erlitten<br />

hatte, wurde von Rettungskräften ins Krankenhaus verbracht <strong>und</strong> dort erfolgreich medizinisch versorgt. Die weiteren<br />

Stiche waren nicht unmittelbar lebensbedrohlich.<br />

2. Ob ein Versuch im Sinne des § 24 Abs. 1 <strong>StGB</strong> beendet oder unbeendet ist, richtet sich nach der Vorstellung des<br />

Täters bei Abschluss der letzten Ausführungshandlung. Ein unbeendeter Versuch ist danach gegeben, wenn der Täter<br />

zu diesem Zeitpunkt davon ausgeht, zur Verwirklichung des Tatbestandes bedürfe es noch weiteren Handelns; been-<br />

24


det ist der Versuch demgegenüber, wenn der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs aufgr<strong>und</strong> seiner bisherigen<br />

Tathandlungen zumindest für möglich hält oder sich über deren Folgen keine Vorstellungen macht (Maßgeblichkeit<br />

des sog. Rücktrittshorizonts; vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 24 Rn. 14, 15 mwN). Unbeendet ist ein Versuch<br />

auch dann, wenn der Täter den Erfolgseintritt zwar zunächst für möglich hält, aber nachfolgend - etwa aufgr<strong>und</strong><br />

weiterer Wahrnehmungen - <strong>und</strong> noch in einem engen zeitlichen <strong>und</strong> räumlichen Zusammenhang mit dem Tatgeschehen<br />

zur gegenteiligen Auffassung gelangt (sog. Korrektur des Rücktrittshorizonts; vgl. Fischer aaO Rn. 15a mwN).<br />

Zwar hat das Landgericht nicht verkannt, dass es für die Entscheidung, ob ein Versuch beendet oder unbeendet ist,<br />

darauf ankommt, welche Vorstellung der Täter innerhalb des sich aus diesen Gr<strong>und</strong>sätzen ergebenden zeitlichen <strong>und</strong><br />

örtlichen Rahmens entwickelt. Jedoch hat es der Prüfung dieser inneren Tatseite einen rechtlich unzutreffenden Maßstab<br />

zu Gr<strong>und</strong>e gelegt. Denn das Landgericht hat bei der Würdigung der Beweise darauf abgestellt, es gebe keine<br />

Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte von einem Verbluten des Geschädigten "ausgegangen" sei. Beendet wäre<br />

der Versuch indes - wie dargelegt - bereits dann, wenn der Angeklagte eine solche Folge für möglich gehalten oder<br />

sich hierüber keine Gedanken gemacht hätte. Auf diesem Rechtsfehler kann das Urteil beruhen.<br />

II. Die Revision des Angeklagten<br />

Der Beschwerdeführer rügt zu Recht, dass die Hauptverhandlung zwischen dem 19. Mai <strong>und</strong> dem 1. Juli 2011 -<br />

mithin entgegen § 229 Abs. 1 StPO länger als drei Wochen - unterbrochen war.<br />

1. Der Rüge liegt das folgende Verfahrensgeschehen zugr<strong>und</strong>e: Am 17. Mai 2011, dem dritten Tag der Hauptverhandlung,<br />

wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der Verteidiger hielten<br />

ihre Schlussvorträge; der Angeklagte hatte das letzte Wort. In dem sodann zur Verkündung des Urteils anberaumten<br />

Termin am Donnerstag, 19. Mai 2011, wurde die Beweisaufnahme wiedereröffnet. Es erging der rechtliche Hinweis,<br />

dass die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung in Betracht komme. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft<br />

regte an, dazu einen psychiatrischen Sachverständigen zu hören. Hierauf unterbrach der Vorsitzende die<br />

Hauptverhandlung <strong>und</strong> bestimmte Fortsetzungstermine auf Mittwoch, 8. Juni 2011, Freitag, 10. Juni 2011 <strong>und</strong> Freitag,<br />

1. Juli 2011. In der Hauptverhandlung am 8. Juni 2011 wurden zwei polizeiliche Vermerke über die Abnahme<br />

von Atemalkoholproben bei den Zeugen P. <strong>und</strong> Z. verlesen. Am 10. Juni 2011 folgte die Verlesung eines Telefax-<br />

Schreibens des Vorsitzenden vom 18. Mai 2011 an die den Geschädigten behandelnden Ärzte sowie der Worte "P-<br />

Ethanol 1,9" aus dem hierauf wunschgemäß mitgeteilten Ergebnis einer Blutwertanalyse. Am 1. Juli 2011 nahm die<br />

Hauptverhandlung mit der Anhörung des vom Landgericht beauftragten psychiatrischen Sachverständigen ihren<br />

Fortgang.<br />

2. Der Senat teilt die Auffassung des Beschwerdeführers, dass das Landgericht im Termin am 10. Juni 2011 - der,<br />

bezogen auf den Fristenlauf, zur Überbrückung der Zeitspanne zwischen dem 19. Mai <strong>und</strong> dem 1. Juli 2011 allein<br />

geeignet <strong>und</strong> erforderlich war (vgl. KK-Gmel, StPO, 6. Aufl., § 229 Rn. 7) - die Hauptverhandlung nicht im Sinne<br />

des § 229 Abs. 4 Satz 1 StPO fortgesetzt hat. Das Landgericht hat an diesem Tage nicht, wie danach notwendig, zur<br />

Sache verhandelt.<br />

a) Zur Sache wird in einem Fortsetzungstermin allerdings gr<strong>und</strong>sätzlich bereits dann verhandelt, wenn Prozesshandlungen<br />

vorgenommen werden oder Erörterungen zu Sach- oder Verfahrensfragen stattfinden, die geeignet sind, das<br />

Verfahren inhaltlich auf den Urteilsspruch hin zu fördern <strong>und</strong> die Sache ihrem Abschluss substantiell näher zu bringen<br />

(BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2007 - 3 StR 254/07, NStZ 2008, 115). Unter diesen Voraussetzungen ist die<br />

Dauer des Termins ebenso wenig von Belang wie die Frage, ob er noch für weitere verfahrensfördernde Handlungen<br />

hätte genutzt werden können. Gleichermaßen unschädlich ist es, wenn der Termin zugleich auch der Einhaltung der<br />

Unterbrechungsfrist dient (BGH, Urteil vom 3. August 2006 - 3 StR 199/06, NJW 2006, 3077). Auch wenn in dem<br />

Termin Verfahrensvorgänge stattfinden, die nach diesen Maßstäben gr<strong>und</strong>sätzlich zur Unterbrechung der Fristen des<br />

§ 229 StPO geeignet sind, liegt ein Verhandeln zur Sache jedoch dann nicht vor, wenn das Gericht dabei nur formal<br />

zum Zwecke der Umgehung dieser Vorschrift tätig wird <strong>und</strong> der Gesichtspunkt der Verfahrensförderung dahinter als<br />

bedeutungslos zurücktritt (BGH, Urteil vom 25. Juli 1996 - 4 StR 172/96, NJW 1996, 3019; Urteil vom 18. März<br />

1998 - 2 StR 675/97, NStZ-RR 1998, 335). Zur Fristwahrung ungeeignete "Schiebetermine" sind danach etwa anzunehmen,<br />

wenn einheitliche Verfahrensvorgänge willkürlich in mehrere kurze Verfahrensabschnitte zerstückelt <strong>und</strong><br />

diese auf mehrere Verhandlungstage verteilt werden, nur um hierdurch die zulässigen Unterbrechungsfristen einzuhalten<br />

(BGH aaO; Beschluss vom 16. Oktober 2007 - 3 StR 254/07, NStZ 2008, 115). Aus demselben Gr<strong>und</strong> verstößt<br />

es gegen § 229 StPO, wenn aus dem gesamten Verfahrensgang erkennbar wird, dass das Gericht mit der Verhandlung<br />

nicht die substantielle Förderung des Verfahrens bezweckt, sondern allein die Wahrung der Unterbrechungsfrist<br />

im Auge hat (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 2011 - 3 StR 61/11, NStZ 2011, 532).<br />

b) So liegt der Fall hier. Der Senat ist von der Richtigkeit des - im Übrigen unwidersprochen gebliebenen - Beschwerdevorbringens<br />

überzeugt, dass die Wiedereröffnung der Beweisaufnahme am 19. Mai 2011 <strong>und</strong> die Anberau-<br />

25


mung der drei Folgetermine allein darauf beruhte, dass das Landgericht nachträglich die materiellen Voraussetzungen<br />

der Sicherungsverwahrung für klärungsbedürftig hielt <strong>und</strong> sich veranlasst sah, hierzu ein psychiatrisches Gutachten<br />

einzuholen. Dementsprechend hat es mit der Beweiserhebung in dem "Brückentermin" am 10. Juni 2011 nur die<br />

Wahrung der Unterbrechungsfrist, nicht aber eine substantielle Förderung des Verfahrens im Auge gehabt. Dass das<br />

Landgericht den erhobenen Blutalkoholwert des Geschädigten W. bei der Überprüfung der Glaubwürdigkeit seiner<br />

Aussage tatsächlich verwertet hat, bleibt unter diesen Umständen ohne Belang. Ein deutliches Anzeichen dafür, dass<br />

das Landgericht die Einholung <strong>und</strong> die Verlesung der Auskunft der behandelnden Ärzte unter dem Gesichtspunkt der<br />

Sachaufklärung an sich für entbehrlich hielt, ergibt sich schon aus dem Umstand, dass es die Beweisaufnahme bereits<br />

geschlossen hatte, ohne den Rückgriff auf diesen - einfachen <strong>und</strong> überschaubaren - Beweisstoff für erforderlich<br />

zu halten. Ebenso sah die Strafkammer beim Wiedereintritt in die Beweisaufnahme am 19. Mai 2011 trotz der vorangegangenen<br />

Anfrage bei den behandelnden Ärzten keinen Anlass für den Hinweis, auch diese Beweiserhebung<br />

müsse nachgeholt werden. Nicht außer Betracht bleiben kann bei der gebotenen Würdigung der Gesamtheit der Verfahrenstatsachen<br />

auch, dass die am 8. Juni 2011 verlesenen Ergebnisse der Atemalkoholproben, die den erst nachträglich<br />

vom Tatgeschehen in Kenntnis gesetzten Zeugen P. <strong>und</strong> Z. abgenommen worden waren, schon objektiv<br />

nicht zur weiteren Aufklärung der Tat- <strong>und</strong> Schuldfrage beitragen konnten. Selbst wenn damit nicht ein einheitlicher<br />

Beweiserhebungsvorgang aufgeteilt wurde, wird im Rahmen der Gesamtschau der insoweit maßgeblichen Vorgänge<br />

der Umstand, dass der Hauptverhandlungstermin vom 10. Juni 2011 allein der formalen Wahrung der Unterbrechungsfrist<br />

des § 229 Abs. 1 StPO diente, letztlich auch dadurch bestätigt, dass das lediglich aus einem Wort <strong>und</strong><br />

einer Zahl bestehende Ergebnis der BAK-Bestimmung beim Geschädigten nicht am 8. Juni 2011 zusammen mit den<br />

beiden polizeilichen Vermerken über die Atemalkoholproben bei den Zeugen P. <strong>und</strong> Z. verlesen wurde. Auch der<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalt erkennt einen sachlich nachvollziehbaren Gr<strong>und</strong> dafür, dass das Landgericht nochmals in die<br />

Beweisaufnahme eingetreten ist, nur in der notwendigen Klärung, ob die materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung<br />

gegeben waren. Seiner Auffassung, die eingeschobenen Termine seien schon deshalb nicht als<br />

"Schiebetermine" anzusehen, weil das Landgericht damit die Aussetzung des Verfahrens vermieden <strong>und</strong> dem Beschleunigungsgr<strong>und</strong>satz<br />

Rechnung getragen habe, kann sich der Senat allerdings nicht anschließen. Zu Ende gedacht<br />

wäre die Vorschrift des § 229 StPO damit hinfällig. Besondere Umstände, die ein Beruhen des Urteils auf diesem<br />

Verfahrensverstoß ausnahmsweise ausschließen können (vgl. BGH, Urteil vom 5. Februar 1970 - 4 StR 272/68,<br />

BGHSt 23, 224), sind nicht ersichtlich.<br />

<strong>StGB</strong> § 30 Versuchsbeginn „Skimming“<br />

BGH, Beschl. v. 11.08.2011 - 2 StR 91/11 - wistra 2011, 422<br />

Ein Versuch des (gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen) Nachmachens von Zahlungskarten mit Garantiefunktion<br />

i.S.v. § 152a Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. <strong>StGB</strong> ist erst dann gegeben, wenn der Täter vorsätzlich<br />

<strong>und</strong> in der tatbestandsmäßigen Absicht mit der Fälschungshandlung selbst beginnt. Zum Versuch<br />

des Nachmachens setzt daher noch nicht an, wer die aufgezeichneten Datensätze nicht in seinen<br />

Besitz bringen <strong>und</strong> sie deshalb auch nicht an seine Mittäter, die die Herstellung der Kartendubletten<br />

vornehmen sollen, übermitteln kann.<br />

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 20. April 2010 im Schuldspruch<br />

dahingehend geändert <strong>und</strong> neu gefasst, dass der Angeklagte L. wegen banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßiger Fälschung von<br />

Zahlungskarten mit Garantiefunktion in 16 Fällen sowie wegen Verabredung der gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen Fälschung<br />

von Zahlungskarten mit Garantiefunktion in fünf Fällen, der Angeklagte M. wegen banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßiger<br />

Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion in vier Fällen sowie wegen Verabredung der gewerbs- <strong>und</strong><br />

bandenmäßigen Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion <strong>und</strong> der Angeklagte D. wegen banden- <strong>und</strong><br />

gewerbsmäßiger Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion in zwei Fällen sowie wegen Verabredung der<br />

gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion verurteilt sind.<br />

2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.<br />

3. Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten wie folgt schuldig gesprochen:<br />

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- den Angeklagten L. wegen banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Fälschens von Zahlungskarten mit Garantiefunktion in 21<br />

Fällen, wobei es in fünf Fällen beim Versuch blieb (Fälle II. 1, 2, 4, 18 <strong>und</strong> 22);<br />

- den Angeklagten M. wegen banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Fälschens von Zahlungskarten mit Garantiefunktion in<br />

fünf Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb (Fall II. 1);<br />

- den Angeklagten D. wegen banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Fälschens von Zahlungskarten mit Garantiefunktion in<br />

drei Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb (Fall II. 22).<br />

Den Angeklagten L. hat es zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren <strong>und</strong> neun Monaten, den Angeklagten M.<br />

zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten <strong>und</strong> den Angeklagten D. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von fünf Jahren <strong>und</strong> drei Monaten verurteilt. Zudem hat das Landgericht diverse Gegenstände, die der Tatausführung<br />

dienten, eingezogen. Die Revisionen der Angeklagten, mit denen diese jeweils die Verletzung materiellen<br />

Rechts, die Angeklagten L. <strong>und</strong> D. zudem die Verletzung formellen Rechts rügen, führen zu einer Änderung des<br />

Schuldspruchs; im Übrigen sind sie aus den Gründen der jeweiligen Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts unbegründet<br />

im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

I. Nach den Feststellungen des Landgerichts waren die Angeklagten Mitglieder einer von Rom aus agierenden Bande,<br />

die sich zusammen geschlossen hatte, um Magnetstreifendaten von Kredit- <strong>und</strong> Maestrokarten sowie die dazu<br />

gehörigen PIN-Nummern auszuspähen, anschließend Kartendubletten herzustellen <strong>und</strong> unter deren Verwendung<br />

missbräuchlich an Geldautomaten Abhebungen vorzunehmen. Zu diesem Zweck brachten sie in der Zeit von März<br />

bis November 2008 in wechselnder Besetzung, teils zusammen mit anderen Bandenmitgliedern, "Skimming-<br />

Technik" in verschiedenen Bankfilialen in Deutschland an. Hierzu tauschten sie unter Einsatz eines entsprechenden<br />

Nachschlüssels jeweils den der Zugangskontrolle dienenden Kartenleser in den Türöffnern der Bankfilialen gegen<br />

ein manipuliertes Kartenlesegerät aus, das die Daten der Kartenmagnetleiste auslas <strong>und</strong> speicherte. Ferner brachten<br />

sie oberhalb des jeweiligen Geldautomaten eine in einem Rauchmelder verborgene Videokamera an, um die Bankk<strong>und</strong>en<br />

bei der Eingabe der PIN zu filmen. Anschließend transferierten die Angeklagten die Kartendaten <strong>und</strong> PIN-<br />

Nummern nach Italien, wo Mittäter Kartendubletten herstellten <strong>und</strong> unter Verwendung der PIN-Nummern an Geldautomaten<br />

Abhebungen in Höhe von insgesamt 1,267 Mio. € vornahmen. In den Fällen II. 1, 2, 4, 18 <strong>und</strong> 22 hat das<br />

Landgericht jeweils eine versuchte gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßige Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion<br />

angenommen, da die Skimming-Technik entdeckt <strong>und</strong> sichergestellt wurde, bevor die Angeklagten Daten ausspähen<br />

bzw. speichern konnten.<br />

II. Die von den Angeklagten L. <strong>und</strong> D. erhobenen Verfahrensrügen haben aus den Gründen der jeweiligen Antragsschrift<br />

des Generalb<strong>und</strong>esanwalts keinen Erfolg. Ebenso wenig zu beanstanden sind die Verurteilungen der Angeklagten<br />

in den Fällen der vollendeten banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion<br />

- des Angeklagten L. in 16 Fällen, des Angeklagten M. in vier Fällen <strong>und</strong> des Angeklagten D. in zwei Fällen.<br />

1. Hingegen hält die Verurteilung der Angeklagten wegen versuchter gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßiger Fälschung von<br />

Zahlungskarten mit Garantiefunktion sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Feststellungen belegen in<br />

diesen Fällen lediglich die Verabredung der gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion<br />

gemäß § 30 Abs. 2, 3. Var., § 152a Abs. 1, § 152b Abs. 1 <strong>und</strong> 2 <strong>StGB</strong>, nicht aber die versuchte Begehung<br />

des Delikts. Mit ihren gescheiterten Bemühungen, in den Besitz der Daten zu gelangen, haben die Angeklagten noch<br />

nicht unmittelbar gemäß § 22 <strong>StGB</strong> zur Verwirklichung des Tatbestandes angesetzt:<br />

a) Nach den allgemeinen Gr<strong>und</strong>sätzen zur Abgrenzung von Vorbereitungshandlungen zum strafbaren Versuch liegt<br />

ein unmittelbares Ansetzen bei solchen Handlungen vor, die nach der Vorstellung des Täters in ungestörtem Fortgang<br />

unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen oder mit ihr in einem unmittelbaren räumlichen <strong>und</strong> zeitlichen<br />

Zusammenhang stehen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum "Jetzt geht es los"<br />

überschreitet, es eines weiteren Willensimpulses nicht mehr bedarf <strong>und</strong> er objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung<br />

ansetzt, so dass sein Tun ohne Zwischenakte in die Erfüllung des Tatbestandes übergeht, wobei auf die<br />

strukturellen Besonderheiten der jeweiligen Tatbestände Bedacht zu nehmen ist (st. Rspr.; vgl. etwa BGH NJW<br />

2010, 623; NStZ 2011, 89).<br />

b) Danach ist ein Versuch des (gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen) Nachmachens von Zahlungskarten mit Garantiefunktion<br />

i.S.v. § 152a Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. <strong>StGB</strong> erst dann gegeben, wenn der Täter vorsätzlich <strong>und</strong> in der tatbestandsmäßigen<br />

Absicht mit der Fälschungshandlung selbst beginnt. Zum Versuch des Nachmachens setzt daher noch nicht an,<br />

wer - wie hier - die aufgezeichneten Datensätze nicht in seinen Besitz bringen <strong>und</strong> sie deshalb auch nicht an seine<br />

Mittäter, die die Herstellung der Kartendubletten vornehmen sollen, übermitteln kann (vgl. BGH NStZ 2011, 89).<br />

Das Anbringen einer Skimming-Apparatur an einem Geldautomaten in der Absicht, dadurch Daten zu erlangen, die<br />

später zur Herstellung der Kartendubletten verwendet werden sollen, ist nur eine als solche straflose Vorbereitungs-<br />

27


handlung. Die Tat stellt hier daher lediglich eine Verabredung zu dem Verbrechen der banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen<br />

Fälschung von Zahlungskarten dar (BGH wistra 2011, 259, 261).<br />

2. Ob daneben der Tatbestand der Vorbereitung der Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion gemäß §<br />

152a Abs. 5, § 152b Abs. 5, § 149 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> erfüllt ist (offen gelassen von BGH wistra 2011, 259, 261),<br />

kann hier dahinstehen. <strong>Teil</strong>s wird vertreten, § 149 <strong>StGB</strong> werde wegen seiner geringeren Strafandrohung (Freiheitstrafe<br />

bis zu fünf Jahren) von dem Tatbestand des § 30 Abs. 2 3. Var., § 152a Abs. 1, § 152b Abs. 1 <strong>und</strong> 2 <strong>StGB</strong>, der<br />

einen Strafrahmen von sechs Monaten bis zu elf Jahren <strong>und</strong> drei Monaten eröffnet, verdrängt (so BGH NJW 2010,<br />

623, 624; Erb in MüKo <strong>StGB</strong> § 149 Rn. 10). Soweit nach a.A. Tateinheit zwischen beiden Delikten möglich sein soll<br />

(vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 149 Rn. 12; Hoyer in SK-<strong>StGB</strong> § 30 Rn. 60; Murmann in SSW <strong>StGB</strong> § 30 Rn. 29;<br />

offen gelassen von BGH wistra 2011, 259, 261), da dem Vergehen nach § 152a Abs. 5, § 152b Abs. 5, § 149 Abs. 1<br />

Nr. 1 <strong>StGB</strong> gegenüber die Verbrechensverabredung nach § 152a Abs. 1, § 152b Abs. 1 <strong>und</strong> 2 <strong>StGB</strong> ein eigener Unrechtsgehalt<br />

zukomme, sind die Angeklagten wegen der Nichtverurteilung auch nach § 149 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> nicht<br />

beschwert.<br />

3. Der Angeklagte L. ist wegen fünf Fällen der Verabredung der gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen Fälschung von Zahlungskarten<br />

mit Garantiefunktion zu verurteilen. Die Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses zwischen verschiedenen<br />

Straftaten richtet sich für jeden Beteiligten allein danach, welche Tathandlungen er im Hinblick auf die jeweilige<br />

Tat vorgenommen hat; dies gilt unabhängig davon, ob die einzelne Tat nur verabredet, versucht oder vollendet worden<br />

ist (BGH wistra 2011, 259, 261, insoweit mißverständlich BGH NJW 2010, 623, 624). Zwar haben die Angeklagten<br />

zunächst eine Bandenabrede getroffen, mit der sie den gr<strong>und</strong>sätzlichen Zusammenschluss zum Zwecke der<br />

Begehung gemeinsamer Straftaten vereinbart haben. Jedem konkreten Skimming-Einsatz ging jedoch eine gesonderte<br />

Vereinbarung des jeweiligen Tatorts, der Tatzeit <strong>und</strong> der Zusammensetzung der Tätergruppe voraus. In den Fällen<br />

II. 1, 2, 4, 18 <strong>und</strong> 22 waren jeweils verschiedene Bankfilialen in verschiedenen Orten betroffen <strong>und</strong> die Taten erfolgten<br />

jeweils im Abstand von einigen Tagen <strong>und</strong> zum <strong>Teil</strong> in unterschiedlicher Besetzung. Die Angeklagten M. <strong>und</strong> D.<br />

haben jeweils in einem Fall eine gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßige Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion<br />

verabredet.<br />

4. Soweit das Landgericht in den Fällen, in denen es zu Geldabhebungen mittels nachgemachter Zahlungskarten<br />

gekommen ist, nicht zudem einen tateinheitlich verwirklichten banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Computerbetrug nach §<br />

263a Abs. 1 <strong>und</strong> Abs. 2 <strong>StGB</strong> erwogen hat (vgl. BGH NStZ 2011, 89), beschwert dies die Angeklagten nicht.<br />

5. Der aufgezeigte Rechtsfehler führt gemäß § 354 Abs. 1 StPO analog zu der aus der Entscheidungsformel ersichtlichen<br />

Änderung des Schuldspruchs. Die Vorschrift des § 265 StPO steht dem nicht entgegen, weil die Angeklagten<br />

sich insoweit nicht hätten anders verteidigen können.<br />

6. Der Senat schließt aus, dass das Landgericht auf der Gr<strong>und</strong>lage des geänderten Schuldspruchs niedrigere Einzelstrafen<br />

verhängt hätte. Der Strafrahmen der (von der Strafkammer fakultativ gemilderten) versuchten gewerbs- <strong>und</strong><br />

bandenmäßigen Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion gemäß § 152a Abs. 1, § 152b Abs. 1 <strong>und</strong> 2, §§<br />

22, 23 Abs. 1 <strong>StGB</strong> entspricht gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 <strong>StGB</strong> dem der Verabredung der gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen<br />

Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion nach § 30 Abs. 2 3. Var., § 152a Abs. 1, § 152b Abs. 1 <strong>und</strong><br />

2 <strong>StGB</strong>.<br />

7. Da die gegen die Verurteilung insgesamt gerichteten Revisionen der Angeklagten nur einen geringen <strong>Teil</strong>erfolg<br />

haben, ist es nicht unbillig, diese mit den gesamten Kosten <strong>und</strong> Auslagen ihrer Rechtsmittel zu belasten (§ 473 Abs.<br />

1 <strong>und</strong> 4 StPO).<br />

28


<strong>StGB</strong> § 30, BtMG § 29 a – Versuchsbeginn bei Handeltreiben mit BtM<br />

BGH, Beschl. v. 03.08.2011 - 2 StR 228/11 - NStZ 2012, 43<br />

Zum Versuchsbeginn beim unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln: Die Herbeischaffung<br />

<strong>und</strong> die begonnene Installation der für die Plantage erforderlichen Gerätschaften stellen für<br />

den Anbau von Cannabis lediglich typische Vorbereitungshandlungen dar, denen nach dem Tatplan<br />

zur Errichtung der Plantage ohnehin weitere vorbereitende Tätigkeiten erst noch folgen sollen.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten G. wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 26. Januar 2011, soweit es ihn<br />

betrifft,<br />

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Verabredung eines Verbrechens des Handeltreibens mit<br />

Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig ist (§§ 30 Abs. 2 <strong>StGB</strong>, 29a Abs. 1 Nr. 2 BtmG);<br />

b) im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt <strong>und</strong> deren Vollstreckung zur Bewährung<br />

ausgesetzt. Dagegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten, die in dem aus dem Tenor<br />

ersichtlichen Umfang Erfolg hat. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Nach den Feststellungen erklärte sich der Angeklagte gegenüber zwei unbekannt gebliebenen Männern bereit,<br />

zwei Zimmer seines Hauses zum Betrieb einer Cannabis-Plantage zu vermieten. Für die Überlassung der Räume<br />

wurde ein fester monatlicher Betrag von 1.000 € sowie je nach Ernteerträgen ein zusätzlicher Betrag vereinbart.<br />

Mitte Mai 2010 brachte der Angeklagte das Plantagenzubehör, das ihm von seinen Komplizen geliefert worden war,<br />

zu seinem Haus. Dort begannen die beiden unbekannt gebliebenen Männer am nächsten Tag mit der Ausgestaltung<br />

der Räume für den Aufbau der Plantage. Hierzu wurden u.a. Durchbrüche zum Dachboden für Lüftungsrohre geschaffen<br />

<strong>und</strong> Reflektorlampen montiert. Auch wurden bereits 300 Pflanztöpfe <strong>und</strong> 340 Säcke mit Erde in die Räume<br />

gebracht. Die Aufbauarbeiten sollten noch in derselben Woche abgeschlossen werden, so dass spätestens in der folgenden<br />

Woche die ersten Cannabissetzlinge hätten angepflanzt werden können. Zu einer Fertigstellung der Plantage<br />

kam es aufgr<strong>und</strong> einer Durchsuchung am 20. Mai 2010 nicht mehr.<br />

2. Die Verurteilung wegen versuchen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge hält sachlichrechtlicher<br />

Nachprüfung nicht stand. Die getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch nicht.<br />

Handeltreiben im Sinne des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG ist jede eigennützige auf den Umsatz von Betäubungsmitteln<br />

gerichtete Tätigkeit. Hiervon sind solche Handlungen abzugrenzen, die lediglich typische Vorbereitungen<br />

darstellen, weil sie weit im Vorfeld des beabsichtigten Güterumsatzes liegen (BGH, Beschluss vom 26. Oktober<br />

2005 - GSSt 1/05, BGHSt 50, 252, 265 f.). Dabei ist auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles abzustellen. Zwar<br />

kann nach ständiger Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs schon die Aufzucht von Cannabispflanzen den Tatbestand<br />

des Handeltreibens erfüllen, wenn der Anbau auf die gewinnbringende Veräußerung der herzustellenden Betäubungsmittel<br />

zielt (vgl. Senat, Urteil vom 27. Juli 2005 - 2 StR 192/05, NStZ 2006, 578; BGH, Beschluss vom 12.<br />

Januar 2005 - 1 StR 476/04, BGHR BtMG § 29a Abs. 1 Nr. 2 Handeltreiben 4; Beschluss vom 15. Februar 2011 - 3<br />

StR 491/10, NJW 2011, 1461 mwN). Der Straftatbestand des unerlaubten Anbauens von Betäubungsmitteln entfaltet<br />

jedoch insoweit eine Begrenzungsfunktion für den Tatbestand des unerlaubten Handeltreibens, als er als Anfangsstadium<br />

den Versuch erst mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Aussaat oder zum Anpflanzen beginnen lässt. Hierzu<br />

kommt es regelmäßig erst mit dem Heranschaffen des Saatguts oder der Setzlinge an die vorbereitete Fläche oder zu<br />

den vorbereiteten Pflanzgefäßen (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Februar 2011 - 3 StR 491/10 aaO; Weber, BtMG, 3.<br />

Aufl., § 29 Rn. 60; Franke/Wienroeder, BtMG, 3. Aufl., § 29 Rn. 7; Körner, BtMG, 6. Aufl., § 29 Rn. 82; Münch-<br />

Komm <strong>StGB</strong>/ Rahlf, 1. Aufl., § 29 BtmG Rn. 80). Die Herbeischaffung <strong>und</strong> die begonnene Installation der für die<br />

Plantage erforderlichen Gerätschaften stellten hier für den Anbau von Cannabis lediglich typische Vorbereitungshandlungen<br />

dar, denen nach dem Tatplan zur Errichtung der Plantage ohnehin weitere vorbereitende Tätigkeiten erst<br />

noch folgen sollten. Die bisherigen Aufbauarbeiten lagen danach weit im Vorfeld des beabsichtigten Güterumsatzes.<br />

29


Der Angeklagte ist daher nur der Verabredung eines Verbrechens des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht<br />

geringer Menge schuldig (§§ 30 Abs. 2 <strong>StGB</strong>, 29a Abs. 1 Nr. 2 BtmG).<br />

3. Der Senat kann den Schuldspruch in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO selbst ändern. § 265<br />

StPO steht nicht entgegen, da sich der geständige Angeklagte auch gegen den geänderten Schuldvorwurf nicht anders<br />

als geschehen hätte verteidigen können. Die Änderung des Schuldspruchs führt zur Aufhebung des Strafausspruchs.<br />

Obgleich das Landgericht den nach §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 <strong>StGB</strong> gemilderten Strafrahmen des § 29a<br />

Abs. 1 Nr. 2 BtmG zugr<strong>und</strong>e gelegt hat, kann der Senat nicht ausschließen, dass sich die geänderte Unrechtsbewertung<br />

zu Gunsten des Angeklagten ausgewirkt hätte, wenn schon das Landgericht nur von einer Verabredung statt von<br />

einem Versuch des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge ausgegangen wäre.<br />

<strong>StGB</strong> § 32 Notwehr, Putativnotweh; Hells-Angels-Fall<br />

BGH, Urt. v. 02.11.2011 - 2 StR 375/11 - ZJS 2012, 109 Anm. Rotsch; JR 2012, 207 Anm. Erb<br />

1. § 164 StPO erlaubt ein Einschreiten nur gegen eine tatsächlich vorliegende oder konkret bevorstehende<br />

Störung der Durchsuchung.<br />

2. Ein Warnschuss zur Abwehr eines Angriffs ist vor Abgabe eines gezielten Schusses nicht erforderlich,<br />

wenn dieser nur zu einer weiteren Eskalation führen würde.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 28. Februar 2011<br />

a) aufgehoben, soweit der Angeklagte wegen Totschlags verurteilt worden ist (Fall II.4 der Urteilsgründe); insoweit<br />

wird der Angeklagte freigesprochen,<br />

b) im Fall II.2 der Urteilsgründe im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der versuchten Nötigung<br />

schuldig ist,<br />

c) im Strafausspruch mit den Feststellungen im Fall II.2 <strong>und</strong> im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere, allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.<br />

4. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorgenannte Urteil aufgehoben, soweit der Angeklagte im Fall<br />

II.3 der Urteilsgründe freigesprochen wurde; insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch<br />

über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

5. Die weitergehende Revision der Staatsanwaltschaft wird als unbegründet verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags, Nötigung <strong>und</strong> versuchter räuberischer Erpressung zu einer<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt <strong>und</strong> ihn vom Vorwurf einer versuchten räuberischen Erpressung aus<br />

rechtlichen Gründen sowie vom Vorwurf einer versuchten Nötigung oder Bedrohung aus tatsächlichen Gründen<br />

freigesprochen. Gegen die Verurteilung richtet sich die Revision des Angeklagten mit einer Verfahrensrüge <strong>und</strong> der<br />

Sachbeschwerde. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer zuungunsten des Angeklagten eingelegten Revision<br />

die Freisprechung des Angeklagten vom Vorwurf einer versuchten räuberischen Erpressung in einem weiteren Fall<br />

sowie die Strafzumessung in den Fällen, in denen er verurteilt wurde. Die Rechtsmittel haben in dem aus der Urteilsformel<br />

ersichtlichen Umfang zum <strong>Teil</strong> Erfolg.<br />

I. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der - nicht vorbestrafte - Angeklagte der für die Disziplin <strong>und</strong> Ordnung<br />

zuständige "Sergeant at Arms" im "Chapter Bo. " des Motorrad- <strong>und</strong> Rockerclubs "Hells Angels". Vor diesem<br />

Hintergr<strong>und</strong> kam es zu folgendem Geschehen:<br />

1. Der Zeuge C. war als Mitglied des Motorradclubs unter anderem für Beschaffung <strong>und</strong> Verkauf von "Support"-<br />

Artikeln, wie Jacken, Hemden <strong>und</strong> Kappen mit Emblemen der "Hells Angels", zuständig. Er hatte den Warenbestand<br />

zu verwalten <strong>und</strong> ein Kassenbuch zu führen, ferner sollte er Mitgliedsbeiträge einfordern. Im Jahr 2008 kam es zu<br />

einem Fehlbestand an Warenvorräten sowie zu Ausfällen bei den Mitgliedsbeiträgen, was aus der Sicht des Motorradclubs<br />

der Zeuge C. zu vertreten hatte. Deshalb wurde gegen diesen eine Forderung in Höhe von insgesamt 15.319<br />

Euro geltend gemacht, er zahlte jedoch nicht. Der Angeklagte wollte Druck auf C. ausüben <strong>und</strong> suchte ihn im November<br />

2008 zusammen mit den gesondert verfolgten Clubmitgliedern S. <strong>und</strong> K. auf. Der Angeklagte schlug zur<br />

Erledigung der Angelegenheit vor, dass C. auf die Forderung einen <strong>Teil</strong>betrag in Höhe von 7.000 Euro bezahle, <strong>und</strong><br />

30


emerkte: "Dann brauchen wir nicht über `bad standing´ zu reden". Damit war die Gepflogenheit der "Hells Angels"<br />

gemeint, im Unfrieden ausscheidende Mitglieder Repressalien durch andere Clubmitglieder auszusetzen. Tatsächlich<br />

befürchtete C., wie der Angeklagte wusste <strong>und</strong> beabsichtigte, aufgr<strong>und</strong> der Äußerung des Angeklagten derartige<br />

Rachehandlungen. An später tatsächlich angewendeter Gewalt durch andere Clubmitglieder war der Angeklagte<br />

nicht beteiligt; es ist auch nicht festgestellt, dass er davon wusste. C. erbrachte danach Ratenzahlungen auf die vom<br />

Angeklagten auf 7.000 Euro reduzierte Forderung, die formal als Darlehen deklariert wurde. Dabei stand er auch<br />

noch unter dem Eindruck des drohenden Hinweises des Angeklagten auf ein "bad standing". Das Landgericht hat die<br />

Handlung des Angeklagten als Nötigung bewertet (Fall II.1 der Urteilsgründe).<br />

2. Die Zeugin V. ging seit 2006 auf einem Parkplatz im Sperrbezirk in D. der Prostitution nach, wozu sie ein von<br />

dem Zeugen Kr. angemietetes Wohnmobil verwendete. Im Jahr 2009 kamen die Zeuginnen W. <strong>und</strong> M. als Konkurrentinnen<br />

hinzu, im Juli 2009 auch die Zeugin G., die in Begleitung ihres Verlobten T., eines Mitglieds der "Hells<br />

Angels", sowie des Angeklagten erschien. Kurze Zeit später berichtete die Zeugin G. ihrem Verlobten <strong>und</strong> dem Angeklagten,<br />

dass es Ärger mit der Zeugin V. gebe, die unter anderem angekündigt habe, ihren Chef "vorbeizuschicken".<br />

Der Angeklagte <strong>und</strong> T. beschlossen, die Zeugin V. durch Drohungen von ihrem Standplatz zu vertreiben.<br />

Deshalb traten beide am 5. oder 6. August 2009 - mit "Kutten" der "Hells Angels" bekleidet - gegenüber der Zeugin<br />

V. auf <strong>und</strong> drohten ihr "Ärger" sowie ein "blaues W<strong>und</strong>er" an, um sie zur Aufgabe ihres Standplatzes zu bewegen. T.<br />

fügte im Einvernehmen mit dem Angeklagten hinzu, falls seine Verlobte von weiteren Streitereien berichten sollte,<br />

werde er die Zeugin V. "einen Kopf kürzer machen". Ein von der Zeugin V. vermitteltes Telefongespräch des Angeklagten<br />

mit der Zeugin Kr., der Ehefrau des "Chefs", blieb ergebnislos (Fall IV. der Anklage). Die Zeugin V. gab in<br />

der Folgezeit der Drohung durch den Angeklagten <strong>und</strong> seinen Clubkameraden T. nicht nach <strong>und</strong> behauptete ihren<br />

Standplatz schließlich bis zur behördlichen Durchsetzung der Sperrbezirksverordnung im September 2009. Dies hat<br />

das Landgericht als versuchte räuberische Erpressung des Angeklagten zum Nachteil der Zeugin V. angesehen (Fall<br />

II.2 der Urteilsgründe), ihn aber vom Vorwurf einer versuchten Nötigung oder Bedrohung der Zeugin Kr. freigesprochen<br />

(Fall IV. der Anklage), was wegen einer Revisionsbeschränkung der Staatsanwaltschaft nicht mehr Gegenstand<br />

des Verfahrens ist.<br />

3. Die gesondert verfolgte Ke., Schwester der Verlobten des Angeklagten, schloss am 8. Dezember 2008 einen Vertrag<br />

mit dem Sportstudio "F. " der Zeugen <strong>und</strong> Gü. . Der Vertrag sah die <strong>Teil</strong>nahme an einer vierwöchigen "Einführung<br />

in das Ges<strong>und</strong>heitstraining" vor. Dies war mit einer vorläufigen Mitgliedschaft im Sportstudio verb<strong>und</strong>en, die<br />

zur Vollmitgliedschaft werden sollte, falls nicht während der Dauer des Einführungskurses ein Widerruf erklärt würde.<br />

Ke. widerrief den Vertrag nicht. Das Sportstudio machte deshalb später eine Forderung in Höhe von 910 Euro<br />

gegen sie geltend <strong>und</strong> buchte diesen Betrag von ihrem Konto ab. Danach kam es zum Streit um die Berechtigung von<br />

Zahlungsforderungen des Sportstudios. Ke. leistete ab dem 23. November 2009 keine Mitgliedsbeiträge mehr. Sie<br />

wandte sich an den Angeklagten <strong>und</strong> behauptete, dass sie keinen Vertrag mit dem Sportstudio abgeschlossen habe;<br />

gleichwohl sei von ihrem Konto Geld abgebucht worden. Der Angeklagte bot ihr an, dass er mit den Inhabern des<br />

Sportstudios sprechen <strong>und</strong> dazu weitere Mitglieder der "Hells Angels" mitnehmen werde. Auf ein Vergleichsangebot<br />

der Zeugin Gü. wollten sich Ke. <strong>und</strong> der Angeklagte nicht einlassen. Die Inhaber des Sportstudios sollten vielmehr<br />

durch Drohungen zur Rückzahlung des abgebuchten Betrages sowie zum Verzicht auf weitere Beiträge gezwungen<br />

werden. Der Angeklagte ging dabei davon aus, dass die Forderung von Ke. berechtigt sei. Er begab sich mit den<br />

Mitgliedern der "Hells Angels" T. <strong>und</strong> Bou. in das Sportstudio, gab sich dort gegenüber Gü. als Fre<strong>und</strong> von Ke. zu<br />

erkennen <strong>und</strong> erklärte, er übernehme nun die Regelung des Problems. Gü. wies ihn zurück. Der Angeklagte kündigte<br />

an, wenn der Streit nicht im Sinne von Ke. beigelegt werde, komme er mit seinen Begleitern wieder, dann sehe "hier<br />

alles ganz anders aus". Im Weggehen fügte er hinzu, sie wüssten, welches Auto die Zeugin Gü. fahre <strong>und</strong> man werde<br />

noch von ihnen hören. Dabei rechnete er damit, dass seine Äußerungen dazu genügen könnten, dass sich die Zeugin<br />

Gü. den Forderungen beugen werde. Er erwog aber auch weitere Maßnahmen <strong>und</strong> erörterte das künftige Vorgehen<br />

am 23. Januar 2010 in einem Telefongespräch mit Bec., der Mutter von Ke.. Diese riet dazu, ein Gespräch zwischen<br />

ihrer Tochter <strong>und</strong> der Zeugin Gü. abzuwarten. Der Angeklagte meinte, Ke. sei nicht stark genug, um einer polizeilichen<br />

Befragung nach den Beteiligten Stand zu halten, falls es zu weiteren "Auftritten" der "Hells Angels" komme. Er<br />

zweifelte daran, dass sich dieser "Auftrieb" lohne. Bei einem Telefonat am 25. Januar 2010 stimmte er Bec. zu, dass<br />

es sinnvoller wäre, einen Rechtsanwalt einzuschalten. Am Folgetag, dem 26. Januar 2010, kam es zu einem Gespräch<br />

zwischen Ke. <strong>und</strong> Gü., die ein Vergleichsangebot unterbreitete <strong>und</strong> angab, andernfalls werde sie einen<br />

Rechtsanwalt einschalten. Hiernach drängte der Angeklagte auch Ke. dazu, einen Anwalt einzuschalten, was sie<br />

schließlich tat. Danach wurde unter Mitwirkung von <strong>Rechtsanwälte</strong>n ein gerichtlich protokollierter Vergleich herbeigeführt.<br />

Das Landgericht hat deshalb angenommen, der Angeklagte sei strafbefreiend vom Versuch der räuberischen<br />

Erpressung zurückgetreten (Fall II.3 der Urteilsgründe).<br />

31


4. Im Februar <strong>und</strong> März 2010 entstanden Gerüchte, dass ein Mitglied des verfeindeten Motorradclubs "Bandidos" ein<br />

Mitglied der "Hells Angels" töten oder zumindest schwer verletzen wolle, um sich einen Aufnäher mit dem Schriftzug<br />

"Expect no Mercy" sowie eine Prämie von 25.000 Euro zu verdienen. Hintergr<strong>und</strong> dafür war, dass am 8. Oktober<br />

2009 A. als Mitglied der "Hells Angels" ein Mitglied der "Bandidos" erschossen hatte. Der Zeuge L. , der Anwärter<br />

("Hangaro<strong>und</strong>") auf eine Vormitgliedschaft ("Prospekt") bei den "Bandidos" war, der aber zugleich Kontakte<br />

zu Mitgliedern der "Hells Angels" unterhielt, erteilte eine Warnung. Er gab an, der Zeuge Le. , ein weiterer "Hangaro<strong>und</strong>"<br />

bei den "Bandidos", plane den Angriff <strong>und</strong> führe unter anderem zu diesem Zweck eine abgesägte Schrotflinte<br />

in seinem Auto mit. Am 13. März 2010 wurde L. wegen seiner Kontakte zu den "Hells Angels" von Mitgliedern<br />

der "Bandidos" verprügelt <strong>und</strong> aus ihrem Club vertrieben. Danach stellten der Angeklagte <strong>und</strong> seine Clubkameraden<br />

T. <strong>und</strong> Bou. den Zeugen L. am 16. März 2010 zur Rede. Er bestritt aber eigene Angriffsabsichten <strong>und</strong> behauptete,<br />

tatsächlich berühme sich L. seiner Angriffsabsichten gegen die "Hells Angels". Der Angeklagte war danach<br />

davon überzeugt, dass jedenfalls irgendein Mitglied der "Bandidos" tatsächlich einen Angriff auf ein Mitglied der<br />

"Hells Angels" plane.<br />

In der Zwischenzeit ermittelten die Strafverfolgungsbehörden gegen Mitglieder der "Hells Angels" wegen der Tat<br />

zum Nachteil der Zeugin V. (oben I.2). Das Amtsgericht Ko. erließ zehn Durchsuchungsbeschlüsse gegen verschiedene<br />

Mitglieder des Motorradclubs "Hells Angels". Einer der Beschlüsse betraf die Durchsuchung von Wohnhaus<br />

<strong>und</strong> Fahrzeug des Angeklagten. Ziel der Maßnahme sollte das Auffinden von Beweismitteln über die Drohungen des<br />

Angeklagten <strong>und</strong> weiterer Mitlieder der "Hells Angels" gegen die Zeugin V. sein. Aus taktischen Gründen sollten<br />

alle Durchsuchungen zur gleichen Zeit stattfinden. Weil der Angeklagte als gewaltbereit eingeschätzt wurde <strong>und</strong> -<br />

mit behördlicher Erlaubnis - über Schusswaffen verfügte, beschloss das Landeskriminalamt, dass ein Spezialeinsatzkommando<br />

eingesetzt werden solle, um gewaltsam in das Haus des Angeklagten einzudringen, diesen im Schlaf zu<br />

überraschen, eine "stabile Lage" herzustellen <strong>und</strong> eine ungestörte Durchsuchung zu ermöglichen. Dazu wurden zehn<br />

Beamte des Spezialeinsatzkommandos kurz vor 06.00 Uhr am 17. März 2010 am Zugriffsort eingesetzt. Sie umstellten<br />

das Haus des Angeklagten, wodurch Fluchtmöglichkeiten ausgeschlossen wurden. Fünf Beamte, denen das Eindringen<br />

in das Haus als erste Einsatzkräfte oblag, postierten sich an der Vorderfront nahe der Eingangstür dicht an<br />

der Hauswand. Darunter befand sich der Beamte Kop. als Türöffnungsspezialist. Dieser sollte mit einem hydraulischen<br />

Gerät das Türschloss sowie zwei Zusatzverriegelungen zerstören, die der Angeklagte nach früheren Einbrüchen<br />

von Dieben in sein Haus angebracht hatte, die Tür dann mit einer Ramme aus dem Rahmen drücken <strong>und</strong> so das<br />

Eindringen ermöglichen. Alle Beamten waren bewaffnet, mit Sturmhauben zur Tarnung <strong>und</strong> mit Helmen nebst Visier<br />

sowie Schutzwesten mit der Aufschrift "Polizei" ausgerüstet. In einiger Entfernung hielten sich weitere Einsatzkräfte<br />

der Sondereinheit, ein Notarztteam, der Einsatzleiter, der ermittelnde Staatsanwalt sowie Beamte der N. Polizei<br />

bereit. Der Einsatz begann um 06.00 Uhr bei Dämmerung. Im Haus des Angeklagten brannte kein Licht. Die<br />

Rollläden der Fenster waren ganz oder teilweise geschlossen. Der Beamte Kop. setzte, vor der Haustür kniend, das<br />

hydraulische Gerät zur Türöffnung zwischen Zarge <strong>und</strong> Türblatt an <strong>und</strong> bediente die Hydraulik, worauf eine der<br />

Verriegelungen mit lautem Knacken zerbrach. Der Beamte brachte das Gerät danach an der rechten Türseite in Höhe<br />

des Türschlosses an, das sodann wiederum mit lautem Knacken aufgebrochen wurde. Schließlich musste in einem<br />

dritten Arbeitsgang noch eine letzte Türverriegelung an der Oberkante der Tür geöffnet werden. Die Ramme zum<br />

Eindrücken der Tür wurde schon herbeigeholt. Inzwischen war der Angeklagte, der zusammen mit seiner Verlobten<br />

S. K. im Obergeschoss geschlafen hatte, von dieser geweckt worden, weil sie Geräusche gehört hatte; er hatte vergeblich<br />

versucht, durch das Schlafzimmerfenster Personen zu erkennen <strong>und</strong> hatte Geräusche sowie Stimmen an der<br />

Haustür gehört. Er nahm an, dass er das Opfer des angekündigten Überfalls von "Bandidos" werden sollte. Er nahm<br />

eine Pistole, über die er mit behördlicher Waffenbesitzerlaubnis verfügte, lud sie mit einem Magazin mit acht Patronen<br />

<strong>und</strong> betätigte den Lichtschalter für die Beleuchtung von Flur <strong>und</strong> Treppe. Seine Verlobte, die ihm folgen wollte,<br />

wies er an, ins Schlafzimmer zurückzugehen, die Tür zu schließen <strong>und</strong> mit dem Mobiltelefon ihre Mutter <strong>und</strong> seinen<br />

Bruder von dem – vermeintlichen - Überfall zu benachrichtigen. Er ging dann die Treppe hinab <strong>und</strong> nahm wahr, dass<br />

trotz des eingeschalteten Lichts weiter an der Haustür gearbeitet wurde. Die Beamten hatten über die Hörsprecheinrichtung<br />

ihrer Helme die Meldung "Licht" erhalten, gingen aber gleichwohl weiter verdeckt vor <strong>und</strong> gaben sich nicht<br />

zu erkennen. Aus der Fortsetzung der Aufbruchtätigkeiten an der Haustür trotz Einschaltung der Beleuchtung im<br />

Hause schloss der Angeklagte, dass es sich nicht um normale Einbrecher handelte, sondern um den befürchteten,<br />

gegen sein Leben <strong>und</strong> das seiner Verlobten gerichteten Angriff von "Bandidos". Es kam ihm nicht in den Sinn, dass<br />

es sich um einen Polizeieinsatz handeln könne. Durch zwei 10,5 mal 44 cm große Ornamentgläser in der Haustür<br />

konnte er keine Einzelheiten erkennen, sah aber Umrisse einer Person. Er blieb am Treppenabsatz in Deckung stehen<br />

<strong>und</strong> rief: "verpisst euch", was jedoch von den Beamten nicht gehört wurde, die das Aufbrechen der Haustür fortsetzten.<br />

In dieser von ihm als lebensbedrohlich empf<strong>und</strong>enen Situation gab der Angeklagte, der damit rechnete, er könne<br />

32


alsbald durch die Tür oder sofort nach dem unmittelbar drohenden Aufbrechen der Tür von den vermeintlichen Angreifern<br />

beschossen werden, zu seiner Verteidigung zwei Schüsse auf die Tür ab, die der Bewegung der Person folgten,<br />

die sich an der Tür zu schaffen machte <strong>und</strong> die sich gerade aus gebückter Position aufrichtete. Bei der Schussabgabe<br />

nahm der Angeklagte billigend in Kauf, dass ein Mensch tödlich getroffen werden könnte. Der erste Schuss, der<br />

111,5 cm über dem Boden die Haustür durchschlug, ging fehl; der zweite durchschlug 121 cm über dem Boden die<br />

Tür <strong>und</strong> traf den Beamten Kop. unter den erhobenen linken Arm. Das Geschoss drang durch die Öffnung des<br />

Schutzpanzers am Oberarm in den Brustkorb ein <strong>und</strong> verletzte den Beamten tödlich. Nun rief ein anderer Beamter:<br />

"Sofort aufhören zu schießen. Hier ist die Polizei." Der Angeklagte legte die Waffe sofort weg, lief zum Fenster <strong>und</strong><br />

rief: "Wie könnt ihr so was machen? Warum habt ihr nicht geklingelt? Wieso gebt ihr euch nicht zu erkennen?". Er<br />

ließ sich widerstandslos verhaften, wobei er verletzt wurde (Fall II.4 der Urteilsgründe). Das Landgericht hat die<br />

Handlung des Angeklagten als Totschlag bewertet. Es habe keine Notwehrlage vorgelegen, vielmehr ein rechtmäßiger<br />

Polizeieinsatz. Die Durchsuchung habe zum Auffinden von Beweismitteln, insbesondere schriftlichen Aufzeichnungen,<br />

über die Tat zum Nachteil der Zeugin V. gedient. Die Einschaltung des Spezialeinsatzkommandos habe<br />

dafür eine "stabile Lage" herstellen sollen. Zugleich sei der Schutz der Beamten bezweckt worden. Wenn sich diese<br />

dazu entschlossen hätten, auch noch nach dem Einschalten des Lichts an der Treppe <strong>und</strong> im Flur durch den Angeklagten<br />

weiter verdeckt vorzugehen <strong>und</strong> sich nicht zu erkennen zu geben, so erscheine dies nachträglich als Fehleinschätzung;<br />

dies ändere jedoch nichts an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Angesichts der Rechtmäßigkeit des<br />

polizeilichen Vorgehens sei auch weder ein rechtfertigender Notstand (§ 34 <strong>StGB</strong>) noch ein Strafausschließungsgr<strong>und</strong><br />

wegen Notwehrüberschreitung (§ 33 <strong>StGB</strong>) oder ein Schuldausschließungsgr<strong>und</strong> wegen Notstands (§ 35<br />

<strong>StGB</strong>) anzunehmen. Putativnotwehr (§§ 32, 16 Abs. 1 <strong>StGB</strong>) könne gleichfalls nicht angenommen werden; denn<br />

auch als vermeintliche Notwehrhandlung sei der sofortige Schusswaffeneinsatz gegen einen Menschen nicht geboten<br />

gewesen. Zuvor wäre die Abgabe eines Warnschusses erforderlich gewesen. Einen möglichen Verbotsirrtum habe<br />

der Angeklagte vermeiden können.<br />

II. Die Revision des Angeklagten hat einen <strong>Teil</strong>erfolg.<br />

1. Die Verfahrensrüge ist aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt in der Revisionshauptverhandlung erläuterten Gründen<br />

unbegründet.<br />

2. Die sachlich-rechtlichen Beanstandungen des Urteils durch den Angeklagten dringen zum <strong>Teil</strong> durch. Sie sind<br />

unbegründet, soweit der Angeklagte wegen Nötigung verurteilt wurde (Fall II.1 der Urteilsgründe des Landgerichts),<br />

führen aber zur Schuldspruchänderung von versuchter räuberischer Erpressung zu versuchter Nötigung <strong>und</strong> zur Aufhebung<br />

der diesbezüglichen Einzelstrafe (Fall II.2) sowie zur Urteilsaufhebung <strong>und</strong> Freisprechung des Angeklagten<br />

vom Vorwurf des Totschlags (Fall II.4).<br />

a) Die Sachrüge des Angeklagten ist unbegründet, soweit sie sich gegen seine Verurteilung wegen Nötigung des<br />

Zeugen C. wendet (Fall II.1). Aufgr<strong>und</strong> der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen ist das Landgericht zutreffend<br />

von einer vollendeten Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 <strong>StGB</strong> ausgegangen. Da es sich hier um einen einheitlichen,<br />

wenngleich zeitlich gestreckten Tathergang handelte, ist dem Angeklagten der Erfolgseintritt durch Ratenzahlungen<br />

des Zeugen C. an das "Hells Angels"-Mitglied K. zuzurechnen, obwohl er an zwischenzeitlichen weiteren<br />

Nötigungshandlungen der gesondert verfolgten "Hells Angels"-Mitglieder H. , Ca. <strong>und</strong> R. persönlich nicht beteiligt<br />

war. Bei der sukzessiven Tatausführung (vgl. BGH, Urteil vom 30. November 1995 – 5 StR 465/95, BGHSt 41, 368,<br />

369) ist keine Zäsur eingetreten. Das Landgericht ist rechtsfehlerfrei von der Fortwirkung der Drohungen des Angeklagten<br />

zur Zeit der Ratenzahlungen des Genötigten an K. auf die vom Angeklagten reduzierte Forderung ausgegangen.<br />

Damit hat sich die Nötigungshandlung durch Eintritt des Nötigungserfolges in einer dem Vorsatz des Angeklagten<br />

entsprechenden Weise ausgewirkt. Ein überholender, die von dem Angeklagten begründete Kausalkette abbrechender<br />

Geschehensverlauf, der zur Nichtzurechnung des Erfolgseintritts führen könnte, liegt nicht vor. Die weiteren<br />

Nötigungshandlungen richteten sich auf dasselbe Ziel <strong>und</strong> hielten sich im Rahmen des vom Angeklagten ausdrücklich<br />

angedrohten "bad standing".<br />

b) Rechtsfehlerhaft ist die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchter räuberischer Erpressung gemäß §§ 253,<br />

255, 22 <strong>StGB</strong> zum Nachteil der Prostituierten V. (Fall II.2). Insoweit liegt nur eine versuchte Nötigung im Sinne der<br />

§§ 240 Abs. 1 <strong>und</strong> 2, 22 <strong>StGB</strong> vor. Geschütztes Rechtsgut der §§ 253, 255 <strong>StGB</strong> ist das Vermögen. Versuchte räuberische<br />

Erpressung läge deshalb nur vor, wenn der Tatentschluss des Angeklagten darauf gerichtet gewesen wäre, dem<br />

Vermögen des Opfers einen Nachteil zuzufügen. Der Verlust einer bloßen ungesicherten Aussicht eines Geschäftsabschlusses<br />

kann gr<strong>und</strong>sätzlich noch nicht als Vermögensschaden angesehen werden. Erwerbs- <strong>und</strong> Gewinnaussichten<br />

können nur ausnahmsweise Vermögensbestandteil sein, wenn sie so verdichtet sind, dass ihnen der Rechtsverkehr<br />

bereits einen wirtschaftlichen Wert beimisst, weil sie mit einiger Wahrscheinlichkeit einen Vermögenszuwachs<br />

erwarten lassen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 1962 – 1 StR 496/61, BGHSt 17, 147, 148; Urteil vom 19. Januar<br />

33


1965 - 1 StR 497/64, 20, 143, 145 f.; Urteil vom 28. Januar 1983 - 1 StR 820/81, 31, 232, 234). Die Standposition<br />

der Zeugin V. als Prostituierte war in diesem Sinne kein von § 253 <strong>StGB</strong> geschützter Vermögensbestandteil. Aus ihr<br />

resultierte keine gesicherte Erwerbsaussicht, insbesondere auch weil die Ausübung der Prostitution im Sperrbezirk<br />

jederzeit behördlich unterb<strong>und</strong>en werden konnte. Auf die nach Inkrafttreten des Prostitutionsgesetzes geänderte<br />

Beurteilung der Wirksamkeit einer Geldforderung der Prostituierten nach der Erbringung ihrer vereinbarten Leistung<br />

(vgl. zur diesbezüglichen Erpressung BGH, Beschluss vom 18. Januar 2011 - 3 StR 467/10, NStZ 2011, 278, 279)<br />

kommt es hier nicht an. Der Senat ändert daher den Schuldspruch in versuchte Nötigung (§§ 240 Abs. 1 <strong>und</strong> 2, 22<br />

<strong>StGB</strong>). § 265 Abs. 1 StPO steht dem nicht entgegen, weil auszuschließen ist, dass sich der Angeklagte gegen den<br />

minderen Vorwurf anders als geschehen hätte verteidigen können. Die Änderung des Schuldspruchs im Fall II.2<br />

führt zur Aufhebung der Einzelstrafe; diese muss neu zugemessen werden.<br />

c) Keinen Bestand haben kann die Verurteilung des Angeklagten wegen Totschlags (Fall II.4 der Urteilsgründe des<br />

Landgerichts).<br />

aa) Eine Notwehrlage hätte für ihn vorgelegen, wenn der Polizeieinsatz in seiner konkreten Gestalt nicht rechtmäßig<br />

war. Gegen die Rechtmäßigkeit könnte sprechen, dass es sich bei einer Durchsuchung um eine gr<strong>und</strong>sätzlich offen<br />

durchzuführende Maßnahme handelt. Ob sich für das konkrete Vorgehen der Polizei in den §§ 102 ff. StPO eine<br />

gesetzliche Ermächtigungsgr<strong>und</strong>lage ergibt (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 2007 – StB 18/06, BGHSt 51, 211,<br />

212 f.), kann zweifelhaft sein. § 164 StPO erlaubt ein Einschreiten nur gegen eine tatsächlich vorliegende oder konkret<br />

bevorstehende Störung der Durchsuchung (vgl. LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 26. Februar 2008 – 5/26<br />

Qs 6/08 – mit Anm. Jahn JuS 2008, 649 ff.; Eisenberg in Festschrift für Rolinski, 2002, S. 165, 175 f.; Erb in LR,<br />

StPO, 26. Aufl., § 164 Rn. 8; C. Müller, Rechtsgr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Grenzen zulässiger Maßnahmen bei der Durchsuchung<br />

von Wohn- <strong>und</strong> Geschäftsräumen, 2003, S. 86 f.). Ob präventiv-polizeirechtliche Regeln das Verfahren der<br />

strafprozessualen Durchsuchung abändern können, ist fraglich (abl. C. Müller aaO S. 58 ff. mwN). Die Frage der<br />

Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes <strong>und</strong> eines hieraus folgenden möglichen Notwehrrechts des Angeklagten hiergegen<br />

kann aber im Ergebnis offen bleiben; denn jedenfalls befand sich der Angeklagte in einem Erlaubnistatbestandsirrtum.<br />

bb) Die Voraussetzungen eines Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgr<strong>und</strong>es liegen<br />

vor. Dies führt entsprechend § 16 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> zum Ausschluss der Vorsatzschuld.<br />

Der Angeklagte ging nach den Feststellungen des Landgerichts aufgr<strong>und</strong> der Hinweise vom Vortag durch die Zeugen<br />

L. <strong>und</strong> Le. von einem Überfall durch ein Rollkommando der verfeindeten "Bandidos" aus. Er schloss einen "normalen<br />

Einbruch" angesichts des Vorgehens der Angreifer, die sich auch durch Einschalten der Beleuchtung im Haus<br />

<strong>und</strong> den Ruf "verpisst euch" nicht aufhalten ließen, aus. Die Bedrohung war aus seiner Sicht akut, da die Angreifer<br />

die Haustür bereits weitgehend aufgebrochen hatten <strong>und</strong> das Eindringen unmittelbar bevorstand, weil er mit einer<br />

nicht abschätzbaren Zahl von Angreifern mit unbekannter Bewaffnung <strong>und</strong> Ausrüstung <strong>und</strong> mit einem besonders<br />

aggressiven Vorgehen rechnete. Wenn diese irrtümliche Annahme des Angeklagten zutreffend gewesen wäre, wäre<br />

der sogleich auf eine Person gerichtete Schusswaffeneinsatz als erforderliche Notwehrhandlung gerechtfertigt gewesen.<br />

Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, dann ist sie gr<strong>und</strong>sätzlich dazu berechtigt, dasjenige Abwehrmittel<br />

zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; der Angegriffene muss sich nicht mit der<br />

Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel begnügen, wenn deren Abwehrwirkung zweifelhaft ist. Das<br />

gilt auch für die Verwendung einer Schusswaffe. Nur wenn mehrere wirksame Mittel zur Verfügung stehen, hat der<br />

Verteidigende dasjenige Mittel zu wählen, das für den Angreifer am wenigsten gefährlich ist. Wann eine weniger<br />

gefährliche Abwehr geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei <strong>und</strong> sofort endgültig zu beseitigen, hängt von den Umständen<br />

des Einzelfalls ab (vgl. Senat, Urteil vom 5. Oktober 1990 – 2 StR 347/90, NJW 1991, 503, 504). Unter mehreren<br />

Abwehrmöglichkeiten ist der Verteidigende zudem nur dann auf die für den Angreifer weniger gravierende verwiesen,<br />

wenn ihm genügend Zeit zur Wahl des Mittels sowie zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht (vgl.<br />

Senat, Urteil vom 30. Juni 2004 – 2 StR 82/04, BGHR <strong>StGB</strong> § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 17). In der Regel ist der<br />

Angegriffene bei einem Schusswaffeneinsatz zwar gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen oder vor<br />

einem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Einsatz zu versuchen. Die Notwendigkeit eines Warnschusses<br />

kann aber nur dann angenommen werden, wenn ein solcher Schuss auch dazu geeignet gewesen wäre, den Angriff<br />

endgültig abzuwehren (vgl. Senat, Beschluss vom 28. Oktober 1992 – 2 StR 300/92, StV 1993, 241, 242). Das war<br />

hier nicht der Fall, zumal der Angeklagte damit rechnete, dass er seinerseits von den Angreifern durch die Tür hindurch<br />

beschossen werden könne. Ihm blieb angesichts seiner Annahme, dass ein endgültiges Aufbrechen der Tür <strong>und</strong><br />

das Eindringen mehrerer bewaffneter Angreifer oder aber ein Beschuss durch die Tür unmittelbar bevorstand, keine<br />

Zeit zur ausreichenden Abschätzung des schwer kalkulierbaren Risikos. Bei dieser zugespitzten Situation ist nicht<br />

ersichtlich, warum die Abgabe eines Warnschusses die Beendigung des Angriffs hätte erwarten lassen (vgl. Senat,<br />

34


Urteil vom 2. Oktober 1996 – 2 StR 332/96; BGHR <strong>StGB</strong> § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 13). Ein Warnschuss ist im<br />

Übrigen auch nicht erforderlich, wenn dieser nur zu einer weiteren Eskalation führen würde (vgl. Rönnau/Hohn in<br />

LK <strong>StGB</strong> § 32 Rn. 177). Hier war aus Sicht des Angeklagten zu erwarten, dass die hartnäckig vorgehenden Angreifer<br />

ihrerseits gerade dann durch die Tür schießen würden, wenn sie durch einen Warnschuss auf die Abwehrbereitschaft<br />

des Angeklagten aufmerksam gemacht worden wären. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang muss sich<br />

ein Verteidiger nicht einlassen. Daher waren beide Schüsse, die der Angeklagte durch die Tür abgegeben hat, aus<br />

seiner Sicht erforderliche Notwehrhandlungen (vgl. Senat, Urteil vom 1. Juni 1994 – 2 StR 195/94, BGHR <strong>StGB</strong> §<br />

32 Abs. 2 Erforderlichkeit 10). Dieser Irrtum führt zum Wegfall der Vorsatzschuld.<br />

cc) Fahrlässigkeit im Sinne von §§ 16 Abs. 1 Satz 2, 222 <strong>StGB</strong> ist dem Angeklagten ebenfalls nicht vorzuwerfen.<br />

Dies wäre nur dann der Fall, wenn er seinen Irrtum über die Identität <strong>und</strong> Absicht der Angreifer hätte vermeiden<br />

können. Das ist ausgeschlossen, weil der Angeklagte nach den rechtsfehlerfreien <strong>und</strong> lückenlosen Feststellungen des<br />

Landgerichts mit plausiblen Gründen von einem lebensbedrohenden Angriff durch "Bandidos" ausging, ferner weil<br />

die tatsächlich angreifenden Polizeibeamten sich auch nach Einschaltens der Beleuchtung im Haus nicht zu erkennen<br />

gaben <strong>und</strong> weil der Angeklagte wegen ihres verdeckten Vorgehens keine Möglichkeit hatte, rechtzeitig zu erkennen,<br />

dass es sich um einen Polizeieinsatz handelte (vgl. auch BGH, Urteil vom 23. Juli 1998 - 4 StR 261/98).<br />

dd) Da keine weitergehenden Feststellungen zu erwarten sind, die zu einem anderen Ergebnis führen könnten, ist der<br />

Angeklagte freizusprechen. Die Einsatzstrafe entfällt; daher muss auch die Gesamtstrafe aufgehoben werden.<br />

III. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet, soweit sie den Freispruch des Angeklagten vom Vorwurf der<br />

versuchten räuberischen Erpressung zum Nachteil der Zeugin Gü. bekämpft (Fall II.3). Im Übrigen bleibt sie ohne<br />

Erfolg.<br />

1. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei vom beendeten Versuch der räuberischen Erpressung zum<br />

Nachteil der Zeugin Gü. strafbefreiend zurückgetreten, begegnet rechtlichen Bedenken. Der Versuch war möglicherweise<br />

fehlgeschlagen, bevor der Angeklagte, dessen Rücktritt im Übrigen auch nach § 24 Abs. 2 <strong>StGB</strong> zu beurteilen<br />

ist, seine Rücktrittshandlung am 26. Januar 2010 durch das Verlangen gegenüber Ke., einen Rechtsanwalt einzuschalten,<br />

vorgenommen hat. Der Angeklagte hatte am 23. Januar 2010 zunächst die Lage dahin neu bewertet, dass<br />

Ke. einer polizeilichen Befragung nicht Stand halten würde, so dass das Entdeckungsrisiko hoch erschien. Er erwog,<br />

dass weitere Auftritte der "Hells Angels" gegenüber B. Gü. nicht mehr erfolgen sollten. Darin alleine lag nach den<br />

bisherigen Feststellungen noch nicht eindeutig ein Rücktritt vom Versuch der Tat. Am 25. Januar 2010 erkannte der<br />

Angeklagte nach dem Gespräch zwischen Ke. <strong>und</strong> B. Gü., dass seine anfänglichen Drohungen nicht mehr zum Erfolg<br />

führen würden. Zu jenem Zeitpunkt war der Versuch der räuberischen Erpressung mit den anfänglichen Drohungen<br />

aus der Sicht des Angeklagten fehlgeschlagen. Danach konnte er nicht mehr am 26. Oktober 2010 durch den<br />

Vorschlag an Ke., einen Rechtsanwalt einzuschalten, strafbefreiend zurücktreten. Ob dies vorher bereits geschehen<br />

war, wird der neue Tatrichter nochmals zu prüfen haben.<br />

2. Der Strafausspruch in den Fällen II.1 <strong>und</strong> II.2 der Urteilsgründe weist keinen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten<br />

auf. Es ist nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht zu befürchten, dass das Landgericht die<br />

rechtsfeindliche Gesinnung des Angeklagten, der wiederholt zur "Selbstjustiz" gegriffen hatte, übersehen hat. Generalpräventive<br />

Erwägungen waren auch sonst im Fall II.2 der Urteilsgründe des Landgerichts nicht ausdrücklich deswegen<br />

als Strafschärfungsgr<strong>und</strong> zu erörtern, weil der Gesetzgeber des Prostitutionsgesetzes den Prostituierten mehr<br />

Freiheit bei der Berufsausübung zubilligen wollte. Die an sich verbotene Ausübung der Prostitution durch die Zeugin<br />

V. im Sperrbezirk war nicht schutzwürdig.<br />

35


<strong>StGB</strong> § 32; WaffG § 52 - Notwehr <strong>und</strong> Waffendelikt<br />

BGH, Beschl. v. 27.12.2011 - 2 StR 380/11 - StV 2012, 338<br />

1. Ein durch Notwehr gerechtfertigter Schusswaffengebrauch lässt auch die Strafbarkeit wegen des<br />

damit unmittelbar zusammenhängenden Führens einer Schusswaffe entfallen.<br />

2. Ein zeitlich vorgelagertes Vergehen gegen das WaffG – unerlaubte Ausübung der tatsächlichen<br />

Gewalt über eine Schusswaffe – kann gr<strong>und</strong>sätzlich nur dann abgeurteilt werden, wenn sich die<br />

Anklage hierauf bezieht.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 17. Januar 2011 aufgehoben.<br />

Der Angeklagte wird von dem Vorwurf des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung<br />

sowie mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz <strong>und</strong> Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe freigesprochen.<br />

Soweit der Angeklagte wegen vorsätzlichen unerlaubten Besitzes einer halbautomatischen Schusswaffe in Tateinheit<br />

mit vorsätzlichem unerlaubten Führen einer halbautomatischen Schusswaffe verurteilt worden ist, wird das Verfahren<br />

eingestellt.<br />

Die Kosten des Verfahrens <strong>und</strong> die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.<br />

Der Angeklagte ist für die vom 19. Mai 2010 bis 17. Januar 2011 erlittene Polizei- <strong>und</strong> Untersuchungshaft zu entschädigen.<br />

Gründe:<br />

Mit der zugelassenen Anklage ist dem Angeklagten versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung<br />

sowie mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz <strong>und</strong> Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zur Last gelegt<br />

worden; er habe am Tattage nach einer Unterhaltung mit dem Geschädigten aus einer Pistole des Kalibers 7,65 mm<br />

auf ihn geschossen <strong>und</strong> ihn verletzt. Das Schwurgericht ist zur Annahme einer durch Notwehr gerechtfertigten gefährlichen<br />

Körperverletzung gelangt <strong>und</strong> hat den Angeklagten wegen eines zuvor begangenen vorsätzlichen unerlaubten<br />

Besitzes einer halbautomatischen Schusswaffe in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Führen einer<br />

halbautomatischen Schusswaffe zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt <strong>und</strong> die Vollstreckung zur Bewährung<br />

ausgesetzt. Die mit der Sachrüge begründete Revision des Angeklagten hat Erfolg.<br />

1. Das Landgericht ist zwar im Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass insoweit, als der vom Angeklagten<br />

abgegebene Schuss auf den Nebenkläger durch Notwehr gerechtfertigt war, auch die Strafbarkeit wegen des<br />

damit unmittelbar zusammenfallenden Führens einer Schusswaffe entfällt (vgl. BGH NStZ 1981, 299; 1999, 347;<br />

NJW 2001, 3200, 3203; NStZ-RR 2010, 140). Es hat jedoch verkannt, dass die vorausgehenden Dauerdelikte des<br />

Besitzes <strong>und</strong> des Führens der Waffe <strong>und</strong> die eine Zäsur bewirkende anschließende Verwendung der Waffe auch dann<br />

mehrere Taten bilden (§ 53 <strong>StGB</strong>), wenn jene Verwendung der Waffe - wie hier der Schusswaffengebrauch infolge<br />

der Rechtfertigung durch Notwehr - nicht strafbar ist (vgl. BGH NStZ 1999, 347; NJW 2001, 3200, 3203; Heinrich<br />

in: Steindorf/Heinrich/Papsthart, Waffenrecht 9. Aufl. § 52 Rn. 62). Der Angeklagte ist deshalb vom Anklagevorwurf<br />

freizusprechen.<br />

2. Ein zeitlich vorgelagertes Vergehen gegen das Waffengesetz ist nicht Verfahrensgegenstand geworden <strong>und</strong> durfte<br />

deshalb vom Schwurgericht nicht abgeurteilt werden. Anklage <strong>und</strong> Eröffnungsbeschluss werfen dem Angeklagten<br />

allein das durch den Schusswaffeneinsatz begangene, gerechtfertigte Waffendelikt vor. Dass er vorher unerlaubt die<br />

tatsächliche Gewalt über eine Schusswaffe ausgeübt <strong>und</strong> sie bis zum Eintritt der Notwehrlage unerlaubt mit sich<br />

geführt habe, wird in der Anklageschrift nicht erwähnt. Diese Tat hätte deshalb nur durch eine Nachtragsanklage<br />

gemäß § 266 StPO in das Verfahren einbezogen werden können. Dies ist nicht geschehen. Daher ist das Verfahren<br />

insoweit einzustellen (§ 206a StPO).<br />

36


<strong>StGB</strong> § 46 - Beteiligte vergleichende Strafzumessung<br />

BGH, Beschluss vom 28. Juni 2011 - 1 StR 282/11 - NJW 2011, 2597<br />

LS: Zur vergleichenden Strafzumessung bei Tatbeteiligten.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mosbach vom 4. Februar 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum<br />

Nachteil des Angeklagten ergeben hat. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen dreier Fälle des schweren Bandendiebstahls <strong>und</strong> wegen eines Falles des<br />

versuchten schweren Bandendiebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt<br />

<strong>und</strong> bestimmt, dass die in dieser Sache in Rumänien erlittene Auslieferungshaft im Verhältnis 1:1 angerechnet wird.<br />

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten mit der Sachrüge. Er beanstandet insbesondere die<br />

Strafzumessung. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

I. Der Revisionsführer weist allerdings zutreffend darauf hin, dass die vergleichenden Ausführungen des Landgerichts<br />

zu der Strafpraxis anderer Gerichte rechtlichen Bedenken begegnet. Dem Landgericht ist zuzugeben, dass in<br />

zahlreichen Entscheidungen des B<strong>und</strong>esgerichtshofs das Postulat aufgestellt wird, dass gegen Mittäter verhängte<br />

Strafen auch in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen sollen (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 11. Dezember<br />

2008 - 5 StR 536/08 = StV 2009, 244, 245; BGH, Beschluss vom 27. November 2008 - 5 StR 513/08 = StV 2009,<br />

351; BGH, Beschluss vom 11. September 1997 - 4 StR 296/97 = NStZ-RR 1998, 50; BGH, Urteil vom 29. Oktober<br />

1996 - 1 StR 562/96 = NStZ-RR 1997, 196, 197; BGH, Urteil vom 7. Januar 1992 - 5 StR 614/91 = BGHR <strong>StGB</strong> §<br />

46 Abs. 2 Wertungsfehler 23; BGH, Beschluss vom 9. Juli 1987 - 1 StR 287/87 = BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 2 Zumessungsfehler<br />

1; BGH, Beschluss vom 16. Dezember 1980 - 1 StR 461/80 = StV 1981, 122, 123; BGH, Urteil vom 14.<br />

März 1978 - 1 StR 8/78). Das soll auch gelten, wenn ein Täter nach Jugendrecht <strong>und</strong> der andere nach Erwachsenenrecht<br />

verurteilt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 1991 - 4 StR 272/91 = StV 1991, 557). Diese Verpflichtung<br />

für den Tatrichter bei seiner Strafzumessungsentscheidung trifft sicherlich zu, wenn Mittäter in einem Urteil abgeurteilt<br />

werden. Freilich müssen Unterschiede nur dann im angefochtenen Urteil erläutert werden, wenn sie sich nicht -<br />

was aber zumeist der Fall sein wird - aus der Sache selbst ergeben (vgl. u.a. BGH StV 2009, 244, 245; BGH StV<br />

2009, 351; BGH NStZ-RR 1998, 50; BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 2 Zumessungsfehler 1). Diese sachlich-rechtliche Begründungspflicht<br />

kann auch gegeben sein, wenn die Strafkammer in derselben Besetzung (einschließlich der Schöffen),<br />

z.B. in einem abgetrennten Verfahren gegen Mittäter, entscheidet <strong>und</strong> das oder die anderen Verfahren danach<br />

gerichtsbekannt sind. Auf die Strafpraxis anderer Gerichte <strong>und</strong> auch anderer Kammern desselben Gerichtes kommt<br />

es hingegen nicht an (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 4. Aufl., Rn. 485). Ein Gr<strong>und</strong>satz,<br />

dass Mittäter, wenngleich von verschiedenen Gerichten, bei vermeintlich gleicher Tatbeteiligung gleich hoch zu<br />

bestrafen seien, besteht nicht <strong>und</strong> kann in dieser Form auch nicht bestehen, weil die Vergleichsmöglichkeiten zwischen<br />

den in verschiedenen Verfahren gewonnenen Ergebnissen zu gering sind, ganz besonders zur inneren Tatseite<br />

<strong>und</strong> zum Maße der Schuld (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 5. April 1951 - 4 StR 129/51 NJW 1951, 532; BGHR<br />

<strong>StGB</strong> § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 23). Dies gilt auch bei vermeintlich abgestufter Beteiligung <strong>und</strong> demgemäß abgestufter<br />

Strafe (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 13. Juni 1979 - 3 StR 178/79 bei Schmidt MDR 1979, 886). Dies liegt<br />

aus folgenden Gründen auf der Hand: Der Tatrichter muss in jedem Einzelfall die angemessene Strafe unter Abwägung<br />

aller in Betracht kommenden Umstände aus der Sache selbst finden (vgl. u.a. BGH StV 2009, 351; BGH, Beschluss<br />

vom 20. September 2000 - 3 StR 88/00 = wistra 2001, 57, 58; BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 23;<br />

BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 2 Zumessungsfehler 1; BGH StV 1981, 122, 123; BGH bei Schmidt MDR 1979, 886). Revisionen,<br />

die auf vergleichende Strafzumessung gerichtet sind, werden daher gr<strong>und</strong>sätzlich als unbegründet angesehen<br />

(vgl. u.a. BGH, Urteil vom 10. September 1991 - 5 StR 373/91 = NStZ 1991, 581 mwN). Um überhaupt eine Vergleichsmöglichkeit<br />

zu haben, müsste der Tatrichter aus den Parallelverfahren feststellen, ob die Art der Tatbeteiligung<br />

der Mittäter der seines Angeklagten entspricht. Hier wird es häufig - gerade bei Anwendung des Zweifelssatzes<br />

- zu Abweichungen in den Feststellungen kommen, z.B. wer welchen Beuteanteil bekommen hat, wer Kopf der Bande<br />

bzw. wer Täter oder Gehilfe war, mit welcher Menge Rauschgift gehandelt wurde usw.. Ein Mittäter kann z.B. in<br />

einem anderen Verfahren (aus der Sicht der jetzt erkennenden Kammer rechtsfehlerhaft) rechtskräftig freigesprochen<br />

sein, sei es mangels Überzeugung von der Täterschaft, sei es wegen Schuldunfähigkeit. Es müssten im Einzelnen die<br />

strafzumessungsrelevanten Umstände der jeweiligen Täter insgesamt aufgezeigt werden, wie persönliche Verhältnisse,<br />

Vorstrafen, Geständnis, Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 <strong>StGB</strong>, des § 31 BtMG, der §§ 46a oder 46b<br />

37


<strong>StGB</strong>, Schadenswiedergutmachung, Zeitabstand von Tat zur Aburteilung, die mit einer langen Verfahrensdauer<br />

verb<strong>und</strong>ene Belastung, Erkrankungen usw.. Geht man von einer Bande aus, deren Mitglieder von zahlreichen Gerichten<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland <strong>und</strong> eventuell im Ausland abgeurteilt wurden, zeigt sich, dass eine vergleichende<br />

Würdigung nicht in Betracht kommt. Zu bedenken hierbei ist auch, dass die jeweiligen Urteile ihrerseits<br />

nicht aufeinander abgestimmt sein können. Einem gemäß § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten Urteil wird ohnehin wenig<br />

zu entnehmen sein. Das Gleichheitsgebot als formales Prinzip sagt nichts darüber aus, welches von mehreren Gerichten<br />

seine Zumessungsgr<strong>und</strong>sätze denen des anderen anzupassen habe. Die Entscheidung hierüber ist keine Frage der<br />

Rechtsgleichheit, sondern der Rechtsrichtigkeit, d.h. sie ist ausschließlich nach dem die Strafbemessung leitenden<br />

Gr<strong>und</strong>satz der gerechten Schuldstrafe zu beurteilen (vgl. BGH, Urteil vom 28. Februar 1979 - 3 StR 24/79, BGHSt<br />

28, 318, 324). Dass sich in solchen Fällen die nicht seiner vollen eigenen Überzeugung entsprechende Angleichung<br />

einer vom Tatrichter im Einzelfall nach allgemeinen Strafzumessungsgr<strong>und</strong>sätzen (§ 46 <strong>StGB</strong>) für gerecht gehaltenen<br />

Strafe an Entscheidungen anderer Gerichte verbietet, folgt aus der Eigenverantwortlichkeit richterlicher Überzeugungsbildung<br />

<strong>und</strong> dem Fehlen einer feststehenden, eine allgemeine Gerechtigkeitsauffassung widerspiegelnden<br />

Spruchpraxis als eines Bezugspunktes, an dem sich eine vom Gerechtigkeitsgedanken gleichmäßigen Strafens mitbestimmte<br />

Strafzumessung orientieren könnte. Eine Anpassung an vereinzelte mildere Urteile würde auch - falls sie<br />

sich etwa allgemein durchsetzte - notwendig zu einem ständigen Abfall der Höhe der Strafen <strong>und</strong> damit zu einer<br />

immer weiteren Entfernung von der jeweils schuldangemessenen Strafe führen (vgl. BGH aaO S. 325). Es wäre<br />

bedenklich, wenn ein Gericht eine nach eigener Wertung angemessene Strafe allein im Hinblick auf in anderen Sachen<br />

von anderen Kammern verhängte Strafen mildern würde (vgl. u.a. BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 2 Wertungsfehler<br />

23). Der Umstand, dass ein Mittäter vielleicht nicht gefasst oder (noch) nicht bestraft ist, kann sich nicht dahin auswirken,<br />

einen Angeklagten straffrei zu stellen, da es Gleichheit im Unrecht nicht gibt (vgl. BGH, Urteil vom 3. März<br />

1993 - 5 StR 546/92, BGHSt 39, 146, 158). Ein Rauschgifthändler ist nicht deshalb niedriger zu bestrafen, weil sein<br />

Hintermann nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Soweit in BGHSt 39, 146, 159 dem neuen Tatrichter<br />

aufgegeben wurde, vergleichende Überlegungen zu Gunsten der Angeklagten anzustellen, war dies - wie auch die<br />

vorausgehende Betonung des Gr<strong>und</strong>satzes, dass es keine Gleichheit im Unrecht gibt, zeigt - ersichtlich den außergewöhnlichen<br />

Besonderheiten des Einzelfalles geschuldet, was auch im ersten Mauerschützenurteil der Fall war (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 3. November 1992 - 5 StR 370/92, BGHSt 39, 1, 36 = NJW 1993, 141, 149). Umgekehrt ist der<br />

Tatrichter nicht berechtigt, gegen einen Angeklagten im Hinblick auf eine hohe Strafe eines Mittäters in einem anderen<br />

Verfahren eine höhere Strafe zu verhängen als er selbst für schuldangemessen hält (vgl. hierzu u.a. BGH NStZ-<br />

RR 1997, 196, 197). Der Schweregrad der einem Angeklagten anzulastenden Schuld erhöht sich auch nicht allein<br />

dadurch, dass einem Mittäter ein geringerer Vorwurf zu machen ist (vgl. u.a. BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 2 Bewertungsfehler<br />

6; BGH, Beschluss vom 10. Juli 1987 - 2 StR 243/87; BGH, Beschluss vom 6. Februar 1987 - 2 StR 19/87).<br />

Als Konsequenz aus diesen Überlegungen hat die Rechtsprechung daher festgehalten, dass die in anderen Verfahren<br />

verhängten Strafen zu keiner, wie auch immer beschaffenen, rechtlichen Bindung des Gerichts bei der Strafzumessung<br />

führen (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 23. August 2006 - 1 StR 327/06 = StV 2008, 295 mwN; Detter, Einführung<br />

in die Praxis des Strafzumessungsrechts, II. <strong>Teil</strong> Rn. 181). Es wird danach als rechtsfehlerhaft angesehen, wenn<br />

ein Gericht nicht eine nach eigener Wertung angemessene Strafe festgesetzt hat, sondern die Strafe allein im Hinblick<br />

auf Rechtsfolgen, die eine andere Kammer des Landgerichts im gleichen Tatkomplex verhängt hat, verschärft<br />

hat (vgl. u.a. BGH NStZ-RR 1997, 196, 197). Dies gilt genauso für die Entscheidungen anderer Gerichte. Die Strafe<br />

für jeden Mittäter oder <strong>Teil</strong>nehmer oder sonst an einem Tatkomplex Beteiligten ist gr<strong>und</strong>sätzlich nach dem Maß der<br />

jeweiligen individuellen Schuld zu bestimmen. Es wäre daher rechtsfehlerhaft, wenn das Gericht die Strafe allein im<br />

Hinblick auf die Strafen bemessen würde, die in anderen Urteilen - sei es desselben Gerichts, sei es eines anderen<br />

Gerichts - verhängt wurden (vgl. u.a. BGH, StV 2008, 295, 296 mwN). Soweit immer wieder das Prinzip des gerechten<br />

Strafens, das auch die gleichmäßige Behandlung aller Tatbeteiligten mitumfasst, betont wird, wird sich dieses<br />

durch vergleichende Betrachtung verschiedener Urteile nicht verwirklichen lassen, sondern gr<strong>und</strong>sätzlich nur innerhalb<br />

desselben Urteils. Dieser Gedanke liegt auch der Vorschrift des § 357 StPO zu Gr<strong>und</strong>e, wonach Ungleichheit<br />

nur innerhalb ein <strong>und</strong> desselben Urteils ggf. zur Revisionserstreckung auf Mitangeklagte führt. Der Gesichtspunkt,<br />

dass gegen Mittäter verhängte Strafen auch in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen müssen, gilt daher<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nur bei jeweiliger Aburteilung durch dasselbe erkennende Gericht. Denn der Tatrichter darf im Hinblick<br />

auf Aburteilungen anderer Gerichte seine für schuldangemessen erachtete Strafe weder nach oben noch nach<br />

unten korrigieren, da diese - nach seiner maßgeblichen Überzeugung - sich ansonsten von ihrer Bestimmung lösen<br />

würde, gerechter Schuldausgleich zu sein. Innerhalb seines Urteils kann <strong>und</strong> muss er jedoch den Gr<strong>und</strong>satz des gerechten<br />

Verhältnisses der gegen Mittäter verhängten Strafen berücksichtigen, da er die Entscheidung hierüber selbst<br />

in der Hand hat. Allenfalls (vgl. hierzu auch Schäfer/Sander/van Gemmeren aaO Rn. 486) bei massenhaft auftreten-<br />

38


den Taten typischer Prägung (vgl. BGHSt 28, 318, 324), die weitgehend schuldunabhängig beurteilt werden können,<br />

könnte unter Umständen ausnahmsweise eine Orientierung an einer allgemeinen Strafpraxis zulässig sein (vergleichbar<br />

den Überlegungen bei dem b<strong>und</strong>eseinheitlichen Bußgeldkatalog). Dieser Gedanke lag auch dem Senatsurteil vom<br />

29. Oktober 1996 - (1 StR 562/96 = NStZ-RR 1997, 196, 197) zugr<strong>und</strong>e, wo es um gleichgelagerte Delikte einer<br />

massenhaft begangenen Autobahnblockade ging. Aber selbst in diesem besonderen Fall hat der Senat klargestellt,<br />

dass der Tatrichter eine eigene Entscheidung über die Strafhöhe zu treffen hat <strong>und</strong> es rechtlich zu beanstanden wäre,<br />

wenn er nicht eine nach eigener Wertung angemessene Strafe verhängt hätte, sondern die Strafe allein im Hinblick<br />

auf Rechtsfolgen, die eine andere Kammer des Landgerichts im gleichen Tatkomplex verhängt hat, verschärft hätte.<br />

Das Gebot, dass gegen Mittäter verhängte Strafen in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen sollen, wurde<br />

daher von der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ursprünglich - zutreffend - auch nicht im Vergleich der verhängten<br />

Strafen gesehen. Es wurde vielmehr hervorgehoben, dass der Umstand, dass Mittäter des Angeklagten von<br />

anderen Gerichten in bestimmter Weise bestraft worden sind, für sich allein nicht dahin wirken darf, den Angeklagten<br />

ebenso oder ähnlich zu bestrafen. Nur die in den anderen Fällen etwa angeführten Strafzumessungsgründe darf<br />

der Tatrichter im Rahmen eigener Erwägungen verwerten, aber auch nur, soweit er sie selbst billigt (BGH NJW<br />

1951, 532; BGH bei Schmidt MDR 1979, 886). Der Tatrichter ist danach gr<strong>und</strong>sätzlich nicht gehalten, sich strafvergleichend<br />

mit anderen Urteilen zu befassen, mögen sie auch zum gleichen Tatkomplex ergangen sein. Der Senat hat<br />

im Übrigen bereits darauf hingewiesen, dass selbst wenn ausnahmsweise eine Strafzumessungserwägung eines anderen<br />

gegen Mittäter ergangenen Urteils vom Tatrichter verwertet wird, daraus noch nicht folgt, dass dieser mögliche<br />

Strafzumessungsgesichtspunkt aus Rechtsgründen als bestimmend (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) anzusehen <strong>und</strong> daher<br />

ausdrücklich zu erörtern wäre (vgl. Senatsbeschluss, StV 2008, 295 f.). Das Verhältnis der gegen Mitangeklagte<br />

verhängten Strafen zueinander kann daher gr<strong>und</strong>sätzlich die Revision nicht rechtfertigen (vgl. u.a. BGH NStZ 1991,<br />

581 mwN).<br />

II. Aus Vorstehendem ergibt sich auch, dass die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) nicht gebietet, im Hinblick<br />

auf vergleichende Strafzumessung Urteile anderer Strafkammern <strong>und</strong> Gerichte, mögen sie auch zu demselben Sachverhalt<br />

ergangen sein, zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen. Das erkennende Gericht ist an diese Entscheidungen<br />

nicht geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> darf bei seiner Strafzumessung weder nach oben noch nach unten von dem Gr<strong>und</strong>satz<br />

abweichen, dass die im Einzelfall zu verhängende Strafe die Bestimmung hat, gerechter Schuldausgleich zu<br />

sein. Soweit der B<strong>und</strong>esgerichtshof in seiner Entscheidung vom 20. September 2000 - 3 StR 88/00 = wistra 2001, 57<br />

f. im Hinblick auf das Gebot der Gleichmäßigkeit des Strafens die Erhebung einer Verfahrensrüge, etwa in Form<br />

einer Aufklärungsrüge verlangt, ist dem insoweit ohne Weiteres beizupflichten als die Erhebung einer Verfahrensrüge<br />

gefordert wird, um Rechtsfehler feststellen zu können, die sich nicht allein aus der Urteilsurk<strong>und</strong>e erschließen<br />

lassen. Dies sagt aber über die Aufklärungspflicht des Tatrichters <strong>und</strong> den Erfolg einer entsprechenden Verfahrensrüge<br />

nichts aus. Der 3. Strafsenat (aaO) hat in diesem Zusammenhang zutreffend selbst festgestellt, dass primär, auch<br />

wenn mehrere Beteiligte in einem Verfahren abgeurteilt werden, für jeden von ihnen die Strafe aus der Sache selbst<br />

gef<strong>und</strong>en werden muss. Der erkennende Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 23. August 2006 - 1 StR<br />

327/06 (= StV 2008, 295 f. mit Anm. Köberer) Bedenken geäußert, ob eine solche Verfahrensrüge überhaupt Erfolg<br />

haben könnte, <strong>und</strong> unter welchen, jedenfalls ungewöhnlichen Umständen des Einzelfalls dies gegebenenfalls (allenfalls<br />

ausnahmsweise) der Fall sein könnte. Der B<strong>und</strong>esgerichtshof (vgl. BGHSt 28, 207, 208) hat es für unzulässig<br />

(i.S.d. § 245 StPO) erachtet, Beweis darüber zu erheben, wie andere Gerichte in vermeintlich vergleichbaren Fällen<br />

die Strafen bemessen haben, da jedes Gericht selbständig darüber zu entscheiden hat, wie die Tat des jeweiligen<br />

Angeklagten zu beurteilen <strong>und</strong> der Angeklagte zu bestrafen ist, da ansonsten auch der Gang der Rechtspflege in einer<br />

Weise beeinträchtigt würde, die nicht tragbar ist. Auch bei Urteilen anderer Strafkammern zum selben Tatkomplex<br />

wird eine Aufklärungspflicht insoweit jedenfalls deshalb nicht gegeben sein, weil die durch andere Spruchkörper<br />

verhängten Strafen nach obigen Ausführungen aus Rechtsgründen gr<strong>und</strong>sätzlich bedeutungslos sind.<br />

III. Der vorliegende Fall zeigt exemplarisch, dass eine vergleichende Strafzumessung mit Urteilen anderer Gerichte<br />

nicht geboten sein kann. Im angefochtenen Urteil ist der Angeklagte, der einer Bande mit mindestens fünf weiteren<br />

Mitgliedern angehörte, wegen vier Taten verurteilt. Im Rahmen der Strafzumessung teilt das Landgericht die gegen<br />

vier der Mittäter vom selben Landgericht oder durch Urteile des Landgerichts Bückeburg verhängten Gesamtfreiheitsstrafen<br />

für jeweils eine unterschiedliche Anzahl begangener Taten mit. Es werden weder die persönlichen Verhältnisse<br />

dieser Angeklagten (z.B. auch Vorstrafen, Bewährungsbruch) noch die Feststellungen zur jeweiligen Tatbeteiligung<br />

mitgeteilt; es wird auch nicht dargelegt, an welchen Taten diese überhaupt beteiligt waren. Auch Strafzumessungserwägungen<br />

(z.B. auch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 <strong>StGB</strong> usw.) werden nicht aufgezeigt.<br />

Dies alles in einer Hauptverhandlung festzustellen <strong>und</strong> im Urteil in nachvollziehbarer Weise darzulegen, würde zum<br />

einen den Rahmen einer geordneten Rechtspflege sprengen, zum anderen können <strong>und</strong> dürfen hieraus ohnehin keine<br />

39


Schlussfolgerungen für die konkret zu verhängende Strafe gezogen werden. Der Senat schließt im vorliegenden Fall<br />

jedoch aus, dass in diesen Ausführungen des Landgerichts ein Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten vorliegt.<br />

Zum einen zeigt der Urteilsaufbau (UA S. 16), wonach die Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten<br />

bereits als tat- <strong>und</strong> schuldangemessen festgesetzt wurde, bevor die überflüssigen <strong>und</strong> rechtlich bedenklichen Ausführungen<br />

gemacht werden, dass diese nur der Bestätigung einer ohne diese Überlegung bereits gef<strong>und</strong>enen Überzeugung<br />

dienten. Die verhängte Strafe beruht demnach hierauf ersichtlich nicht. Zum anderen lässt sich den Urteilsgründen<br />

nicht - auch nicht in ihrer Gesamtheit - entnehmen, dass durch die vergleichende Betrachtung die Strafe für<br />

den Angeklagten verschärft wurde.<br />

<strong>StGB</strong> § 46 – Nach vier Jahren Verfahrensstillstand bei inhaftiertem Angeklagten � 5 Monate Vollstreckungskompensation<br />

nicht genug<br />

BGH, Urt. v. 13.03.2012 - 5 StR 411/11 - NStZ-RR 2012, 244<br />

Maßstab für die Kompensationsentscheidung ist der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung,<br />

das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkung all dessen<br />

auf den einzelnen Angeklagten. Hierzu gehört auch der Umstand, dass ein Angeklagter aufgr<strong>und</strong><br />

seiner Inhaftierung im besonderen Maße von der Verfahrensverzögerung berührt war, weil er in<br />

dieser Phase keine Vollzugslockerungen erlangen konnte, obwohl er Erstverbüßer war.<br />

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> des Angeklagten F. gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 4.<br />

Mai 2011 werden mit der Maßgabe verworfen, dass hinsichtlich des Angeklagten F. neun Monate der gegen ihn<br />

verhängten Freiheitsstrafe wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als verbüßt gelten. Die Staatskasse<br />

trägt die Kosten der Revisionen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> die den Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen<br />

Auslagen. Der Angeklagte F. trägt die Kosten seines Rechtsmittels; jedoch wird die Gebühr des Revisionsverfahrens<br />

um die Hälfte ermäßigt, die Hälfte der gerichtlichen Auslagen im Revisionsverfahren <strong>und</strong> der insoweit entstandenen<br />

notwendigen Auslagen des Angeklagten F. trägt die Staatskasse.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten F. <strong>und</strong> W. wegen Subventionsbetrugs verurteilt. Gegen den Angeklagten F. hat<br />

es eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt <strong>und</strong> unter Einbeziehung von Einzelfreiheitsstrafen in Höhe von acht<br />

Monaten <strong>und</strong> fünf Jahren aus einem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Lübeck vom 8. Dezember 2005 eine<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren <strong>und</strong> zwei Monaten gebildet. Den Angeklagten W. hat das Landgericht mit<br />

einer – zur Bewährung ausgesetzten – Freiheitsstrafe von zwei Jahren sowie mit einer Geldstrafe von 180 Tagesätzen<br />

belegt. Hinsichtlich beider Angeklagter hat das Landgericht wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung<br />

jeweils fünf Monate der ausgeurteilten Freiheitsstrafe für vollstreckt erklärt. Der Angeklagte F. greift das Urteil mit<br />

der Sachrüge – nach Beschränkung in der Hauptverhandlung – im Rechtsfolgenausspruch an. Die Staatsanwaltschaft<br />

wendet sich mit ihren Revisionen, die vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt nicht vertreten werden, gegen die Rechtsfolgenaussprüche<br />

beider Angeklagter. Die Rechtsmittel haben – das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft gemäß § 301 StPO –<br />

lediglich insoweit Erfolg, als die Kompensationsentscheidung des Landgerichts hinsichtlich des Angeklagten F.<br />

abgeändert wird.<br />

1. Die von der Staatsanwaltschaft erhobene Verfahrensrüge, mit der sie die Verletzung des § 257c Abs. 3 StPO beanstandet,<br />

ist bereits unzulässig im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Die Staatsanwaltschaft verschweigt, wie sie<br />

sich selbst (<strong>und</strong> auch die Verteidigung) zu dem von ihr wiedergegebenen Vorschlag des Gerichts verhalten hat.<br />

2. Die sachlich-rechtlichen Beanstandungen der Staatsanwaltschaft zeigen ebenfalls keinen Rechtsfehler auf.<br />

a) Die Anwendung des Normalstrafrahmens des § 264 Abs. 1 <strong>StGB</strong> bei beiden Angeklagten hält sich im Rahmen des<br />

tatrichterlich Vertretbaren. Das Landgericht führt eine Reihe gewichtiger Gründe an, die es erlaubten, hier – selbst<br />

bei Vorliegen zweier Regelbeispiele – von einer Anwendung des Strafrahmens des § 264 Abs. 2 <strong>StGB</strong> abzusehen.<br />

b) Die Staatsanwaltschaft dringt auch mit ihrer weiteren Beanstandung nicht durch, dass die gegen den Angeklagten<br />

W. neben der (zur Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe von zwei Jahren verhängte Geldstrafe von 180 Tagessätzen<br />

rechtsfehlerhaft sei, weil sich das Landgericht ersichtlich allein von der Überlegung habe leiten lassen, möglichst<br />

zu einer aussetzungsfähigen Freiheitsstrafe zu gelangen. Zwar hat es der B<strong>und</strong>esgerichtshof vereinzelt beanstandet,<br />

wenn die Höhe einer Freiheitsstrafe ersichtlich durch die Erwägung bestimmt wird, ihre Vollstreckung zur Bewäh-<br />

40


ung aussetzen zu können (BGH, Urteil vom 24. August 1983 – 3 StR 89/83, BGHSt 32, 60, 65; BGH, Urteil vom<br />

13. Mai 2004 – 5 StR 73/03, NJW 2004, 2248 insoweit nicht in BGHSt 49, 147 ff. abgedruckt). Einen solchen Ausnahmefall,<br />

in dem die Urteilsgründe im Einzelfall eine derartige Besorgnis vermitteln könnten, vermag der Senat<br />

jedoch – in Übereinstimmung mit dem Generalb<strong>und</strong>esanwalt – nicht zu erkennen. Die gleichzeitige Verhängung<br />

einer Geldstrafe konnte nach § 41 <strong>StGB</strong> festgesetzt werden, weil sich der Angeklagte W. durch die Tat zumindest<br />

bereichern wollte. Auch nach Abgabe der eidesstattlichen Versicherung verfügt er weiterhin über laufende Einnahmen,<br />

<strong>und</strong> die ihm bewilligten Raten ermöglichen ihm – wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt im Einzelnen zutreffend ausgeführt<br />

hat – eine Tilgung der Geldstrafe unter Beachtung der Pfändungsfreigrenzen. Der dabei vom Landgericht in<br />

Ansatz gebrachte Tagessatz von 50 € lässt keinen Rechtsfehler erkennen.<br />

3. Die mit der allgemeinen Sachrüge geführte Revision des Angeklagten F. führt – ebenso wie die insoweit zu seinen<br />

Gunsten wirkende Revision der Staatsanwaltschaft (§ 301 StPO) – zu einer Änderung der Kompensationsentscheidung;<br />

im Übrigen ist sie unbegründet. Das Landgericht hat als Ausgleich für Verzögerungen bei den Angeklagten<br />

angeordnet, dass jeweils fünf Monate der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Sie hat das damit begründet,<br />

dass die Sache nahezu vier Jahre unbearbeitet blieb. Dies begegnet hier deshalb durchgreifenden Bedenken, weil<br />

es den individuellen Auswirkungen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auf die einzelnen Angeklagten<br />

nicht hinreichend Rechnung trägt. Maßstab für die Kompensationsentscheidung ist der Umfang der staatlich zu verantwortenden<br />

Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkung all dessen<br />

auf den einzelnen Angeklagten (vgl. BGH, Urteil vom 21. April 2011 – 3 StR 50/11, NStZ-RR 2011, 239). Hier<br />

hätte aber im Blick auf den Angeklagten F. bedacht werden müssen, dass dieser aufgr<strong>und</strong> seiner Inhaftierung im<br />

besonderen Maße von der Verfahrensverzögerung berührt war, weil er in dieser Phase keine Vollzugslockerungen<br />

erlangen konnte, obwohl er Erstverbüßer war. Zwar hat das Landgericht die Haftsituation <strong>und</strong> insbesondere die nur<br />

geringe Reststrafaussetzung schon im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt. Da sie aber als besondere Auswirkung<br />

der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ein zusätzlich erschwerendes Gewicht verleiht, hätte sich<br />

dieser Gesichtspunkt auch im Rahmen der Kompensationsentscheidung auswirken müssen. Um weitere Verzögerungen<br />

zu vermeiden, ändert der Senat die Kompensationsentscheidung dahingehend ab, dass bei dem Angeklagten F.<br />

neun Monate der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt gelten.<br />

<strong>StGB</strong> § 46 Keine straferschwerende Berücksichtigung der zivilprozessualen Weiterverfolgung<br />

BGH, Beschl. v. 15.05.2012 - 3 StR 121/12 - FD-StrafR 2012, 333569<br />

Ein Angeklagter ist von Rechts wegen auch nach Rechtskraft des strafrechtlichen Schuldspruchs<br />

nicht gehindert, die Tat weiterhin zu leugnen <strong>und</strong> die ihm nach seinem Vorbringen zustehenden<br />

Ansprüche zivilrechtlich weiter zu verfolgen. Im deutschen Rechtssystem ist das Zivilverfahren<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nicht durch das Ergebnis des Strafverfahrens präjudiziert. Vielmehr findet dort an<br />

den Sachvortrag der Parteien anknüpfend gegebenenfalls eine eigenständige Beweisaufnahme statt,<br />

die gr<strong>und</strong>sätzlich durchaus zu einem anderen Ergebnis als die im Strafprozess unter Beachtung der<br />

Offizialmaxime durchgeführte Sachverhaltsermittlung führen kann. Allein aus der legitimen Fortführung<br />

des Zivilprozesses kann daher nicht auf eine besondere Rechtsfeindschaft des Angeklagten<br />

geschlossen werden, die strafschärfend wirken könnte.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 7. Dezember 2011 im<br />

Strafausspruch aufgehoben; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten. Im Umfang der Aufhebung<br />

wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine<br />

Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> drei Monaten<br />

verurteilt sowie angeordnet, dass wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung sechs Monate hiervon als<br />

verbüßt gelten. Auf die Revision des Angeklagten hat der Senat das Urteil im Schuldspruch dahin geändert, dass der<br />

Angeklagte des versuchten Betruges schuldig ist, <strong>und</strong> im Strafausspruch aufgehoben. Das Landgericht hat nunmehr<br />

erneut eine Freiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> drei Monaten verhängt, von denen sechs Monate als verbüßt gelten<br />

sollen. Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat bezüglich des Straf-<br />

41


ausspruchs Erfolg. Nach den Feststellungen veranlasste der die Tat bestreitende Angeklagte einen Dritten, ein in<br />

seinem Eigentum stehendes Gebäude in Brand zu setzen, um die Auszahlung von Versicherungsleistungen zu erreichen.<br />

Anschließend machte er bei seiner Feuerversicherung Ersatzansprüche geltend. Nachdem die Versicherung die<br />

Schadensregulierung abgelehnt hatte, erhob der Angeklagte gegen sie Klage auf Feststellung der Deckungspflicht.<br />

Diese wurde in erster Instanz abgewiesen. Der Angeklagte legte gegen dieses Urteil Berufung ein <strong>und</strong> hielt das<br />

Rechtsmittel auch nach Rechtskraft des Schuldspruchs in dem hiesigen Strafverfahren aufrecht. Im Rahmen eines<br />

verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, bei dem die Stadt W. den Angeklagten auf Erstattung der Löschkosten in Anspruch<br />

nimmt, trug der Angeklagte ebenfalls vor, er habe den Brand nicht verursacht.<br />

1. Der Strafausspruch hält materiellrechtlicher Nachprüfung nicht stand.<br />

a) Das Landgericht hat dem Angeklagten straferschwerend angelastet, dass er seine Klage gegen die Versicherung in<br />

der Berufungsinstanz weiter verfolge, auch nachdem der Schuldspruch in dem hiesigen Strafverfahren rechtskräftig<br />

geworden sei, was auf eine ausgeprägte Rechtsfeindschaft des Angeklagten schließen lasse. Dies begegnet durchgreifenden<br />

Bedenken.<br />

aa) Einem Angeklagten darf es nicht zum Nachteil gereichen, dass er die Tat bestreitet <strong>und</strong> infolgedessen keine<br />

Schuldeinsicht <strong>und</strong> Reue zeigt. Dies gilt auch dann, wenn nach einem rechtskräftigen Schuldspruch nur noch über<br />

den Strafausspruch verhandelt wird. Zum Nachteil des Angeklagten darf selbst in diesem Verfahrensstadium nicht<br />

verwertet werden, dass er sich etwa "mit Rücksicht auf das noch nicht abgeschlossene Zivilverfahren bislang nicht<br />

entschuldigt" (BGH, Beschluss vom 4. November 2008 - 3 StR 336/08, NStZ-RR 2009, 148), kein Mitgefühl <strong>und</strong><br />

keine Schuldeinsicht gezeigt (BGH, Beschluss vom 16. September 1988 - 2 StR 124/88, StV 1989, 199), sich nicht<br />

um die Wiedergutmachung des Schadens bemüht hat (BGH, Beschluss vom 23. September 1992 - 1 StR 501/92,<br />

BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 2 Nachtatverhalten 19) oder das Tatopfer noch einmal vernommen werden muss (BGH,<br />

Beschluss vom 20. März 2002 - 2 StR 48/02, StV 2002, 599). Eine andere Bewertung ist nur zulässig, wenn der<br />

Angeklagte bei seiner Verteidigung ein Verhalten an den Tag legt, das im Hinblick auf die Art der Tat <strong>und</strong> die Persönlichkeit<br />

des Täters auf besondere Rechtsfeindlichkeit <strong>und</strong> Gefährlichkeit schließen lässt (st. Rspr.; vgl. etwa<br />

BGH, Beschlüsse vom 7. November 1986 - 2 StR 563/86, BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 2 Nachtatverhalten 4; vom 4.<br />

November 1993 - 1 StR 655/93, StV 1994, 125).<br />

bb) Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Der Angeklagte war von Rechts wegen auch nach Rechtskraft des strafrechtlichen<br />

Schuldspruchs nicht gehindert, die Tat weiterhin zu leugnen <strong>und</strong> die ihm nach seinem Vorbringen gegen<br />

die Feuerversicherung zustehenden Ansprüche zivilrechtlich weiter zu verfolgen. Im deutschen Rechtssystem ist das<br />

Zivilverfahren gr<strong>und</strong>sätzlich nicht durch das Ergebnis des Strafverfahrens präjudiziert. Vielmehr findet dort an den<br />

Sachvortrag der Parteien anknüpfend gegebenenfalls eine eigenständige Beweisaufnahme statt, die gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

durchaus zu einem anderen Ergebnis als die im Strafprozess unter Beachtung der Offizialmaxime durchgeführte<br />

Sachverhaltsermittlung führen kann. Deshalb war der Angeklagte - worauf die Erwägungen des Landgerichts im<br />

Ergebnis hinausliefen - nicht verpflichtet, seine Berufung gegen das erstinstanzliche zivilrechtliche Urteil nach<br />

Rechtskraft des strafrechtlichen Schuldspruchs zurückzunehmen. Allein aus der legitimen Fortführung des Zivilprozesses<br />

kann daher nicht auf eine besondere Rechtsfeindschaft des Angeklagten geschlossen werden. Darüber hinausgehende<br />

Umstände, die einen solchen Schluss rechtfertigen könnten (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 12. Juni 1986<br />

- 4 StR 245/86, BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 2 Nachtatverhalten 1; Urteil vom 8. Juni 1988 - 3 StR 9/88, BGHR <strong>StGB</strong> §<br />

46 Abs. 2 Nachtatverhalten 14), sind nicht festgestellt.<br />

b) Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht, welches in die Prüfung, ob von der Regelwirkung des § 263<br />

Abs. 3 <strong>StGB</strong> abzusehen ist, den Versuch als vertypten Milderungsgr<strong>und</strong> nicht eingestellt, den Strafrahmen des § 263<br />

Abs. 3 Satz 1 <strong>StGB</strong> aber nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 <strong>StGB</strong> gemildert <strong>und</strong> gleichwohl dieselbe Strafe wie in der<br />

ersten tatrichterlichen Entscheidung verhängt hat, ohne die rechtsfehlerhafte Erwägung auf eine niedrigere Sanktion<br />

erkannt hätte. Ein Vorgehen nach § 354 Abs. 1a StPO kommt nicht in Betracht.<br />

2. Die Feststellungen werden von dem Rechtsfehler nicht berührt; sie können deshalb bestehen bleiben. Das neue<br />

Tatgericht kann ergänzende Strafzumessungstatsachen feststellen, die den bisherigen nicht widersprechen.<br />

3. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache nach § 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO an ein zu<br />

demselben Land gehörendes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen.<br />

42


<strong>StGB</strong> § 46 Prüfungsreihenfolge bei Strafrahmenwahl <strong>und</strong> Strafzumessung<br />

BGH, Beschl. v. 26.10.2011 - 2 StR 218/11 - NStZ 2012, 271<br />

Zur Prüfungsreihenfolge bei der Frage, ob ein minderschwerer Fall vorliegt.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 9. Februar 2011<br />

a) im Schuldspruch dahin berichtigt, dass der Angeklagte des besonders schweren Raubes, des versuchten schweren<br />

Raubes <strong>und</strong> des Erwerbs von Betäubungsmitteln schuldig ist,<br />

b) im Ausspruch über die Einzelstrafen in den Fällen II.1. <strong>und</strong> II.2. der Urteilsgründe sowie im Ausspruch über die<br />

Gesamtfreiheitsstrafe aufgehoben.<br />

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten "wegen schweren Raubes in zwei Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch<br />

blieb, <strong>und</strong> wegen Erwerbs von Betäubungsmitteln" zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die<br />

dagegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision führt zur teilweisen Berichtigung des Schuldspruchs <strong>und</strong> zur<br />

Aufhebung im Strafausspruch; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

1. Die Ausführungen, mit denen das Landgericht hinsichtlich der beiden Überfälle auf Bäckereien das Vorliegen<br />

eines minderschweren Falls gemäß § 250 Abs. 3 <strong>StGB</strong> abgelehnt hat, halten rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das<br />

Landgericht hat im Fall II.1. der Urteilsgründe den nach §§ 21, 49 Abs. 1 <strong>StGB</strong> gemilderten Strafrahmen des § 250<br />

Abs. 2 <strong>StGB</strong> zugr<strong>und</strong>e gelegt <strong>und</strong> ist im Fall II.2. der Urteilsgründe von dem Strafrahmen des § 250 Abs. 1 <strong>StGB</strong><br />

ausgegangen, der "gemäß §§ 21, 22, 23, 49 <strong>StGB</strong> zu mildern" sei. Darüber hinaus sei "eine weitere Milderung gemäß<br />

§ 250 Abs. 3 <strong>StGB</strong> im Hinblick auf die Vorschrift des § 50 <strong>StGB</strong> nicht vorzunehmen". Das Landgericht hat damit<br />

nicht bedacht, dass nach ständiger Rechtsprechung in den Fällen, in denen das Gesetz bei einer Straftat einen minderschweren<br />

Fall vorsieht <strong>und</strong> im Einzelfall ein gesetzlicher Milderungsgr<strong>und</strong> nach § 49 <strong>StGB</strong> gegeben ist, bei der<br />

Strafrahmenwahl vorrangig zu prüfen ist, ob ein minderschwerer Fall vorliegt (vgl. Senat, Beschluss vom 14. März<br />

1990 - 2 StR 457/89, BGHR <strong>StGB</strong> vor § 1 minderschwerer Fall Strafrahmenwahl 7; Beschluss vom 21. November<br />

2007 - 2 StR 449/07, NStZ-RR 2008, 105; BGH, Urteil vom 10. September 1986 - 3 StR 287/86, NStZ 1987, 72;<br />

Beschluss vom 27. April 2010 - 3 StR 106/10, NStZ-RR 2010, 336; Fischer, <strong>StGB</strong> 58. Aufl., § 50 Rn. 3 f. mwN).<br />

Dabei ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung zunächst zu prüfen, ob die allgemeinen Milderungsgründe allein zur<br />

Annahme eines minderschweren Falls führen, da die vertypten Milderungsgründe dann für eine Strafrahmenmilderung<br />

nach § 49 <strong>StGB</strong> noch nicht verbraucht sind. Ist nach einer Abwägung aller allgemeinen Strafzumessungsumstände<br />

das Vorliegen eines minderschweren Falles abzulehnen, sind bei der weitergehenden Prüfung, ob der mildere<br />

Sonderstrafrahmen zur Anwendung kommt, gesetzlich vertypte Strafmilderungsgründe zusätzlich heranzuziehen.<br />

Erst wenn der Tatrichter danach weiterhin keinen minderschweren Fall für gerechtfertigt hält, darf er seiner konkreten<br />

Strafzumessung den (allein) wegen des gegebenen gesetzlich vertypten Milderungsgr<strong>und</strong>es gemilderten Regelstrafrahmen<br />

zugr<strong>und</strong>e legen. Das Landgericht hat diese Prüfungsreihenfolge nicht beachtet.<br />

2. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung der verhängten Einzelstrafen von zwei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten im Fall<br />

II.1. <strong>und</strong> von zwei Jahren im Fall II.2. sowie zur Aufhebung im Gesamtstrafenausspruch. Angesichts der vom Landgericht<br />

festgestellten, zu Gunsten des Angeklagten sprechenden Umstände lag die Annahme minderschwerer Fälle<br />

bereits ohne gleichzeitigen Verbrauch des vertypten Milderungsgr<strong>und</strong>es im Fall II.1. bzw. der beiden vertypten Milderungsgründe<br />

im Fall II.2. nicht von vornherein fern. Zudem wäre selbst bei einem Verbrauch des vertypten Strafmilderungsgr<strong>und</strong>es<br />

im Fall II.1. schon der Sonderstrafrahmen des § 250 Abs. 3 <strong>StGB</strong> (ein Jahr bis zehn Jahre) für<br />

den Angeklagten günstiger als der nach §§ 21, 49 Abs. 1 <strong>StGB</strong> gemilderte Regelstrafrahmen des § 250 Abs. 2 <strong>StGB</strong><br />

(zwei Jahre bis 11 Jahre drei Monate). Im Fall II.2. kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass bei zutreffender<br />

Gesamtwürdigung <strong>und</strong> bei Verbrauch lediglich eines der beiden vertypten Strafmilderungsgründe zur Begründung<br />

des minderschweren Falles der Strafrahmen des § 250 Abs. 3 <strong>StGB</strong> wegen des nicht benötigten weiteren vertypten<br />

Strafmilderungsgr<strong>und</strong>es noch einmal herabgesetzt worden wäre. Der Senat kann daher nicht sicher ausschließen,<br />

dass der Tatrichter unter Zugr<strong>und</strong>elegung eines anderen Strafrahmens zu niedrigeren Einzelfreiheitsstrafen <strong>und</strong> damit<br />

zu einer insgesamt niedrigeren Gesamtfreiheitsstrafe gelangt wäre. Da die dem Strafausspruch zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

Feststellungen rechtsfehlerfrei getroffen sind, hat der Senat sie aufrechterhalten. Der zu neuer Verhandlung <strong>und</strong><br />

Entscheidung berufene Tatrichter kann ergänzende Feststellungen treffen.<br />

43


3. Im neu zu fassenden Schuldspruch ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte im Fall II.1. der Urteilsgründe<br />

wegen besonders schweren Raubes verurteilt ist. Das Landgericht hat wegen des zur Bedrohung der Verkäuferin<br />

verwendeten Messers zutreffend den Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> als verwirklicht angesehen.<br />

Diese Qualifikation muss in der nach § 260 Abs. 4 Satz 1 StPO erforderlichen rechtlichen Bezeichnung der<br />

Straftat im Urteilstenor zum Ausdruck kommen (BGH, Beschluss vom 3. September 2009 - 3 StR 168/09, NStZ<br />

2010, 101).<br />

<strong>StGB</strong> § 46 Strafzumessung ausländische Vorstrafe Tilgungsfrist<br />

BGH, Beschl. v. 19.10.2011 - 4 StR 425/11 - StV 2012, 149<br />

Die Verwertbarkeit einer ausländischen Verurteilung in einem in Deutschland geführten Strafverfahren<br />

zum Nachteil des Beschuldigten setzt gr<strong>und</strong>sätzlich voraus, dass diese - würde es sich um<br />

eine Verurteilung nach deutschem Recht handeln - nicht tilgungsreif wäre.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten Georgi B. wird das Urteil des Landgerichts Dortm<strong>und</strong> vom 22. März 2011,<br />

soweit es ihn betrifft, in den Aussprüchen über die Einzel- <strong>und</strong> die Gesamtstrafe aufgehoben.<br />

2. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten Georgi B. wegen Beihilfe zur Vergewaltigung <strong>und</strong> wegen versuchter Nötigung<br />

zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren drei Monaten <strong>und</strong> zwei Wochen verurteilt <strong>und</strong> ihn im Übrigen freigesprochen.<br />

Gegen das Urteil richtet sich die auf die Sachrüge <strong>und</strong> Beanstandungen des Verfahrens gestützte Revision<br />

des Angeklagten. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung der Strafaussprüche.<br />

1. Die Verfahrensrügen sind aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt in der Antragsschrift vom 25. August 2011 dargelegten<br />

Gründen unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Auch der Schuldspruch weist keinen Rechtsfehler auf (§ 349<br />

Abs. 2 StPO).<br />

2. Keinen Bestand haben dagegen die gegen den Angeklagten Georgi B. verhängten Einzelstrafen sowie die Gesamtstrafe.<br />

a) Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen absolvierte der inzwischen 35-jährige Angeklagte im Alter<br />

von 17 bzw. 18 Jahren in Bulgarien seinen Militärdienst, beging „Fahnenflucht“ <strong>und</strong> wurde deshalb in Bulgarien zu<br />

einer Freiheitsstrafe verurteilt. Ferner hat er in Bulgarien „noch weitere Freiheitsstrafen verbüßt“ (UA S. 8 f.), zu<br />

denen das Urteil – anders als beim Angeklagten Boris B. - keine Einzelheiten mitteilt. Weitere Vorstrafen hat das<br />

Landgericht nicht festgestellt. Bei der Bemessung der gegen den Angeklagten Georgi B. wegen Beihilfe zur Vergewaltigung<br />

verhängten Freiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> drei Monaten hat die Strafkammer – an erster Stelle – zu<br />

Lasten des Angeklagten angeführt, dass sich dieser, „obwohl er bereits in Bulgarien freiheitsentziehende Maßnahmen<br />

erlitten hat, nicht von der Begehung der vorliegenden Taten [hat] abschrecken lassen“ (UA S. 40). Ferner hat sie<br />

die „vorgenannten … strafschärfenden Gesichtspunkte“ sowohl bei der Bemessung der wegen versuchter Nötigung<br />

verhängten Geldstrafe als auch der Gesamtstrafe berücksichtigt (UA S. 42).<br />

b) Dies hält einer Überprüfung nicht stand.<br />

aa) Zwar dürfen bei der Strafzumessung auch rechtskräftige ausländische Vorstrafen berücksichtigt werden, wenn<br />

die Tat nach deutschem Recht strafbar wäre (vgl. BT-Drucks. 16/13673 S. 6 f. mwN). Sind sie zur Bewertung des<br />

Vorlebens des Täters im Sinne des § 46 Abs. 2 Satz 2 <strong>StGB</strong> relevant, müssen in einem Mitgliedsstaat der Europäischen<br />

Union ergangene Verurteilungen gr<strong>und</strong>sätzlich sogar „mit gleichwertigen tatsächlichen bzw. verfahrens- <strong>und</strong><br />

materiellrechtlichen Wirkungen versehen werden … wie denjenigen, die das innerstaatliche Recht den im Inland<br />

ergangenen Verurteilungen zuerkennt“ (vgl. Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Nr. 5 der Erwägungsgründe des Rahmenbeschlusses<br />

2008/675/JI des Rates der Europäischen Union vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedsstaaten<br />

der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren). Dabei ist nicht Voraussetzung,<br />

dass es sich um eine nach § 54 BZRG im B<strong>und</strong>eszentralregister eingetragene ausländische Vorstrafe handelt<br />

(BGH, Beschluss vom 1. August 2007 – 5 StR 282/07, NStZ-RR 2007, 368, 369; zur geplanten Neuregelung der<br />

Eintragung ausländischer Verurteilungen: vgl. BT-Drucks. 17/5224 [dort v.a. § 53a BZRG]).<br />

44


) Die Verwertbarkeit einer ausländischen Verurteilung in einem in Deutschland geführten Strafverfahren zum<br />

Nachteil des Beschuldigten setzt gr<strong>und</strong>sätzlich aber ebenfalls voraus, dass diese – würde es sich um eine Verurteilung<br />

nach deutschem Recht handeln – nicht tilgungsreif wäre. Dies ergibt sich für im B<strong>und</strong>eszentralregister eingetragene<br />

ausländische Verurteilungen aus §§ 51 Abs. 1, 56 Abs. 1 Satz 1 BZRG (gegebenenfalls in Verbindung mit § 63<br />

Abs. 4 BZRG), gilt aber auch für dort nicht eingetragene ausländische Vorstrafen. Gr<strong>und</strong>lage hierfür ist § 58 BZRG,<br />

nach dem eine ausländische Verurteilung, auch wenn sie nicht in das B<strong>und</strong>eszentralregister eingetragen ist, als tilgungsreif<br />

gilt, sobald eine ihr vergleichbare Verurteilung im Geltungsbereich des Gesetzes über das Zentralregister<br />

<strong>und</strong> das Erziehungsregister tilgungsreif wäre. Liegt eine solche Tilgungsreife vor, besteht – schon nach dem Willen<br />

des Gesetzgebers – das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG (gegebenenfalls in Verbindung mit § 63 Abs. 4<br />

BZRG); denn tilgungsreife „ausländische Verurteilungen [können] nicht in größerem Umfang zu seinem Nachteil<br />

berücksichtigt werden als entsprechende deutsche Bestrafungen“ (BT-Drucks. VI/477 S. 25 [zu § 52 BZRG];<br />

BayObLG, Urteil vom 17. März 1978 – RReg 2 St 429/77, BayObLGSt 1978, 39, 41; ebenso Götz/Tolzmann,<br />

BZRG, 4. Aufl., § 58 Rn. 6, 7; Hase, BZRG, 2003, § 58 Rn. 1; Rebmann, NStZ 1985, 529, 530). Dies entspricht<br />

auch dem Rahmenbeschluss 2008/675/JI des Rates der Europäischen Union vom 24. Juli 2008, der – etwa in Art. 3<br />

Abs. 1 – darauf verweist, dass in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union ergangene frühere Verurteilungen im<br />

Strafverfahren „mit gleichwertigen Rechtswirkungen versehen werden wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen“.<br />

cc) Kommt mithin bei einer dem Tatrichter bekannt gewordenen, von ihm zum Nachteil des Beschuldigten berücksichtigungsfähigen<br />

ausländischen Vorstrafe in Betracht, dass diese – würde es sich um eine deutsche Verurteilung<br />

handeln – im Falle ihrer Eintragung im B<strong>und</strong>eszentralregister tilgungsreif wäre (ohne dass eine Ausnahmeregelung -<br />

etwa die in § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG - eingreift), muss er die für die Tilgungsreife erforderlichen Feststellungen treffen<br />

<strong>und</strong> bewerten (vgl. dazu auch § 56 Abs. 1 Satz 2 BZRG) <strong>und</strong> dies im Urteil darlegen (vgl. auch BGH, Beschluss<br />

vom 1. August 2007 – 5 StR 282/07, NStZ 2007, 368, 369; BayObLG, Urteil vom 17. März 1978 – RReg 2 St<br />

429/77, BayObLGSt 1978, 39, 41; ferner BGH, Beschluss vom 3. Februar 1999 – 5 StR 705/98).<br />

dd) Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage kann das landgerichtliche Urteil keinen Bestand haben. Denn der Senat kann die nach der<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs auf die Sachrüge hin gebotene Prüfung, ob die Strafkammer beim Angeklagten<br />

Georgi B. das (in Betracht kommende) Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG (gegebenenfalls in Verbindung<br />

mit § 63 Abs. 4 BZRG) missachtet hat, mangels hinreichender Feststellungen nicht überprüfen. Dies führt<br />

zur Aufhebung der Aussprüche über die Einzelstrafen sowie die Gesamtstrafe.<br />

<strong>StGB</strong> § 46 Strafzumessung muss persönliche Verhältnisse würdigen<br />

BGH, Beschl. v. 29.11.2011 - 3 StR 378/11 - StV 2012, 282<br />

1. Eine an den anerkannten Strafzwecken ausgerichtete Strafzumessung ist jedenfalls bei Straftaten<br />

von einigem Gewicht ohne Würdigung der persönlichen Verhältnisse des Täters in der Regel nicht<br />

möglich. Es bedeutet daher einen Sachmangel, wenn der Tatrichter bei der Strafzumessung die persönlichen<br />

Verhältnisse des Täters außer Acht lässt. Sie sind unabhängig von ihren Auswirkungen<br />

auf die Tatbegehung bei der Beurteilung der Frage heranzuziehen, welche Wirkungen die Strafe<br />

voraussichtlich haben wird.<br />

2. Das Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen gehört zur Tatbestandsverwirklichung des gewerbsmäßigen<br />

Einschleusens von Ausländern. Die strafschärfende Verwertung dieses Umstandes<br />

verstößt daher gegen das Verbot der Doppelverwertung von Tatbestandsmerkmalen.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 8. April 2011, soweit<br />

es ihn betrifft,<br />

a) im Schuldspruch dahin neu gefasst, dass der Angeklagte des gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in<br />

zwölf Fällen schuldig ist,<br />

b) aufgehoben im gesamten Strafausspruch <strong>und</strong> im Ausspruch über den Verfall von Wertersatz; die jeweiligen Feststellungen<br />

werden jedoch aufrechterhalten. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong><br />

Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

45


2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "Einschleusens von Ausländern" in zwölf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von vier Jahren verurteilt <strong>und</strong> den Verfall von Wertersatz in Höhe von 39.000 € angeordnet. Die hiergegen<br />

gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen<br />

<strong>Teil</strong>erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

1. Der Senat fasst den Schuldspruch neu, wie aus der Beschlussformel ersichtlich. Das gewerbsmäßige Einschleusen<br />

von Ausländern (§ 96 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) ist ein Qualifikationstatbestand <strong>und</strong> als solcher im Schuldspruch<br />

kenntlich zu machen (BGH, Beschluss vom 6. Juli 2007 - 2 StR 207/07, Rn. 10; vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl.,<br />

§ 260 Rn. 25a).<br />

2. Der Strafausspruch hat insgesamt keinen Bestand.<br />

a) Das Landgericht hat bei der konkreten Strafzumessung in allen Fällen die "gesamten persönlichen Verhältnisse"<br />

des Angeklagten, so seine "Lebensgeschichte, Familienverhältnisse <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlichen Beeinträchtigungen", nicht<br />

"schuldmindernd" berücksichtigt, da "insbesondere" weder eine "wirtschaftliche Notlage noch psychische Defekte"<br />

des Angeklagten "tatmitursächlich" gewesen seien. Es hat lediglich "strafmindernd" eine "erhöhte Strafvollzugsempfindlichkeit"<br />

in Rechnung gestellt. Zu seinen Lasten hat es gewertet, dass er "ein beträchtliches Gewinnstreben gezeigt"<br />

habe.<br />

b) Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.<br />

aa) Eine an den anerkannten Strafzwecken ausgerichtete Strafzumessung ist jedenfalls bei Straftaten von einigem<br />

Gewicht ohne Würdigung der persönlichen Verhältnisse des Täters in der Regel nicht möglich. Es bedeutet daher<br />

einen Sachmangel, wenn der Tatrichter bei der Strafzumessung die persönlichen Verhältnisse des Täters außer Acht<br />

lässt (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Dezember 1990 - 3 StR 289/90, BGHR StPO § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung<br />

10 mwN). Sie sind unabhängig von ihren Auswirkungen auf die Tatbegehung bei der Beurteilung der Frage heranzuziehen,<br />

welche Wirkungen die Strafe voraussichtlich haben wird (vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 46 Rn. 42). Entsprechend<br />

ist es rechtsfehlerhaft, wenn der Tatrichter sie mangels Mitursächlichkeit für die Tatverwirklichung bei<br />

der Strafzumessung ausklammert. Der pauschale Verweis auf eine strafmildernde Berücksichtigung einer erhöhten<br />

Strafvollzugsempfindlichkeit gleicht diesen Mangel nicht aus.<br />

bb) Das Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen gehört zur Tatbestandsverwirklichung des gewerbsmäßigen Einschleusens<br />

von Ausländern. Die strafschärfende Verwertung dieses Umstandes verstößt daher gegen das Verbot der<br />

Doppelverwertung von Tatbestandsmerkmalen (§ 46 Abs. 3 <strong>StGB</strong>). Dass das Gewinnstreben des Angeklagten das<br />

bereits tatbestandlich erforderliche Maß deutlich überstieg, daher in besonderer Weise verwerflich war <strong>und</strong> ausnahmsweise<br />

zum Nachteil des Angeklagten gewertet werden konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 24. September 2009<br />

- 3 StR 294/09, NStZ-RR 2010, 24, 25 mwN), ist nicht belegt.<br />

c) Der Senat vermag nicht sicher auszuschließen, dass das Landgericht ohne die rechtsfehlerhaften Erwägungen auf<br />

niedrigere Einzelstrafen <strong>und</strong> eine mildere Gesamtstrafe erkannt hätte, <strong>und</strong> hebt daher den gesamten Strafausspruch<br />

auf.<br />

3. Die Anordnung des Verfalls von Wertersatz in Höhe von 39.000 € unterliegt ebenfalls der Aufhebung, da das<br />

Landgericht die Ermessensvorschrift des § 73c Abs. 1 Satz 2 <strong>StGB</strong> nicht erörtert hat, obwohl dazu Anlass bestanden<br />

hätte. Der Angeklagte ist nach den getroffenen Feststellungen seit Ende 2006 arbeitslos <strong>und</strong> lebt von Sozialleistungen<br />

<strong>und</strong> Einkünften aus gelegentlichen Nebenbeschäftigungen. Seine zweite Ehefrau, die mit ihm <strong>und</strong> einem gemeinsamen<br />

Kind zusammenlebt, verdient 160 € monatlich. Es liegt daher nicht fern, dass der Angeklagte die für die<br />

Taten erlangten Beträge zumindest teilweise verbraucht hat. Das Landgericht hätte deshalb Veranlassung zu der<br />

Prüfung gehabt, ob der Wert des Erlangten zur Zeit der Anordnung im Vermögen des Angeklagten nicht mehr vorhanden<br />

war <strong>und</strong> sie deshalb ganz oder teilweise zu unterbleiben hatte (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Mai 2008 - 3<br />

StR 136/08, StV 2008, 576, 577).<br />

4. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen sind von den Gesetzesverletzungen nicht betroffen <strong>und</strong> können<br />

daher bestehen bleiben. Neue Feststellungen dürfen ihnen nicht widersprechen.<br />

46


<strong>StGB</strong> § 46a 1, § 224 Täter-Opfer-Ausgleich setzt Kommunikation voraus<br />

BGH, Urt. v. 26.04.2012 - 4 StR 51/12 - BeckRS 2012, 10712<br />

1. Quarzhandschuhe sind in der Regel gefährliche Werkzeuge im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong>.<br />

2. Der Täter-Opfer-Ausgleich nach § 46a Nr. 1 <strong>StGB</strong> setzt einen kommunikativen Prozess zwischen<br />

Täter <strong>und</strong> Opfer voraus, der auf einen umfassenden Ausgleich der durch die Straftaten verursachten<br />

Folgen gerichtet sein muss; das einseitige Wiedergutmachungsbestreben ohne den Versuch einer<br />

Einbeziehung des Opfers genügt nicht.<br />

Der 4. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 26. April 2012 für Recht erkannt: Auf die Revisionen<br />

der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Stendal vom 6. Oktober 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an<br />

eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu Freiheitsstrafen verurteilt; bei den<br />

Angeklagten P. , W. <strong>und</strong> S. hat es die Vollstreckung der Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt. Mit ihren zu<br />

Ungunsten der Angeklagten eingelegten Revisionen beanstandet die Staatsanwaltschaft mit der Rüge der Verletzung<br />

materiellen Rechts insbesondere die Verneinung der Tatvarianten des § 224 Abs. 1 Nr. 2 <strong>und</strong> Nr. 5 <strong>StGB</strong>. Die vom<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertretenen Rechtsmittel haben Erfolg.<br />

I. Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils saßen die Angeklagten mit B. am Abend des 6. April 2011 in<br />

der Wohnung der Angeklagten S. in G. zusammen. Der Angeklagte W. ärgerte sich über früheres Verhalten B. <strong>und</strong><br />

entschloss sich gegen 23.15 Uhr, B. einen „Denkzettel“ zu verpassen. Er versetzte B. unvermittelt sechs oder sieben<br />

Faustschläge gegen Kopf <strong>und</strong> Oberkörper, warf eine halbgefüllte Bierflasche nach ihm, die B. verfehlte <strong>und</strong> an der<br />

Wand zerschellte <strong>und</strong> versetzte ihm zwei weitere Faustschläge gegen den Kopf. Die Angeklagte S. äußerte sich lautstark<br />

beifällig zu dem Geschehen. Angestachelt dadurch kamen alle vier Angeklagten stillschweigend überein, den<br />

„Denkzettel“ für B. zu intensivieren <strong>und</strong> ihm weitere Verletzungen zuzufügen. Die Angeklagte S. versetzte B. eine<br />

Ohrfeige. Der Angeklagte P. schlug <strong>und</strong> stieß ihn mehrfach mit Fäusten <strong>und</strong> seinem Knie. Der Angeklagte W. schlug<br />

zweimal peitschenartig mit einer H<strong>und</strong>eleine aus Nylongewebe zu, so dass B. von dem metallenen Karabinerhaken<br />

am Ende der Leine an Kopf <strong>und</strong> Rücken getroffen wurde. Der Angeklagte M. versetzte B. mehrere Faustschläge<br />

gegen den Kopf. B. rutschte infolgedessen vom Sofa. Die Angeklagte S. , die ihm gegenüber saß, stieß ihn mit der<br />

Ferse gegen die linke Gesichtshälfte. Auf ihre Aufforderung versuchte der völlig eingeschüchterte B. , sein auf Sofa<br />

<strong>und</strong> Fußboden getropftes Blut mit einem Handtuch aufzuwischen. Unter weiteren Beschimpfungen schlug ihm die<br />

Angeklagte S. eine gefüllte Bierflasche auf den Kopf. Der Angeklagte P. versetzte ihm mehrere Schläge, <strong>und</strong> der<br />

Angeklagte Matzat trat ihm mehrmals gegen den Kopf. Der Angeklagte P. zog nun die Angeklagten M. <strong>und</strong> S. von<br />

B. weg <strong>und</strong> half ihm aufzustehen. B. begab sich ins Bad, wo er sich das Blut abwusch <strong>und</strong> um 23.55 Uhr per Handy<br />

die Polizei zur Hilfe rief. Als B. zurück ins Wohnzimmer ging, wurde er vom Angeklagten M. , der sich Quarzhandschuhe<br />

angezogen hatte, zweimal mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Gegen Mitternacht klingelten Polizeibeamte<br />

an der Wohnungstür. Aus Verärgerung stieß die Angeklagte S. B. heftig gegen eine Schrankwand. Sein Kopf prallte<br />

gegen die Schrankwand <strong>und</strong> schlug dann auf dem Boden auf. Er blieb auf dem Boden liegen <strong>und</strong> gab schnarchartige<br />

Geräusche von sich. Nach dem Eintreffen von Verstärkung verschafften sich die Polizeibeamten um 0.55 Uhr Zutritt<br />

zu der Wohnung, wo sie B. bewusstlos vorfanden <strong>und</strong> sofort Rettungsmaßnahmen einleiteten. B. erlitt durch die Tat<br />

eine ausgedehnte Blutung unter der Hirnhaut, einen Bruch der linken Augenhöhle, einen Rippenbruch <strong>und</strong> Hautunterblutungen<br />

im Gesicht <strong>und</strong> am Oberkörper. Im Universitätsklinikum H. wurde im Wege einer Notoperation die<br />

Schädeldecke eröffnet, um die Blutung unter der Hirnhaut zu entleeren. Ohne ärztliche Hilfe wäre es mit an Sicherheit<br />

grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer irreparablen Hirnschädigung, möglicherweise sogar zum Tod gekommen.<br />

Das Landgericht hat alle Angeklagten einer gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 <strong>StGB</strong> für<br />

schuldig bef<strong>und</strong>en, die Angeklagten W. <strong>und</strong> S. darüber hinaus der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1<br />

Nr. 2 <strong>StGB</strong> wegen der Verwendung der H<strong>und</strong>eleine <strong>und</strong> der gefüllten Bierflasche. Die Verwendung dieser Gegenstände<br />

hat es den jeweils anderen Mitangeklagten nicht zugerechnet, weil dies vom gemeinsamen Tatentschluss nicht<br />

umfasst gewesen sei, es sich mithin um Exzesshandlungen einzelner Angeklagter gehandelt habe. Zu Gunsten des<br />

Angeklagten M. ist es davon ausgegangen, dass die - nicht sichergestellten - Quarzhandschuhe lediglich dem Passivschutz<br />

des Trägers dienten <strong>und</strong> deshalb nicht als gefährliches Werkzeug im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> an-<br />

47


zusehen seien. Auch eine gefährliche Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung nach §<br />

224 Abs. 1 Nr. 5 <strong>StGB</strong> hat das Landgericht nicht festgestellt. Jeder der Angeklagten habe unwiderlegbar angegeben,<br />

die eigenen Tritte <strong>und</strong> Schläge nicht besonders kraftvoll ausgeführt <strong>und</strong> diejenigen der Mittäter nicht ununterbrochen<br />

beobachtet zu haben. Diejenigen Tathandlungen, die sie beobachtet hätten, hätten sie nicht als lebensgefährdend<br />

eingeschätzt. Aus diesen Erwägungen hat das Landgericht auch bei keinem der Angeklagten einen Tötungsvorsatz<br />

festgestellt.<br />

II.<br />

1. Die vom Landgericht zu § 224 Abs. 1 Nr. 5 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> zur subjektiven Tatseite des § 212 <strong>StGB</strong> getroffenen Feststellungen<br />

beruhen allein auf den Einlassungen der Angeklagten, die das Landgericht als glaubhaft angesehen hat.<br />

Diese Bewertung hält der sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand. Entlastende Angaben eines Angeklagten, für die<br />

keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen <strong>und</strong> deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, darf der Tatrichter nicht ohne<br />

weiteres seiner Entscheidung zugr<strong>und</strong>e legen, nur weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Die<br />

Zurückweisung einer Einlassung erfordert auch nicht, dass sich ihr Gegenteil positiv feststellen lässt. Vielmehr muss<br />

sich der Tatrichter aufgr<strong>und</strong> einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von<br />

der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung bilden (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 16. August 1995 - 2 StR<br />

94/95, BGHR StPO § 261 Einlassung 6; Beschluss vom 25. April 2007 - 1 StR 159/07, BGHSt 51, 324, 325; Urteil<br />

vom 14. Januar 2009 - 1 StR 158/08, BGHSt 53, 145, 163 Rn. 51). Dies gilt umso mehr, wenn objektive Beweisanzeichen<br />

festgestellt sind, die mit Gewicht gegen die Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten sprechen. Die danach<br />

gebotene Gesamtwürdigung hat das Landgericht nicht vorgenommen. Die von ihm als „nachvollziehbar“ bezeichnete<br />

Darstellung aller Angeklagten, die Tätlichkeiten der jeweiligen Mittäter nicht ununterbrochen beobachtet<br />

zu haben, widerspricht dem Umstand, dass die Mitangeklagten nach den Urteilsausführungen die Tatbeiträge der<br />

Angeklagten S. stimmig übereinstimmend geschildert haben, worauf insoweit die Feststellungen auch beruhen. Im<br />

Übrigen hat der unbeteiligte Zeuge K. Pe. die Tatbeiträge der Angeklagten <strong>und</strong> die Reihenfolge der einzelnen Übergriffe<br />

glaubhaft bek<strong>und</strong>et. Dass Mitangeklagte, die sich in demselben Raum aufhielten, durch Fernseher oder Telefonate<br />

so vom Tatgeschehen abgelenkt wurden, dass sie anders als der Zeuge Verletzungshandlungen durch Mittäter<br />

nicht bemerkten, liegt nicht nahe <strong>und</strong> hätte vom Landgericht näher begründet werden müssen. Das Landgericht hätte<br />

auch die Einlassung der Angeklagten, sie selbst hätten jeweils nicht kraftvoll zugeschlagen <strong>und</strong> die beobachteten<br />

Tathandlungen der Mittäter nicht für lebensgefährdend gehalten, einer näheren Prüfung unterziehen müssen. Das<br />

Tatopfer B. wurde mit einer gefüllten Bierflasche auf den Kopf geschlagen <strong>und</strong> gegen den Kopf getreten. Jedenfalls<br />

den Schlag der Angeklagten S. mit der Bierflasche haben die Mitangeklagten gesehen. Dass eine derartige Behandlung,<br />

wie auch Tritte gegen den Kopf, generell potentiell lebensgefährdend ist (vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 224<br />

Rn. 12b mwN), ist allgemein bekannt. Für die Massivität der Verletzungshandlungen insgesamt sprechen hier bereits<br />

die Knochenbrüche des Opfers. Darauf, dass B. dennoch weiter ansprechbar <strong>und</strong> handlungsfähig war, eine konkrete<br />

Lebensgefahr mithin möglicherweise noch nicht eingetreten war, kommt es nicht an (vgl. Fischer aaO Rn. 12 mwN).<br />

Das Landgericht hat aus denselben fehlerhaften Erwägungen heraus auch einen Tötungsvorsatz der Angeklagten<br />

verneint. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e führt der Rechtsfehler zur Aufhebung des Schuldspruchs insgesamt.<br />

2. Auch der vom Landgericht mit einer pauschalen Begründung bejahte Mittäterexzess der Angeklagten W. <strong>und</strong> S. in<br />

Bezug auf § 224 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Zwar kann einem Mittäter das Handeln<br />

eines anderen Mittäters, das über das gemeinsam Gewollte hinausgeht, nicht zugerechnet werden (BGH, Urteil vom<br />

25. Juli 1989 - 1 StR 479/88, BGHSt 36, 231, 234; Fischer aaO § 25 Rn. 20 mwN). Dabei ist jedoch zu beachten,<br />

dass die Zurechnung keine ins Einzelne gehende Vorstellung von den Handlungen des anderen Tatbeteiligten erfordert.<br />

Regelmäßig werden die Handlungen eines anderen Tatbeteiligten, mit denen nach den Umständen des Falles<br />

gerechnet werden musste, vom Willen des Mittäters umfasst, auch wenn er sie sich nicht besonders vorgestellt hat<br />

(BGH, Urteil vom 1. September 1999 - 2 StR 94/99, NStZ 2000, 29 f.; BGH, Urteil vom 15. September 2004 - 2 StR<br />

242/04, NStZ 2005, 261 f.). Dasselbe gilt, wenn ihm die Handlungsweise des Mittäters gleichgültig ist (BGH, Urteil<br />

vom 27. Mai 1998 - 3 StR 66/98, NStZ 1998, 511 f.; BGH, Urteil vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09 Rn. 101).<br />

Alle vier Angeklagten entschlossen sich hier, den „Denkzettel“ zu intensivieren, nachdem bereits der Angeklagte W.<br />

mit einer teilweise gefüllten Bierflasche nach B. geworfen hatte. Dies kann ein Indiz dafür sein, dass sie mit der<br />

Verwendung vorgef<strong>und</strong>ener Gegenstände gegen B. einverstanden waren oder ihnen dies zumindest gleichgültig war.<br />

Alle haben auch weiter selbst auf B. eingeschlagen, nachdem ihn W. mit der H<strong>und</strong>eleine geschlagen hatte, ohne sich<br />

von dem Werkzeugeinsatz zu distanzieren. Auf der Gr<strong>und</strong>lage der Feststellungen liegt die Annahme eines Mittäterexzesses<br />

daher eher fern. Jedenfalls hätten seine Bejahung näherer Begründung <strong>und</strong> der Ausschluss einer vom<br />

Schwurgericht nicht angesprochenen sukzessiven Mittäterschaft der Erörterung bedurft.<br />

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:<br />

48


a) Quarzhandschuhe sind in der Regel gefährliche Werkzeuge im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong>. Ein gefährliches<br />

Werkzeug ist ein solches, das nach seiner objektiven Beschaffenheit geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen<br />

auszuführen. Eingenähter Sand in Handschuhen verstärkt deren Schlagwirkung <strong>und</strong> hat eine solche Wirkung<br />

(vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. September 1997 - 4 StR 438/97 <strong>und</strong> vom 10. Januar 2011 - 5 StR 515/10, NStZ-RR<br />

2011, 111 f.; vgl. auch Urteil vom 13. Januar 2005 - 4 StR 469/04 zu mit Plastik verstärkten Bikerhandschuhen).<br />

b) Der neue Tatrichter wird auch zu klären haben, ob das von den Angeklagten S. <strong>und</strong> M. bei ihren Tritten gegen den<br />

Kopf des Opfers getragene Schuhwerk als gefährliches Werkzeug zu bewerten ist (vgl. dazu BGH, Urteil vom 15.<br />

September 2010 - 2 StR 395/10).<br />

c) Der Täter-Opfer-Ausgleich nach § 46a Nr. 1 <strong>StGB</strong> setzt einen kommunikativen Prozess zwischen Täter <strong>und</strong> Opfer<br />

voraus, der auf einen umfassenden Ausgleich der durch die Straftaten verursachten Folgen gerichtet sein muss; das<br />

einseitige Wiedergutmachungsbestreben ohne den Versuch einer Einbeziehung des Opfers genügt nicht. Regelmäßig<br />

sind dazu Feststellungen erforderlich, wie sich das Opfer zu den Bemühungen des Täters gestellt hat <strong>und</strong> wie sicher<br />

die Erfüllung der über den bisher gezahlten Betrag hinausgehenden weiteren Schmerzensgeldzahlungsverpflichtung<br />

ist (vgl. BGH, Urteile vom 27. August 2002 - 1 StR 204/02, BGHR <strong>StGB</strong> § 46a Nr. 1 Ausgleich 6, <strong>und</strong> vom 9. September<br />

2004 - 4 StR 199/04). Ein erfolgreicher Täter-Opfer-Ausgleich im Sinne von § 46a Nr. 1 <strong>StGB</strong> setzt gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

voraus, dass das Opfer die erbrachten Leistungen oder Bemühungen des Täters als friedensstiftenden Ausgleich<br />

akzeptiert. Dagegen könnte hier sprechen, dass eine Vereinbarung über den Ersatz des materiellen <strong>und</strong> immateriellen<br />

Schadens zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch nicht getroffen war <strong>und</strong> der Angeklagte P. die 200 € -<br />

die angesichts der schweren Verletzungen des Tatopfers zum Ausgleich des immateriellen Schadens völlig unzureichend<br />

sind - bei seiner Verteidigerin hinterlegt hat.<br />

<strong>StGB</strong> § 52 Natürliche Handlungseinheit trotz Angriffe auf höchstpersönliche Rechtsgüter<br />

BGH, Urt. v. 29.03.2012 - 3 StR 422/11 - BeckRS 2012, 10159<br />

Richten sich die Handlungen des Täters gegen höchstpersönliche Rechtsgüter der Opfer, wird die<br />

Annahme einer natürlichen Handlungseinheit zwar nicht gr<strong>und</strong>sätzlich ausgeschlossen, sie liegt<br />

jedoch bereits nicht nahe (vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., vor § 52 Rn. 7). Denn höchstpersönliche<br />

Rechtsgüter sind einer additiven Betrachtungsweise allenfalls in Ausnahmefällen zugänglich. Deshalb<br />

können Handlungen, die sich nacheinander gegen höchstpersönliche Rechtsgüter mehrerer<br />

Personen richten, gr<strong>und</strong>sätzlich weder durch ihre enge Aufeinanderfolge noch durch einen einheitlichen<br />

Plan oder Vorsatz zu einer natürlichen Handlungseinheit <strong>und</strong> damit zu einer Tat im Rechtssinne<br />

zusammengefasst werden.<br />

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kleve vom 30. Juni 2011, soweit es die<br />

Angeklagten betrifft, im jeweiligen Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der<br />

Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine<br />

allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen schuldig gesprochen<br />

<strong>und</strong> den Angeklagten K. zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten sowie den Angeklagten A.<br />

zu einer solchen von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Hiergegen wenden<br />

sich die Angeklagten mit ihren Revisionen, die sie jeweils auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts stützen,<br />

der Angeklagte A. darüber hinaus auch auf eine Verfahrensbeanstandung. Die Rechtsmittel haben mit den<br />

Sachbeschwerden zu den Strafaussprüchen Erfolg; im Übrigen sind sie unbegründet.<br />

I. Das Landgericht hat im Wesentlichen festgestellt: In der Nacht vom 28. auf den 29. Dezember 2010 waren die<br />

Angeklagten sowie der Mitangeklagte <strong>und</strong> Nichtrevident D. als Türsteher in der Diskothek in M. tätig. Gegen 1.00<br />

Uhr forderte D. nach einem Wortwechsel den Geschädigten Y. auf, die Diskothek zu verlassen, <strong>und</strong> begleitete ihn<br />

zur Tür. Y. war deswegen verärgert. Auf sein Geheiß ging sein Begleiter Mä. zum Eingang der Diskothek zurück<br />

<strong>und</strong> forderte den Angeklagten D. auf, nach draußen zu kommen, um die Sache mit dem Zeugen Y. "Mann gegen<br />

Mann" zu klären. Gemeinsam mit den Angeklagten K. <strong>und</strong> A. begaben sich D. , Y. <strong>und</strong> Mä. vor die Diskothek, wobei<br />

allen Beteiligten klar war, dass es nun zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Y. <strong>und</strong> D. kommen<br />

49


würde. Sogleich begann eine Rangelei zwischen diesen beiden, in deren Verlauf sich - entgegen der Erwartung der<br />

drei Angeklagten - der Zeuge Y. als der Überlegene herausstellte. Es gelang ihm, den Angeklagten D. zu Fall zu<br />

bringen, sich auf ihn zu setzen <strong>und</strong> auf ihn einzuschlagen. Dieser unerwartete Verlauf missfiel den Angeklagten K.<br />

<strong>und</strong> A. , so dass sie sich entschlossen, zugunsten des Mitangeklagten D. in die Auseinandersetzung einzugreifen, um<br />

das Blatt zu dessen Gunsten zu wenden. Sie traten <strong>und</strong> schlugen daher gemeinsam gegen Kopf <strong>und</strong> Körper des Zeugen<br />

Y. , der währenddessen - von den übrigen Beteiligten unbemerkt - von D. mehrfach mit einem - ohne Wissen der<br />

beiden anderen Angeklagten mitgeführten - Faustmesser gestochen wurde. Als der bis dahin an der Auseinandersetzung<br />

völlig unbeteiligte Mä. bemerkte, dass sein Fre<strong>und</strong> sich nunmehr drei Gegnern gegenübersah, versuchte er mit<br />

den Worten: "Was soll das, ausgemacht war einer gegen einen", dem Geschädigten Y. zur Hilfe zu kommen. Er<br />

wurde daraufhin von den Angeklagten A. <strong>und</strong> K. abgewehrt <strong>und</strong> geschlagen, wodurch er ein blaues Auge <strong>und</strong> Prellungen<br />

im Rippenbereich erlitt. Gleichwohl leistete er heftigen Widerstand, weswegen die Angeklagten K. <strong>und</strong> A.<br />

zunächst von ihm abließen <strong>und</strong> sich - vermutlich ins Innere der Diskothek - zurückzogen. Dies nutzte der Geschädigte<br />

Mä. , um den Angeklagten D. , der zwischenzeitlich die Oberhand gewonnen hatte <strong>und</strong> auf dem Zeugen Y. saß,<br />

von diesem herunterzuziehen <strong>und</strong> die beiden voneinander zu trennen. Gemeinsam mit Y. , der bereits sichtbar aus<br />

mehreren Stich- <strong>und</strong> Schnittverletzungen an den Armen, Beinen <strong>und</strong> am Oberkörper blutete <strong>und</strong> sich nur noch humpelnd<br />

fortbewegen konnte, flüchtete Mä. in Richtung seines Autos. Die drei Angeklagten waren zu diesem Zeitpunkt<br />

nicht mehr zu sehen. Nachdem die beiden Geschädigten etwa 30 Meter zurückgelegt hatten, wurden sie von allen<br />

drei Angeklagten, die sich zwischenzeitlich jeder mit einem Schlagwerkzeug - vermutlich mit Baseballschlägern<br />

oder Teleskopschlagstöcken - bewaffnet hatten, verfolgt. Als Mä. sich umdrehte <strong>und</strong> die Angeklagten K. <strong>und</strong> A. auf<br />

sich zukommen sah, rannte er davon. Währenddessen stürzte sich D. mit gezücktem Messer auf Y. <strong>und</strong> stach, nunmehr<br />

in der Absicht, ihn zu töten, mindestens sechs Mal gezielt auf dessen Hals, Kopf <strong>und</strong> Rücken ein. Der Zeuge Y.<br />

erlitt dadurch <strong>und</strong> durch die vorangegangenen Stiche zahlreiche erhebliche Verletzungen. Nachdem Y. gestürzt war<br />

<strong>und</strong> D. sein Messer verloren hatte, schlug der Mitangeklagte mit Fäusten weiter auf sein Opfer ein. Die Angeklagten<br />

K. <strong>und</strong> A. , denen es nicht gelungen war, den Zeugen Mä. einzuholen, begaben sich jetzt ebenfalls zu dem auf dem<br />

Boden liegenden Y. <strong>und</strong> schlugen mit ihren Schlagwerkzeugen auf diesen ein, wodurch der Geschädigte unter anderem<br />

erhebliche Gesichtsschädelverletzungen erlitt.<br />

II.<br />

1. Die Verfahrensrüge des Angeklagten A. versagt. Zwar hat sich die Strafkammer in den Urteilsgründen in Widerspruch<br />

zu einem <strong>Teil</strong> der Begründung gesetzt, mit der sie den Beweisantrag des Angeklagten, den Zeugen V. zum<br />

Beweis dafür zu vernehmen, dass der Geschädigte Y. - entgegen seiner Bek<strong>und</strong>ung als Zeuge - intensiv Kampfsport<br />

betreibe, wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 2 StPO<br />

zurückgewiesen hat (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 244 Rn. 56 mwN); denn während sie im Ablehnungsbeschluss<br />

die Glaubhaftigkeit der Angaben des Geschädigten Y. <strong>und</strong> dessen Glaubwürdigkeit selbst bei (unterstellter)<br />

Richtigkeit der Beweisbehauptung u.a. deshalb nicht als erschüttert angesehen hat, weil der Geschädigte Erinnerungslücken<br />

<strong>und</strong> Unsicherheiten eingeräumt sowie auf besondere Nachfrage, wer ihn mit einem Stock geschlagen<br />

habe, angegeben habe, dies nicht mehr sicher sagen zu können, führt sie in den Urteilsgründen aus, sie habe sich von<br />

einem Schlagstockeinsatz durch den Angeklagten A. gegen den Geschädigten Y. auch deshalb überzeugt, weil dieser<br />

sich sicher gewesen sei, auch A. habe mit einem Schlagstock auf ihn eingeschlagen. Indes beruht die Verurteilung<br />

des Angeklagten auf diesem Verfahrensfehler nicht (§ 337 Abs. 1 StPO). Sowohl die antizipierende Beweiswürdigung<br />

im Ablehnungsbeschluss als auch die im Urteil mitgeteilte, Schuld- <strong>und</strong> Strafausspruch tragende Überzeugungsbildung<br />

sind - je für sich - frei von Rechtsfehlern. Der hier maßgebliche Verfahrensfehler liegt deshalb darin,<br />

dass die Strafkammer ihre von einem <strong>Teil</strong> der Begründung des Ablehnungsbeschlusses abweichende Beweiswürdigung<br />

dem Antragsteller vor der Urteilsverkündung nicht bekannt gegeben <strong>und</strong> ihm somit die Möglichkeit genommen<br />

hat, sein Verteidigungsverhalten auf diese teilweise Abkehr von der Begründung der Zurückweisung des Beweisantrages<br />

einzustellen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juni 1963 - 1 StR 501/62, BGHSt 19, 24, 26 f.; LR/Becker, StPO, 26.<br />

Aufl., § 244 Rn. 139). Der Senat kann aber unter den hier gegebenen Umständen ausschließen, dass der Angeklagte<br />

bei einem (rechtzeitigen) Hinweis auf die allein in einem <strong>Teil</strong>aspekt abweichende Überzeugungsbildung des Landgerichts<br />

die Möglichkeit gehabt hätte, durch weitere Anträge oder Darlegungen Schuld- oder Strafausspruch für ihn<br />

günstig zu beeinflussen. Die Revision bringt insofern auch nicht vor, wie sich der Angeklagte nach einem solchen<br />

Hinweis insoweit erfolgversprechender hätte verteidigen, insbesondere die Glaubwürdigkeit des Geschädigten Y. in<br />

entscheidungserheblicher Weise hätte erschüttern können. Dafür ist dem Senat auch sonst nichts ersichtlich. Dies gilt<br />

insbesondere für das vom Landgericht widersprüchlich behandelte Sachverhaltsdetail eines Schlagstockeinsatzes<br />

durch den Angeklagten A. gegen den Geschädigten Y. ; denn seine das Urteil tragende Überzeugung, dass dieser<br />

stattgef<strong>und</strong>en hat, stützt das Landgericht nicht nur auf die Aussage dieses Geschädigten, sondern auch auf die Anga-<br />

50


en des Geschädigten Mä. , der sich "auch auf mehrfache Nachfrage 100%ig sicher" gewesen sei, dass gerade der<br />

Angeklagte A. mit einem Schlagstock auf den Geschädigten Y. eingeschlagen habe. Zudem ist das von den beiden<br />

Verletzten geschilderte Kerngeschehen durch die geständige Einlassung des Mitangeklagten D. bestätigt worden.<br />

Dieser hatte sich zunächst dahin eingelassen, dass er zu den Tatbeiträgen der Angeklagten nichts sagen könne, hat<br />

nach der Vernehmung der beiden Geschädigten zum Tatgeschehen indes deren Darstellung als zutreffend bezeichnet.<br />

All dies belegt, dass das Landgericht bei verfahrensfehlerfreier Vorgehensweise zu keinem anderen Urteil gelangt<br />

wäre.<br />

2. Die aufgr<strong>und</strong> der erhobenen Sachbeschwerden veranlasste Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch keinen<br />

Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Dies gilt auch für die konkurrenzrechtliche Bewertung ihrer<br />

Taten als jeweils zwei tatmehrheitliche gefährliche Körperverletzungen. Entgegen der Ansicht des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

sind die Voraussetzungen einer natürlichen Handlungseinheit nicht gegeben.<br />

a) Unter dem Gesichtspunkt einer natürlichen Handlungseinheit liegt eine Tat im sachlichrechtlichen Sinne vor,<br />

wenn mehrere, im Wesentlichen gleichartige Handlungen von einem einheitlichen Willen getragen werden <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong><br />

ihres engen räumlichen <strong>und</strong> zeitlichen Zusammenhangs so miteinander verb<strong>und</strong>en sind, dass sich das gesamte<br />

Tätigwerden bei natürlicher Betrachtungsweise objektiv auch für einen Dritten als ein einheitliches Geschehen darstellt<br />

(st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 24. Februar 1994 - 4 StR 683/93, StV 1994, 537; Beschluss vom 4. September<br />

1990 - 1 StR 301/90, BGHR <strong>StGB</strong> § 52 Abs. 1 Entschluss, einheitlicher 1). Sie ist gekennzeichnet durch<br />

einen solchen unmittelbaren Zusammenhang zwischen mehreren menschlichen, strafrechtlich erheblichen Verhaltensweisen,<br />

dass sich das gesamte Tätigwerden an sich (objektiv) auch für einen Dritten bei natürlicher Betrachtungsweise<br />

als ein einheitlich zusammengefasstes Tun darstellt (vgl. LK/Rissing-van Saan, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., vor § 52<br />

Rn. 10 ff.). Richten sich die Handlungen des Täters gegen höchstpersönliche Rechtsgüter der Opfer, wird die Annahme<br />

einer natürlichen Handlungseinheit zwar nicht gr<strong>und</strong>sätzlich ausgeschlossen, sie liegt jedoch bereits nicht<br />

nahe (vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., vor § 52 Rn. 7). Denn höchstpersönliche Rechtsgüter sind einer additiven Betrachtungsweise<br />

allenfalls in Ausnahmefällen zugänglich. Deshalb können Handlungen, die sich nacheinander gegen<br />

höchstpersönliche Rechtsgüter mehrerer Personen richten, gr<strong>und</strong>sätzlich weder durch ihre enge Aufeinanderfolge<br />

noch durch einen einheitlichen Plan oder Vorsatz zu einer natürlichen Handlungseinheit <strong>und</strong> damit zu einer Tat im<br />

Rechtssinne zusammengefasst werden. Ausnahmen kommen nur in Betracht, wenn ein einheitlicher Tatentschluss<br />

gegeben ist <strong>und</strong> die Aufspaltung des Tatgeschehens in Einzelhandlungen wegen eines außergewöhnlich engen zeitlichen<br />

<strong>und</strong> räumlichen Zusammenhanges, etwa bei Messerstichen oder Schüssen innerhalb weniger Sek<strong>und</strong>en, willkürlich<br />

<strong>und</strong> gekünstelt erschiene (vgl. BGH, Urteil vom 19. November 2009 - 3 StR 87/09, BGHR <strong>StGB</strong> § 232 Konkurrenzen<br />

1; LK/Rissing-van Saan, aaO, Rn. 14).<br />

b) Nach diesen Maßstäben können die Körperverletzungshandlungen der Angeklagten gegen die beiden Geschädigten<br />

im Hinblick auf die Rechtsfigur der natürlichen Handlungseinheit jeweils nicht zu einer einheitlichen Tat zusammengefasst<br />

werden. Im Ausgangspunkt wollten sich allein der Mitangeklagte D. <strong>und</strong> der Geschädigte Y. körperlich<br />

auseinandersetzen <strong>und</strong> taten dies auch. Die Angeklagten sind (im ersten Handlungsabschnitt) erst dann gemeinschaftlich<br />

gegen den Geschädigten Y. vorgegangen <strong>und</strong> haben diesen mit Tritten <strong>und</strong> Schlägen gegen Kopf <strong>und</strong><br />

Körper verletzt, als sie erkannt hatten, dass der Mitangeklagte D. zu unterliegen drohte. Als daraufhin der Zeuge Mä.<br />

seinem Fre<strong>und</strong> Y. zu Hilfe kommen wollte, haben sich die Angeklagten dem Geschädigten Mä. zugewandt <strong>und</strong> haben<br />

diesen gemeinsam geschlagen, wodurch er ein blaues Auge <strong>und</strong> Prellungen im Rippenbereich erlitt. Nachdem<br />

sich die Angeklagten vom ersten Tatort entfernt <strong>und</strong> mit Schlagwerkzeugen bewaffnet hatten, verfolgten sie (im<br />

zweiten Handlungsabschnitt) zunächst Mä. <strong>und</strong> wandten sich dann - als sie Mä. nicht einzuholen vermochten - dem<br />

am Boden liegenden Geschädigten Y. zu, auf den sie sodann am zweiten Tatort - gemeinschaftlich auch mit dem<br />

Mitangeklagten D. - jeweils mit ihren Schlaginstrumenten einschlugen. Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieses Geschehensablaufes,<br />

der insbesondere durch mehrere Tatentschlüsse der Angeklagten gekennzeichnet ist, die durch zeitlich aufeinanderfolgende,<br />

jeweils neue Sachverhaltsentwicklungen bedingt waren <strong>und</strong> zu unterschiedlichen Verletzungshandlungen<br />

der Angeklagten gegen beide Geschädigte an mehreren Orten führten, stellt sich die Annahme von Tatmehrheit<br />

unter keinem Blickwinkel als willkürlich <strong>und</strong> gekünstelt dar. Danach liegt auch keine der von der Rechtsprechung<br />

bei Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter mehrerer Personen anerkannten Ausnahmen vor; insbesondere beruhen<br />

die verschiedenen Angriffe schon nicht auf einem einheitlichen Tatentschluss. Dass das Landgericht die Angeklagten<br />

im Hinblick auf die infolge ihres zwischenzeitlichen Rückzuges zum Zwecke der Bewaffnung eingetretene<br />

(zeitliche, räumliche <strong>und</strong> sachliche) Zäsur im Tatgeschehen nicht wegen weiterer, rechtlich selbständiger Straftaten<br />

schuldig gesprochen hat, beschwert diese nicht.<br />

3. Die Strafaussprüche können demgegenüber nicht bestehen bleiben. Mit Recht weisen die Revisionen darauf hin,<br />

dass die strafschärfenden Erwägungen, die Angeklagten hätten jeweils den bis dahin unbeteiligten Zeugen Mä. "ohne<br />

51


Not in eine Schlägerei verwickelt" <strong>und</strong> sie hätten sich "ohne Not in die ... Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten<br />

D. <strong>und</strong> dem Zeugen Y. eingemischt", rechtsfehlerhaft sind; denn damit hat das Landgericht das Fehlen von<br />

Strafmilderungsgründen strafschärfend berücksichtigt <strong>und</strong> bei beiden Angeklagten straferhöhend gewertet, die Taten<br />

überhaupt begangen haben (§ 46 Abs. 3 <strong>StGB</strong>; vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Juli 2010 - 3 StR 218/10, StraFo 2010,<br />

466 <strong>und</strong> vom 15. Januar 2008 - 4 StR 530/07; Fischer, aaO, § 46 Rn. 76). Durchgreifend rechtsfehlerhaft ist weiterhin,<br />

dass das Landgericht zu Lasten des Angeklagten K. berücksichtigt hat, er habe es "in der Hand (gehabt), es nicht<br />

zu einer Auseinandersetzung kommen zu lassen" <strong>und</strong> die "ihm gegenüber weisungsgeb<strong>und</strong>enen Angeklagten A. <strong>und</strong><br />

D. zurückzuhalten", da schon nicht festgestellt ist, dass der Angeklagte K. der Vorgesetzte der beiden anderen Angeklagten<br />

war <strong>und</strong> im Übrigen auch eine auf anderer Gr<strong>und</strong>lage fußende spezifische Pflicht, deren Auseinandersetzungen<br />

zu verhindern, nicht ersichtlich ist. Im Hinblick darauf begegnet auch die weitere zu Lasten des Angeklagten K.<br />

angestellte Erwägung, er habe "nicht einmal die kurze Kampfunterbrechung zur Deeskalation genutzt, sondern sich<br />

mit einem Schlagwerkzeug bewaffnet", rechtlichen Bedenken. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht<br />

bei rechtsfehlerfreier Zumessung mildere Strafen gegen beide Angeklagte verhängt hätte. Unter den gegebenen<br />

Umständen kommt eine Sachbehandlung gemäß § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO bei beiden Angeklagten nicht in Betracht.<br />

<strong>StGB</strong> § 52, § 24 Tateinheit bei Dauerschießen trotz höchstpers. Rechtsgut<br />

BGH, Urt. v. 23.05.2012 - 5 StR 54/12 - BeckRS 2012, 12760<br />

Schießt ein Täter innerhalb weniger Sek<strong>und</strong>en ohne jegliche zeitliche Zäsur auf mehrere Personen,<br />

so ist trotz der Beeinträchtigung höchstpersönlicher Rechtsgüter eine Tat anzunehmen; denn eine<br />

Aufspaltung in selbständige Einzeltaten erschiene wegen des engen zeitlichen <strong>und</strong> situativen Zusammenhangs<br />

willkürlich gekünstelt. Dann liegt aber kein einheitliches (versuchtes) Tötungsdelikt,<br />

sondern mehrere tateinheitlich verwirklichte (versuchte) Tötungsdelikte vor. Die Voraussetzungen<br />

des Rücktritts nach § 24 <strong>StGB</strong> sind unter solchen Vorzeichen hinsichtlich jedes im Versuchsstadium<br />

stecken gebliebenen Tötungsverbrechens gesondert zu prüfen.<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 8. September 2011 mit<br />

den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte im Fall 5 der Urteilsgründe wegen vorsätzlichen<br />

unerlaubten Führens einer Schusswaffe in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Besitz von Munition verurteilt<br />

worden ist, sowie im Strafausspruch.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Land-gerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten unter <strong>Teil</strong>freisprechung wegen schweren Menschenhandels zum Zweck der<br />

sexuellen Ausbeutung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Zuhälterei, wegen vorsätzlichen unerlaubten<br />

Führens einer Schusswaffe in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Besitz von Munition, wegen versuchter<br />

räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Zuhälterei <strong>und</strong> wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht<br />

geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge <strong>und</strong> mit vorsätzlichem unerlaubtem Besitz einer Schusswaffe unter Einbeziehung der Jugendstrafe aus dem<br />

Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Bergedorf vom 7. Dezember 2009 zu einer einheitlichen Jugendstrafe von vier<br />

Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Zudem hat es die Einziehung sichergestellter Waffen <strong>und</strong> Munition sowie von<br />

Betäubungsmitteln angeordnet. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Schuldspruch im Fall 5 der Urteilsgründe<br />

beschränkte <strong>und</strong> vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft. Sie führt insoweit zur Urteilsaufhebung<br />

<strong>und</strong> zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.<br />

1. Das Landgericht hat zu dem von der Revision der Staatsanwaltschaft allein noch betroffenen Fall 5 der Urteilsgründe<br />

folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

a) Die Zeugen Fa. , K. <strong>und</strong> G. besichtigten Ende Mai 2010 vor dem Wohnhaus des K. einen Unfallschaden am VW<br />

Phaeton des G. . Sie standen am Fahrbahnrand an der Fahrerseite des Pkw, Fa. bei der Motorhaube, K. in der Mitte<br />

<strong>und</strong> G. in der Höhe des Kofferraums. In diesem Augenblick stoppte ein schwarzer Geländewagen in Höhe des Phaeton.<br />

Der Angeklagte saß auf der Rückbank hinter dem Fahrersitz. Gesteuert wurde das Fahrzeug von einem unbekannten<br />

Mittäter. Der Angeklagte gab durch das geöffnete Seitenfenster aus einer Entfernung von einem bis zwei<br />

52


Metern mit einer scharfen Waffe mehrere Schüsse auf die Zeugen ab. Er nahm dabei wenigstens die Tötung von Fa.<br />

<strong>und</strong> K. zumindest billigend in Kauf. Bei der Schussabgabe oder kurz davor sprang Fa. in geduckter Haltung über die<br />

Motorhaube des Phaeton hinweg, lief eine Treppe zum tiefer gelegenen Eingang des Hauses hinunter <strong>und</strong> brachte<br />

sich so vor weiteren Schüssen in Sicherheit. K. <strong>und</strong> G. verblieben hingegen am Fahrzeug <strong>und</strong> duckten sich ab oder<br />

warfen sich auf den Boden. Ein Schuss traf die Rückleuchte des Phaeton, ein weiterer schlug in einer Höhe von 140<br />

bis 143 cm im Bereich der B-Säule ein. Verletzt wurde niemand. Der Angeklagte bemerkte, dass er nicht getroffen<br />

<strong>und</strong> dass sich K. vor dem Geländewagen abgeduckt hatte. Trotz freier Schussbahn auf kurze Distanz sah er von weiteren<br />

Schüssen ab. Unmittelbar nach der Schussabgabe fuhren der Angeklagte <strong>und</strong> sein Mittäter vom Tatort weg. Der<br />

gesamte Vorfall dauerte nur wenige Sek<strong>und</strong>en.<br />

b) Das Landgericht hat angenommen, dass der Angeklagte vom unbeendeten Versuch des Mordes an den Zeugen K.<br />

<strong>und</strong> Fa. straf-befreiend nach § 24 <strong>StGB</strong> zurückgetreten sei. Weil sich das Geschehen nicht in Einzeltaten aufgliedern<br />

lasse, sei der Sachverhalt auch im Rahmen des Rücktritts einheitlich zu beurteilen; es sei daher nicht möglich, im<br />

Hinblick auf K. einen Rücktritt vom Versuch anzunehmen <strong>und</strong> im Hinblick auf Fa. einen Rücktritt zu verneinen (UA<br />

S. 48). Es hat den Angeklagten lediglich wegen Waffendelikten verurteilt.<br />

2. Der Schuldspruch kann keinen Bestand haben. Das Landgericht hat einen Rücktritt vom (unbeendeten) Versuch<br />

des Mordes auch zum Nachteil des Zeugen Fa. angenommen, ohne insoweit die Rechtsfigur des fehlgeschlagenen<br />

Versuchs näher zu erörtern.<br />

a) Nicht zu beanstanden ist allerdings die Annahme natürlicher Handlungseinheit. Schießt der Täter – wie hier –<br />

innerhalb weniger Sek<strong>und</strong>en ohne jegliche zeitliche Zäsur auf mehrere Personen, so ist trotz der Beeinträchtigung<br />

höchstpersönlicher Rechtsgüter eine Tat anzunehmen; denn eine Auf-spaltung in selbständige Einzeltaten erschiene<br />

wegen des engen zeitlichen <strong>und</strong> situativen Zusammenhangs willkürlich <strong>und</strong> gekünstelt (vgl. BGH, Beschluss vom<br />

24. Oktober 2000 – 5 StR 323/00, NStZ-RR 2001, 82 mwN). Jedoch hat die Jugendkammer verkannt, dass dann<br />

nicht etwa ein einheitliches (versuchtes) Tötungsdelikt, sondern mehrere tateinheitlich verwirklichte (versuchte)<br />

Tötungsdelikte gegeben sind (vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 211 Rn. 109 mwN). Es versteht sich von selbst, dass<br />

die Voraussetzungen des Rücktritts nach § 24 <strong>StGB</strong> unter solchen Vorzeichen hinsichtlich jedes im Versuchsstadium<br />

stecken gebliebenen Tötungsverbrechens gesondert zu prüfen sind. Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.<br />

Zutreffend weist die Staatsanwaltschaft darauf hin, dass die Annahme eines unbeendeten Versuchs <strong>und</strong> einer freiwilligen<br />

Aufgabe der Tat zwar hinsichtlich des Zeugen K. auf einer jedenfalls nicht durchgreifend rechtlich fehlerhaften<br />

Würdigung beruht, nicht aber hinsichtlich des Zeugen Fa. . Ausweislich der Urteilsfeststellungen hatte Fa. Verdacht<br />

geschöpft, war im Augenblick der Schussabgabe oder kurz zuvor über die Motorhaube des Phaeton gesprungen <strong>und</strong><br />

hatte sich im Eingangsbereich des Wohnhauses in Sicherheit gebracht, weswegen ihn der Angeklagte im Falle weiteren<br />

Schießens nicht mehr zu treffen vermochte (UA S. 48). Damit war zwingend zu prüfen, ob hinsichtlich dieses<br />

Zeugen ein fehlgeschlagener Versuch gegeben ist, von dem der Angeklagte nicht mehr hätte zurücktreten können<br />

(vgl. Fischer, aaO, § 24 Rn. 7 ff. mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung). Die Sache bedarf daher neuer<br />

Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung.<br />

b) Obwohl die Feststellungen namentlich zum Tötungsvorsatz <strong>und</strong> zur Heimtücke sowie betreffend die Waffendelikte<br />

an sich rechtsfehlerfrei getroffen sind, hebt der Senat das Urteil im allein angefochtenen Fall 5 insgesamt auf. Der<br />

durch die rechtsfehlerhafte Annahme umfassenden Rücktritts nicht beschwerte Angeklagte hatte keinen Anlass, mit<br />

seiner Revision den bislang getroffenen Feststellungen entgegenzutreten. Die Verteidigerin hat die Möglichkeit abweichender<br />

Feststellungen, die auch hinsichtlich des Zeugen Fa. keinen Fehlschlag belegen würden, in den Raum<br />

gestellt. Zudem sollen dem neu entscheidenden Tatgericht im Hinblick auf von der Staatsanwaltschaft beanstandete<br />

Schwächen <strong>und</strong> Unschärfen der Urteilsdarlegungen in sich stimmige Feststellungen auf der Gr<strong>und</strong>lage einer neuen<br />

Beweiswürdigung ermöglicht werden.<br />

3. Die Aufhebung des Schuldspruchs zieht die Aufhebung des gesamten auf die Anwendung von Jugendstrafrecht<br />

gestützten Strafausspruchs nach sich. Die neu entscheidende Jugendkammer wird eingehend zu prüfen haben, ob auf<br />

die Taten des Angeklagten Jugendstrafrecht anzuwenden ist. Gegen die im angefochtenen Urteil vorgenommene<br />

Wertung (UA S. 51 ff.) kann sprechen, dass der Angeklagte, der sich vom Elternhaus gelöst hat, schon seit geraumer<br />

Zeit vor den verfahrensgegenständlichen Taten als Zuhälter tätig gewesen ist <strong>und</strong> im Rotlichtmilieu offensichtlich<br />

durchaus „seinen Mann gestanden hat“.<br />

53


<strong>StGB</strong> § 55 Gesamtstrafe aus Vorverurteilung teilweise vollstreckt<br />

BGH, Urt. v. 06.03.2012 - 1 StR 530/11 - NStZ 2012, 380<br />

Entfällt eine teilweise vollstreckte Gesamtstrafe im Rahmen einer neuen nachträglichen (§ 55 <strong>StGB</strong>)<br />

Gesamtstrafenbildung, so sind alle Einzelstrafen, die der entfallenen Gesamtstrafe zugr<strong>und</strong>e lagen,<br />

noch nicht erledigt im Sinne von § 55 Abs. 1 <strong>StGB</strong>.<br />

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 2. August 2011 im Ausspruch<br />

über die Gesamtstrafe mit der Maßgabe aufgehoben, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über<br />

die Gesamtstrafe nach §§ 460, 462 StPO zu treffen ist. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels bleibt<br />

dem für das Nachverfahren nach §§ 460, 462 <strong>StGB</strong> zuständigen Gericht vorbehalten.<br />

Gründe:<br />

I. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus anderen<br />

Verurteilungen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> vier Monaten verurteilt, unter Aufrechterhaltung<br />

zweier Maßregeln der Besserung <strong>und</strong> Sicherung. Mit ihrer zum Nachteil des Angeklagten eingelegten, wirksam<br />

auf den Gesamtstrafenausspruch beschränkten <strong>und</strong> mit der Sachrüge begründeten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft<br />

die Gesamtstrafenbildung. Zu Unrecht habe das Landgericht die mit Strafbefehl des Amtsgerichts Bayreuth<br />

vom 13. April 2007 verhängte Strafe als vollstreckt <strong>und</strong> damit als erledigt im Sinne von § 55 Abs. 1 <strong>StGB</strong><br />

angesehen. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.<br />

II.<br />

1. Der jetzigen Verurteilung liegt folgender Sachverhalt zugr<strong>und</strong>e: Ende 2007 erwarb der Angeklagte zwei Kilogramm<br />

Haschisch, um aus dem Weiterverkauf des Rauschmittels Gewinn zu erzielen. Einen geringen <strong>Teil</strong> der Droge<br />

konsumierte der Angeklagte selbst. Dafür hat die Strafkammer eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt.<br />

2. Bei der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe gemäß § 55 <strong>StGB</strong> hat das Landgericht Einzelstrafen aus den<br />

Verurteilungen vom 6. November 2007, 13. Mai 2009, 14. Oktober 2009 <strong>und</strong> 24. Januar 2008 (Berufungsurteil)<br />

einbezogen, einmal unter Auflösung einer früheren Gesamtstrafe. Unberücksichtigt ließ die Strafkammer den Strafbefehl<br />

des Amtsgerichts Bayreuth vom 13. April 2007. Dies hat die Strafkammer wie folgt begründet: Da ein großer<br />

<strong>Teil</strong> der vom Landgericht Bayreuth mit Urteil vom 13. Mai 2009 gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe, in die die Strafe<br />

aus dem Strafbefehl einbezogen worden war, bereits vollstreckt ist (im Anschluss an die vollständige Verbüßung der<br />

mit Urteil des Amtsgerichts Bayreuth vom 6. November 2007 verhängten Freiheitsstrafe bis zum 11. April 2009), sei<br />

die mit Strafbefehl des Amtsgerichts Bayreuth vom 13. April 2007 verhängte Geldstrafe „zu Gunsten des Angeklagten<br />

als bereits vollstreckt anzusehen“.<br />

III. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Vollstreckung einer Gesamtstrafe, deren Höhe die Summe der<br />

Einzelstrafen nicht erreichen darf (§ 54 Abs. 2 Satz 1 <strong>StGB</strong>), stellt sich als einheitlicher Vorgang dar <strong>und</strong> nicht als<br />

sukzessive Vollstreckung der einbezogenen Einzelstrafen (etwa unter primärer Anrechnung auf die lästigste Sanktion<br />

entsprechend dem Rechtsgedanken des § 366 Abs. 2 BGB). Durch die Bildung der Gesamtstrafe verlieren die Einzelstrafen<br />

ihre selbständige Bedeutung (BGH, Urteil vom 16. Dezember 1954 - 3 StR 189/54 -, BGHSt 7, 180, 182).<br />

Es kann nurmehr die Gesamtstrafe vollstreckt werden (BGH, Urteil vom 6. Juli 1956 - 2 StR 37/55 -, BGHSt 9, 370,<br />

385). Die Annahme einer fiktiven Vollstreckung einer einbezogenen Einzelstrafe widerspricht deshalb den gesetzlichen<br />

Vorgaben des § 55 Abs. 1 <strong>StGB</strong>. Die Anrechnung der bisher verbüßten Strafe gehört im Übrigen zur Strafzeitberechnung,<br />

für die die Vollstreckungsbehörde <strong>und</strong> nicht das erkennende Gericht zuständig ist (BGH, Beschluss vom<br />

25. Januar 1967 - 2 StR 424/66 -, BGHSt 21, 186; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 4.<br />

Aufl. Rn. 694). Entfällt eine teilweise vollstreckte Gesamtstrafe im Rahmen einer neuen nachträglichen (§ 55 <strong>StGB</strong>)<br />

Gesamtstrafenbildung, so sind deshalb alle Einzelstrafen, die der entfallenen Gesamtstrafe zugr<strong>und</strong>e lagen, noch<br />

nicht erledigt im Sinne von § 55 Abs. 1 <strong>StGB</strong> (so - der Sache nach - auch BayObLG, Beschluss vom 13. September<br />

1957 - 3 St 29/57 -, NJW 1957, 1810). Über die Gesamtstrafenbildung muss daher neu bef<strong>und</strong>en werden. Maßgebend<br />

ist die Vollstreckungssituation zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung (BGH, Beschlüsse<br />

vom 8. Oktober 2010 - 3 StR 368/10 -, Rn. 2; vom 20. Dezember 2011 - 3 StR 374/11 - , Rn. 5, jew. mwN).<br />

IV. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, nach § 354 Abs. 1 b Satz 1 StPO zu entscheiden. Die Vorschrift<br />

findet nicht nur bei den Angeklagten beschwerenden, sondern auch - auf die Revision der Staatsanwaltschaft - bei<br />

ihn begünstigenden Rechtsfehlern Anwendung (BGH, Urteil vom 30. November 2006 - 4 StR 278/06 -, Rn. 9). Die<br />

nachträgliche Gesamtstrafenbildung aus den rechtskräftigen Einzelstrafen obliegt dem nach § 462a Abs. 3 StPO<br />

54


zuständigen Gericht (vgl. BGH, Urteil vom 2. Februar 2010 - 1 StR 635/09 -, Rn. 23; Beschluss vom 28. Oktober<br />

2004 - 5 StR 430/04). Der Senat kann vorliegend die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels nach § 473<br />

Abs. 4 StPO nicht selbst treffen. Darüber hat deshalb das für das Nachverfahren nach §§ 460, 462 StPO zuständige<br />

Gericht zusammen mit der abschließenden Sachentscheidung zu befinden (vgl. BGH, Be-schluss vom 9. November<br />

2004 - 4 StR 426/04 -, BGHR StPO § 354 Ib 1 Entscheidung 3).<br />

<strong>StGB</strong> § 56 II Urteil muss nicht ausnahmslos Ablehnung der Bewährung begründen<br />

BGH, Beschl. v. 21.03.2012 - 1 StR 100/12 - NStZ-RR 2012, 201<br />

Die Frage der Aussetzung des Vollzugs einer verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung muss in<br />

den Urteilsgründen nicht zwingend ausdrücklich erörtert werden, wenn nach den Feststellungen die<br />

Strafaussetzung völlig fern liegt. Eine Straftat während einer Bewährungszeit zeigt schon, dass die<br />

frühere Prognose falsch war. Dennoch schließt ein Bewährungsbruch eine günstige Prognose nicht<br />

von vornherein aus. Hat ein Täter etwa erstmals Freiheitsentzug erlitten, kann ihn dies so beeindruckt<br />

haben, dass die Prognose deswegen nunmehr günstig ist.<br />

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 9. Dezember 2011 aufgehoben,<br />

soweit der Angeklagten Strafaussetzung zur Bewährung versagt worden ist, einschließlich der hierzu getroffenen<br />

Feststellungen. Die weitergehende Revision wird verworfen. Der Tenor der schriftlichen Urteilsgründe wird wie<br />

folgt ergänzt: Die Fahrerlaubnis wird der Angeklagten entzogen, ihr Führerschein wird eingezogen, die Verwaltungsbehörde<br />

darf ihr vor Ablauf von noch drei Monaten keine neue Fahrerlaubnis erteilen. Im Umfang der Aufhebung<br />

wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Diebstahls <strong>und</strong> Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung<br />

zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> vier Monaten verurteilt. Das Rechtsmittel der Angeklagten hat Erfolg,<br />

soweit ihr Strafaussetzung zur Bewährung versagt worden ist; im Übrigen ist es im Sinne von § 349 Abs. 2<br />

StPO unbegründet. Der Verurteilung lag neben einer Nötigung ein Ladendiebstahl (Waren, insbesondere Katzenfutter,<br />

im Wert von 72,46 €) zu Gr<strong>und</strong>e. Die 72-jährige Angeklagte war schon mehrfach wegen vergleichbarer Vorkommnisse<br />

mit Geld- <strong>und</strong> Bewährungsfreiheitsstrafen geahndet worden <strong>und</strong> hat diese Tat innerhalb einer Bewährungszeit<br />

begangen. Sie war zuletzt am 25. Februar 2008 wegen zweier Diebstähle aus einem Verbrauchermarkt zu<br />

der Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung bis 3. März 2012 zur Bewährung ausgesetzt<br />

worden war. Deshalb entspricht die nunmehr für den Diebstahl verhängte Einzelstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> zwei<br />

Monaten noch dem Unrechts- <strong>und</strong> Schuldgehalt der festgestellten Tat. Sie ist nicht unvertretbar hoch <strong>und</strong> löst sich<br />

noch nicht nach oben von ihrer Bestimmung eines gerechten Schuldausgleichs (vgl. BGH, Beschluss vom 26. März<br />

2003 - 2 StR 54/03, BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 1 Strafhöhe 18).<br />

Das Landgericht hat die Frage, ob der Vollzug der gegen die Angeklagte verhängten Gesamtfreiheitsstrafe gemäß §<br />

56 <strong>StGB</strong> zur Bewährung ausgesetzt werden kann, in den Urteilsgründen nicht erörtert. Dies verstieß schon gegen §<br />

267 Abs. 3 Satz 4 StPO, da der Verteidiger den Antrag gestellt hatte, auf Bewährung zu erkennen. Aus sachlichrechtlichen<br />

Gründen sind Urteilsausführungen zur Strafaussetzung erforderlich, wenn eine Erörterung dieser Frage<br />

als Gr<strong>und</strong>lage für die revisionsrechtliche Nachprüfung geboten erscheint (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. März 1997 -<br />

2 StR 63/97; vom 6. März 2012 - 1 StR 50/12, Rn. 4). Dies war hier der Fall. Zwar muss aus materiell-rechtlicher<br />

Sicht die Frage der Aussetzung des Vollzugs einer verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung in den Urteilsgründen<br />

nicht zwingend ausdrücklich erörtert werden, wenn nach den Feststellungen die Strafaussetzung völlig fern liegt.<br />

Eine Straftat während einer Bewährungszeit zeigt schon, dass die frühere Prognose falsch war. Dennoch schließt ein<br />

Bewährungsbruch eine günstige Prognose nicht von vorneherein aus. Hat ein Täter etwa erstmals Freiheitsentzug<br />

erlitten, kann ihn dies so beeindruckt haben, dass die Prognose deswegen nunmehr günstig ist (vgl. Schäfer/Sander/van<br />

Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl., Rn. 136, 139 mwN). In dieser Sache war die Angeklagte<br />

vom 11. November 2011 bis zum 9. Dezember 2011 - erstmals - in Haft (§ 230 Abs. 2 StPO) in der Justizvollzugsanstalt<br />

Aichach. Deshalb lag hier eine Aussetzung der Vollstreckung der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe zur<br />

Bewährung nicht so fern, dass auf eine Gesamtwürdigung der wesentlichen Umstände im Hinblick auf die der Angeklagten<br />

zu stellende Kriminalprognose (§ 56 Abs. 1 <strong>StGB</strong>) <strong>und</strong> auf das Vorliegen besonderer Umstände im Sinne<br />

55


von § 56 Abs. 2 <strong>StGB</strong> verzichtet werden konnte. Der Passus zur Fahrerlaubnisentziehung wurde nicht in den Tenor<br />

der schriftlichen Urteilsgründe aufgenommen. Dabei handelt es sich aber lediglich um ein offensichtliches Schreibversehen,<br />

wie den Urteilsgründen <strong>und</strong> dem verkündeten Urteil ausweislich der Sitzungsniederschrift zu entnehmen<br />

ist.<br />

<strong>StGB</strong> § 56 Zeitablauf zwischen Tat <strong>und</strong> Hauptverhandlung bei Sozialprognose zu erörtern<br />

BGH, Beschl. v. 08.02.2012 - 2 StR 136/11 - NStZ-RR 2012, 170 = wistra 2012, 222<br />

Ist seit der letzten Tat <strong>und</strong> der Hauptverhandlung eine beträchtliche Zeit vergangen, so muss sich<br />

das Gericht bei der Entscheidung, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, mit dieser<br />

Tatsache ausdrücklich auseinandersetzen.<br />

1. a) Die Revision des Angeklagten B. gegen das Urteil des Landgerichts Bonn vom 12. November 2010 wird als<br />

unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler<br />

zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.<br />

b) Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

2. a) Auf die Revision der Angeklagten C. -B. wird das oben genannte Urteil mit den zugehörigen Feststellungen<br />

aufgehoben, soweit ihr Strafaussetzung zur Bewährung versagt worden ist.<br />

b) Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

c) Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagte C. -B. wegen veruntreuender Unterschlagung in 28 Fällen sowie wegen gewerbsmäßiger<br />

Verletzung der Gemeinschaftsmarke in acht Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich begangen mit<br />

zwei weiteren Fällen der gewerbsmäßigen Verletzung der Gemeinschaftsmarke zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von<br />

einem Jahr <strong>und</strong> acht Monaten verurteilt, von denen zwei Monate als vollstreckt gelten. Den Angeklagten B. hat es<br />

wegen gewerbsmäßiger Verletzung der Gemeinschaftsmarke in acht Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit<br />

zwei weiteren Fällen der gewerbsmäßigen Verletzung der Gemeinschaftsmarke unter Einbeziehung einer weiteren<br />

Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt, die es zur Bewährung ausgesetzt hat <strong>und</strong> von der ein<br />

Monat als vollstreckt gilt. Die Revision des Angeklagten ist offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Die<br />

Revision der Angeklagten hat lediglich hinsichtlich der abgelehnten Strafaussetzung zur Bewährung Erfolg.<br />

1. Sowohl der Schuld- wie auch der Strafausspruch weisen hinsichtlich der Angeklagten C. -B. aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

dargelegten Gründen keine Rechtsfehler zu ihrem Nachteil auf.<br />

2. Dagegen hält die Ablehnung der Strafaussetzung zur Bewährung rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Begründung,<br />

mit der das Landgericht das Fehlen einer hinreichend positiven Sozialprognose angenommen hat, begegnet<br />

durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Umstand, dass die Angeklagte ein stark "ausgeprägtes Geltungsbedürfnis"<br />

habe, "das sie, wie auch in den abgeurteilten Taten zum Ausdruck gekommen sei, durch äußere Umstände,<br />

wie teure Markenartikel zu kompensieren suche", mag wie ihr "rebellisches Wesen" oder ihre finanzielle Situation,<br />

in der der von ihr als angemessen <strong>und</strong> ihr zustehend empf<strong>und</strong>ene Lebenszuschnitt nicht zu finanzieren sei (vgl. UA<br />

S. 80), gegen eine positive Prognose sprechen. Auch könnte ihr Verhalten in der Hauptverhandlung durchaus Aufschluss<br />

darüber geben, ob sie eine Einsicht, durch ihre Taten Unrecht verwirklicht zu haben, entwickeln wird. Die<br />

nach § 56 <strong>StGB</strong> erforderliche Gesamtwürdigung der Angeklagten <strong>und</strong> ihrer Taten ist insoweit aber unvollständig, als<br />

die Kammer es außer Betracht lässt, dass die Angeklagte trotz dieser negativen Faktoren offenbar nach ihren letzten<br />

aufgedeckten Taten im Februar 2008 bis zur Hauptverhandlung in dieser Sache im November 2010 strafrechtlich<br />

nicht mehr auffällig geworden ist. Mit diesem gewichtigen Umstand, der für eine positive Entwicklung der Angeklagten<br />

spricht <strong>und</strong> womöglich die aufgezählten negativen Faktoren entkräften konnte, hätte sich deshalb das Landgericht<br />

in seiner Entscheidung ausdrücklich auseinandersetzen müssen.<br />

56


<strong>StGB</strong> § 63 – Hang – Unterbringung oder Sicherungsverwahrung<br />

BGH, Beschl. v. 20.12.2011 - 3 StR 374/11 - NStZ-RR 2012, 106<br />

Die Feststellung eines Hangs im Sinne des § 64 <strong>StGB</strong> erfordert nicht das Vorliegen eines manifesten<br />

Abhängigkeitssyndroms, sondern hierfür ist bereits eine intensive Neigung, Rauschmittel im Übermaß<br />

zu sich zu nehmen, ausreichend. (Rückläufer von 3 StR 382/10 v. 25.11.2010, NStZ-RR 2011,<br />

78)<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 21. Juni 2011 mit den zugehörigen<br />

Feststellungen aufgehoben, soweit<br />

a) die Bildung einer Gesamtstrafe unterblieben ist,<br />

b) im Maßregelausspruch.<br />

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine Strafkammer des Landgerichts Hildesheim zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hatte gegen den Angeklagten am 23. April 2010 wegen besonders schwerer Vergewaltigung in<br />

Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung auf eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren erkannt <strong>und</strong> ihn unter Einbeziehung<br />

der durch Urteil des Landgerichts Hannover vom 16. Juni 2006 verhängten Freiheitsstrafe von vier Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Ferner hatte es<br />

bestimmt, dass wegen der überlangen Verfahrensdauer sechs Monate Freiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Von der<br />

Anordnung einer Maßregel nach § 64 oder § 66 <strong>StGB</strong> hatte es abgesehen. Auf die auf den Rechtsfolgenausspruch<br />

beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hob der Senat dieses Urteil im Strafausspruch <strong>und</strong> soweit die Strafkammer<br />

von der Anordnung einer Maßregel abgesehen hatte auf (Senatsbeschluss vom 25. November 2010 - 3 StR<br />

382/10, NStZ-RR 2011, 78). Das Landgericht hat den Angeklagten nunmehr wegen der verfahrensgegenständlichen<br />

Tat zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> neun Monaten verurteilt <strong>und</strong> die Sicherungsverwahrung angeordnet.<br />

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts<br />

gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen weitgehenden Erfolg. Im Übrigen<br />

ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Die Begründung, mit welcher das Landgericht von der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe gemäß § 55<br />

<strong>StGB</strong> abgesehen hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Landgericht hat für die am 7. Mai 2003 begangene<br />

verfahrensgegenständliche Tat eine Freiheitsstrafe von acht Jahren für tat- <strong>und</strong> schuldangemessen erachtet. An<br />

einer Gesamtstrafenbildung nach § 55 <strong>StGB</strong> unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten<br />

aus dem Urteil des Landgerichts Hannover vom 16. Juni 2006 hat es sich mit der Begründung, gehindert gesehen,<br />

diese Strafe sei seit dem 10. Mai 2010 vollständig vollstreckt <strong>und</strong> deshalb erledigt. Es hat sodann im Wege eines<br />

Härteausgleichs von der aus seiner Sicht schuldangemessen Freiheitsstrafe von acht Jahren einen Abschlag von zwei<br />

Jahren <strong>und</strong> drei Monaten vorgenommen <strong>und</strong> auf eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> neun Monaten erkannt. Die<br />

Strafkammer hat dabei verkannt, dass bei Aufhebung einer Gesamtstrafe durch das Revisionsgericht <strong>und</strong> Zurückverweisung<br />

der Sache an das Tatgericht in der neuen Verhandlung die Gesamtstrafe nach Maßgabe der Vollstreckungssituation<br />

zum Zeitpunkt der ersten tatrichterlichen Verhandlung vorzunehmen ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH,<br />

Beschluss vom 3. November 2009 - 3 StR 427/09 mwN; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 55 Rn. 37). Danach hätte das<br />

Landgericht seiner Prüfung die Vollstreckungssituation am 23. April 2010 zugr<strong>und</strong>e legen müssen. Zu diesem Zeitpunkt<br />

war die Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hannover vom 16. Juni 2006 aber noch nicht vollständig<br />

erledigt <strong>und</strong> deshalb gemäß § 55 <strong>StGB</strong> gesamtstrafenfähig. Der Rechtsfehler hat sich zum Nachteil des Angeklagten<br />

ausgewirkt. Das Landgericht hat ersichtlich übersehen, dass der Senat den Strafausspruch des Urteils vom<br />

23. April 2010 gemäß § 301 StPO ausschließlich zugunsten des Angeklagten aufgehoben hat. Wegen des Verschlechterungsverbots<br />

(§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) war das Landgericht deshalb gehindert, die Höhe der Rechtsfolgen<br />

der Tat zum Nachteil des Angeklagten zu ändern (Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 358 Rn. 11). Dies ist hier jedoch<br />

trotz des vorgenommenen Härteausgleichs geschehen. Denn die für die verfahrensgegenständliche Tat festgesetzte<br />

Freiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> neun Monaten <strong>und</strong> die gesamtstrafenfähige Freiheitsstrafe von vier Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten aus dem Urteil vom 16. Juni 2006 übersteigen zusammengenommen die Höhe der im ersten<br />

Durchgang verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten. Der Senat kann in der Sache nicht<br />

selbst entscheiden, da sich die Gr<strong>und</strong>lagen für die Bemessung der neuen Gesamtstrafe geändert haben. Der neue<br />

57


Tatrichter wird der Gesamtstrafenbildung neben der Strafe aus dem Urteil vom 16. Juni 2006 die für die verfahrensgegenständliche<br />

Tat nunmehr verhängte Freiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> neun Monaten zugr<strong>und</strong>e zu legen haben.<br />

Zwar ist die Berücksichtigung eines Härteausgleichs bei Bemessung dieser Strafe rechtsfehlerhaft vorgenommen<br />

worden. Dieser Rechtsfehler hat sich aber ausschließlich zugunsten des Angeklagten ausgewirkt <strong>und</strong> ist daher auf<br />

seine Revision nicht zu beanstanden. Es kommt deshalb nicht darauf an, dass aus den oben genannten Gründen auch<br />

die vom Landgericht als schuld- <strong>und</strong> tatangemessen angesehene Freiheitsstrafe von acht Jahren gegen das Verschlechterungsverbot<br />

des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO verstieße, da im ersten Durchgang für die verfahrensgegenständliche<br />

Tat lediglich eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren festgesetzt worden war. Bei Bildung der Gesamtstrafe wird<br />

der neue Tatrichter als Obergrenze die im Urteil vom 23. April 2011 gebildete Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten zu beachten haben.<br />

2. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 1 <strong>und</strong> 2 <strong>StGB</strong> hat ebenfalls keinen Bestand.<br />

a) Das Landgericht hat bei der vorrangig anzustellenden Prüfung, ob der Gefährlichkeit des Angeklagten nicht allein<br />

durch eine andere Maßregel begegnet werden kann (§ 72 Abs. 1 <strong>StGB</strong>), dessen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />

gemäß § 64 <strong>StGB</strong> mit rechtlich unzureichender Begründung abgelehnt. Die Delinquenz des mittlerweile 66jährigen,<br />

seit 1972 u.a. mehrfach wegen Sexual- <strong>und</strong> Gewaltdelikten vorbestraften Angeklagten ging nach den Feststellungen<br />

des Landgerichts in den hier relevanten Fällen stets mit Alkoholkonsum bzw. Alkoholmissbrauch einher.<br />

Auch bei der verfahrensgegenständlichen Tat stand er unter erheblichem Alkoholeinfluss. Das sachverständig beratene<br />

Landgericht hat rechtsfehlerfrei eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Sinne des §<br />

21 <strong>StGB</strong> infolge eines Zusammenwirkens der Alkoholbeeinflussung bei Tatbegehung <strong>und</strong> einer diagnostizierten<br />

dissozialen Persönlichkeitsstörung auszuschließen vermocht. Die Voraussetzungen des § 64 <strong>StGB</strong> hat es abgelehnt.<br />

Es ist, dem Sachverständigen folgend, zu dem Ergebnis gelangt, dass der Alkoholmissbrauch des Angeklagten nicht<br />

den Grad einer manifesten psychischen oder gar körperlichen Abhängigkeit erreicht habe, da der Angeklagte in den<br />

letzten eineinhalb Jahren vor seiner letzten Inhaftierung während seines Zusammenlebens mit seiner Verlobten in der<br />

Lage gewesen sei, seinen Alkoholkonsum zu kontrollieren <strong>und</strong> es in jener Zeit zu keinem schwerwiegenden Alkoholmissbrauch<br />

gekommen sei. Allein unter Hinweis auf diesen Umstand hat das Landgericht auch eine intensive<br />

Neigung des Angeklagten, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, ausgeschlossen. Diese Begründung<br />

trägt die Ablehnung eines Hanges im Sinne des § 64 <strong>StGB</strong> nicht. Das Landgericht hat zwar seinen Ausführungen<br />

zu den Anforderungen an einen Hang im Ansatz einen zutreffenden Maßstab zugr<strong>und</strong>e gelegt. Es ist zu Recht<br />

davon ausgegangen, dass die Feststellung eines Hangs im Sinne des § 64 <strong>StGB</strong> nicht das Vorliegen eines manifesten<br />

Abhängigkeitssyndroms erfordert, sondern hierfür bereits eine intensive Neigung, Rauschmittel im Übermaß zu sich<br />

zu nehmen, ausreichend ist (Fischer aaO, § 64 Rn. 7 mwN). Die Strafkammer hat sich jedoch nicht dazu verhalten,<br />

weshalb der vorübergehend kontrollierte Alkoholkonsum des Angeklagten in der Zeit vor seiner Inhaftierung nicht<br />

nur den Ausschluss eines Abhängigkeitssyndroms rechtfertigt, sondern auch gegen eine intensive Neigung des Angeklagten,<br />

Alkohol im Übermaß zu sich zu nehmen, spricht. Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage war geboten,<br />

weil der Sachverständige, dem die Strafkammer im Übrigen uneingeschränkt gefolgt ist, die kontrollierte Alkoholaufnahme<br />

des Angeklagten in der Zeit des Zusammenlebens mit seiner Verlobten lediglich als ausreichendes Indiz<br />

für eine fehlende körperliche oder psychische Abhängigkeit angesehen hat. Nach den Urteilsgründen hat sich der<br />

Sachverständige hingegen nicht zu der Intensität eines missbräuchlichen Alkoholkonsums des Angeklagten unterhalb<br />

der Schwelle einer Abhängigkeit geäußert. Hinzu kommt, dass im angefochtenen Urteil mehrfach auf den vom Angeklagten<br />

betriebenen "Alkoholmissbrauch" bzw. auf dessen "Alkoholproblematik", deren Bearbeitung angezeigt<br />

sei, abgestellt wird. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> erschließt sich ohne weitere Begründung die Annahme der Strafkammer<br />

nicht, beim Angeklagten liege auch keine "intensive Neigung" zum übermäßigen Alkoholkonsum vor.<br />

b) Erweist sich danach die Ablehnung einer Maßregelanordnung nach § 64 <strong>StGB</strong> als rechtsfehlerhaft, so ist damit<br />

zugleich der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung die Gr<strong>und</strong>lage entzogen (§ 72 Abs. 1<br />

<strong>StGB</strong>). Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer, wäre sie vom Vorliegen eines Hanges im Sinne<br />

des § 64 <strong>StGB</strong> ausgegangen <strong>und</strong> hätte sie der Anlasstat Symptomwert für den Hang zugeschrieben, nicht nur die<br />

Gefährlichkeitsprognose, sondern auch eine hinreichend konkrete Aussicht auf eine erfolgreiche Suchtbehandlung<br />

<strong>und</strong> eine damit einhergehende deutliche Verringerung der Tätergefährlichkeit bejaht hätte.<br />

c) Danach muss die Frage der Maßregelanordnung nach § 66 <strong>und</strong> § 64 <strong>StGB</strong> ebenfalls neu verhandelt <strong>und</strong> entschieden<br />

werden. Der neue Tatrichter wird dabei zum einen zu beachten haben, dass Unsicherheiten über den Erfolg allein<br />

der milderen Maßnahme zur kumulativen Anordnung von Maßregeln führen (BGH, Beschluss vom 19. Mai 2009 - 3<br />

StR 191/09, NStZ 2010, 83). Zum anderen wird er der Prüfung einer Maßregelanordnung nach § 66 <strong>StGB</strong> den vom<br />

B<strong>und</strong>esverfassungsgericht (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, 1931) geforderten<br />

strengen Maßstab einer "strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung" zugr<strong>und</strong>e zu legen haben. Dabei wird er insbesonde-<br />

58


e die Frage der Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer schwerer Gewalt- oder Sexualtaten eingehender als bisher<br />

geschehen zu erörtern (Senatsbeschlüsse vom 2. August 2011 - 3 StR 208/11 <strong>und</strong> vom 4. August 2011 - 3 StR<br />

175/11, StV 2011, 672) <strong>und</strong> sich hierbei vor allem auch mit dem fortgeschrittenen Alter des Angeklagten <strong>und</strong> einer<br />

etwa damit einhergehenden geringeren Gefährlichkeit auseinanderzusetzen haben.<br />

3. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen<br />

(§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).<br />

<strong>StGB</strong> § 63 – Schwachsinn, Unterbringung<br />

BGH, Beschl. v. 05.07.2011 - 3 StR 173/11 – NStZ 2012, 209<br />

Bei der Prüfung des "Schwachsinns" als Eingangsmerkmal einer Anordnung nach § 63 <strong>StGB</strong>, darf<br />

sich die Annahme des Eingangsmerkmals nicht auf die Feststellung eines niedrigen Intelligenzquotienten<br />

beschränken, sondern bedarf einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 21. Januar 2011 wird<br />

a) das Verfahren in den Fällen II. 1. <strong>und</strong> 2. der Urteilsgründe eingestellt; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten<br />

des Verfahrens <strong>und</strong> die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,<br />

b) das vorgenannte Urteil<br />

aa) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der versuchten Vergewaltigung <strong>und</strong> der Sachbeschädigung<br />

schuldig ist,<br />

bb) im Strafausspruch dahin geändert, dass der Angeklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> sieben<br />

Monaten verurteilt wird,<br />

cc) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben im Strafausspruch, soweit eine Strafaussetzung zur Bewährung<br />

versagt worden ist, sowie im Ausspruch über die Maßregel.<br />

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die verbleibenden<br />

Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an<br />

eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter Vergewaltigung sowie wegen Sachbeschädigung in drei<br />

Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> acht Monaten verurteilt <strong>und</strong> die Unterbringung des Angeklagten<br />

in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die dagegen gerichtete, auf die allgemeine Sachbeschwerde<br />

gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg.<br />

1. Dem Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts folgend stellt der Senat das Verfahren ein, soweit der Angeklagte in den<br />

Fällen II. 1. <strong>und</strong> 2. der Urteilsgründe wegen Sachbeschädigung verurteilt worden ist. Da der danach verbleibende<br />

Schuldspruch <strong>und</strong> die insoweit verhängten Einzelstrafen von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten sowie von drei Monaten<br />

rechtlicher Überprüfung standhalten, bildet der Senat aus diesen Einzelstrafen - ebenfalls entsprechend dem Antrag<br />

des Generalb<strong>und</strong>esanwalts - gemäß § 354 Abs. 1 StPO die geringstmögliche neue Gesamtfreiheitsstrafe von einem<br />

Jahr <strong>und</strong> sieben Monaten.<br />

2. Dagegen können der Maßregelausspruch - <strong>und</strong> daran anknüpfend - die Entscheidung über die Nichtaussetzung der<br />

Freiheitsstrafe zur Bewährung nicht bestehen bleiben. Hierzu im Einzelnen:<br />

a) Das Landgericht hat - sachverständig beraten - die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus damit<br />

begründet, bei dem Angeklagten bestehe eine mittelgradige Intelligenzminderung <strong>und</strong> eine damit im Zusammenhang<br />

stehende Störung der Impulskontrolle; die ohnehin schwache Impulskontrolle sei unter dem bei allen Taten bestehenden<br />

Alkoholeinfluss weiter herabgesetzt worden, so dass jeweils eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit<br />

sicher vorgelegen habe. Im Zustand der Alkoholisierung sei der Angeklagte in seiner Fähigkeit, sich aggressiven<br />

Impulsen zu widersetzen, erheblich eingeschränkt. Da er seinem Alkoholkonsum unkritisch gegenüberstehe,<br />

seien in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten im Sinne der Anlassdelikte zu erwarten. Damit<br />

ist die Anordnung nach § 63 <strong>StGB</strong> nicht zu rechtfertigen. Das Landgericht hat den für eine Unterbringung notwendigen<br />

dauerhaften Zustand nicht allein in der Minderbegabung des Angeklagten, sondern im Zusammenwirken von<br />

Minderbegabung <strong>und</strong> Alkoholkonsum gesehen. In der Rechtsprechung ist zwar anerkannt, dass in diesen Fällen ein<br />

die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfertigender Zustand im Sinne des § 63 <strong>StGB</strong> vorlie-<br />

59


gen kann. Voraussetzung ist jedoch, dass der Täter an einer länger dauernden krankhaften geistig-seelischen Störung<br />

leidet, bei der bereits geringer Alkoholkonsum oder andere alltägliche Ereignisse die akute erhebliche Beeinträchtigung<br />

der Schuldfähigkeit auslösen können <strong>und</strong> dies getan haben (BGH, Urteil vom 17. Februar 1999 - 2 StR 483/98,<br />

BGHSt 44, 369). Eine solche länger dauernde krankhafte geistig-seelische Störung ist jedoch nicht belegt. Das gilt<br />

auch für das vom Landgericht angenommene Merkmal des Schwachsinns. Nach den Feststellungen verfügte der<br />

Angeklagte über einen Intelligenzquotienten von "etwa 70". Abgesehen davon, dass damit noch nicht einmal der<br />

geringste Schweregrad der Behinderung, der Debilität (Bildungsfähige, IQ 50-69), erreicht ist (vgl. LK-Schöch, 12.<br />

Aufl., § 20 <strong>StGB</strong> Rn. 150 mwN), darf sich die Annahme des Eingangsmerkmals nicht auf die Feststellung eines<br />

niedrigen Intelligenzquotienten beschränken, sondern bedarf einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit (LK-<br />

Schöch aaO Rn. 151 mwN). Die im Urteil mitgeteilten Umstände - der Angeklagte arbeitete in verschiedenen Behindertenwerkstätten<br />

<strong>und</strong> hat seit 1997 einen Betreuer - rechtfertigen für sich die Annahme des Eingangsmerkmals<br />

nicht.<br />

b) Gegen das Urteil bestehen auch insoweit durchgreifende Rechtsbedenken, als das Landgericht die Ablehnung der<br />

Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt damit begründet hat, es bestehe kein Hang im Sinne des<br />

§ 64 <strong>StGB</strong>, vielmehr sei das Konsumverhalten des Angeklagten lediglich als schädlicher Alkoholgebrauch zu charakterisieren.<br />

Nach den Feststellungen war der Angeklagte indes bei allen vier ihm zur Last gelegten Taten alkoholisiert,<br />

bei dem Versuch der Vergewaltigung wurde bei ihm eineinhalb St<strong>und</strong>en nach der Tat eine Blutalkoholkonzentration<br />

von 1,33 ‰ festgestellt. Die jeweils "mittelgradige Alkoholisierung" des Angeklagten führte im Zusammenwirken<br />

mit der mittelgradigen Intelligenzminderung <strong>und</strong> der damit zusammenhängenden Störung der Impulskontrolle<br />

zur erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten. Trotz des in der vom Angeklagten bewohnten<br />

Einrichtung bestehenden Alkoholverbots erwarb er von seinem Taschengeld zumeist Bier. Dieser Bierkonsum<br />

steht nach Auffassung des Landgerichts einer positiven Prognose <strong>und</strong> damit der Aussetzung von Maßregel <strong>und</strong><br />

Freiheitsstrafe zur Bewährung entgegen. All dies spricht dafür, dass der Angeklagte eine ihn treibende oder beherrschende<br />

Neigung hat, Alkohol in einem Umfang zu konsumieren, durch welchen Ges<strong>und</strong>heit, Arbeits- oder Leistungsfähigkeit<br />

erheblich beeinträchtigt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 2010 - 3 StR 91/10; Beschluss<br />

vom 31. März 2011 - 1 StR 109/11, NStZ-RR 2011, 242). Soweit das Landgericht ergänzend darauf abstellt, die<br />

Entwöhnungsbehandlung habe "angesichts der intellektuellen Minderbegabung" des Angeklagten keine hinreichende<br />

Erfolgsaussicht, so reicht dies hier angesichts der fehlenden näheren Darlegung zum Geisteszustand des Angeklagten<br />

zur Begründung für die Versagung der Maßregel ebenfalls nicht aus.<br />

c) Nachdem über Zustand, Hang <strong>und</strong> Gefährlichkeit des Angeklagten erneut zu entscheiden ist <strong>und</strong> davon auch die<br />

Legalprognose im Sinne von § 56 <strong>StGB</strong> abhängt, hebt der Senat den Strafausspruch insoweit auf, als dem Angeklagten<br />

eine Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung versagt worden ist.<br />

<strong>StGB</strong> § 63 Tatrichter muss über SV-Bef<strong>und</strong>analyse hinaus prüfen<br />

BGH, Beschl. v. 24.04.2012 - 5 StR 150/12 - NStZ-RR 2012, 239<br />

Die bloße Wiedergabe der Bef<strong>und</strong>analyse eines Sachverständigen reicht als Gr<strong>und</strong>lage für die eine<br />

Unterbringung nach § 63 <strong>StGB</strong> tragenden tatrichterlichen Feststellungen nicht aus. Denn sie ermöglicht<br />

nicht eine revisionsrechtliche Überprüfung, ob das Tatgericht zutreffend die Voraussetzungen<br />

dieser den Angeklagten besonders schwer belastenden Maßregel angenommen hat.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 8. November 2011 nach § 349 Abs.<br />

4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben. Ausgenommen sind die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen; insoweit<br />

wird die weitergehende Revision nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Im Umfang der Aufhebung<br />

wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten von den Vorwürfen der Vergewaltigung, der versuchten Nötigung in zwei<br />

Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, der sexuellen Nötigung, der Sachbeschädigung<br />

<strong>und</strong> des Diebstahls mit Waffen freigesprochen. Es hat jedoch die Unterbringung in einem psychiatrischen<br />

Krankenhaus angeordnet. Dagegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung sachlichen<br />

Rechts rügt. Das Rechtsmittel ist im Wesentlichen begründet.<br />

60


1. Frei von Rechtsfehlern sind allerdings die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen; diese (Abschnitt II der Urteilsgründe)<br />

können demgemäß aufrechterhalten bleiben.<br />

2. Der Freispruch des Angeklagten <strong>und</strong> die Anordnung, ihn in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen,<br />

haben dagegen keinen Bestand, da die Voraussetzungen der §§ 20, 63 <strong>StGB</strong> im angefochtenen Urteil nicht hinlänglich<br />

dargelegt sind.<br />

a) Das Landgericht hat zur Begründung ausgeführt, der Angeklagte leide seit mehreren Jahren an einer schizophrenen<br />

Psychose (ICD 10: F 20). Er unterliege einem religiösen Wahn. Daneben leide er seit vielen Jahren auch an<br />

einem Missbrauch von Cannabinoiden (ICD 10: F 13.1). Der Angeklagte habe die Taten jeweils unter dem Einfluss<br />

der schizophrenen Psychose begangen, wobei nicht ausgeschlossen werden könne, dass seine Steuerungsfähigkeit<br />

bei Begehung der jeweiligen Taten aufgehoben im Sinne des § 20 <strong>StGB</strong> gewesen sei; mit Sicherheit sei sie jedoch<br />

erheblich vermindert im Sinne des § 21 <strong>StGB</strong> gewesen. Der Cannabisgebrauch habe für die Begehung der Taten eine<br />

allenfalls untergeordnete Bedeutung gehabt. Das Landgericht ist dabei, ohne die diagnostische Bewertung näher zu<br />

erläutern, den von ihm als überzeugend angesehenen Ausführungen der Sachverständigen gefolgt.<br />

b) Die bloße Wiedergabe der Bef<strong>und</strong>analyse eines Sachverständigen reicht als Gr<strong>und</strong>lage für die eine Unterbringung<br />

nach § 63 <strong>StGB</strong> tragenden tatrichterlichen Feststellungen nicht aus. Denn sie ermöglicht nicht eine revisionsrechtliche<br />

Überprüfung, ob das Tatgericht zutreffend die Voraussetzungen dieser den Angeklagten besonders schwer belastenden<br />

Maßregel angenommen hat. Die Urteilsgründe erlauben dem Senat auch unter Berücksichtigung ihres Gesamtzusammenhangs<br />

nicht die Nachprüfung, ob das Landgericht eine erhebliche Verminderung oder einen Ausschluss<br />

der Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der abgeurteilten Taten, wie für eine Unterbringung nach<br />

§ 63 <strong>StGB</strong> erforderlich (BGH, Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 40/86, BGHSt 34, 22, 26), rechtsfehlerfrei positiv<br />

festgestellt hat. Die Diagnose einer Schizophrenie führt für sich allein genommen nicht zur Feststellung einer generellen<br />

oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit<br />

(vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. Oktober 2007 – 3 StR 412/07, NStZ-RR 2008, 39 <strong>und</strong> vom 31. August 2010 –<br />

3 StR 260/10). Ob sich der Angeklagte bei Begehung der längere Zeit zurückliegenden Taten jeweils in einem<br />

akuten Schub seiner Krankheit befand, zu deren Beginn, Entwicklung <strong>und</strong> sonstigen Auswirkungen auf das Leben<br />

des Angeklagten zudem nichts Genaueres festgestellt ist, ist im Urteil ebenso wenig belegt wie ein spezifischer Zusammenhang<br />

zwischen der Psychose <strong>und</strong> den einzelnen Taten, insbesondere den für die Maßregelanordnung maßgeblichen<br />

Sexualverbrechen.<br />

3. Zur Vorbereitung der erforderlichen erneuten im Rahmen der einstweiligen Unterbringung nunmehr leichter möglichen<br />

gründlichen Exploration des Angeklagten wird das neue Tatgericht angesichts dessen, dass im Urteil jeder<br />

Hinweis auf den Versuch einer bei den gegenständlichen Taten unerlässlichen Sexualanamnese fehlt, die Beauftragung<br />

eines anderen Sachverständigen zu erwägen haben. Bei gleichzeitiger Aufhebung des Freispruchs ist das neue<br />

Tatgericht nach § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht gehindert, den Angeklagten zu bestrafen, soweit sich nunmehr eine<br />

Schuldunfähigkeit sicher ausschließen lassen sollte.<br />

<strong>StGB</strong> § 63 Unterbringung <strong>und</strong> Bewährung<br />

BGH, Beschl. v. 13.12.2011 - 5 StR 422/11 - NStZ-RR 2012, 107 = StV 2012, 209<br />

Krankheitstypische Aggressionen, die Ausfluss besonderer Belastungssituationen sind, können nur<br />

eingeschränkt als Beleg für die allgemeine Gefährlichkeit des Betroffenen gelten.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 18. Juli 2011 mit den zugehörigen<br />

Feststellungen nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben, soweit Strafaussetzung zur Bewährung versagt worden ist, sowie<br />

im Maßregelausspruch. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung,<br />

auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Die weitergehende<br />

Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung zu einer<br />

Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt <strong>und</strong> die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.<br />

Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg.<br />

Im Übrigen ist sie unbegründet nach § 349 Abs. 2 StPO.<br />

61


1. Gegen den Schuldspruch ist rechtlich nichts zu erinnern. Entgegen den Einwendungen der Revision hat das sachverständig<br />

beratene Landgericht eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten (§ 20 <strong>StGB</strong>) zutreffend<br />

namentlich mit der Begründung ausgeschlossen, dass dieser innehalten konnte, nachdem er wieder in den Besitz des<br />

Personalausweises gelangt war.<br />

2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten im psychiatrischen Krankenhaus hält rechtlicher Überprüfung<br />

nicht stand.<br />

a) Die Annahme des für § 63 <strong>StGB</strong> erforderlichen dauerhaften Defekts mit Krankheitswert (vgl. dazu BGH, Urteil<br />

vom 6. März 1986 – 4 StR 40/86, BGHSt 34, 22, 26 f.; Beschlüsse vom 6. Februar 1997 – 4 StR 672/96, BGHSt 42,<br />

385 f., <strong>und</strong> vom 8. Juli 1999 – 4 StR 269/99, NStZ 1999, 611, 612) ist allerdings nicht zu beanstanden. Dass bei dem<br />

Angeklagten nicht nur eine – für sich nicht ausreichende – dauerhafte Disposition besteht, in bestimmten, ihn belastenden<br />

Situationen wegen mangelnder Fähigkeit zur Affektverarbeitung in den Zustand erheblich verminderter<br />

Schuldfähigkeit zu geraten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 2001 – 3 StR 373/01, NStZ 2002, 142, vom 24.<br />

September 1997 – 2 StR 443/97, BGHR <strong>StGB</strong> § 63 Zustand 27, <strong>und</strong> vom 1. September 1998 – 4 StR 367/98), wird<br />

von den Feststellungen getragen. Danach hat die diagnostizierte schwere Persönlichkeitsstörung des emotionalinstabilen<br />

Typus (ICD 10: F 61.0) bei ihm bereits seit früher Kindheit zu beträchtlichen Einschränkungen der gesamten<br />

Lebensführung bis hin zur Verwahrlosung geführt.<br />

b) Der Maßregelausspruch kann gleichwohl nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht die weiter vorausgesetzte<br />

Gefährlichkeitsprognose nicht ausreichend begründet hat. Die außerordentlich beschwerende Maßregel der Unterbringung<br />

im psychiatrischen Krankenhaus setzt eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades voraus, dass von dem Betroffenen<br />

in Zukunft rechtswidrige Taten von Erheblichkeit zu erwarten sind; die bloße Möglichkeit genügt dementsprechend<br />

nicht (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 15. Juli 1992 – 5 StR 333/92, NStZ 1992, 538, vom 8.<br />

Juli 1999 – 4 StR 269/99, NStZ 1999, 611, 612, <strong>und</strong> vom 16. Juli 2008 – 2 StR 161/08, Rn. 7; jeweils mwN). Vier –<br />

vergleichsweise nicht sehr schwer wiegende <strong>und</strong> dementsprechend durchgehend mit Geldstrafe geahndete – Körperverletzungsdelikte<br />

hat der Angeklagte im Zeitraum von 2004 bis 2008 begangen. Auch die Anlasstat liegt in diesem<br />

Zeitraum. Zuvor <strong>und</strong> danach musste er trotz seines Defekts nicht verurteilt werden. Es entspricht aber ständiger<br />

Rechtsprechung, dass länger währende Straffreiheit als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger<br />

gefährlicher Straftaten heranzuziehen ist (BGH NStZ 1999 aaO; LK/Schöch, 12. Aufl., § 63 Rn. 74). Das Landgericht<br />

hat dies im Gr<strong>und</strong>satz auch nicht verkannt <strong>und</strong> stützend auf aggressives Verhalten des Angeklagten bei der<br />

psychiatrischen Exploration <strong>und</strong> im Vorfeld des zweiten Hauptverhandlungstags verwiesen. Indessen hat dieser seine<br />

Aggressionen im Zuge der Exploration zu beherrschen vermocht; am zweiten Hauptverhandlungstag konnte er Gleiches<br />

aufgr<strong>und</strong> vorsorglich vorgenommener Fesselung nicht unter Beweis stellen. Hinzu kommt, dass krankheitstypische<br />

Aggressionen, die Ausfluss solcher Belastungssituationen sind, nur eingeschränkt als Beleg für die allgemeine<br />

Gefährlichkeit des Betroffenen gelten können (vgl. zu Taten während einer strafrechtlichen Unterbringung<br />

LK/Schöch, aaO, § 63 Rn. 84 mwN).<br />

3. Die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung hat die Strafkammer maßgebend mit der Gefährlichkeit des<br />

Angeklagten begründet. Sie kann aus den vorgenannten Gründen schon deshalb nicht bestehen bleiben. Der Senat<br />

weist für die neu anzustellende Sozialprognose darauf hin, dass der Angeklagte bislang noch nicht zu Freiheitsstrafe<br />

verurteilt worden ist. Dass ihm nicht allein die Verurteilung zu Freiheitsstrafe in Verbindung mit entsprechenden<br />

Bewährungsweisungen <strong>und</strong> -auflagen hinreichende Warnung für künftige Legalbewährung sein kann, versteht sich<br />

daher nicht von selbst. Auch die wenig nachdrückliche Führung des Strafverfahrens in den Jahren 2009 <strong>und</strong> 2010<br />

<strong>und</strong> die Straffreiheit des Angeklagten seit der verfahrensgegenständlichen Tat können hierbei nicht außer Betracht<br />

bleiben.<br />

4. Sofern das neu entscheidende Tatgericht die Voraussetzungen des § 63 <strong>StGB</strong> bejahen sollte, wird – bei gegebener<br />

Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung – im Rahmen einer etwaigen Aussetzungsentscheidung<br />

nach § 67b Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> eingehender als bislang nach alternativen, den Angeklagten weniger beschwerenden<br />

Weisungs- oder Unterbringungsmöglichkeiten zu suchen sein.<br />

62


<strong>StGB</strong> § 63, § 64 Gefahrenprognose Schizophrenie<br />

BGH, Urt. v. 11.08.2011 - 4 StR 267/11 - NStZ-RR 2011, 240<br />

Allein mit der im Allgemeinen erhöhten Kriminalitätsbelastung schizophren Erkrankter kann eine<br />

weitergehende Gefahrenprognose nicht begründet werden.<br />

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Dortm<strong>und</strong> vom 30. November 2010 wird<br />

als unbegründet verworfen.<br />

2. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls <strong>und</strong> versuchten Diebstahls in zwei Fällen zu einer nicht zur<br />

Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt <strong>und</strong> ihn im Übrigen freigesprochen. Von<br />

seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hat es abgesehen. Die Anordnung einer Maßregel nach<br />

§ 64 <strong>StGB</strong> wurde nicht erörtert. Die von der Staatsanwaltschaft zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision ist<br />

auf das Unterbleiben von Maßregelanordnungen nach den §§ 63, 64 <strong>StGB</strong> beschränkt.<br />

I. Das sachverständig beratene Landgericht hat Folgendes festgestellt:<br />

1. Der Angeklagte leidet spätestens seit dem Jahr 2001 an einer "schizophrenen Psychose mit akustischen <strong>und</strong> Leibhalluzinationen<br />

sowie angedeutetem Wahnerleben". Wegen dieser Erkrankung befand er sich mehrfach in stationärer<br />

Behandlung. Zuletzt wurde er am 18.Juli 2008 aus einer psychiatrischen Fachklinik entlassen. Seitdem wird er von<br />

seiner Hausärztin behandelt, die ihm Neuroleptika verschreibt. Der Angeklagte nimmt gelegentlich Amphetamin<br />

sowie seit zehn Jahren alle zwei bis drei Tage 0,5 Gramm Heroinzubereitung zu sich, um auf diese Weise die Halluzinationen<br />

zu„verringern“. Mitte des Jahres 2009 setzte er zum wiederholten Male eigenmächtig die ihm verordneten<br />

Medikamente ab. Der Angeklagte ist in der Vergangenheit mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Im Jahr<br />

2001 verurteilte ihn das Amtsgericht <strong>Hamm</strong> wegen räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten<br />

<strong>und</strong> setzte deren Vollstreckung zur Bewährung aus. Die Strafe wurde nach dem Ablauf der Bewährungszeit erlassen.<br />

In den Jahren 2006 bis 2008 wurde er zweimal wegen Diebstahls <strong>und</strong> einmal wegen eines Verstoßes gegen<br />

das Betäubungsmittelgesetz zu Geldstrafen verurteilt. Zuletzt verurteilte ihn das Amtsgericht <strong>Hamm</strong> am 30. Januar<br />

2009 wegen eines erneuten Diebstahls rechtskräftig zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von drei<br />

Monaten. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Dass die abgeurteilten Taten in einem Zusammenhang<br />

mit der psychotischen Erkrankung des Angeklagten gestanden haben, vermochte das Landgericht nicht festzustellen.<br />

2. Am 2.Januar 2010 brach der Angeklagte zusammen mit einem Begleiter in einem öffentlich zugänglichen Gebäude<br />

einen Schrank auf, um darin verwahrte Gegenstände (ein Fernsehgerät <strong>und</strong> verschiedene Flaschen) zu entwenden.<br />

Noch bevor sie etwas wegnehmen konnten, wurden beide gestellt <strong>und</strong> der Polizei übergeben. Am 11.Februar 2010<br />

entwendete der Angeklagte in einem Drogeriemarkt ein Parfüm im Wert von 15 Euro. Bei der Tat wurde er beobachtet.<br />

Noch am selben Tage drang er in die Umkleidekabine einer Sporthalle ein <strong>und</strong> durchsuchte die dort abgelegte<br />

Kleidung einer Jugendfußballmannschaft nach stehlenswerten Gegenständen. Als er ein Mobiltelefon in einem Wert<br />

von 150Euro an sich nehmen wollte, wurde er von einem Betreuer überrascht. Der Angeklagte legte daraufhin das<br />

Mobiltelefon zurück <strong>und</strong> wartete mit dem Betreuer auf die herbeigerufene Polizei. Am 25.März 2010 stach der Angeklagte<br />

mit einem Schraubendreher in die Gummiabdichtung der Beifahrertür eines auf einem Firmengelände abgestellten<br />

Pkw, um diese aufzubrechen <strong>und</strong> das Fahrzeug nach stehlenswerten Gegenständen zu durchsuchen. Noch<br />

bevor er in das Wageninnere gelangen konnte, wurde er gestellt. Der Tat war ein Streit mit seinen Eltern vorausgegangen,<br />

der bei ihm zu einer psychischen Destabilisierung geführt hatte. In allen Fällen verfolgte der Angeklagte die<br />

Absicht, das Diebesgut zu verkaufen, um Geld für den Ankauf weiteren Heroins beizubringen.<br />

3. Das Landgericht hat die Tat vom 2.Januar 2010 als versuchten Diebstahl gemäߧ§ 242, 243 Abs. 1 Satz2 Nr.2 <strong>und</strong><br />

3, §§22, 23 <strong>StGB</strong> gewertet. In der Entwendung des Parfums hat es einen vollendeten Diebstahl (§242 Abs.1 <strong>StGB</strong>)<br />

<strong>und</strong> in dem Vorfall in der Sporthalle einen versuchten Diebstahl gemäߧ§242, 243 Abs.1 Satz2 Nr.3,§§22, 23 <strong>StGB</strong><br />

gesehen. Das Geschehen vom 25.März 2010 erfüllt aus Sicht des Landgerichts die Voraussetzungen eines versuchten<br />

Diebstahls gemäߧ§ 242, 243 Abs. 1 Satz2 Nr. 1<strong>und</strong>3, §§22, 23 <strong>StGB</strong>. Bei den Taten vom 2.Januar<strong>und</strong> 11.Februar<br />

2010 hat das Landgericht angenommen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten auf Gr<strong>und</strong> einer krankhaften<br />

seelischen Störung i.S.d. §§ 20, 21 <strong>StGB</strong> erheblich vermindert war <strong>und</strong> verhängte gegen den Angeklagten Freiheitsstrafen<br />

von zweimal fünf <strong>und</strong> einmal zwei Monaten; die daraus gebildete Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten hat<br />

es nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt. Hinsichtlich der Tat vom 25.März 2010 ist das Landgericht von einer voll-<br />

63


ständig aufgehobenen Steuerungsfähigkeit ausgegangen, weil der vorangegangene Streit mit den Eltern die bestehende<br />

Psychose verstärkt hat. Insoweit wurde der Angeklagte freigesprochen.<br />

4. Eine Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 <strong>StGB</strong>) hat das Landgericht<br />

abgelehnt <strong>und</strong> zur Begründung ausgeführt, dass entgegen der angehörten Sachverständigen nicht festgestellt werden<br />

könne, dass der Angeklagte infolge seines Zustands für die Allgemeinheit gefährlich sei. Die begangenen Taten seien<br />

nicht von einem erheblichen Gewicht. Auf die Vorverurteilungen könne die Gefahrenprognose nicht gestützt werden,<br />

weil ein Zusammenhang mit der Psychose des Angeklagten nicht feststellbar gewesen sei. Die allgemein leicht erhöhte<br />

Gefährlichkeit schizophren Erkrankter lasse keinen sicheren Schluss auf die individuelle Gefährlichkeit des<br />

Angeklagten zu. Der Angeklagte habe trotz der bestehenden Erkrankung in den Jahren 2001 bis 2006 keine Straftaten<br />

begangen. Bei den festgestellten Taten habe er sich der drohenden Festnahme nie entgegengestellt <strong>und</strong> keinen<br />

Widerstand geleistet. Auch wenn angenommen werde, dass der Angeklagte in Zukunft Taten begeht, die den festgestellten<br />

Taten vergleichbar sind, stünde seine Unterbringung außer Verhältnis zu deren Bedeutung <strong>und</strong> dem Grad<br />

seiner Gefährlichkeit (§ 62 <strong>StGB</strong>).<br />

II. Die wirksam auf den unterbliebenen Maßregelausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat in der<br />

Sache keinen Erfolg.<br />

1. Die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält rechtlicher<br />

Nachprüfung stand.<br />

a) Hat jemand - wie vorliegend der Angeklagte - rechtswidrige Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 <strong>StGB</strong>)<br />

oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 <strong>StGB</strong>) begangen, ordnet das Gericht nach § 63 <strong>StGB</strong> die Unterbringung<br />

in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters <strong>und</strong> seiner Tat ergibt, dass von<br />

ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind <strong>und</strong> er deshalb für die Allgemeinheit<br />

gefährlich ist. Dabei kommt dem Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz (§ 62 <strong>StGB</strong>) sowohl bei der Bestimmung des Grades<br />

der Wahrscheinlichkeit neuer Straftaten, als auch bei der Entscheidung der Frage, ob diese als erheblich einzustufen<br />

sind, eine maßstabsetzende Bedeutung zu (BVerfG, NStZ 1986, 185). Die Unterbringung in einem psychiatrischen<br />

Krankenhaus ist auf Gr<strong>und</strong> ihrer zeitlichen Unbegrenztheit eine außerordentlich beschwerende Maßnahme. Sie<br />

kann daher nur dann angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass der Täter<br />

infolge seines Zustands in Zukunft Taten begehen wird, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben<br />

(BGH, Urteil vom 2. März 2011 – 2 StR 550/10, NStZ-RR 2011, 240, 241; Beschluss vom 22. Februar 2011 – 4<br />

StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202; Urteil vom 7. Januar 1997 – 5 StR 508/96, NStZ-RR 1997, 230).<br />

b) Das Landgericht ist rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass von dem Angeklagten in Zukunft allenfalls Straftaten<br />

zu erwarten sind, die in Art <strong>und</strong> Schwere den festgestellten Anlasstaten entsprechen. Das Landgericht hat weder<br />

den Vorverurteilungen, noch den Ausführungen der angehörten Sachverständigen zu entnehmen vermocht, dass die<br />

früheren Straftaten des Angeklagten <strong>und</strong> damit auch die im Jahr 2001 abgeurteilte versuchte räuberische Erpressung<br />

in einem Zusammenhang mit seiner psychotischen Erkrankung standen. Es hat deshalb zu Recht für die Beurteilung<br />

der krankheitsbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten die Anlasstaten zum Maßstab genommen. Mit ihrem hiergegen<br />

erhobenen Einwand, dass Zusammenhänge zwischen der bereits seit 2001 bestehenden Erkrankung <strong>und</strong> den<br />

Vortaten naheliegend seien <strong>und</strong> entsprechende Feststellungen mit sachverständiger Hilfe in der Hauptverhandlung<br />

noch zu treffen gewesen wären, kann die Staatsanwaltschaft nicht durchdringen, da sie eine entsprechende Aufklärungsrüge<br />

nicht in zulässiger Form erhoben hat. Auch war das Landgericht nicht gehalten, die Hintergründe der<br />

zurückliegenden Taten mitzuteilen. Zwar kann – wie die Revision zutreffend ausführt – auch lange zurückliegenden<br />

Taten eine indizielle Bedeutung für die Gefährlichkeitsprognose zukommen (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juni 2008 – 4<br />

StR 140/08, BeckRS 2008, 13076), doch wird dies regelmäßig nur bei Taten der Fall sein, die in einem inneren Zusammenhang<br />

zu der festgestellten Erkrankung gestanden haben <strong>und</strong> deren Ursache nicht in anderen, nicht krankheitsbedingten<br />

Umständen zu finden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2001 – 4 StR 540/01, BeckRS<br />

2001, 30228853). Einen Zusammenhang zwischen den Vortaten <strong>und</strong> der Erkrankung des Angeklagten vermochte das<br />

Landgericht jedoch gerade nicht festzustellen. Allein mit der im Allgemeinen erhöhten Kriminalitätsbelastung schizophren<br />

Erkrankter (vgl. Kröber/Lau in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 2,<br />

S. 313 ff.; Nedopil, Prognosen in der Forensischen Psychiatrie, S. 153 ff.) kann eine weitergehende Gefahrenprognose<br />

nicht begründet werden. Auf die Person des Angeklagten <strong>und</strong> seine konkrete Lebenssituation bezogene Risikofaktoren,<br />

die eine individuelle Disposition zur Begehung von Delikten jenseits der Anlasstaten belegen könnten, lassen<br />

sich den getroffenen Feststellungen nicht entnehmen.<br />

c) Die Bewertung der Strafkammer, die von dem Angeklagten weiterhin zu erwartenden Diebstahlstaten führen nicht<br />

zu einer schweren Störung des Rechtsfriedens <strong>und</strong> können deshalb seine Unterbringung in einem psychiatrischen<br />

Krankenhaus nicht rechtfertigen, weist keinen Rechtsfehler auf.<br />

64


aa) Da das Gesetz keine Beschränkung auf bestimmte Tatbestände vorgenommen hat, kann die Frage, ob eine zu<br />

erwartende Straftat zu einer schweren Störung des Rechtsfriedens führt, gr<strong>und</strong>sätzlich nur anhand der konkreten<br />

Umstände des Einzelfalls beantwortet werden (BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 – 4 StR 635/10, NStZ-RR<br />

2011, 202; Beschluss vom 26. April 2001 – 4 StR 538/00, StV 2002, 477f.). Dabei können sich nähere Darlegungen<br />

erübrigen, wenn sich – wie in aller Regel bei Verbrechen oder Gewalt- <strong>und</strong> Aggressionsdelikten – eine schwere<br />

Störung des Rechtsfriedens bereits aus dem Gewicht des Straftatbestandes ergibt, mit dessen Verwirklichung gerechnet<br />

werden muss (BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 – 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202; Urteil vom 12.<br />

Juni 2008 – 4 StR 140/08, NStZ 2008, 563, 564; Beschluss vom 24. November 2004 – 1 StR 493/04, NStZ-RR 2005,<br />

72, 73). Dagegen wird die Annahme einer schweren Störung des Rechtsfriedens nur in Ausnahmefällen zu bejahen<br />

sein, wenn die zu erwartenden Delikte nicht zumindest den Bereich der mittleren Kriminalität erreichen (BGH, Urteil<br />

vom 2. März 2011 – 2 StR 550/10, NStZ-RR 2011, 240, 241; Beschluss vom 18. März 2008 – 4 StR 6/08, R & P<br />

2008, 226, 227; Beschluss vom 18. Februar 1992 – 4 StR 27/92, BGHR <strong>StGB</strong> § 63 Gefährlichkeit 16; Beschluss<br />

vom 28. Juni 2005 – 4 StR 223/05, NStZ-RR 2005, 303, 304; SSW-<strong>StGB</strong>/Schöch, § 63 Rn. 25 mwN.). Wichtige<br />

Gesichtspunkte bei der Einzelfallerörterung sind die vermutliche Häufigkeit neuerlicher Delikte <strong>und</strong> die Intensität<br />

der zu erwartenden Rechtsgutsbeeinträchtigungen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 – 4 StR 635/10,<br />

NStZ-RR 2011, 202; Hanack JR 1977, 170, 171).<br />

bb) Danach hat das Landgericht die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 63 <strong>StGB</strong> rechtsfehlerfrei für<br />

nicht gegeben erachtet. Diebstahlstaten, die Regelbeispiele des besonders schweren Falles gem. § 243 Abs. 1 Satz 2<br />

<strong>StGB</strong> erfüllen, sind - wie die Revision zutreffend geltend macht - dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen<br />

<strong>und</strong> damit gr<strong>und</strong>sätzlich geeignet, eine Maßregelanordnung nach § 63 <strong>StGB</strong> zu rechtfertigen (vgl. BGH, Urteil vom<br />

5. Juli 1989 - 2 StR 271/89 Tz. 8; Urteil vom 23. Juni 1976 – 3 StR 99/76, NJW 1976, 1949; Fischer, <strong>StGB</strong>, 58.<br />

Aufl., § 63 Rn. 17; Münch-Komm<strong>StGB</strong>/van Gemmeren § 63 Rn. 34 mwN). Bei der gebotenen Einzelfallbewertung<br />

hat die Strafkammer jedoch zu Recht berücksichtigt, dass der Angeklagte bei drei der vier Anlasstaten gestellt werden<br />

konnte <strong>und</strong> seine Festnahme jeweils widerstandslos duldete (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Januar 1997 – 5 StR<br />

508/96, NStZ-RR 1997, 230). Wenig erfolgversprechend angelegte <strong>und</strong> deshalb leicht zu vereitelnde Versuche stellen<br />

zudem nur eine eingeschränkte Bedrohung für die betroffenen Rechtsgüter dar. Soweit der Angeklagte seine<br />

Diebstahlstaten überhaupt vollenden konnte, war der angerichtete Schaden gering. Die vom Landgericht festgestellte<br />

Gewerbsmäßigkeit (§ 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 <strong>StGB</strong>) bezieht sich vorrangig auf die Tatmotivation. Auf den äußeren<br />

Zuschnitt der einzelnen Taten <strong>und</strong> deren Gefährlichkeit hat sie keinen prägenden Einfluss (BGH, Beschluss vom 7.<br />

Januar 1997 – 5 StR 508/96, NStZ-RR 1997, 230). Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> weist die Ablehnung der Unterbringung<br />

des Angeklagten durch die Strafkammer keinen Rechtsfehler auf. Dies gilt umso mehr, wenn – wie vorliegend der<br />

Angeklagte – der Täter nur vermindert schuldfähig ist, sodass gegen ihn eine Strafe verhängt werden kann <strong>und</strong> sein<br />

rechtswidriges Verhalten deshalb nicht sanktionslos bleibt (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 1992 – 4 StR<br />

27/92, BGHR <strong>StGB</strong> § 63 Gefährlichkeit 16; Urteil vom 23. Juni 1976 – 3 StR 99/76, NJW 1976, 1949).<br />

d) Die Ablehnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus ist auch nicht deshalb<br />

rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht der abschließenden Bewertung der Sachverständigen zur Gefährlichkeit des<br />

Angeklagten nicht gefolgt ist, ohne die gutachterlichen Ausführungen der Sachverständigen in allen Einzelheiten<br />

mitzuteilen. Denn die Ablehnung der Maßregelanordnung hat die Strafkammer (auch) auf Verhältnismäßigkeitserwägungen<br />

gestützt. Ob zu erwartende Straftaten erheblich sind <strong>und</strong> die Anordnung einer Unterbringung den Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz<br />

wahrt, ist eine Rechtsfrage, die der Tatrichter zu entscheiden hat (vgl. BVerfG, NStZ 1986,<br />

185).<br />

2. Schließlich stellt auch der Umstand, dass das Landgericht eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt<br />

nach § 64 <strong>StGB</strong> nicht erörtert hat, keinen durchgreifenden Rechtsfehler dar. Nach § 267 Abs. 6 Satz 1<br />

StPO müssen die Gründe für die Nichtanordnung einer Maßregel nur dann angegeben werden, wenn eine Anordnung<br />

dieser Maßregel in der Hauptverhandlung beantragt worden ist. Die Revision hat nicht vorgetragen, dass ein Antrag<br />

auf Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gestellt worden wäre. Darüber hinaus ist die Nichtanordnung<br />

einer Maßregel in den schriftlichen Urteilsgründen nur dann zu erörtern, wenn die Umstände des Einzelfalls<br />

dazu drängen (BGH, Urteil vom 9.Juni 1999 –3 StR 89/99, NJW 1999, 2606). Dies war hier in Bezug auf<br />

§64<strong>StGB</strong> nicht der Fall. An einer Psychose leidende Täter, bei denen sich –wie bei dem Angeklagten –eine sek<strong>und</strong>äre<br />

Abhängigkeit von Alkohol oder Betäubungsmitteln ausgebildet hat, sind in aller Regel in einer Entziehungsanstalt<br />

nicht erfolgreich behandelbar (vgl. BVerfGE 91, 1, 22; Schöch in LK-<strong>StGB</strong>,12. Aufl.,§64 Rn. 140; Münch-<br />

Komm<strong>StGB</strong>/van Gemmeren § 64 Rn. 58; Heilmann/Scherbaum in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass, Handbuch der<br />

Forensischen Psychiatrie, Bd. 4, S.570; Penners, Zum Begriff der „Aussichtslosigkeit“ einer Entziehungskur nach §<br />

64 <strong>StGB</strong>, 1985, S. 139f.). Dass bei dem Angeklagten Umstände vorliegen, die eine abweichende Beurteilung recht-<br />

65


fertigen könnten, kann den Urteilsgründen nicht entnommen werden <strong>und</strong> wird auch von der Revision nicht geltend<br />

gemacht.<br />

3. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die Überbürdung der notwendigen Auslagen des Angeklagten<br />

folgt § 473 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 StPO.<br />

<strong>StGB</strong> § 64 Ausländereigenschaft<br />

BGH, Beschl. v. 17.08.2011 - 5 StR 255/11 . StV 2012, 281<br />

Auch nach der Umgestaltung des § 64 <strong>StGB</strong> zur Sollvorschrift mit der Gesetzesnovelle vom 16. Juli<br />

2007 [BGBl. I 1327] sollte es im Gr<strong>und</strong>satz dabei verbleiben, dass die Sprachunk<strong>und</strong>igkeit eines<br />

Ausländers nicht ohne weiteres allein ein Gr<strong>und</strong> für einen Verzicht auf seine Unterbringung sein<br />

kann [vgl. Bericht <strong>und</strong> Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/5137, S. 10].<br />

Indes muss nicht gegen jeden Sprachunk<strong>und</strong>igen, insbesondere wenn eine therapeutisch sinnvolle<br />

Kommunikation mit ihm schwer möglich sein wird, eine Unterbringung nach § 64 <strong>StGB</strong> angeordnet<br />

werden. Bei einem EU-Ausländer mit Lebensmittelpunkt in Deutschland bedarf es aber der Klärung<br />

inwieweit das für den Vollzug einer Unterbringung des Angeklagten zuständige Krankenhaus<br />

des Maßregelvollzugs Behandlungsmöglichkeiten für Patienten der Muttersprache des Betreffenden<br />

bietet.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 7. Februar 2011 gemäß § 349 Abs. 4<br />

StPO im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die weitergehende Revision wird<br />

nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung<br />

<strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts<br />

zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat im Umfang der Beschlussformel<br />

Erfolg. Soweit es sich gegen den Schuldspruch richtet, ist das Rechtsmittel gemäß § 349 Abs. 2 StPO<br />

unbegründet.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts liegt der Tat eine Auseinandersetzung im „so genannten Trinkermilieu<br />

am Berliner Ost-Bahnhof“ (UA S. 6) zugr<strong>und</strong>e. Der im Zeitpunkt der Tat 27 Jahre alte, aus Polen stammende <strong>und</strong><br />

erheblichen Alkoholmissbrauch treibende Angeklagte traf dort auf den später verstorbenen 59 Jahre alten alkoholkranken<br />

R. . Gemeinsam mit anderen Personen wurde auf einem kleinen Vorplatz des Bahnhofs Alkohol konsumiert.<br />

Als der Angeklagte den auf einer niedrigen Mauer sitzenden alkoholkranken R. verdächtigte, ihm Zigaretten weggenommen<br />

zu haben, schrie er ihn an <strong>und</strong> versetzte ihm schließlich einen kräftigen Tritt seitlich gegen den Kopf. R. fiel<br />

nach hinten in eine Rabatte <strong>und</strong> blieb dort liegen, ohne dass sich die umstehenden Personen um ihn kümmerten. Erst<br />

als zwei Zeugen mehrere St<strong>und</strong>en später bei ihm keine Lebenszeichen mehr feststellen konnten, riefen sie einen<br />

Rettungswagen. Der Tritt des Angeklagten hatte zu einer Verletzung des Gehirns des Geschädigten geführt, wahrscheinlich<br />

zu einem Riss eines Aneurysmas in der Nähe des Hirnstamms; der Geschädigte verstarb wenig später.<br />

2. Die Verneinung erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.<br />

a) Die beim Angeklagten etwa sieben bis acht St<strong>und</strong>en nach dem Tatzeitpunkt ermittelten Blutalkoholwerte vermochte<br />

die sachverständig beratene Schwurgerichtskammer ihrer Bewertung nicht zugr<strong>und</strong>e zu legen, da der Angeklagte,<br />

der am Nachmittag mit dem Konsum von Alkohol angefangen hatte, damit auch nach dem festgestellten<br />

Tatgeschehen fortfuhr. Auch konnten keine zuverlässigen Trinkmengenangaben erhoben werden.<br />

b) Angesichts dessen hat das Landgericht seine Annahme, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei nicht erheblich<br />

vermindert gewesen, im Anschluss an die Ausführungen des Sachverständigen auf folgende Umstände gestützt:<br />

Zeugen hätten den Angeklagten als angetrunken, jedoch „nicht total betrunken“ bezeichnet. Auf einer Videoaufzeichnung,<br />

die sein Verhalten in Tatzeitnähe zeige, sei erkennbar, dass der Angeklagte ohne weiteres in der Lage<br />

gewesen sei, aus der Hocke am Boden aufzustehen, sich wieder hinzuhocken <strong>und</strong> umherzugehen; augenfälliges Torkeln<br />

oder Schwanken sei nicht zu erkennen. Entscheidend sei schließlich der festgestellte Tatablauf selbst, wonach<br />

der Angeklagte fähig gewesen sei, einen Tritt gegen den Kopf des vor ihm sitzenden Geschädigten auszuführen.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Größe des Geschädigten <strong>und</strong> dessen Sitzhöhe erfordere eine derartige Handlung ein deutliches Heben<br />

66


des Beines <strong>und</strong> damit ein Maß an Koordinationsfähigkeit, das einer stark betrunkenen Person nicht mehr möglich<br />

gewesen wäre.<br />

aa) Die Schwurgerichtskammer hat nicht bedacht, dass selbst bei hochgradiger Alkoholisierung des Täters grobmotorische<br />

Fertigkeiten erhalten geblieben sein können (vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 1981 – 2 StR 264/81). Denn<br />

die vom Landgericht angeführten Umstände belegen nur, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht völlig<br />

aufgehoben war; aus ihnen ist indes nicht mit genügender Sicherheit abzuleiten, dass seine Steuerungsfähigkeit nicht<br />

erheblich vermindert gewesen ist. Dazu hätte es aussagekräftiger psychodiagnostischer Beweisanzeichen bedurft. Als<br />

solche sind nur Umstände in Betracht zu ziehen, die Hinweise darauf geben können, dass die Steuerungsfähigkeit des<br />

Täters trotz erheblicher Alkoholisierung nicht in erheblichem Maße beeinträchtigt gewesen ist (vgl. BGH, Beschlüsse<br />

vom 13. Mai 2005 – 2 StR 160/05, BGHR <strong>StGB</strong> § 21 Blutalkoholkonzentration 38, <strong>und</strong> vom 28. April 2009 – 4<br />

StR 95/09, NStZ-RR 2009, 270). Eine alkoholische Beeinflussung mit der Folge erheblich verminderter Schuldfähigkeit<br />

ist weder zwingend noch regelmäßig von schweren ins Auge fallenden Ausfallerscheinungen begleitet (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 26. März 1997 – 3 StR 35/97, StV 1997, 349).<br />

bb) Soweit sich die Urteilsbegründung auf Aussagen von Zeugen stützt, die sich selbst zum Zweck des Alkoholkonsums<br />

am Ort des Geschehens aufhielten, wären deren Alkoholisierung in Bedacht zu nehmen <strong>und</strong> ihre Auswirkungen<br />

auf die Wahrnehmung <strong>und</strong> Bewertung des Verhaltens des Angeklagten zu erörtern gewesen (vgl. BGH, Beschlüsse<br />

vom 29. November 2005 – 5 StR 358/05, NStZ-RR 2006, 72, <strong>und</strong> vom 26. Mai 2009 – 5 StR 57/09, BGHR <strong>StGB</strong> §<br />

21 Blutalkoholkonzentration 41).<br />

c) Obgleich die verhängte Strafe eher maßvoll erscheint, vermag der Senat nicht auszuschließen, dass sie bei Annahme<br />

der Voraussetzungen des § 21 <strong>StGB</strong> noch geringer ausgefallen wäre. Dies gilt insbesondere, da dieser benannte<br />

Strafmilderungsgr<strong>und</strong> im Rahmen der Prüfung des § 213 Alternative 2, § 227 Abs. 2 <strong>StGB</strong> – nachrangig zu<br />

unbenannten Strafmilderungsgründen – zu berücksichtigen wäre. Der Senat weist darauf hin, dass die in diesem<br />

Zusammenhang zu Lasten des Angeklagten angestellte Erwägung, er habe „keinen bzw. jedenfalls keinen nachvollziehbaren<br />

Gr<strong>und</strong>“ (UA S. 21) für den körperlichen Übergriff auf R. gehabt, angesichts des nicht aufgeklärten Diebstahlsverdachts<br />

nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist.<br />

3. Darüber hinaus hat das Landgericht die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt mit rechtsfehlerhafter<br />

Begründung abgelehnt.<br />

a) Dem Sachverständigen folgend hat die Schwurgerichtskammer bei dem Angeklagten einen Hang im Sinne des §<br />

64 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> den Symptomcharakter der verfahrensgegenständlichen Tat festgestellt. Von der Anordnung der Unterbringung<br />

nach § 64 <strong>StGB</strong> hat sie gleichwohl im Hinblick auf ungenügende Sprachkenntnisse des Angeklagten abgesehen.<br />

Mangels konstruktiver Kommunikationsmöglichkeiten könne keine Erfolg versprechende Therapie durchgeführt<br />

werden. In derartigen Fällen sehe die derzeitige Fassung des § 64 <strong>StGB</strong> vor, von einer Unterbringung Abstand<br />

zu nehmen.<br />

b) Auch nach der Umgestaltung des § 64 <strong>StGB</strong> zur Sollvorschrift mit der Gesetzesnovelle vom 16. Juli 2007 (BGBl.<br />

I 1327) sollte es im Gr<strong>und</strong>satz dabei verbleiben, dass die Sprachunk<strong>und</strong>igkeit eines Ausländers nicht ohne weiteres<br />

allein ein Gr<strong>und</strong> für einen Verzicht auf seine Unterbringung sein kann (vgl. Bericht <strong>und</strong> Beschlussempfehlung des<br />

Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/5137, S. 10). Indes muss nicht gegen jeden Sprachunk<strong>und</strong>igen, insbesondere<br />

wenn eine therapeutisch sinnvolle Kommunikation mit ihm schwer möglich sein wird, eine Unterbringung nach § 64<br />

<strong>StGB</strong> angeordnet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2008 – 5 StR 472/08, NStZ 2009, 204). Bei dem<br />

Angeklagten handelt es sich um einen EU-Ausländer mit Lebensmittelpunkt in Deutschland. Angesichts dessen hätte<br />

es jedenfalls der Klärung bedurft, inwieweit das für den Vollzug einer Unterbringung des Angeklagten zuständige<br />

Krankenhaus des Maßregelvollzugs Behandlungsmöglichkeiten für polnischsprachige Patienten bietet (vgl. Basdorf/Schneider/König<br />

in Festschrift Rissing-van Saan, 2011, S. 59, 62 ff.).<br />

67


<strong>StGB</strong> § 64 Keine Unterbringung, wenn zu erwartende Dauer Höchstfrist überschreiten wird<br />

BGH, Beschl. v. 17.04.2012 - 3 StR 65/12 - NJW 2012, 2292<br />

LS: Eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64<br />

Satz 2 <strong>StGB</strong>) besteht nicht, wenn die voraussichtlich notwendige Dauer der Behandlung die Höchstfrist<br />

des § 67d Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> überschreitet.<br />

Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kleve vom 24. November 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen.<br />

Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Beihilfe zur Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in<br />

Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe<br />

von zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Von der Unterbringung der opiatabhängigen <strong>und</strong> unter einer rezidivierenden<br />

depressiven Störung leidenden Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat es sachverständig beraten<br />

abgesehen, weil es eine Behandlungsdauer von "deutlich mehr als zwei Jahren" prognostiziert hat. Die auf die Rüge<br />

der Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten ist unbegründet (§ 349 Abs. 2<br />

StPO). Ergänzend zur Zuschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts bemerkt der Senat:<br />

1. Das Landgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die für die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />

erforderliche hinreichend konkrete Erfolgsaussicht der Therapie (§ 64 Satz 2 <strong>StGB</strong>) nicht besteht, wenn<br />

die voraussichtlich notwendige Dauer der Behandlung die Höchstfrist des § 67d Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> überschreitet.<br />

a) Gemäß § 67d Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> darf die Unterbringung nach § 64 <strong>StGB</strong> nicht länger als zwei Jahre dauern. Der<br />

insoweit eindeutige Wortlaut gründet auf der Überzeugung des Gesetzgebers, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />

sei nur innerhalb einer bestimmten Frist, konkret innerhalb eines Zeitraums von bis zu zwei Jahren,<br />

sinnvoll <strong>und</strong> erfolgversprechend (vgl. Protokolle des Sonderausschusses "Strafrecht", 4. Wahlperiode, S. 803 ff.,<br />

819, 936 f., <strong>und</strong> 5. Wahlperiode, S. 427; außerdem BT-Drucks. 5/4095, S. 33; bekräftigt BT-Drucks. 16/1110, S. 14;<br />

vgl. auch LK/Schöch, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 64 Rn. 167; SK-Sinn, <strong>StGB</strong>, Stand: Juli 2009, § 67d Rn. 2; Münch-<br />

Komm<strong>StGB</strong>/Veh, § 67d Rn. 5; Satzger/Schmitt/Widmaier/Jehle, <strong>StGB</strong>, § 67d Rn. 9; Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug,<br />

7. Aufl., S. 283 Rn. 486).<br />

b) Aus der Systematik der Bestimmungen zu den freiheitsentziehenden Maßregeln ergibt sich nichts anderes. Insbesondere<br />

lässt sich § 67d Abs. 1 Satz 3 <strong>StGB</strong> nicht entnehmen, der Gesetzgeber halte Unterbringungen über zwei<br />

Jahre hinaus in Einzelfällen für therapeutisch sinnvoll. § 67d Abs. 1 Satz 3 <strong>StGB</strong> knüpft die Höchstfristverlängerung<br />

nicht an die tatrichterliche Prognose, eine die Zweijahresfrist des § 67d Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> überschreitende Therapie<br />

werde ausnahmsweise erfolgreich sein, sondern will ausschließlich Systembrüche korrigieren, die sich aus der Vollstreckungsreihenfolge<br />

ergeben können (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2010 - 3 StR 538/09, BGHR <strong>StGB</strong> § 64 Abs.<br />

1 Erfolgsaussicht 10 mwN; zu § 89 Abs. 5 <strong>StGB</strong> E 1962 vgl. BT-Drucks. 4/650, S. 219; zur Vorbildfunktion des §<br />

89 Abs. 5 <strong>StGB</strong> E 1962 für den späteren § 67d Abs. 1 Satz 3 <strong>StGB</strong> vgl. BT-Drucks. 5/4095, S. 34).<br />

c) Die Auffassung des Gesetzgebers, eine auf länger als zwei Jahre prognostizierte Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />

biete keine hinreichend konkrete Aussicht auf Erfolg <strong>und</strong> habe deshalb von vornherein zu unterbleiben,<br />

findet ihre Bekräftigung in § 67 Abs. 2 <strong>StGB</strong> in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung der Unterbringung in einem<br />

psychiatrischen Krankenhaus <strong>und</strong> in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBl. I S. 1327). Nach dessen Satz<br />

2 soll das Gericht bei der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt neben einer zeitigen Freiheitsstrafe<br />

von über drei Jahren bestimmen, dass ein <strong>Teil</strong> der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Nach Satz 3 ist<br />

dieser <strong>Teil</strong> der Strafe so zu bemessen, dass nach seiner Vollziehung <strong>und</strong> einer anschließenden, auf die Strafe angerechneten<br />

Unterbringung die Vollstreckung der verbleibenden Hälfte der Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden<br />

kann. Dem liegt die Vorstellung zugr<strong>und</strong>e, erfolgversprechende Behandlungen dauerten "nach den Erfahrungen der<br />

Praxis gegenwärtig im Durchschnitt" ein Jahr, eine "sinnvolle Entziehungstherapie" sei "spätestens nach zwei Jahren<br />

beendet" (BT-Drucks. 16/1110, S. 14; zur durchschnittlichen Behandlungsdauer bereits die Gesetzentwürfe des B<strong>und</strong>esrates<br />

zur Verbesserung der Vollstreckung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung <strong>und</strong> Sicherung, BT-<br />

Drucks. 14/8200, S. 10, <strong>und</strong> zur Reform des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus <strong>und</strong> in<br />

einer Entziehungsanstalt, BT-Drucks. 15/3652, S. 13 f.).<br />

d) Ob ein rechtspolitisches Bedürfnis besteht, Verurteilten, die aufgr<strong>und</strong> einer mit der Suchterkrankung kombinierten<br />

Persönlichkeitsstörung nicht von einer auf höchstens zwei Jahre befristeten Unterbringung nach § 64 <strong>StGB</strong> profitie-<br />

68


en können, im Rahmen einer Maßregel anderen Zuschnitts Heilungschancen zu eröffnen, hat nicht der Senat, sondern<br />

der Gesetzgeber zu entscheiden. Dem Senat ist es verwehrt, einem verschiedentlich artikulierten Bedürfnis nach<br />

einer Eingliederung solcher Verurteilter in das Maßregelsystem des Strafgesetzbuchs (vgl. Trenckmann, JR 2010,<br />

501, 502 f.) mittels einer den Wortlaut, die Systematik <strong>und</strong> den Sinn <strong>und</strong> Zweck der Vorschriften verfehlenden Interpretation<br />

der § 67d Abs. 1, § 67 Abs. 2 <strong>StGB</strong> Rechnung zu tragen <strong>und</strong> das Institut der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />

auf Fälle auszuweiten, auf die es nach dem Willen des Gesetzgebers keine Anwendung finden soll.<br />

2. Der Senat ist an einer Verwerfung der Revision aufgr<strong>und</strong> der tragenden Erwägung (bisher nur obiter Beschlüsse<br />

vom 11. März 2010 - 3 StR 538/09, BGHR <strong>StGB</strong> § 64 Abs. 1 Erfolgsaussicht 10, <strong>und</strong> vom 5. August 2010 - 3 StR<br />

195/10, BGHR <strong>StGB</strong> § 64 Abs. 1 Erfolgsaussicht 11), die Anordnung der Unterbringung nach § 64 <strong>StGB</strong> komme bei<br />

einer prognostizierten Behandlungsdauer von mehr als zwei Jahren nach geltendem Recht nicht in Betracht, nicht<br />

durch den Beschluss des 5. Strafsenats des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 6. Februar 1996 (5 StR 16/96) gehindert. Zwar<br />

beruhte dieser Beschluss seinerseits tragend auf der Gegenauffassung, in die Frist, innerhalb derer der Erfolg der<br />

Maßregel erwartbar sein müsse, sei auch eine gemäß § 67d Abs. 1 Satz 3 <strong>StGB</strong> eintretende Verlängerung der Unterbringungsdauer<br />

einzubeziehen. Mit der Einführung des § 67 Abs. 2 <strong>StGB</strong> im Zuge der gr<strong>und</strong>legenden Reform des<br />

Rechts der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Jahr 2007 ist dieser Auslegung indessen endgültig die Basis<br />

entzogen; Anlass für ein Verfahren nach § 132 GVG besteht damit nicht (vgl. Kissel/Mayer, GVG, 6. Aufl., § 132<br />

Rn. 21).<br />

<strong>StGB</strong> § 64 Rausch, Hang Konflikttat<br />

BGH, Urt. v. 20.09.2011 - 1 StR 120/11 - NStZ-RR 2012, 46, 72<br />

1. Eine Revision der Staatsanwaltschaft kann hinsichtlich des Schuldspruchs einerseits <strong>und</strong> einer<br />

Maßregel andererseits von unterschiedlicher Zielrichtung sein, auch wenn im Einzelfall die den<br />

Angeklagten begünstigende Anfechtung der Unterbringung nur bei Erfolglosigkeit der zu seinem<br />

Nachteil zum Schuldspruch eingelegten Revision eigenständige Bedeutung hat. Die Tatsache, dass<br />

die Staatsanwaltschaft sich entgegen Nr. 147 Abs. 1 Satz 3 RiStBV nicht geäußert hat, lässt die Aufgabe<br />

des Senats, das Ziel des Rechtsmittels durch Auslegung der Rechtsmittelerklärungen zu ermitteln,<br />

unberührt.<br />

2. "Im Rausch" i.S.d. § 64 <strong>StGB</strong> bedeutet, dass die Tat während des für das jeweilige Rauschmittel<br />

typischen, die geistig-psychischen Fähigkeiten beeinträchtigenden Intoxikationszustands begangen<br />

sein muss.<br />

3. Bei Konflikttaten <strong>und</strong> (oder) Taten, denen eine Provokation des Täters durch das Opfer vorausging,<br />

liegt die Annahme eines Zusammenhangs mit einem Hang zum Missbrauch berauschender<br />

Mittel wenig nahe.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 20. September 2011 für Recht erkannt: Die Revisionen<br />

des Angeklagten <strong>und</strong> der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 26. November<br />

2010 werden mit der Maßgabe verworfen, dass die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt entfällt.<br />

Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels. Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong><br />

die hierdurch dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.<br />

Gründe:<br />

Der Angeklagte wurde wegen Totschlags zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt <strong>und</strong> bei Anordnung eines Vorwegvollzugs<br />

von zehn Jahren Strafe in einer Entziehungsanstalt untergebracht. Die mit der ausgeführten Sachrüge<br />

begründeten Revisionen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> des Angeklagten führen zum Wegfall der Unterbringung, bleiben<br />

aber im Übrigen erfolglos.<br />

1. Dem Schuldspruch liegen folgende Feststellungen zu Gr<strong>und</strong>e: Der Angeklagte lebte mit der Fre<strong>und</strong>in des inhaftierten<br />

L. zusammen <strong>und</strong> hatte deshalb mit dessen Fre<strong>und</strong> K. Streit. Am späten Abend des 28. März 2009 stritten sie<br />

zunächst vor dem Wohnhaus des Angeklagten <strong>und</strong> entfernten sich dann zu Fuß. Ihnen folgten die Zeugen C., Cu. -<br />

sie hatten zuvor mit dem Angeklagten gezecht - <strong>und</strong> F., die den Angeklagten auf dessen Wunsch erforderlichenfalls<br />

bei einer tätlichen Auseinandersetzung unterstützen wollten. Obwohl höchstens 50 m entfernt, sahen sie den Angeklagten<br />

<strong>und</strong> K. nicht mehr, als diese in eine dunkle Hofeinfahrt gingen. Dort kam es auch zu Tätlichkeiten. Der An-<br />

69


geklagte bedrohte K. mit einem eigens wegen der bevorstehenden Auseinandersetzung mitgenommenen kleineren<br />

Messer. Auch K. hatte ein Messer <strong>und</strong> spottete über die geringe Größe des Messers des Angeklagten. Darauf versetzte<br />

ihm dieser spontan einen wuchtigen Stich „Richtung Herz“ - an anderer Stelle des Urteils heißt es „zielgerichtet<br />

gegen den Oberkörper“; auch von einem Stich „in die Brust“ <strong>und</strong> „den Brustbereich“ ist die Rede - <strong>und</strong> traf ihn mitten<br />

ins Herz. K. brach zusammen, der Angeklagte sagte den hinzugekommenen C., Cu. <strong>und</strong> F., er habe K. in die<br />

Brust gestochen, sie sollten sich um ihn kümmern <strong>und</strong> ging fort. Er reinigte <strong>und</strong> versteckte das Tatmesser. Er wurde<br />

zu anderweitiger Strafvollstreckung noch in der Nacht in seiner Wohnung in einem Schrank versteckt festgenommen.<br />

Als Verantwortlicher für den nach einigen Tagen eingetretenen Tod K. s wurde er erst später ermittelt.<br />

2. Hinsichtlich des Schuldspruchs wendet sich die Revision des Angeklagten im Wesentlichen gegen den (bedingten)<br />

Tötungsvorsatz.<br />

a) Entgegen ihrer Auffassung ergeben sich insoweit keine Bedenken im Blick auf das nicht immer mit denselben<br />

Worten bezeichnete Ziel des Stiches. Die Strafkammer hat näher begründet rechtsfehlerfrei festgestellt, dass der<br />

Angeklagte wuchtig <strong>und</strong> gezielt jedenfalls in den „Brustbereich“ gestochen hat. Ein solcher Stich ist, wie auch die<br />

Strafkammer näher ausführt, eine äußerst gefährliche Gewalthandlung, die regelmäßig für Tötungsvorsatz spricht.<br />

Eine Stelle im vorderen Bereich des Oberkörpers, die den Tötungsvorsatz deshalb in Frage stellte, weil ein wuchtiger<br />

Stich gerade hierhin zielte, ist kaum vorstellbar (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 2006 - 1 StR 307/06), bei einem<br />

Stich in den Brustbereich ist dies jedenfalls nicht der Fall.<br />

b) Auch sonst ist die nicht zuletzt auch auf den äußeren Geschehensablauf gestützte Annahme eines Tötungsvorsatzes<br />

rechtsfehlerfrei (vgl. auch BGH, Urteil vom 11. Dezember 2001 - 1 StR 408/01, NStZ 2002, 541 f.; hierzu<br />

Schneider in MüKomm-<strong>StGB</strong>, § 212 Rn. 9 jew. mwN). Die Annahme, dass die Aufforderungen des Angeklagten<br />

gegenüber C., Cu. <strong>und</strong> F., ihn zu begleiten bzw. (später), sich um den Verletzten zu kümmern, zwar gegen eine von<br />

langer Hand geplante Tat, aber nicht gegen einen spontanen Tatentschluss sprächen, ist nicht zu beanstanden. Auch<br />

die festgestellte „affektive Erregung“ des Angeklagten bei der Tat spricht nicht gegen einen Tötungsvorsatz, da eine<br />

gewisse affektive Erregung bei einem tödlichen Angriff normal ist (vgl. BGH, Urteil vom 16. August 2006 - 2 StR<br />

284/06). Außerdem ist rechtsfehlerfrei - auch die Revision macht insoweit nichts anderes geltend - die uneingeschränkte<br />

Schuldfähigkeit des Angeklagten festgestellt. Dies spricht regelmäßig für eine realistische Wahrnehmung<br />

des Bedeutungsgehalts der Tat (vgl. BGH, Beschluss vom 24. November 2009 - 1 StR 520/09 Rn. 18 mwN), zumal<br />

hier die Bewertung eines wuchtigen Stichs in den Brustbereich keine komplizierten Überlegungen erfordert. Auch<br />

die planmäßige Spurenbeseitigung alsbald nach der Tat spricht gegen eine ungewöhnliche psychische Ausnahmesituation<br />

bei der Tat, die unter irgendeinem Gesichtspunkt eine breitere Erörterung des Vorsatzes gebieten könnte.<br />

3. Ebenso wenig wie der Schuldspruch enthält der Strafausspruch einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten.<br />

4. Die Staatsanwaltschaft erstrebt eine Verurteilung wegen heimtückisch begangenen Mordes. Ein Rechtsfehler liegt<br />

jedoch nicht vor.<br />

a) Heimtücke ist verneint, weil der Angeklagte im Rahmen der vorangegangenen Auseinandersetzung K. das Messer<br />

gezeigt <strong>und</strong> ihn von vorne ins Herz gestochen habe. Dies folgt den Angaben des Angeklagten, die insoweit von den<br />

maximal 50 m entfernten Begleitern bestätigt werden, als sie angeben, die tätliche Auseinandersetzung nicht gesehen,<br />

aber entsprechende Geräusche gehört zu haben. Auch hatte der Angeklagte bei seiner Festnahme kleinere Verletzungen,<br />

die auf die Auseinandersetzung zurückgehen können.<br />

b) Die Staatsanwaltschaft hält insbesondere die tätliche Auseinandersetzung nicht für bewiesen.<br />

(1) Mangels näherer Ausführungen dazu, was die Zeugen gehört haben, sei nicht überprüfbar, was mit „Geräuschen“<br />

gemeint sei. Ein gängiger Begriff verdeutlicht aber auch ohne weitere Umschreibung, was gemeint ist. Es ist nicht<br />

ersichtlich, dass der Strafkammer unbekannt sei, welche Geräusche bei einer tätlichen Auseinandersetzung entstehen.<br />

(2) Im Übrigen seien nur Schlussfolgerungen rechtsfehlerfrei, die „zwingend“ aus den Feststellungen folgten. Dem<br />

entsprechend ist eine Reihe - teilweise untereinander unvereinbarer, teilweise nur abstrakter - Möglichkeiten aufgezählt,<br />

die im Ergebnis deshalb erörterungsbedürftig seien, weil sie denkgesetzlich nicht ausschließbar sind, z.B.<br />

- die Geräusche könnten an (irgend)einem anderen Ort entstanden sein;<br />

- selbst wenn sie aus dem Hof stammten, könnten sie (irgend)eine andere Ursache gehabt haben;<br />

- es spräche gegen eine Auseinandersetzung, wenn K. keine hierauf hindeutenden Verletzungen gehabt hätte;<br />

- die Verletzungen des Angeklagten könnten auch durch ihn selbst oder durch die Polizei bei seiner Verhaftung im<br />

Schrank verursacht worden sein.<br />

Bei alledem ist verkannt, dass richterliche Überzeugung keine absolute, das Gegenteil zwingend ausschließende,<br />

letztlich mathematische Gewissheit erfordert (st. Rspr.; vgl. z.B. BGH, Urteile vom 4. Dezember 2008 - 1 StR<br />

327/08 <strong>und</strong> 7. November 2006 - 1 StR 307/06 mwN). Allein die Denkbarkeit eines Geschehensablaufs, für den die<br />

Urteilsgründe keine Anhaltspunkte bieten, führt daher nicht dazu, dass er zu Gunsten (BGH aaO) oder gar zu Lasten<br />

70


des Angeklagten zu unterstellen oder auch nur erörterungsbedürftig wäre (st. Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom<br />

23. August 2011 - 1 StR 153/11 mwN). Aufklärungsrügen zum Beleg der genannten Vermutungen sind nicht erhoben.<br />

c) Im Übrigen ist kaum erkennbar, was hier - Streit; der tödliche Stich mit dem zuvor gezeigten Messer erfolgte von<br />

vorne; auch K. hatte ein Messer - noch tragfähig (innerpsychische) Arg- <strong>und</strong> darauf beruhend Wehrlosigkeit des<br />

Verstorbenen belegen könnte (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2003 - 1 StR 507/02, NStZ-RR 2003, 186, 188; BGH,<br />

Urteil vom 13. November 1985 - 3 StR 273/85, BGHSt 33, 363, 365).<br />

d) Auch sonst sind weder zum Schuldspruch noch zum Strafausspruch den Angeklagten begünstigende Rechtsfehler<br />

ersichtlich.<br />

5. Die Staatsanwaltschaft hält die Unterbringungsanordnung mangels Erfolgsaussichten für rechtsfehlerhaft, der<br />

Angeklagte wendet sich gegen die Dauer des vorweg zu vollziehenden <strong>Teil</strong>s der Strafe. Im Ergebnis wird von beiden<br />

Revisionen übereinstimmend die Unterbringungsanordnung insgesamt angefochten, da sie sich beide gegen den<br />

Schuldspruch richten. Führten die behaupteten Mängel des Schuldspruchs zu Aufhebung <strong>und</strong> Zurückverweisung,<br />

entfiele auch eine Unterbringung. Sie könnte nicht allein auf der Gr<strong>und</strong>lage einer Prognose des Senats Bestand haben,<br />

auch nach erneuter Verhandlung über den Schuldspruch werde diese Maßregel wieder geboten sein (BGH,<br />

Urteil vom 13. Juni 1995 - 1 StR 268/95 zu § 63 <strong>StGB</strong>). Hier haben sich allerdings weder zu Gunsten noch zu Lasten<br />

des Angeklagten Rechtsfehler im Schuld- oder Strafausspruch ergeben.<br />

a) Daraus folgt hinsichtlich der Revision der Staatsanwaltschaft: Eine Unterbringung gemäß § 64 <strong>StGB</strong> beschwert<br />

den Angeklagten (BGH, Urteil vom 21. März 1979 - 2 StR 743/78, BGHSt 28, 327, 331; v. Gemmeren in<br />

MüKomm-<strong>StGB</strong>, § 64 Rn. 101; vgl. auch § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO). Der Senat hatte daher - unbeschadet § 301<br />

StPO - zu prüfen, ob die Staatsanwaltschaft den Wegfall der Unterbringung nur als notwendige Folge der von ihr<br />

wegen (behaupteter) Fehlerhaftigkeit des Schuldspruchs zum Nachteil des Angeklagten angestrebten Urteilsaufhebung<br />

ansieht oder ob sie den Wegfall unabhängig vom Bestand des Schuldspruchs auf jeden Fall anstrebt. Insoweit<br />

läge eine gemäß § 296 Abs. 2 StPO zulässige Revision der Staatsanwaltschaft zu Gunsten des Angeklagten vor. Eine<br />

Revision der Staatsanwaltschaft kann hinsichtlich des Schuldspruchs einerseits <strong>und</strong> einer Maßregel andererseits von<br />

unterschiedlicher Zielrichtung sein, auch wenn hier die den Angeklagten begünstigende Anfechtung der Unterbringung<br />

nur bei Erfolglosigkeit der zu seinem Nachteil zum Schuldspruch eingelegten Revision eigenständige Bedeutung<br />

hat. Die Staatsanwaltschaft hat sich zu alledem entgegen Nr. 147 Abs. 1 Satz 3 RiStBV nicht geäußert (vgl.<br />

auch Hanack in LR-StPO, 25. Aufl., § 296 Rn. 10). Die Aufgabe des Senats, das Ziel des Rechtsmittels durch Auslegung<br />

der Rechtsmittelerklärungen zu ermitteln, ist davon jedoch unberührt (vgl. Hanack aaO; Meyer-Goßner, StPO,<br />

54. Aufl., § 296 Rn. 14 jew. mwN). Diese ergibt hier angesichts der eingehenden Darlegung, warum die Unterbringung<br />

aus vom Schuldspruch unabhängigen Gründen fehlerhaft sei, dass die Staatsanwaltschaft die Unterbringung<br />

auch unabhängig vom Ergebnis ihrer Revision hinsichtlich des Schuldspruchs auf jeden Fall anfechten will.<br />

b) Aus den dargelegten Gründen kann auch eine gegen den Schuldspruch gerichtete Revision des Angeklagten eine<br />

zugleich angeordnete Unterbringung nicht vom Rechtsmittelangriff ausnehmen. Daher kann offen bleiben, ob hier<br />

die Revision, die im Ergebnis geltend macht, die Unterbringung müsse früher beginnen, hinsichtlich der Maßregel<br />

auf die Dauer des Vorwegvollzugs beschränkt sein soll; dies wäre wegen der gleichzeitigen Anfechtung des Schuldspruchs<br />

unwirksam.<br />

6. Die Unterbringungsanordnung kann nicht bestehen bleiben.<br />

a) Schon die Feststellungen zu einem Hang sind nicht klar. Der Angeklagte konsumiert seit Jahren Heroin <strong>und</strong> Haschisch.<br />

Wie seine näher geschilderten zahlreichen Vorstrafen belegen, geriet er immer mehr „in den Teufelskreis<br />

von Drogen <strong>und</strong> Beschaffungskriminalität“, während etliche Therapieversuche erfolglos blieben. Die Strafkammer<br />

geht jedoch nicht davon aus, dass die Tat auf einem Hang zu Drogenmissbrauch beruht, sondern auf einem Hang zu<br />

übermäßigem Alkoholkonsum. Hierzu ergeben die Feststellungen zu Vorleben <strong>und</strong> Vorstrafen jedoch nichts. Mitgeteilt<br />

ist lediglich, dass der Sachverständige den Angeklagten für „trinkgewohnt“ hält, ohne dass die tatsächlichen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen dieser Bewertung erkennbar wären. Freilich treten Alkoholmissbrauch <strong>und</strong> Drogenmissbrauch nicht<br />

selten gleichzeitig auf (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juni 2007 - 3 StR 194/07; Schöch in LK-<strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 64<br />

Rn. 80; Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 64 Rn. 7a mwN). Es ist jedoch fraglich, ob allein die unausgeführte Annahme,<br />

ein Drogenkonsument sei trinkgewohnt, einen Hang zu Alkoholmissbrauch tragfähig belegt.<br />

b) Selbst wenn man aber von einem solchen Hang ausginge, fehlte es an den weiteren Voraussetzungen des § 64<br />

<strong>StGB</strong>. Erforderlich wäre, dass die rechtswidrige Tat entweder im Rausch begangen ist oder auf den Hang zurückgeht,<br />

wobei die erste dieser Alternativen ein Unterfall der zweiten Alternative ist (BGH, Urteil vom 18. Februar 1997<br />

- 1 StR 693/96 mwN).<br />

71


(1) „Im Rausch“ bedeutet, dass die Tat während des für das jeweilige Rauschmittel typischen, die geistigpsychischen<br />

Fähigkeiten beeinträchtigenden Intoxikationszustands begangen sein muss (Schöch in SSW-<strong>StGB</strong>, § 64<br />

Rn. 26). Wie viel Alkohol der Angeklagte getrunken hatte, bevor K. kam, war nicht feststellbar, Spuren einer „deutlichen<br />

Intoxikation“ gibt es nicht. Weder ein Zeuge, noch der Angeklagte selbst hat von „erheblicher Alkoholisierung“<br />

berichtet, bei seiner Festnahme wirkte er „in keiner Weise alkoholisiert oder drogenbeeinflusst“, eine nachfolgende<br />

Untersuchung ergab keine Hinweise auf Restalkohol. Auch die Feststellungen zur Tat einschließlich Vor- <strong>und</strong><br />

Nachtatgeschehen zeigen, so die Strafkammer, „schlüssige <strong>und</strong> sinnvolle Handlungsabläufe“. Nach alledem spricht<br />

nichts dafür, dass die Tat i.S.d. § 64 <strong>StGB</strong> im Rausch begangen wurde, der Zweifelssatz gilt insoweit nicht (v. Gemmeren<br />

aaO Rn. 36 mwN).<br />

(2) Auch Anhaltspunkte dafür, dass die Tat, obwohl nicht im Rausch begangen, doch auf einen (etwaigen) Hang zum<br />

Alkohol- oder auch Drogenmissbrauch zurückginge, bestehen nicht. Dies setzte voraus, dass sie Symptomwert für<br />

den Hang hat, indem sich in ihr die hangbedingte Gefährlichkeit des Täters äußert. Typisch sind hierfür Delikte, die<br />

begangen werden, um Rauschmittel selbst oder Geld für ihre Beschaffung zu erlangen (BGH, Urteil vom 18. Februar<br />

1997 - 1 StR 693/96 mwN). Darum geht es hier nicht. Andere Delikte kommen als Hangtaten dann in Betracht, wenn<br />

hierfür besondere Anhaltspunkte bestehen (BGH aaO). Bei Konflikttaten <strong>und</strong> (oder) Taten, denen eine Provokation<br />

des Täters durch das Opfer vorausging, liegt die Annahme eines Zusammenhangs mit einem Hang zum Missbrauch<br />

berauschender Mittel wenig nahe (v. Gemmeren aaO Rn. 37; vgl. auch Schöch in SSW-<strong>StGB</strong>, § 64 Rn. 27). Anhaltspunkte,<br />

dass hier bei einer spontanen Gewalttat aus Ärger über Vorhalte eines Außenstehenden wegen der Beziehung<br />

zu einer Frau, nahe liegend in Verbindung mit dem Gefühl (wegen des nur kleinen Messers) verspottet <strong>und</strong> nicht<br />

ernst genommen zu werden, ausnahmsweise ein solcher Zusammenhang möglich sein könnte, sind nicht ersichtlich.<br />

Der wenig klare Hinweis der Strafkammer, trotz nicht erkennbarer besonderer Alkoholisierung beruhe die Tat wegen<br />

der Enthemmung des Angeklagten auf seinem Hang zu Alkoholmissbrauch, ändert daran nichts.<br />

c) Selbst wenn noch Feststellungen hinsichtlich eines generellen Hanges (auch) zu Alkoholmissbrauch möglich sein<br />

sollten, hält es der Senat für sicher ausgeschlossen, dass noch Feststellungen zu einem Rausch bei der Tat oder einem<br />

symptomatischen Zusammenhang zwischen der Tat <strong>und</strong> einem Hang zu Alkohol- oder auch Rauschgiftmissbrauch<br />

möglich sind. Daher erkennt er entsprechend § 354 Abs. 1 StPO auf Wegfall der Unterbringungsanordnung (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 15. April 2008 - 1 StR 167/08 mwN). Auf die für sich genommen zutreffenden Hinweise der<br />

Revisionen <strong>und</strong> des Generalb<strong>und</strong>esanwalts auf rechtliche Bedenken gegen die Annahme der Strafkammer, die gegenwärtigen<br />

Zweifel am Erfolg einer Unterbringung könnten nach Ablauf des (mit § 67 Abs. 2 <strong>StGB</strong> nicht zu vereinbarenden)<br />

Vorwegvollzuges von zehn Jahren Freiheitsstrafe ausgeräumt sein, kommt es daher nicht mehr an.<br />

7. Der Senat hat geprüft, ob der Wegfall der Unterbringung den Bestand des für sich genommen rechtsfehlerfreien<br />

Strafausspruchs (vgl. oben 3, 4d) gefährdet. Dies wäre der Fall, wenn ein Einfluss der Maßregel auf die Strafhöhe<br />

möglich erschiene. Gr<strong>und</strong>sätzlich besteht entsprechend der „Zweispurigkeit“ von Strafe <strong>und</strong> Maßregel zwischen<br />

beiden Rechtsfolgen keine Wechselwirkung, sie sollen unabhängig voneinander bemessen bzw. verhängt werden<br />

(BGH, Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362, 365 mwN). Freilich sind die für Strafe <strong>und</strong> Unterbringungsanordnung<br />

wesentlichen Gesichtspunkte nicht stets streng voneinander zu trennen, z.B. kann ein Rausch<br />

auf die Bestimmung des Maßes der Schuld Einfluss haben <strong>und</strong>, sofern er hangbedingt ist, zugleich Gr<strong>und</strong>lage einer<br />

Unterbringung sein. Derartige Zusammenhänge können nicht nur je nach den Umständen des Einzelfalles für die<br />

(vorliegend wegen umfassender Anfechtung des Urteils auch im Schuldspruch nicht einschlägige) Frage der weiteren<br />

Beschränkbarkeit eines nicht gegen den Schuldspruch gerichteten Rechtsmittels im Zusammenhang mit der Unterbringungsanordnung<br />

bedeutsam sein (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 15. Juni 2011 - 2 StR 140/11; BGH, Urteil vom<br />

7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362; BGH, Beschluss vom 14. Juli 1993 - 2 StR 352/93, BGHR StPO §<br />

344 Abs. 1 Beschränkung 6), sondern auch im Blick auf eine die Unterbringung betreffende Entscheidung auf den<br />

Bestand des Strafausspruches Einfluss haben (vgl. BGH aaO; BGH, Urteil vom 24. Juni 2003 - 1 StR 25/03, NStZ<br />

2004, 111). Voraussetzung hierfür ist aber stets, dass die Urteilsgründe - auf diese kommt es an - konkrete Anhaltspunkte<br />

für eine mögliche Wechselwirkung zwischen der Entscheidung über die Höhe der Strafe <strong>und</strong> der Maßregel<br />

enthalten. Dies ist hier in keiner Richtung der Fall.<br />

8. Die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen<br />

Auslagen waren der Staatskasse aufzuerlegen, auch soweit sie im Ergebnis zu Gunsten des Angeklagten erfolgreich<br />

war (vgl. zu den Kosten Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 473 Rn. 16 mwN); hinsichtlich der insoweit entstandenen<br />

notwendigen Auslagen des Angeklagten ergibt sich dies aus § 473 Abs. 2 Satz 2 StPO. Die Kosten seiner Revision<br />

<strong>und</strong> die ihm dadurch entstandenen notwendigen Auslagen hat der Senat insgesamt dem Angeklagten auferlegt, § 473<br />

Abs. 4 StPO. Nichts spricht dafür, dass er keine Revision eingelegt hätte, wenn seine Unterbringung gemäß § 64<br />

<strong>StGB</strong> nicht angeordnet worden wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 6. November 2003 - 1 StR 451/03 mwN).<br />

72


<strong>StGB</strong> § 66 - Hang<br />

BGH, Urt. v. 07.07.2011 - 2 StR 184/11 - NStZ 2012, 32<br />

Zum Begriff des "Hangs" im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong>.<br />

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Mainz vom 5. November 2010 wird als unbegründet<br />

verworfen. Die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse<br />

zur Last.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten in einem ersten Urteil wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung zu<br />

einer Freiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Aufgr<strong>und</strong> einer auf die Nichtanordnung der Unterbringung<br />

des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung beschränkten Revision der Staatsanwaltschaft hat der<br />

Senat dieses Urteil aufgehoben, soweit von der Anordnung der Maßregel abgesehen wurde. Mit dem angefochtenen<br />

Urteil hat das Landgericht erneut ausgesprochen, dass der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der Maßregel<br />

zurückgewiesen wird. Hiergegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, die auf eine Verfahrensrüge<br />

sowie die Sachbeschwerde gestützt ist. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.<br />

I. Nach den bindend gewordenen Feststellungen zur Anlasstat hatte der frühere Mitangeklagte T. von dem Geschädigten<br />

S. die Zahlung von 5.000 Euro als „Strafe“ dafür gefordert, dass dieser Wohnungen, welche die Lebensgefährtin<br />

des T. angemietet hatte, um sie Prostituierten als „Terminwohnungen“ anzubieten, Dritten gegenüber als<br />

unrentabel bezeichnet hatte. Der Zahlungsforderung hatte T. mit der Bemerkung Nachdruck verliehen, dass er S.<br />

„mit dem Schädel an die Wand schlagen“ werde, „dass das Blut spritzt“. Am 17. August 2008 sollte die Geldübergabe<br />

erfolgen. Der vielfach vorbestrafte Angeklagte begleitete T. zur Gaststätte von S. , wobei er zwei Taschenmesser<br />

<strong>und</strong> einen Teleskopschlagstock mit sich führte <strong>und</strong> eine Weste mit dem Emblem des Motorradclubs Hell´s Angels<br />

trug. Spätestens auf dem Weg zu der Gaststätte erfuhr der Angeklagte von der unberechtigten Zahlungsforderung<br />

<strong>und</strong> der Drohung durch T. gegenüber S.. Bei der polizeilich überwachten Geldübergabe wurden T. <strong>und</strong> der Angeklagte<br />

verhaftet. Das Landgericht hat festgestellt, dass die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung<br />

des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung vorliegen. Es hat jedoch ausgeführt, es könne nicht feststellen,<br />

dass der Angeklagte im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> in der zum Urteilszeitpunkt geltenden Fassung infolge<br />

eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich<br />

schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich<br />

ist. Dabei ist das Gericht den Ausführungen der Sachverständigen Dr. K. gefolgt. Danach liege bei dem Angeklagten<br />

zwar eine akzentuierte Persönlichkeit mit dissozialen Zügen vor, die aber nicht als dissoziale Persönlichkeitsstörung<br />

einzustufen sei <strong>und</strong> auch keine Psychopathie nach dem Konzept von Hare darstelle. In der Haft wegen früherer Straftaten<br />

habe er mit Erfolg ein Antiaggressionstraining absolviert. Es sei auch eine Nachreifung der Persönlichkeit eingetreten.<br />

Früher unter Alkohol- oder Drogeneinfluss begangene aggressive Durchbrüche spielten nun keine Rolle<br />

mehr. Der Angeklagte habe erkannt, dass seine früheren Körperverletzungstaten im Kneipenmilieu sinnlos gewesen<br />

seien <strong>und</strong> bereue nun die Verletzung der Opfer. Jüngere Betäubungsmitteldelikte des Angeklagten seien von anderer<br />

Bedeutung als die vorher begangenen Gewaltdelikte, die nun nicht mehr zu erwarten seien. Anders zu bewerten seien<br />

geplante Taten im kriminellen Milieu. Insoweit sei dem Angeklagten zwar eine Problematik bewusst, aber er distanziere<br />

sich bisher nicht von dem Motorradclub. Immerhin sei aber eine Veränderung in seinem Verhalten auch während<br />

der Haft zu verzeichnen. Er habe einen stabilen Familiensinn <strong>und</strong> zeige eine darauf bezogene Lebensführung.<br />

Insgesamt könne nicht von einer persönlichkeitsgeb<strong>und</strong>enen Bereitschaft zur Begehung von erheblichen Straftaten<br />

ausgegangen werden. Die versuchte schwere räuberische Erpressung sei ein Vermögensdelikt, die auch durch die<br />

bloße Drohung mit Gewalt begangen werden könne, ohne dass es zu einer Gewaltanwendung <strong>und</strong> der Verletzung<br />

von Opfern kommen müsse. Hintergr<strong>und</strong> dieser Tat <strong>und</strong> der vorangegangenen, auf Gewinnerzielung gerichteten<br />

Betäubungsmitteldelikte seien Schulden des Angeklagten gewesen. Der früher auch vorhandene übermäßige Alkohol-<br />

<strong>und</strong> Drogenkonsum spiele keine Rolle mehr.<br />

II. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen dieses Urteil ist unbegründet.<br />

1. Die Verfahrensrüge hat keinen Erfolg. Ihr liegt zu Gr<strong>und</strong>e, dass die Staatsanwaltschaft den Hilfsbeweisantrag<br />

gestellt hatte, zum Beweis der Tatsache, dass der Angeklagte sich nach der letzten Haftentlassung weiterhin in einem<br />

kriminellen Umfeld bewege, in dem die Begehung von Gewalttaten zum Selbstverständnis der Gruppe gehöre, die<br />

Vernehmung des für Rockerkriminalität zuständigen Kriminaloberkommissars als Zeuge durchzuführen. Das Landgericht<br />

hat den Beweisantrag im Urteil mit Hinweis darauf abgelehnt, dass die Strafkammer von derselben Tatsa-<br />

73


cheneinschätzung ausgehe <strong>und</strong> der Bef<strong>und</strong> offenk<strong>und</strong>ig sei. Die Beschwerdeführerin hält dies für rechtsfehlerhaft,<br />

nachdem die vernommenen Sachverständigen milieubedingte Straftaten des Angeklagten wegen der Zugehörigkeit<br />

zu den Hell´s Angels für wahrscheinlich erachtet hatten. Die Rüge ist unbegründet. Die Annahme von Allgemeink<strong>und</strong>igkeit<br />

der behaupteten Tatsache ist rechtlich unbedenklich. Eine Verkennung der Zielrichtung des Antrags der<br />

Staatsanwaltschaft liegt nicht vor. Das Landgericht hat nicht übersehen, dass „die Begehung von Gewalttaten zum<br />

Selbstverständnis“ des Motorradclubs Hell´s Angels gehört <strong>und</strong> die Zugehörigkeit des Angeklagten zu diesem Umfeld<br />

ein Risikofaktor für die künftige Begehung von Straftaten durch den Angeklagten ist. Das Landgericht ist demnach<br />

von denselben Tatsachen ausgegangen wie die Beschwerdeführerin; es hat sie nur anders bewertet.<br />

2. Die Sachrüge ist ebenfalls unbegründet.<br />

a) Dabei ist zu berücksichtigen, dass § 66 <strong>StGB</strong> nach dem Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 5. April 2011 -<br />

2 BvR 2333/08, 2 BvR 2365/09, 2 BvR 571/10, 2 BvR 740/10, 2 BvR 1152/10 - (NJW 2011, 1931 ff.) verfassungswidrig<br />

ist. Er gilt vorläufig bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013 weiter.<br />

Während der Dauer seiner Weitergeltung muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung<br />

in ihrer derzeitigen Ausgestaltung um einen verfassungswidrigen Eingriff in das Freiheitsrecht<br />

handelt. Der hohe Wert dieses Gr<strong>und</strong>rechts beschränkt das übergangsweise zulässige Eingriffsspektrum. Danach<br />

dürfen Eingriffe nur soweit reichen, wie sie unerlässlich sind, um die Ordnung des betroffenen Lebensbereichs aufrechtzuerhalten.<br />

Die Sicherungsverwahrung darf nur nach Maßgabe einer besonderen Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

angewandt werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose <strong>und</strong> die gefährdeten<br />

Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz bei einer Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

nur gewahrt sein, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der<br />

Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Insoweit gilt in der Übergangszeit ein strengerer Verhältnismäßigkeitsmaßstab<br />

als bisher (vgl. BGH, Urteil vom 7. Juli 2011 - 5 StR 192/11).<br />

b) Jedenfalls nach diesem Maßstab ist es ausgeschlossen, dass das angefochtene Urteil auf einem Rechtsfehler beruht.<br />

Gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> a.F. muss die Gesamtwürdigung des Täters <strong>und</strong> seiner Taten ergeben, dass er<br />

infolge eines Hangs zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich<br />

schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich<br />

ist. Dies wäre bei einer Gefahr der Wiederholung solcher Körperverletzungstaten, wie sie der Angeklagte in<br />

der Vergangenheit mit schweren Verletzungsfolgen für die Opfer begangen hatte, der Fall, sofern ein Hang zu derartigen<br />

Taten noch als gegenwärtiger Zustand festzustellen wäre (vgl. BGHSt 50, 188, 196). Insoweit hat das Landgericht<br />

aber im Einklang mit den Ausführungen der Sachverständigen ausgeführt, solche Körperverletzungen infolge<br />

impulsiver Durchbrüche <strong>und</strong> vor dem Hintergr<strong>und</strong> eines damaligen Substanzmissbrauchs seien nicht mehr zu erwarten.<br />

Rechtlich bedenklich kann die weitere Überlegung des Landgerichts erscheinen, dass die nach dem Jahr 1998<br />

begangenen Taten des Angeklagten nicht mehr auf aggressive Impulsdurchbrüche zurückzuführen seien, sondern<br />

dabei handele es sich um „Straftaten, zu denen sich der Angeklagte bewusst entschlossen“ habe. Dies stünde der<br />

Annahme eines Hangs nicht entgegen; gerade vorausgeplante Taten können auf einen Hang zurückzuführen sein.<br />

Das Landgericht hat jedoch bei seiner Überlegung zugleich einen Bezug zu Art <strong>und</strong> Schwere der Delikte, die vom<br />

Angeklagten wahrscheinlich in Zukunft zu erwarten sind, dahin hergestellt, die „Integration in die kriminelle Subkultur“<br />

ergebe noch keine „fest verwurzelte Neigung“ des Angeklagten, „sich auf `kriminelle Weise´ Geld oder andere<br />

Wertgegenstände zumeist mittels Gewaltanwendung oder Drohung zu verschaffen“. Dagegen ist rechtlich nichts zu<br />

erinnern. Die Straftaten, für deren künftige Begehung durch den Angeklagten nach Ansicht des Landgerichts ein<br />

Hang <strong>und</strong> eine Wahrscheinlichkeit besteht, besitzen nicht die erforderliche Erheblichkeit zur Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

nach dem Übergangsrecht; für schwerere Delikte besteht hingegen keine hinreichende Wahrscheinlichkeit.<br />

Der Hang im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> muss sich auf „erhebliche“ Straftaten beziehen (Fischer,<br />

<strong>StGB</strong> 58. Aufl. § 66 Rn. 30; LK/Rissing-van Saan <strong>StGB</strong> 12. Aufl. § 66 Rn. 143 ff.; Stree/Kinzig in Schönke/Schröder<br />

<strong>StGB</strong> 28. Aufl. § 66 Rn. 29). Was darunter zu verstehen sein soll, ist im Gesetzestext nicht nach Deliktsgruppen<br />

bestimmt. Insbesondere ist dies auch dadurch geschehen, dass unter den erheblichen Straftaten „namentlich“<br />

solche zu verstehen seien, „durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden<br />

oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird“ (vgl. BGHSt 24, 153, 154). Während nach der anfänglichen<br />

Fassung des Gesetzes die Anordnung der Sicherungsverwahrung auch bei Tätern in Betracht gekommen war,<br />

von denen vorwiegend kleinere Diebstähle oder Betrügereien zu erwarten waren, sollte nach der Neufassung die<br />

Maßregelanordnung bei Tätern, die zu derartigen <strong>und</strong> zu ähnlichen Taten neigen, welche die öffentliche Sicherheit<br />

nicht schwerwiegend stören, vermieden werden. Im Rahmen der jüngeren Reformen (vgl. dazu Boetticher in: Festschrift<br />

für Widmaier, 2008, S. 871, 881 ff.; Schöch in: Festschrift für Roxin, 2011, Bd. 2, S. 1193, 1196 ff.) wurde<br />

der Charakter der Sicherungsverwahrung als „letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik“ (BT-Drucks. V/4094 S. 19)<br />

74


zur Verhinderung besonders schwerer Kriminalität weiter betont. Dies gilt für die nach dem Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

vom 5. April 2011 bestehende Rechtslage in der Übergangszeit erst recht. Demgemäß darf ein Täter,<br />

dessen Hang sich nur auf die Begehung von Straftaten der leichten oder allenfalls mittleren Kriminalität richtet, nicht<br />

in Sicherungsverwahrung genommen werden. Die Annahme, ein Angeklagter sei ein Hangtäter, setzt allerdings nicht<br />

voraus, dass die Straftaten, aus denen diese Eigenschaft abgeleitet wird, gleichartig sind oder sich gegen dasselbe<br />

Rechtsgut richten. Es ist andererseits selbstverständlich, dass bei Straftaten verschiedener Art der Nachweis ihrer für<br />

einen kriminellen Hang <strong>und</strong> für die Gefährlichkeit des Täters kennzeichnenden Bedeutung einer besonders sorgfältigen<br />

Begründung bedarf (vgl. BGHSt 16, 296, 297; BGHR <strong>StGB</strong> § 66 Abs. 1 Hang 10). Diese hat das Landgericht<br />

abgegeben. Hierbei hat es die für einen Hang des Angeklagten sprechenden Umstände durchaus gesehen, aber im<br />

Einzelnen dargelegt, weshalb es ein dauerhaft stabiles Verhaltensmuster nicht annehmen kann. Betäubungsmitteldelikte,<br />

deren künftige Begehung durch den Angeklagten im Umfeld der Hell´s Angels möglich erscheinen, sind nach<br />

dem im Sinne der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts zu § 66 <strong>StGB</strong> geltenden Maßstab kein<br />

ausreichender Gr<strong>und</strong> zu der Annahme, der Angeklagte habe einen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten. Durch<br />

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, auch in nicht geringer Menge, wird zwar das Rechtsgut der Volksges<strong>und</strong>heit<br />

verletzt oder gefährdet (vgl. BGHSt 38, 339, 342 f.). Das reicht aber, soweit jedenfalls keine besonderen Umstände<br />

hinzutreten, die den Betäubungsmittelhandel für Leib oder Leben Anderer im Einzelfall konkret gefährlich erscheinen<br />

lassen, nach dem derzeit geltenden Verhältnismäßigkeitsmaßstab nicht zur Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

aus. Gleiches gilt erst recht für ein Fahren ohne Fahrerlaubnis durch den Angeklagten mit seinem Motorrad.<br />

Zwar hat der Angeklagte einen Hang hierzu, jedoch wiegt ein solches Vergehen schon nach bisherigem Recht nicht<br />

schwer genug (vgl. BGHSt 19, 98, 99). Das Landgericht hat schließlich nicht übersehen, dass es sich bei der versuchten<br />

schweren räuberischen Erpressung um ein Vermögensdelikt mit einer Droh- <strong>und</strong> Gewaltkomponente handelte.<br />

Weil diese Tat jedoch von dem Angeklagten nur im Sinne einer sukzessiven Mittäterschaft aufgr<strong>und</strong> eines spontanen<br />

Entschlusses zur Mitwirkung an der von dem Mittäter T. bereits begonnenen Tat gefördert wurde <strong>und</strong> es nicht zu<br />

einer Gewaltanwendung gekommen ist, begegnet es keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, diese Tat nicht<br />

als ausreichendes Symptom für einen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten anzusehen. Dafür war es nach Ansicht<br />

des Landgerichts von Bedeutung, dass eine räuberische Erpressung auch mit einer bloßen Drohung begangen<br />

werden kann. Einen Symptomcharakter der Tat für ein hangbedingtes Raubdelikt, das mit einer Anwendung von<br />

Gewalt mit schweren Verletzungsfolgen für die Opfer verb<strong>und</strong>en ist, musste es aus der Anlasstat für die Maßregelprüfung<br />

nicht entnehmen. Auch im Übrigen ist es nicht zu beanstanden, dass das Landgericht die Mitgliedschaft zu<br />

dem Motorradclub Hell´s Angels den äußeren Umständen zugeordnet hat, bei denen es sich nicht um ein die Persönlichkeit<br />

des Angeklagten bestimmendes Element handele. Seiner „Integration in die kriminelle Subkultur“ ist nicht<br />

schon als solcher zu entnehmen, dass deshalb ein „Hang“ des Angeklagten zur Begehung schwerer Straftaten bestehe.<br />

Dies gilt jedenfalls dann, wenn nicht zugleich eine Neigung zur Tatbegehung dauerhaft oder sogar irreversibel<br />

(vgl. NK/Böllinger/Pollähne <strong>StGB</strong> 3. Aufl. § 66 Rn. 90) im Persönlichkeitsgefüge des Täters verankert ist. Eine<br />

solche Verankerung hat das Landgericht aber mit seinem Hinweis auf die festgestellten Veränderungen in der Persönlichkeit<br />

<strong>und</strong> im Verhalten des Angeklagten ausgeschlossen.<br />

<strong>StGB</strong> § 66, GVG § 74f Abs. 3; Dreierbesetzung bei Sicherungsverwahrung<br />

BGH, Beschl. v. 13.09.2011 - 5 StR 189/11 - StV 2012, 196 m. Anm. Ventzke<br />

1. Der mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung verb<strong>und</strong>ene besonders tiefe Eingriff in die<br />

Gr<strong>und</strong>rechte eines Angeklagten wird es in der Regel – im Gleichklang mit der gesetzlich zwingenden<br />

Besetzung der Schwurgerichtskammer mit drei Berufsrichtern <strong>und</strong> mit § 74f Abs. 3 GVG –<br />

angezeigt erscheinen lassen, bei Entscheidungen nach § 66 <strong>StGB</strong> von der Möglichkeit der Besetzungsreduktion<br />

abzusehen <strong>und</strong> wegen ihrer strukturellen Überlegenheit in einer Dreierbesetzung zu<br />

verhandeln.<br />

2. Auch bei einem erst später während der Hauptverhandlung erteilten rechtlichen Hinweis auf eine<br />

mögliche Unterbringung, ist die Rüge bei fehlendem Besetzungseinwand präkludiert, wenn die<br />

mögliche Anordnung der Sicherungsverwahrung angesichts der Vielzahl <strong>und</strong> Schwere der angeklagten<br />

Taten <strong>und</strong> ihrer Begehung zum Nachteil mehrerer Kinder für alle Verfahrensbeteiligten<br />

75


ungeachtet fehlender Ausführungen in der Anklageschrift <strong>und</strong> im Eröffnungsbeschluss ersichtlich<br />

auch nicht etwa fernliegend war.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 3. Januar 2011 nach § 349 Abs. 4<br />

StPO im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die weitergehende Revision wird nach<br />

§ 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong><br />

Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 13 Fällen sowie sexuellen<br />

Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen,<br />

zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es seine Unterbringung<br />

in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen <strong>und</strong><br />

materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg.<br />

1. In der Zeit von Ende 2000 bis Anfang 2010 nahm der Angeklagte an vier Kindern – zwei Jungen <strong>und</strong> zwei Mädchen<br />

– im Alter zwischen sechs <strong>und</strong> 13 Jahren, die in seinem Haushalt lebten <strong>und</strong> ihm zur Betreuung anvertraut waren,<br />

unterschiedlich intensive Sexualhandlungen vor. Das Landgericht hat die Voraussetzungen für eine Unterbringung<br />

des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 Satz 2 <strong>StGB</strong> aF angenommen. Die formellen<br />

Voraussetzungen der Vorschrift seien erfüllt, darüber hinaus weise der Angeklagte auch den notwendigen<br />

Hang zu erheblichen Straftaten auf, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden,<br />

weshalb er für die Allgemeinheit gefährlich sei.<br />

2. Die Revision des Angeklagten bleibt zum Schuld- <strong>und</strong> Strafausspruch ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

a) Das gilt auch für die Verfahrensrüge, die erkennende Jugendschutzkammer sei mit nur zwei Berufsrichtern nicht<br />

vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 76 Abs. 2 Satz 1 GVG, § 338 Nr. 1 StPO).<br />

aa) Die Staatsanwaltschaft hatte gegen den Beschwerdeführer zwei Anklagen wegen schweren sexuellen Missbrauchs<br />

von Kindern in insgesamt mehr als 100 Fällen zum Nachteil der vier Kinder erhoben. Beide Anklagen wurden<br />

durch die Jugendschutzkammer verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen; es wurden die<br />

reduzierte Gerichtsbesetzung nach § 76 Abs. 2 Satz 1 GVG angeordnet <strong>und</strong> zunächst sieben Hauptverhandlungstermine<br />

anberaumt. Ein Besetzungseinwand nach § 222b StPO wurde nicht erhoben. Weder Anklageschriften noch<br />

Eröffnungsbeschluss setzten sich mit einer möglichen Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung<br />

auseinander. Ein entsprechender rechtlicher Hinweis nach § 265 Abs. 2 StPO erging erst am siebten Hauptverhandlungstag,<br />

nachdem am vorherigen Verhandlungstag die Schlussvorträge gehalten worden waren, ohne jeweils auf<br />

eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung einzugehen, <strong>und</strong> dem Angeklagten das letzte Wort erteilt worden<br />

war. Die Strafkammer beraumte weitere fünf Hauptverhandlungstage an <strong>und</strong> bestellte einen Sachverständigen zur<br />

Exploration des Angeklagten.<br />

bb) Gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 GVG hat die große Strafkammer die Entscheidung, dass sie die Hauptverhandlung in<br />

reduzierter Besetzung durchführt, bei der Eröffnung des Hauptverfahrens zu treffen. Eine Besetzungsentscheidung<br />

kann gr<strong>und</strong>sätzlich nicht mehr geändert werden, wenn sie im Zeitpunkt ihres Erlasses gesetzesgemäß war; eine nachträglich<br />

eingetretene Änderung des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache ist deshalb regelmäßig nicht geeignet,<br />

eine der geänderten Verfahrenslage angepasste neue Besetzungsentscheidung zu veranlassen (vgl. BGH, Urteil vom<br />

23. Dezember 1998 – 3 StR 343/98, BGHSt 44, 328, 333, <strong>und</strong> Beschlüsse vom 14. August 2003 – 3 StR 199/03,<br />

NJW 2003, 3644, 3645, <strong>und</strong> vom 29. Januar 2009 – 3 StR 567/08, BGHSt 53, 169). Hierdurch wird – de lege lata<br />

auch im Einklang mit § 6a StPO – sichergestellt, dass Verfahrensbeteiligte nicht durch entsprechende Antragstellungen<br />

nach einer einmal gefassten Besetzungsentscheidung Einfluss auf die Schwierigkeit <strong>und</strong> den Umfang der Sache<br />

<strong>und</strong> damit auf die Bestimmung des gesetzlichen Richters nehmen können (vgl. BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998<br />

aaO). Nur ausnahmsweise kann der Gr<strong>und</strong>satz der Unabänderlichkeit der Besetzungsentscheidung durchbrochen<br />

werden. Solches regelt § 222b StPO bei einem begründeten Besetzungseinwand (vgl. dazu insbesondere BGH, Beschluss<br />

vom 29. Januar 2009 – 3 StR 567/08, BGHSt 53, 169) oder § 76 Abs. 2 Satz 2 GVG für Fälle der Zurückverweisung<br />

einer Sache durch das Revisionsgericht. Die Besetzungsentscheidung kann schließlich vom Gericht – vor<br />

Eintritt in die Hauptverhandlung – korrigiert werden, wenn sie nach dem Stand der Beschlussfassung sachlich gänzlich<br />

unvertretbar <strong>und</strong> damit objektiv willkürlich getroffen worden war (vgl. BGH, Beschluss vom 31. August 2010 –<br />

5 StR 159/10, BGHR GVG § 76 Abs. 2 Besetzungsbeschluss 8).<br />

cc) Das Revisionsvorbringen muss danach erfolglos bleiben. Zwar wird der mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

verb<strong>und</strong>ene besonders tiefe Eingriff in die Gr<strong>und</strong>rechte eines Angeklagten es in der Regel – im Gleichklang<br />

76


mit der gesetzlich zwingenden Besetzung der Schwurgerichtskammer mit drei Berufsrichtern <strong>und</strong> mit § 74f Abs. 3<br />

GVG – angezeigt erscheinen lassen, bei Entscheidungen nach § 66 <strong>StGB</strong> von der Möglichkeit der Besetzungsreduktion<br />

abzusehen <strong>und</strong> wegen ihrer strukturellen Überlegenheit in einer Dreierbesetzung zu verhandeln (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 7. Juli 2010 – 5 StR 555/09, BGHR GVG § 76 Abs. 2 Beurteilungsspielraum 4; Rieß in Festschrift<br />

Schöch [2010], S. 895, 912; Heß/Wenske, DRiZ 2010, 262, 268 <strong>und</strong> ferner Begründung zu Artikel 1 Ziffer 4 des<br />

Entwurfs eines Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- <strong>und</strong> Jugendkammern in der Hauptverhandlung vom 5.<br />

September 2011, BT-Drucks. 17/6905). Die Rüge bleibt hier aber wegen des fehlenden Besetzungseinwands nach §<br />

222b StPO präkludiert. Die mögliche Anordnung der Sicherungsverwahrung war angesichts der Vielzahl <strong>und</strong><br />

Schwere der angeklagten Taten <strong>und</strong> ihrer Begehung zum Nachteil mehrerer Kinder für alle Verfahrensbeteiligten<br />

ungeachtet fehlender Ausführungen in der Anklageschrift <strong>und</strong> im Eröffnungsbeschluss ersichtlich auch nicht etwa<br />

fernliegend; neue Vorwürfe, etwa im Wege einer weiteren Verfahrensverbindung, sind nicht Verfahrensgegenstand<br />

geworden. Der Senat kann es deshalb dahinstehen lassen, ob – mit dem Revisionsvorbringen – eine derart veränderte<br />

Verfahrenslage während laufender Hauptverhandlung überhaupt eine nachträgliche Korrektur der ursprünglichen<br />

Besetzungsentscheidung ermöglichen, etwa über eine unerlässliche Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 265<br />

Abs. 3 StPO erzwingen kann.<br />

b) Einer Entscheidung über die von der Revision ebenfalls beanstandete Verletzung des § 265 StPO bedarf es bei der<br />

hier gegebenen Verfahrenskonstellation nicht. Die Voraussetzungen des § 265 Abs. 3 StPO lagen mangels veränderter<br />

Tatsachengr<strong>und</strong>lage (oben a) nicht vor. Zu prüfen bleibt, ob für das Landgericht etwa ein zwingender Anlass für<br />

eine Verfahrensaussetzung in mindestens entsprechender Anwendung des § 265 Abs. 4 StPO bestanden hätte – was<br />

anschließend einen Neubeginn der Hauptverhandlung nach Änderung der Besetzungsentscheidung nach § 76 Abs. 2<br />

GVG nahegelegt hätte (nach den Gr<strong>und</strong>sätzen von BGH, Beschluss vom 31. August 2010 – 5 StR 159/10, BGHR<br />

GVG § 76 Abs. 2 Besetzungsbeschluss 8; vgl. ferner § 76 Abs. 5 Alternative 2 GVG-E in der Fassung des Entwurfs<br />

eines Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- <strong>und</strong> Jugendkammern in der Hauptverhandlung vom 5. September<br />

2011, BT-Drucks. 17/6905). Dafür mögen das Gewicht <strong>und</strong> der späte Zeitpunkt des Hinweises nach § 265 Abs. 2<br />

StPO sprechen, dagegen freilich der Umstand, dass auch die Revision keinen konkreten Aufklärungsmangel – etwa<br />

im Wege einer Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO) – durch die späte Erstreckung der Hauptverhandlung auf die<br />

Zuziehung eines Sachverständigen nach § 246a StPO oder ein konkretes Verteidigungsdefizit durch unzureichende<br />

Vorbereitung vorbringt. Die Frage kann letztlich offen bleiben. Gegenstand der nach Ablehnung des Aussetzungsantrags<br />

der Verteidigung fortgesetzten Beweisaufnahme war hier allein noch die Frage der Anordnung der Sicherungsverwahrung.<br />

Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass Schuld- <strong>und</strong> Strafausspruch durch das Ergebnis der fortgeführten<br />

Hauptverhandlung zum Nachteil des Angeklagten beeinflusst worden wären. Deshalb <strong>und</strong> mit Blick auf den Schutzzweck<br />

des § 265 StPO ist ein über die Aufhebung des Maßregelausspruchs hinausreichender Erfolg der Verfahrensrüge<br />

auszuschließen; dieser wird hier indes schon durch die Sachrüge erreicht (vgl. nachfolgend 3). Nichts anderes<br />

gilt im Blick auf den Umstand, dass die Verfahrensrüge naheliegend jedenfalls mit der Stoßrichtung hätte Erfolg<br />

haben müssen, die Strafkammer habe in rechtsfehlerhafter Weise den Aussetzungsantrag des Beschwerdeführers in<br />

der Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung beschieden. Auch insoweit bleiben die Belange des Angeklagten<br />

durch den Erfolg der Sachrüge umfassend gewahrt.<br />

3. Die Begründung des Maßregelausspruchs hält – insbesondere unter Berücksichtigung der Maßgaben der durch das<br />

B<strong>und</strong>esverfassungsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2011 (NJW 2011, 1931 ff.) erlassenen Weitergeltungsanordnung zu<br />

§ 66 Abs. 2 <strong>StGB</strong> aF – sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />

a) Das sachverständig beratene Landgericht nimmt – insoweit nachvollziehbar – an, dass sich beim Angeklagten<br />

über einen langen Zeitraum hinweg eine pädophile Störung verfestigt habe <strong>und</strong> an verschiedenen Kindern beiderlei<br />

Geschlechts ausgelebt worden sei. Der Angeklagte gehe mit seiner pädophilen Störung „unehrlich“ um, was prognostisch<br />

ungünstig einzuschätzen sei. Angesichts des breiten Spektrums der Geschädigten bestehe im Hinblick auf<br />

eine ohnehin anzunehmende verhältnismäßig hohe Rückfallrate bei wegen Kindesmissbrauchs verurteilten unbehandelten<br />

Tätern bei dem Angeklagten ein noch ungleich höheres Risikopotential <strong>und</strong> damit eine „nicht unerhebliche<br />

Gefahr für weitere Straftaten vergleichbarer Art“ (UA S. 32). Mit Blick auf das Streben des Angeklagten, „sich mit<br />

Kindern zu umgeben <strong>und</strong> diese zu missbrauchen“, hat die Strafkammer „nach Abwägung aller Umstände die Unterbringung<br />

in der Sicherungsverwahrung für notwendig <strong>und</strong> unumgänglich erachtet“ (UA S. 32).<br />

b) Die Ausführungen zur Gefährlichkeit lassen besorgen, dass die Strafkammer, dem Sachverständigen folgend, den<br />

unehrlichen Umgang des Angeklagten mit seiner pädophilen Störung aus seinem Bestreiten der Taten geschlossen,<br />

damit aber die Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens des Angeklagten verkannt hat (vgl. dazu BGH, Urteil<br />

vom 16. September 1992 – 2 StR 277/92, BGHR <strong>StGB</strong> § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 4). Zulässiges Verteidigungsverhalten<br />

darf nicht hang- oder gefahrbegründend verwertet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2011 – 3 StR<br />

77


12/11, StV 2011, 482 mwN). Wenn der Angeklagte die Taten leugnet („unehrlicher Umgang“), ist dies gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

zulässiges Verteidigungsverhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 1990 – 3 StR 85/90, BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs.<br />

2 Verteidigungsverhalten 8). Zudem begegnet schon die Formulierung einer – lediglich – „nicht unerheblichen“<br />

Gefahr für weitere Straftaten vergleichbarer Art Bedenken.<br />

c) Die Urteilsgründe lassen überdies nicht hinreichend deutlich erkennen, dass <strong>und</strong> aus welchen Gründen von der<br />

Ermessensbefugnis nach § 66 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 Satz 2 <strong>StGB</strong> aF Gebrauch gemacht wurde.<br />

aa) Das Tatgericht muss im Rahmen der Ermessensausübung erkennbar auch diejenigen Umstände erwägen, die<br />

gegen die Anordnung der Maßregel sprechen können. Das gilt vor allem für den gesetzgeberischen Zweck der Vorschrift,<br />

dem Tatgericht die Möglichkeit zu geben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum<br />

Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann,<br />

dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit soll dem Ausnahmecharakter der Vorschriften<br />

des § 66 Abs. 2 <strong>und</strong> Abs. 3 Satz 2 <strong>StGB</strong> aF Rechnung getragen werden, der sich daraus ergibt, dass eine frühere<br />

Verurteilung <strong>und</strong> eine frühere Strafverbüßung nicht vorausgesetzt werden. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs<br />

sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind<br />

deshalb wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs im Rahmen der Ermessensentscheidung<br />

regelmäßig zu berücksichtigen sind (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 4. August 2009 – 1 StR<br />

300/09, NStZ 2010, 270, 271 f. mwN; ferner BGH, Beschlüsse vom 5. April 2011 – 3 StR 12/11, aaO, <strong>und</strong> vom 25.<br />

Mai 2011 – 4 StR 164/11).<br />

bb) Einer Überprüfung an diesem Maßstab hält die Begründung des angefochtenen Urteils bislang nicht stand. Die<br />

möglichen Auswirkungen eines langjährigen Strafvollzugs auf den 49 Jahre alten Angeklagten hat die Strafkammer<br />

bei ihrer Ermessensausübung unerörtert gelassen. Das Tatgericht hat sich damit nicht nur den Blick auf mögliche,<br />

mit dem fortschreitenden Lebensalter einhergehende Verhaltensänderungen beim Angeklagten verstellt, sondern<br />

auch darauf, dass sich nunmehr durch den erstmaligen Vollzug einer längeren Freiheitsstrafe die Möglichkeit einer<br />

langfristigen Therapie bietet. Auch aus der Tatsache, dass sich der Angeklagte bereits im Jahre 2003 einem – mangels<br />

hinreichenden Tatverdachts eingestellten – Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern<br />

ausgesetzt sah <strong>und</strong> ihn dies nicht von dem „weiteren Vollzug“ gleich gelagerter Handlungen abgehalten hat, kann<br />

nicht zwingend auf die Wirkungslosigkeit des Strafvollzugs geschlossen werden.<br />

d) Das neue Tatgericht wird – naheliegend nunmehr in der Besetzung mit drei Berufsrichtern (§ 76 Abs. 2 Satz 2<br />

GVG) – bei seiner Entscheidung über den Maßregelausspruch die Maßgaben des vorstehend genannten Urteils des<br />

B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (aaO) zu beachten haben. Danach gelten die hier anzuwendenden <strong>und</strong><br />

als verfassungswidrig erklärten Vorschriften über die Sicherungsverwahrung zeitlich bis zum 31. Mai 2013 begrenzt<br />

fort. Der Senat entnimmt der hierfür verfassungsrechtlich notwendigen „strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung“<br />

(BVerfG aaO, S. 1946 Rn. 172) in Übereinstimmung mit dem 3. Strafsenat (vgl. BGH, Urteil vom 4. August 2011 –<br />

3 StR 175/11) das Erfordernis eines strengen Maßstabs sowohl bei der Erheblichkeit zu erwartender Straftaten als<br />

auch bei der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung. Ein solcher erfordert jedenfalls, dass die Gefahr schwerer Gewalt-<br />

oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist<br />

(vgl. BGH aaO; ferner Urteil vom 7. Juli 2011 – 5 StR 192/11 – <strong>und</strong> Beschluss vom 25. Mai 2011 – 4 StR 164/11).<br />

<strong>StGB</strong> § 66 aF, EG<strong>StGB</strong> Art. 316e Abs. 3 Satz 1 Sicherungsverwahrung Altfälle<br />

BGH, Beschl. v. 25.04.2012 – 5 StR 451/11 - NJW 2012, 1824<br />

LS: In dem Verfahren nach Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> ist die nach § 66 <strong>StGB</strong> aF angeordnete<br />

Sicherungsverwahrung nur dann für erledigt zu erklären, wenn alle für die Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

kausalen Taten aus den Anlass- <strong>und</strong> den Vorverurteilungen nicht mehr in den<br />

Katalog des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> in der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Fassung<br />

fallen.<br />

In dem Verfahren nach Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> ist die nach § 66 <strong>StGB</strong> aF angeordnete Sicherungsverwahrung<br />

nur dann für erledigt zu erklären, wenn alle für die Anordnung der Sicherungsverwahrung kausalen Taten aus<br />

den Anlass- <strong>und</strong> den Vorverurteilungen nicht mehr in den Katalog des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> in der am 1.<br />

Januar 2011 in Kraft getretenen Fassung fallen.<br />

G r ü n d e<br />

78


I. Dem Vorlegungsverfahren liegt Folgendes zugr<strong>und</strong>e:<br />

1. Das Landgericht Fulda verhängte gegen den Verurteilten am 10. Dezember 2007 wegen Diebstahls in drei Fällen<br />

eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten <strong>und</strong> ordnete seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung<br />

an. Der Verurteilung lagen drei Diebstähle im besonders schweren Fall zugr<strong>und</strong>e. Der Verurteilte führte<br />

diese im Mai <strong>und</strong> August 2005 <strong>und</strong> im April 2007 für einen Auftraggeber aus, indem er aus zwei Wohnhäusern <strong>und</strong><br />

einem Geschäftshaus Gegenstände in einem Gesamtwert von mehr als 1 Mio. € entwendete. Die Anordnung der<br />

Sicherungsverwahrung erfolgte gemäß § 66 Abs. 1 <strong>StGB</strong> in der bis zum 31. Dezember 2010 gültigen Fassung (aF).<br />

Die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> aF wurden durch zwei Vorverurteilungen erfüllt: Am 30. Januar<br />

1991 hatte das Landgericht Darmstadt gegen den Verurteilten wegen schwerer räuberischer Erpressung eine Freiheitsstrafe<br />

von fünf Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verhängt. Der Verurteilte hatte mit einem Mittäter einen Banküberfall<br />

begangen. Am 31. Juli 1996 hatte das Landgericht Darmstadt den Verurteilten wegen versuchter schwerer räuberischer<br />

Erpressung in Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Dem lag wiederum ein Banküberfall zugr<strong>und</strong>e, den der Verurteilte während eines<br />

Hafturlaubs im Rahmen der Verbüßung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil vom 30. Januar 1991 verübt hatte. Auch<br />

die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung hielt das Landgericht Fulda für gegeben.<br />

Sachverständig beraten bejahte es bei dem Verurteilten eine „intensive Neigung zu Rechtsbrüchen, insbesondere<br />

zu Banküberfällen <strong>und</strong> Diebstählen im besonders schweren Fall“ (UA S. 41 f.), <strong>und</strong> sah die „naheliegende Gefahr“,<br />

dass er weitere erhebliche rechtswidrige Taten, „insbesondere Diebstähle im besonders schweren Fall“, begehen<br />

werde. Für die Allgemeinheit bestehe „zumindest“ die Gefahr, dass der Verurteilte schweren wirtschaftlichen<br />

Schaden anrichten werde (UA S. 44).<br />

2. Derzeit verbüßt der Verurteilte die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem vorgenannten Urteil des Landgerichts Fulda. Mit<br />

rechtskräftigem Beschluss vom 20. Dezember 2010 lehnte das Landgericht Gießen die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe<br />

zur Bewährung ab. Das Strafende ist auf den 17. Dezember 2012 notiert; im Anschluss daran wäre die Sicherungsverwahrung<br />

zu vollstrecken.<br />

3. Auf Antrag des Verurteilten hat das Landgericht Gießen mit Beschluss vom 11. Mai 2011 die Sicherungsverwahrung<br />

gemäß Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> für erledigt erklärt. Unter Bezugnahme auf den Beschluss des Oberlandesgerichts<br />

Nürnberg vom 1. April 2011 (NStZ 2011, 703) hat die Strafvollstreckungskammer die Auffassung vertreten,<br />

dass Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> die Erledigungserklärung vorsehe, wenn die Sicherungsverwahrung auf<br />

Gr<strong>und</strong>lage der im anordnenden Urteil getroffenen Feststellungen nach § 66 <strong>StGB</strong> in der am 1. Januar 2011 in Kraft<br />

getretenen Fassung (nF) aktuell nicht mehr angeordnet werden könnte, weil dessen Voraussetzungen nicht mehr<br />

vorlägen. Dies sei der Fall, da die vom Verurteilten begangenen Diebstähle nach § 66 Abs. 1 <strong>StGB</strong> nF keine tauglichen<br />

Anlasstaten mehr seien. Gegen diesen Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft<br />

Fulda, der die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main beigetreten ist. In ihrer Stellungnahme begründete die<br />

Generalstaatsanwaltschaft dies damit, dass eine Erledigung der Sicherungsverwahrung nach Art. 316e Abs. 3 Satz 1<br />

EG<strong>StGB</strong> sowohl nach dem Wortlaut als auch nach dem Willen des Gesetzgebers bereits dann nicht möglich sei,<br />

wenn auch nur eine der Anlass- <strong>und</strong> Vortaten in den Katalog des § 66 Abs. 1 <strong>StGB</strong> nF falle.<br />

4. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main beabsichtigt, auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft den<br />

Beschluss der Strafvollstreckungskammer aufzuheben. Schon nach dem Wortlaut des Art. 316e Abs. 3 Satz 1<br />

EG<strong>StGB</strong> lägen die Voraussetzungen für die Anordnung der Erledigung der Sicherungsverwahrung im verfahrensgegenständlichen<br />

Fall nicht vor, da beide Vortaten in den Katalog des § 66 Abs. 1 <strong>StGB</strong> nF fielen. Auch die Gesetzesbegründung<br />

mache deutlich, dass bei der Erledigungsprüfung nicht allein die Anlasstat, sondern jeweils auch die<br />

Vortaten in den Blick zu nehmen seien. An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich das Oberlandesgericht Frankfurt<br />

am Main durch den genannten Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 1. April 2011 (aaO) gehindert<br />

<strong>und</strong> hat die Sache zur Entscheidung folgender Rechtsfrage dem B<strong>und</strong>esgerichtshof vorgelegt: Ist in dem Verfahren<br />

nach Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> die nach § 66 <strong>StGB</strong> aF angeordnete Sicherungsverwahrung ohne Berücksichtigung<br />

der Vorverurteilungen schon immer dann für erledigt zu erklären, wenn die der Anlassverurteilung zugr<strong>und</strong>e<br />

liegende Tat nicht mehr in den Katalog des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> in der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen<br />

Fassung fällt?<br />

5. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt beantragt, die Vorlegungsfrage zu bejahen <strong>und</strong> die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft<br />

gegen den Beschluss des Landgerichts Gießen vom 11. Mai 2011 als unbegründet zu verwerfen. Er teilt<br />

die Rechtsauffassung des vorlegenden Oberlandesgerichts nicht. Die dort favorisierte Auslegung enge den Anwendungsbereich<br />

der Erledigterklärung über Gebühr ein <strong>und</strong> versage Personen eine Aufhebung der gegen sie angeordneten<br />

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die nach der aktuellen Rechtslage eine Maßregelanordnung nicht<br />

mehr zu gewärtigen hätten. Dies entspreche nicht dem mit der Einführung eines Erledigungsverfahrens verfolgten<br />

79


Ziel des Gesetzgebers, die durch die Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung bewirkte Verengung des<br />

Anwendungsbereichs des § 66 <strong>StGB</strong> auch gegenüber solchen Personen anzuerkennen, gegen die die Maßregel nach<br />

altem Recht bereits rechtskräftig angeordnet worden sei.<br />

II. Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 121 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 GVG liegen vor. Der Senat hält die<br />

Rechtsauffassung des vorlegenden Oberlandesgerichts, die vom Oberlandesgericht Celle (NStZ 2012, 96, 97) obiter<br />

dictu geteilt wird, für zutreffend. Eine Erledigterklärung im formalisierten Verfahren nach Art. 316e Abs. 3 Satz 1<br />

EG<strong>StGB</strong> ist ausgeschlossen, wenn sich auch nur eine der Anlass- oder Vortaten dem Katalog des § 66 <strong>StGB</strong> nF zuordnen<br />

lässt.<br />

1. Dieses Verständnis legt bereits der Wortlaut der Norm zwingend nahe. Nach Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong><br />

erklärt das Gericht eine nach § 66 <strong>StGB</strong> vor dem 1. Januar 2011 rechtskräftig angeordnete Sicherungsverwahrung für<br />

erledigt, wenn die Anordnung „ausschließlich auf Taten beruht“, die nach § 66 <strong>StGB</strong> in der seitdem geltenden Fassung<br />

nicht mehr Gr<strong>und</strong>lage für eine Anordnung sein können. In den Fällen, in denen sich die Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

auf § 66 Abs. 1 <strong>StGB</strong> aF stützt, sind neben einer Anlasstat qualifizierte Vorverurteilungen erforderlich;<br />

dort „beruht“ die Anordnung der Sicherungsverwahrung sowohl auf den Anlass- als auch auf den Vortaten.<br />

Der Regelung ist nicht zu entnehmen, dass sich der Begriff „Taten“ nur auf Anlasstaten beziehen soll; vielmehr wird<br />

er als Oberbegriff für Anlass- <strong>und</strong> Vortaten verwendet. Anders als das Landgericht Gießen in seiner angefochtenen<br />

Entscheidung meint, hätte es keiner Präzisierung im Wortlaut der Vorschrift bedurft, um diesen Regelungsgehalt<br />

zum Ausdruck zu bringen. Im Gegenteil: Hätte der Gesetzgeber eine Regelung treffen wollen, die eine Erledigungserklärung<br />

schon dann vorsähe, wenn nach Maßgabe des neuen Rechts die formellen Voraussetzungen für die Anordnung<br />

der Sicherungsverwahrung nicht gegeben wären, so hätte eine entsprechend einfache, unmissverständliche<br />

Gesetzesformulierung auf der Hand gelegen. Zudem hat der Gesetzgeber in Regelungen in Art. 316e Abs. 1 <strong>und</strong> 2<br />

EG<strong>StGB</strong>, die sich allein auf Anlasstaten beziehen, klare andere Formulierungen gewählt. Hinzu kommt schließlich,<br />

dass der Gesetzgeber die ihm unterstellte Intention, jede nach § 66 <strong>StGB</strong> aF angeordnete Sicherungsverwahrung,<br />

welche die formellen Anforderungen des § 66 <strong>StGB</strong> nF nicht erfüllt, für erledigt zu erklären, mit der gewählten Formulierung<br />

des Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong>, bei der sich jedoch der Begriff „Taten“ nur auf Anlasstaten beziehen<br />

würde, überhaupt nicht verwirklicht hätte: In den Fällen des § 66 Abs. 2 <strong>StGB</strong> aF, in denen es auf Vortaten nicht<br />

ankommt, würde ein solches Begriffsverständnis nämlich gerade nicht dazu führen, dass die Sicherungsverwahrung<br />

immer dann erledigt werden müsste, wenn sie nach neuem Recht nicht mehr angeordnet werden könnte. Denn in<br />

Fällen, in denen von mehreren erforderlichen Anlasstaten auch nur eine einzige dem Straftatenkatalog des § 66 <strong>StGB</strong><br />

nF unterfiele, mithin die Sicherungsverwahrung nicht mehr angeordnet werden könnte, fände eine Erledigung nach<br />

Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> gleichwohl nicht statt. Insgesamt bringt der Wortlaut des Art. 316e Abs. 3 Satz 1<br />

EG<strong>StGB</strong> deutlich zum Ausdruck, dass gerade nicht jede Unterbringung für erledigt erklärt werden soll, die heute<br />

nicht mehr angeordnet werden könnte.<br />

2. Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers.<br />

a) Eine übergeordnete Norm, die den Gesetzgeber gezwungen hätte, die Erledigung rechtskräftig angeordneter Sicherungsverwahrungen<br />

in allen Fällen herbeizuführen, die nach Maßgabe des neuen Rechts bereits die formellen Voraussetzungen<br />

des § 66 <strong>StGB</strong> nicht mehr erfüllt hätten, ist nicht ersichtlich. Verfassungsrechtlich abgesicherte Vertrauensschutzbelange<br />

(Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 7 Abs. 1, Art. 5 MRK), die im Bereich der Sicherungsverwahrung<br />

gelten (vgl. BVerfGE 128, 326), sind durch die Rechtsänderung nicht berührt. Zwar wird das in § 2 Abs. 3<br />

<strong>StGB</strong> festgelegte Meistbegünstigungsgebot teilweise als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips <strong>und</strong> als Ausprägung<br />

verhältnismäßiger Gerechtigkeit, mithin als Gr<strong>und</strong>satz mit Verfassungsrang, angesehen (so Dannecker in LK, <strong>StGB</strong>,<br />

12. Aufl., § 2 Rn. 55 mwN; vgl. auch Art. 15 Abs. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche <strong>und</strong> politische Rechte).<br />

Indes gilt dieses Gebot nicht im Bereich der Maßregeln (vgl. § 2 Abs. 6 <strong>StGB</strong>) <strong>und</strong> überdies nur für Fälle der<br />

Rechtsänderung „vor der Entscheidung“. Rechtskräftige Strafurteile werden durch eine nach Eintritt der Rechtskraft<br />

vorgenommene Milderung des Strafgesetzes gr<strong>und</strong>sätzlich nicht berührt. Es steht vielmehr im Ermessen des Gesetzgebers,<br />

ob die Milderung eines Strafgesetzes auch auf rechtskräftige Verurteilungen ausgedehnt werden soll. Das<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz schreibt eine solche Rückwirkung nicht vor (BVerfGE 4, 110). Von einer „willkürlichen Grenzziehung<br />

der Rechtskraft“ (vgl. Pollähne, ZJS 2011, 216, 219) kann insoweit keine Rede sein. Vielmehr ist es Wesen der<br />

Rechtskraft, Rechtssicherheit herzustellen. Der Gesetzgeber handelt nicht willkürlich, wenn er der Rechtssicherheit<br />

Vorrang vor der Einzelfallgerechtigkeit gibt (vgl. BVerfGE 19, 150, 166 mwN). Trifft er keine entsprechenden<br />

Übergangsregelungen, so ist eine Rechtskraftdurchbrechung gr<strong>und</strong>sätzlich nur auf dem Wege der Gnade möglich.<br />

Speziell innerhalb des Maßregelrechts bieten allerdings die Prüfungsverfahren nach § 67c Abs. 1, § 67e Abs. 1 <strong>StGB</strong><br />

für eine Neuorientierung eine gesetzliche Handhabe.<br />

80


) Im Zuge der Änderungen der Voraussetzungen des § 66 <strong>StGB</strong> durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der<br />

Sicherungsverwahrung <strong>und</strong> zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2300) hat sich der<br />

Gesetzgeber entschieden, mit Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> eine Übergangsregelung zu treffen. Er wollte ein –<br />

gegenüber dem Prüfungsverfahren nach § 67c Abs. 1, § 67e Abs. 1 <strong>StGB</strong> vereinfachtes – Verfahren zur Erledigung<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage alten Rechts rechtskräftig angeordneter Sicherungsverwahrungen ohne weitere Hang- oder Gefährlichkeitsprüfung<br />

zur Verfügung stellen. Im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens wollte er dabei jedoch nicht<br />

so weit gehen, eine Erledigung für all diejenigen Unterbringungsfälle vorzusehen, bei denen eine Anordnung der<br />

Sicherungsverwahrung nach der seit dem 1. Januar 2011 geltenden Gesetzeslage nicht mehr möglich wäre; er wollte<br />

auch nicht die Erledigung ohne Rücksicht auf die rechtliche Qualität der Vorverurteilung für alle die Fälle herbeiführen,<br />

in denen die den Anlass der Maßregelanordnung bildende Tat nicht mehr unter den Katalog des § 66 Abs. 1 Satz<br />

1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> nF fällt. Dieser Wille geht klar aus der Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU<br />

<strong>und</strong> FDP (BT-Drucks. 17/3403, S. 50, 51) hervor, der Gr<strong>und</strong>lage des Gesetzgebungsverfahrens war <strong>und</strong> zu der Neuregelung<br />

führte. Zwar wird dort einleitend als Regelungsziel der Rechtsgedanke formuliert, dass der (zukünftig)<br />

engere Anwendungsbereich des § 66 <strong>StGB</strong> nF auch denen zugute kommen solle, gegen die Sicherungsverwahrung<br />

bereits rechtskräftig angeordnet sei. Wenn bestimmte Delikte die Sicherungsverwahrung nicht mehr rechtfertigen<br />

könnten, erscheine es als Gebot der Gerechtigkeit, die Sicherungsverwahrung in solchen Fällen „gr<strong>und</strong>sätzlich“ auch<br />

nicht mehr zu vollstrecken (aaO, S. 50). Daher sei in solchen Fällen die Sicherungsverwahrung vom zuständigen<br />

Gericht „gr<strong>und</strong>sätzlich“ für erledigt zu erklären (aaO, S. 51). Dass der Gesetzentwurf diesem „Leitbild eines gerechtigkeitsmotivierten<br />

Unterbringungsverzichts“ (so die Stellungnahme des Generalb<strong>und</strong>esanwalts, S. 10, 11, unter<br />

Bezugnahme auf Pollähne, aaO, S. 218) jedoch nicht uneingeschränkt folgt, ergibt sich aus den weiteren Ausführungen<br />

der Entwurfsbegründung. Das Erledigungsverfahren nach Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> soll danach nur dann<br />

greifen, „wenn alle Taten, die nach bisherigem Recht die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

nach § 66 <strong>StGB</strong> erfüllten, nicht mehr unter den Katalog des neuen Rechts fallen würden“. Es sei zu<br />

klären, ob die „damaligen Anlass- <strong>und</strong> Vortaten“ auch vom zukünftigen Katalog des § 66 <strong>StGB</strong> erfasst wären. Wenn<br />

eine oder mehrere Taten auch die Voraussetzungen des § 66 <strong>StGB</strong> nF erfüllten, könne nämlich nicht mehr „im Wege<br />

einer typisierenden Betrachtung“ angenommen werden, dass der Täter allein im Hinblick auf die Begehung solcher<br />

Taten rückfallgefährdet sei, die nach neuem Recht die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht mehr gestatteten.<br />

Daraus folge allerdings lediglich, dass sich diese „Mischfälle“ nicht für eine pauschale, von Gesetzes wegen vorgegebene<br />

Erledigung der Sicherungsverwahrung eigneten (aaO, S. 51). Der Entwurf, dem der Gesetzgeber gefolgt ist,<br />

überlässt diese „Mischfälle“ damit den allgemeinen Prüfungsverfahren nach § 67c Abs. 1, § 67e Abs. 1 <strong>StGB</strong>.<br />

c) Zwar hätte der Senat – in der Tendenz insoweit dem Generalb<strong>und</strong>esanwalt folgend – eine Übergangsregelung im<br />

Sinne einer Erledigung aller rechtskräftig angeordneten Sicherungsverwahrungen, die nach neuem Recht nicht mehr<br />

die formellen Voraussetzungen des § 66 <strong>StGB</strong> erfüllen würden, unter den Gesichtspunkten der materiellen Gerechtigkeit,<br />

der Rechtsklarheit <strong>und</strong> der Verfahrensökonomie für vorzugswürdig erachtet. Die mit der Neuregelung verwirklichten<br />

deutlich strengeren Anforderungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung werden auch eine<br />

Anordnung ihres (weiteren) Vollzugs durch die Strafvollstreckungskammer im Rahmen der Prüfung nach § 67c Abs.<br />

1, § 67e Abs. 1 <strong>StGB</strong> in Fällen, in denen die Maßregel jetzt gar nicht mehr angeordnet werden dürfte, nur bei<br />

gleichwohl ausnahmsweise bestehender hochgradiger Gefährlichkeit des Verurteilten für im Sinne von § 66 <strong>StGB</strong> nF<br />

spezifische Rechtsgüter gestatten. Derartige Rechtssicherheit zum Schutze der Allgemeinheit in Ausnahmefällen<br />

durch eine flexiblere Übergangsregelung zu ermöglichen <strong>und</strong> sie nicht im Interesse ausnahmsloser Gleichbehandlung<br />

von Alt- <strong>und</strong> Neufällen von vornherein auszuschließen, stand dem Gesetzgeber aber frei. Es kann ihm nicht unterstellt<br />

werden, er habe sich sowohl im Gesetzestext als auch in der Begründung „vergaloppiert“ (so Pollähne, aaO, S.<br />

218). Es besteht, ungeachtet der eingangs pauschal weit gefassten Formulierung zum Regelungsziel, kein Widerspruch<br />

in den Gesetzesmotiven: Die Anlasstat ist – wie auch die Vortaten – bloßer Anknüpfungspunkt für das<br />

Merkmal der Gefährlichkeit, nicht deren Anordnungsgr<strong>und</strong> (BVerfGE 109, 133, 174). Hinter der Herausnahme insbesondere<br />

der gewaltlosen Vermögens- <strong>und</strong> Eigentumsdelikte aus dem Katalog tauglicher Anlass- <strong>und</strong> Vortaten steht<br />

die Annahme, dass sich in der Regel auch die hangbedingte Gefährlichkeit des Täters nur auf die erneute Begehung<br />

solcher Taten erstreckt, da die Anlass- <strong>und</strong> Vortaten symptomatisch sowohl für den Hang als auch für die Gefährlichkeit<br />

des Täters sein müssen (BT-Drucks. 17/3403, S. 51). Fällt ein <strong>Teil</strong> der Taten auch nach neuem Recht unter<br />

den Katalog tauglicher Anlass- <strong>und</strong> Vortaten, so können diese im Einzelfall durchaus Symptom dafür sein, dass sich<br />

die hangbedingte Gefährlichkeit des Täters auf die erneute Begehung solcher Taten erstreckt. Die formellen Voraussetzungen<br />

des § 66 <strong>StGB</strong> markieren insoweit lediglich den „Türöffner“ für den Eintritt in eine qualifizierte Gefährlichkeitsprüfung<br />

(Hang <strong>und</strong> Allgemeingefährlichkeit). Nach den Wertungen des Gesetzes zur Neuordnung des<br />

Rechts der Sicherungsverwahrung sollen ein Hang zu gewaltlosen Eigentums- oder Vermögensdelikten <strong>und</strong> eine<br />

81


entsprechende Gefährlichkeit des Täters für die Anordnung der Sicherungsverwahrung gr<strong>und</strong>sätzlich nicht mehr<br />

ausreichen. Diese Änderung des Anordnungsgr<strong>und</strong>es hat eine Neubestimmung des „Türöffners“, nämlich der formellen<br />

Kriterien des § 66 <strong>StGB</strong>, nach sich gezogen. Die Altfälle, in denen die Sicherungsverwahrung im Zeitpunkt des<br />

Inkrafttretens der Neuregelung bereits rechtskräftig angeordnet war, haben den damals gültigen „Türöffner“ bereits<br />

passiert; Hang <strong>und</strong> Allgemeingefährlichkeit wurden rechtskräftig festgestellt. Im Hinblick auf die im Zeitpunkt der<br />

Maßregelanordnung geltenden weiteren Hang- <strong>und</strong> Gefährlichkeitskriterien stellt sich allerdings die Frage, ob die<br />

nun enger definierte Gefährlichkeit hinreichend belegt ist. Das hat der Gesetzgeber im Wege „typisierender Betrachtung“<br />

jedenfalls für die Fälle verneint, bei denen keine der Anlass- <strong>und</strong> Vortaten mehr die formellen Voraussetzungen<br />

des § 66 <strong>StGB</strong> nF erfüllen würde. Hier ist es nämlich nahezu ausgeschlossen, dass bei individueller Betrachtung<br />

eine den engeren Maßstäben des § 66 <strong>StGB</strong> genügende Gefährlichkeit des Täters festgestellt werden könnte. Alle<br />

anderen Fälle überlässt der Gesetzgeber demgegenüber einer individuellen Prüfung. Er geht dabei davon aus, dass<br />

die „weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung in absehbarer Zeit zumindest nach § 67d Abs. 2 <strong>StGB</strong> zur<br />

Bewährung auszusetzen“ ist, wenn das Gericht auf der Gr<strong>und</strong>lage einer aktuellen Gefährlichkeitsprüfung zur Überzeugung<br />

gelangt, dass sich eine vom Täter etwa weiterhin ausgehende Rückfallgefahr nur auf solche Taten bezieht,<br />

die nach neuem Recht nicht mehr taugliche Anlass- oder Vortaten für die Sicherungsverwahrung sein können (BT-<br />

Drucks. 17/3403, S. 51).<br />

3. Auch aus dem „systematischen Standort“ des Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> – auf den der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

in der Begründung seines Antrags entscheidend abstellt – lassen sich zum Inhalt der Regelung keine der Auffassung<br />

des Senates widersprechenden Gesichtspunkte entnehmen. Die bloße Nachbarschaft zu Art. 313 EG<strong>StGB</strong> begründet<br />

noch keinen gesetzessystematischen Zusammenhang, der einen bestimmten Regelungsinhalt des Art. 316e Abs. 3<br />

Satz 1 EG<strong>StGB</strong> indizieren könnte. Eine „offensichtliche Parallele zur Regelung des Art. 313 Abs. 1 EG<strong>StGB</strong>“, die<br />

als „Beleg für ein allein an Gerechtigkeits- <strong>und</strong> nicht an Gefährlichkeitserwägungen orientiertes Erledigungsverfahren“<br />

herangezogen werden könnte, besteht – entgegen der Auffassung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts – nicht. Zwar beruft<br />

sich der Gesetzentwurf im Eingang der Begründung zu Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> auf den Rechtsgedanken<br />

des Art. 313 EG<strong>StGB</strong>. In der weiteren Begründung rückt er jedoch – wie dargelegt – von einer vollständigen<br />

Übernahme dieses Rechtsgedankens ab <strong>und</strong> stellt dabei gerade Gefährlichkeitserwägungen in den Mittelpunkt. Dies<br />

erscheint angesichts der Unterschiedlichkeit des Regelungsgegenstandes von Art. 313 EG<strong>StGB</strong> einerseits <strong>und</strong> Art.<br />

316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> andererseits auch nicht widersprüchlich oder gar willkürlich. Denn Art. 313 EG<strong>StGB</strong><br />

betrifft den Erlass von rechtskräftig verhängten Strafen für nach gesetzlicher Neuregelung nicht mehr als strafwürdig<br />

angesehene Taten. Demgegenüber ist Anordnungsgr<strong>und</strong> der Sicherungsverwahrung die Gefährlichkeit des Straftäters;<br />

die formellen Voraussetzungen des § 66 <strong>StGB</strong> markieren nur symptomatische Kriterien für diese Gefährlichkeit.<br />

III. Nach dem oben (unter II. 2. c) Gesagten verstößt die Regelung des Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong>, insbesondere<br />

mit Blick auf die allgemeinen Vorschriften über die Überprüfung der Unterbringung nach § 67c Abs. 1, § 67e<br />

Abs. 1 <strong>StGB</strong>, auch nicht gegen das Willkürverbot, das der Gesetzgeber bei der Gestaltung von Übergangsregelungen<br />

zu beachten hat (vgl. BVerfGE 44, 1, 21; BGH, Urteil vom 26. Oktober 2011, IV ZR 150/10, NJW 2012, 231 Rn.<br />

24).<br />

IV. Die Vorlegungsfrage ist daher wie aus dem Leitsatz ersichtlich zu beantworten. Demnach hat die Prüfung der<br />

Erledigung der Sicherungsverwahrung oder der Aussetzung ihrer Vollstreckung zur Bewährung in „Mischfällen“<br />

(vgl. zur Eingrenzung dieses Begriffs OLG Karlsruhe NStZ 2011, 581; OLG München, Beschluss vom 24. Oktober<br />

2011 – 1 Ws 868-869/11; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 17. November 2011 – 2 Ws 85/11 Rn. 109<br />

ff.), zu denen auch der verfahrensgegenständliche Fall gehört, nach den allgemeinen Regeln der § 67c Abs. 1, § 67e<br />

Abs. 1, § 67d Abs. 2 <strong>StGB</strong> zu erfolgen. Der Senat geht dabei davon aus, dass die Änderung des § 66 <strong>StGB</strong> die Strafvollstreckungskammern<br />

in diesen Fällen zu einer Prüfung der Erledigung oder Aussetzung von Amts wegen verpflichtet.<br />

Im Rahmen dieser Prüfung sind die einschränkenden Maßgaben aufgr<strong>und</strong> der Fortgeltungsanordnung im<br />

Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) zu beachten (vgl. zu der dort angemahnten<br />

Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung Gesetzentwurf der B<strong>und</strong>esregierung,<br />

BR-Drucks. 173/12). Dabei wird unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten keine Vollzugsfortdauer anzuordnen<br />

sein, wenn sich ein Hang <strong>und</strong> eine entsprechende Gefährlichkeit des Verurteilten nur noch in Bezug auf Taten ergeben,<br />

die nach der Wertung des Gesetzgebers in § 66 <strong>StGB</strong> nF nicht mehr Anlass für die Anordnung von Sicherungsverwahrung<br />

sein können. Die Erwägungen im Ausgangsurteil werden eine entsprechende Behandlung des vorliegenden<br />

Falles nahe legen.<br />

82


<strong>StGB</strong> § 66, § 184b Sicherungsverwahrung Hang nach BVerfG-Entscheidung<br />

BGH, Beschl. v. 26.10.2011 - 2 StR 328/11 - StV 2012, 212<br />

Delikte gemäß § 184b Abs. 1 <strong>und</strong> 2 <strong>StGB</strong> sind nicht als ausreichend schwere (Sexual-) Straftaten<br />

anzusehen, auf die sich nach der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts der<br />

kriminelle Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> aF beziehen muss.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 29. März 2011 im Maßregelausspruch<br />

mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Verbreitens kinderpornografischer Schriften in 22 Fällen <strong>und</strong> wegen<br />

Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt <strong>und</strong> seine Unterbringung<br />

in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Seine auf die Rüge formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts gestützte<br />

Revision hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet<br />

im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung kann nicht bestehen<br />

bleiben. Zwar liegen die formellen Voraussetzungen des vom Landgericht angewendeten § 66 Abs. 2 <strong>StGB</strong><br />

aF vor, dessen Änderung durch das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Neuordnung des Rechts der<br />

Sicherungsverwahrung <strong>und</strong> zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 zu keiner abweichenden Beurteilung<br />

zugunsten des Angeklagten führt (vgl. Art. 316e Abs. 2 EG<strong>StGB</strong>). Hingegen bestehen durchgreifende Bedenken<br />

gegen die Annahme der materiellen Voraussetzungen der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß §<br />

66 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> insbesondere bei Beachtung der Maßgaben der durch das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht mit Urteil<br />

vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 ua - Rn. 172, NJW 2011, 1931, 1946) erlassenen Weitergeltungsanordnung, welche<br />

die Strafkammer bei Erlass der angefochtenen Entscheidung noch nicht berücksichtigen konnte. Nach dem Urteil<br />

des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ist die Vorschrift des § 66 <strong>StGB</strong> verfassungswidrig <strong>und</strong> gilt nur<br />

vorläufig bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber weiter. Während der Dauer seiner Weitergeltung muss der<br />

Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung in ihrer derzeitigen Ausgestaltung<br />

um einen verfassungswidrigen Eingriff in das Freiheitsrecht handelt. Nach der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

darf die Regelung der Sicherungsverwahrung nur nach Maßgabe einer „strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung“<br />

angewandt werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose<br />

<strong>und</strong> die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz bei einer Anordnung<br />

der Sicherungsverwahrung nur gewahrt sein, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus<br />

konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Insoweit gilt in der Übergangszeit<br />

ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Verhältnismäßigkeitsmaßstab (Senat, Urteil<br />

vom 7. Juli 2011 - 2 StR 184/11; BGH, Urteil vom 7. Juli 2011 - 5 StR 192/11; Beschluss vom 4. August 2011 - 3<br />

StR 235/11). Jedenfalls nach diesem Maßstab hat das Landgericht weder einen Hang zur Begehung erheblicher<br />

Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> noch eine daran anknüpfende zukünftige Gefährlichkeit des Angeklagten<br />

tragfähig begründet. Das Landgericht hat nicht näher dargelegt, auf welche konkreten „Straftaten gegen die<br />

sexuelle Selbstbestimmung von Kindern“ (UA S. 52, 55) sich der Hang des Angeklagten bezieht <strong>und</strong> welche solcher<br />

Straftaten von ihm mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Damit genügen die Entscheidungsgründe nicht<br />

den Darstellungsanforderungen, die von der Rechtsprechung an die Beurteilung des Hangs <strong>und</strong> an die Gefährlichkeitsprognose<br />

gestellt werden, um eine revisionsgerichtliche Nachprüfbarkeit der vom Tatrichter vorzunehmenden<br />

Gesamtwürdigung des Täters <strong>und</strong> seiner Taten zu ermöglichen (BGH, Beschluss vom 27. September 1994 - 4 StR<br />

528/94, NStZ 1995, 178; Beschluss vom 30. März 2010 - 3 StR 69/10, NStZ-RR 2010, 203; Beschluss vom 15. Februar<br />

2011 - 1 StR 645/10, NStZ-RR 2011, 204; Beschluss vom 2. August 2011 - 3 StR 208/11). Soweit die Strafkammer<br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Anlasstaten auf die fest verwurzelte pädophile Neigung des Angeklagten <strong>und</strong> auf<br />

eine verharmlosende Haltung zur Kinderpornografie abgestellt hat, deren Konsum ihn eigenen Angaben zufolge von<br />

sexuellen Übergriffen auf Kinder abgehalten habe, mag dies einen Hang zu Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung<br />

nach der Art <strong>und</strong> mit dem Gewicht der Anlasstaten gemäß § 184b Abs. 1 <strong>und</strong> 2 <strong>StGB</strong> belegen. Derartige<br />

Delikte des Umgangs mit Kinderpornografie, dessen Strafbarkeit nach dem gesetzlichen Regelungszweck des § 184b<br />

<strong>StGB</strong> darauf abzielt, der mittelbaren Förderung des sexuellen Missbrauchs von Kindern entgegenzuwirken (vgl.<br />

83


Fischer, <strong>StGB</strong> 58. Aufl., § 184b Rn. 2), sind allerdings nicht als ausreichend schwere (Sexual-)Straftaten anzusehen,<br />

auf die sich nach der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts der kriminelle Hang im Sinne des §<br />

66 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> aF beziehen muss. Für einen Hang des Angeklagten auch zu erheblichen Straftaten des sexuellen<br />

Missbrauchs von Kindern ließen sich zwar die vom Landgericht gewürdigten Vortaten anführen, zu denen auch<br />

Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 2 <strong>StGB</strong> zählten, die gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

„schwere Sexualstraftaten“ im Sinne der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts darstellen (vgl.<br />

BGH, Beschlüsse vom 2. August 2011 - 3 StR 208/11 <strong>und</strong> vom 11. August 2011 - 3 StR 221/11). Die letzten dieser<br />

Taten lagen jedoch über zwölf Jahre zurück. Das darin vom Landgericht erkannte, aber ohne Bedeutung für die Gefährlichkeitsprognose<br />

erachtete „Abschwächen der Deliktsintensität“ (UA S. 55, 59) hätte bereits bei der für das<br />

Vorliegen eines Hangs vorzunehmenden Gesamtwürdigung aller konkreten Umstände berücksichtigt werden müssen,<br />

die für die Beurteilung der Persönlichkeit des Angeklagten <strong>und</strong> seiner Taten maßgebend sind. Bei einer sorgfältigen<br />

Gesamtwürdigung hätte es auch der Erörterung jener Gesichtspunkte bedurft, welche die sachverständig beratene<br />

Strafkammer insoweit rechtsfehlerfrei zur Begründung ihrer Überzeugung angeführt hat, dass die bei dem Angeklagten<br />

festgestellte Pädophilie keine Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit bewirkt habe (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 2. August 2011 - 3 StR 208/11 Rn. 6). Hierzu hat das Landgericht etwa die Fähigkeit des Angeklagten<br />

gezählt, sich über einen längeren Zeitraum weitgehend normgemäß zu verhalten <strong>und</strong> sich - in Bezug auf eine früher<br />

langjährig bestehende Alkoholproblematik <strong>und</strong> Nikotinsucht - auch einem starken inneren Verlangen zu widersetzen<br />

(UA S. 46 f.). Überdies hat das Landgericht darauf abgestellt, dass der Angeklagte sexuell nicht völlig auf Kinder<br />

fixiert sei, sondern sexuelle Kontakte in der Vergangenheit auch mit Erwachsenen gelebt habe. Zudem gehe es dem<br />

Angeklagten bei seinen Kontakten zu Kindern nicht ausschließlich um sexuelle Kontakte, vielmehr habe die nichtsexuelle<br />

Beschäftigung mit Kindern einen „Eigenwert“ vor dem Hintergr<strong>und</strong> seiner schweren körperlichen Behinderung<br />

<strong>und</strong> der damit seit seiner Jugend einhergehenden Schwierigkeiten, Kontakte zu gleichaltrigen Personen herzustellen<br />

(UA S. 48). Die Erwähnung dieses Umstands steht allerdings in einem Kontrast zu dem nachfolgend im<br />

Rahmen der Gefährlichkeitsprognose mehrfach als ungünstig angeführten Gesichtspunkt, dass der Angeklagte gegen<br />

die früher von ihm selbst erwogene Rückfallvermeidungsstrategie, den Kontakt zu Kindern überhaupt zu meiden,<br />

wiederholt verstoßen habe (UA S. 56 f.). Die Urteilsgründe lassen darüber hinaus nicht hinreichend deutlich erkennen,<br />

inwieweit <strong>und</strong> aus welchen Gründen der gerichtliche Sachverständige, dessen Ausführungen auch nur vereinzelt<br />

gestreift werden, in seinem mündlich erstatteten Gutachten von seinem vorläufigen schriftlichen Gutachten abgewichen<br />

<strong>und</strong> zu einer geänderten Gefährlichkeitsprognose gelangt ist (UA S. 55). Der Senat vermag nicht völlig auszuschließen,<br />

dass eine neue tatrichterliche Verhandlung noch zur Feststellung von Umständen führt, die bei Beachtung<br />

der neueren Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts die Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtfertigen<br />

könnten. Über den Maßregelausspruch muss deshalb nochmals entschieden werden.<br />

<strong>StGB</strong> § 66b Abs. 1 Satz 1, Abs. 2; EG<strong>StGB</strong> Art. 316e Abs. 1; MRK Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e - nachträgliche<br />

Sicherungsverwahrung bei Persönlichkeitsstörung<br />

BGH, Urt. v. 21.06.2011 – 5 StR 52/11 - BGHSt 56, 254 = NJW 2011, 2744 = JR 2012, 173 Anm. Schöch<br />

LS: 1. Eine dissoziale Persönlichkeitsstörung unterfällt, auch wenn sie nicht die Voraussetzungen<br />

der §§ 20, 21 <strong>StGB</strong> erfüllt, dem Begriff der psychischen Störung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2<br />

lit. e MRK, § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThuG <strong>und</strong> kann bei aus konkreten Umständen in der Person oder dem<br />

Verhalten des Verurteilten ableitbarer hochgradiger Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten<br />

die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 2 <strong>StGB</strong> aF rechtfertigen (im Anschluss<br />

an BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011, BGBl. I S. 1003).<br />

2. Die einschränkenden Maßgaben gemäß dem vorgenannten Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

beanspruchen jedenfalls in „Altfällen“ auch für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

nach § 66b Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> aF Gültigkeit.<br />

Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 28. Oktober 2010 wird verworfen.<br />

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten des Rechtsmittels.<br />

G r ü n d e<br />

84


Das Landgericht hat gemäß § 66b Abs. 1 Satz 1 <strong>und</strong> Abs. 2 <strong>StGB</strong> aF die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung<br />

nachträglich angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der Verurteilte mit der auf die<br />

Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.<br />

I. Das Landgericht hat folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

1. Der Verurteilte ist mehrfach bestraft.<br />

a) Das Landgericht Potsdam hat ihn am 17. November 2000 wegen eines am 1. April 2000 begangenen Verbrechens<br />

des erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit Vergewaltigung <strong>und</strong> wegen Diebstahls zu zehn Jahren Gesamtfreiheitsstrafe<br />

verurteilt <strong>und</strong> seine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (Anlassverurteilung).<br />

Dem liegt zugr<strong>und</strong>e, dass der Verurteilte wenige Tage nach seiner Entlassung aus der Strafhaft eine ihm unbekannte<br />

Frau in den Kofferraum seines Pkw sperrte, um durch ihre Entführung Lösegeld zu erpressen. Einem während<br />

dieser Tat gefassten Entschluss folgend vergewaltigte er sein Opfer unter Todesdrohungen. Wegen Annahme einer<br />

Fehldiagnose wurde die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus am 5. Februar 2002 für erledigt erklärt <strong>und</strong><br />

der Verurteilte in den Strafvollzug überwiesen. Die Gesamtfreiheitsstrafe verbüßte er bis 30. Juni 2010 vollständig.<br />

Zuvor hat die Staatsanwaltschaft die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung<br />

beantragt.<br />

b) Bereits vor der Anlassverurteilung war der Verurteilte vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten: Das Militärgericht<br />

Dresden verurteilte ihn am 31. Juli 1989 wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit Nötigung zu<br />

sexuellen Handlungen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> vier Monaten. Er hatte unter Anwendung von<br />

Gewalt eine junge Frau in die Toilette eines Personenzugs gezerrt, um dort gewaltsam den Geschlechtsverkehr an ihr<br />

zu vollziehen. Er verbüßte einen <strong>Teil</strong> der Strafe bis zum 26. April 1990. Am 18. Juni 1992 verurteilte ihn das Bezirksgericht<br />

Leipzig wegen „versuchter Vergewaltigung im schweren Fall, Vergewaltigung im schweren Fall“ in<br />

Tateinheit mit Freiheitsberaubung, Vergewaltigung in Tateinheit mit Nötigung <strong>und</strong> Freiheitsberaubung sowie „mehrfachen<br />

Diebstahls“ (vier Fälle) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren <strong>und</strong> acht Monaten. Dem lag unter<br />

anderem zugr<strong>und</strong>e, dass er im August 1990 (<strong>und</strong> damit r<strong>und</strong> vier Monate nach der letzten Haftentlassung), im September<br />

1990 <strong>und</strong> im Juli 1991 ihm unbekannte Frauen im Alter zwischen 17 <strong>und</strong> 25 Jahren unter Vorhalt einer Waffe<br />

in seine Gewalt gebracht hatte, um an ihnen sexuelle Handlungen bis hin zum Geschlechtsverkehr vorzunehmen. Er<br />

verbüßte die Strafe vollständig bis zum 21. August 1997. Am 12. März 1998 verurteilte ihn das Amtsgericht Gera<br />

wegen einer r<strong>und</strong> einen Monat nach seiner letzten Entlassung aus der Strafhaft begonnenen Diebstahlsserie zu einer<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten. Diese Strafe verbüßte er bis zum 21. März 2000.<br />

c) Auch während des Strafvollzugs ergingen Straferkenntnisse gegen den Verurteilten. Er wurde am 1. September<br />

2005 wegen versuchter Nötigung zum Nachteil der Leiterin der Sozialtherapeutischen Anstalt der Justizvollzugsanstalt<br />

Brandenburg zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Am 28. Juni 2010 wurde gegen ihn – nicht<br />

rechtskräftig – wegen Körperverletzung zum Nachteil eines Mitgefangenen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten<br />

verhängt. Darüber hinaus war sein gesamtes Vollzugsverhalten durch eine fordernde, berechnende <strong>und</strong> verbal drohende<br />

Verhaltensweise gekennzeichnet. Um seinen Willen durchzusetzen, bedrohte er mehrfach massiv Vollzugsmitarbeiter<br />

<strong>und</strong> zerstörte Anstaltsinventar. Wegen seines aggressiven Verhaltens musste er wiederholt in einem gesondert<br />

gesicherten Haftraum untergebracht werden. Aus Sicherheitsgründen – es wurden Übergriffe auf Bedienstete<br />

<strong>und</strong> Mitgefangene befürchtet – wurde er 2007 von der Justizvollzugsanstalt Brandenburg in die Justizvollzugsanstalt<br />

Cottbus-Dissenchen <strong>und</strong> im September 2008 in die Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel verlegt.<br />

2. Das Landgericht hat angenommen, dass vom Verurteilten auch nach Verbüßung der Freiheitsstrafe die hochgradige<br />

Gefahr der Begehung weiterer schwerer Sexualstraftaten ausgehe, weil er in seiner gestörten Persönlichkeitsstruktur<br />

einen Hang zur Begehung solcher Taten habe. Diese hochgradige Gefährlichkeit zeige sich nicht nur an seinen<br />

Vorstrafen <strong>und</strong> der außerordentlich hohen Rückfallgeschwindigkeit, sondern auch in seinem überaus aggressiven<br />

Auftreten während des Strafvollzugs. Die von ihm ausgehende Gefahr sei bereits im Rahmen der Anlassverurteilung<br />

erkennbar gewesen, wegen der damals fehlerhaft angenommenen Verminderung der Schuldfähigkeit <strong>und</strong> daraus<br />

resultierend der Unterbringung nach § 63 <strong>StGB</strong> sei die Sicherungsverwahrung aber nicht angeordnet worden.<br />

II. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung hält revisionsrechtlicher Prüfung stand.<br />

1. Das Landgericht hat die sachlichen Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 Satz 1 <strong>und</strong> Abs. 2 <strong>StGB</strong> in der Fassung<br />

vom 13. April 2007 (aF), die gemäß Art. 316e Abs. 1 EG<strong>StGB</strong> auf vor dem 31. Dezember 2010 begangene Taten<br />

anwendbar bleiben, in der Sache rechtsfehlerfrei bejaht. Danach kann die Sicherungsverwahrung nachträglich dann<br />

angeordnet werden, wenn nach der Anlassverurteilung, jedoch vor Vollzugsende der deswegen verhängten Freiheitsstrafe<br />

neue Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten hinweisen.<br />

a) Die formellen Voraussetzungen der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1<br />

Satz 1 <strong>StGB</strong> aF i.V.m. § 66 Abs. 1 <strong>StGB</strong> liegen im Hinblick auf die Verurteilungen durch das Militärgericht Dresden<br />

85


im Jahr 1989 sowie durch das Bezirksgericht Leipzig im Jahr 1992 vor. Zwar hat es die Strafkammer versäumt, hinsichtlich<br />

des letztgenannten Urteils auch die Einzelstrafen mitzuteilen. Dem Urteilstenor <strong>und</strong> der Schilderung der<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden Taten lassen sich jedoch zumal angesichts der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren<br />

<strong>und</strong> acht Monaten Einzelstrafen von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe für die drei Sexualverbrechen sicher entnehmen<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 16. April 1996 – 1 StR 173/96).<br />

b) Auch die Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 <strong>StGB</strong> aF im Hinblick auf die wegen erpresserischen Menschenraubes<br />

in Tateinheit mit Vergewaltigung <strong>und</strong> Körperverletzung verhängte Einzelstrafe von neun Jahren Freiheitsstrafe aus<br />

dem Urteil des Landgerichts Potsdam vom 17. November 2000 hat das Tatgericht rechtsfehlerfrei bejaht.<br />

2. Die Annahme neuer Tatsachen im Sinne der vorgenannten Regelungen begegnet ebenfalls keinen rechtlichen<br />

Bedenken. Das Landgericht hat auf Tatsachen abgestellt, die vor dem Hintergr<strong>und</strong> der nicht (mehr) vorhandenen<br />

Voraussetzungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus die qualifizierte Gefährlichkeit des Verurteilten<br />

auf einer abweichenden Gr<strong>und</strong>lage belegen <strong>und</strong> somit rechtlich in einem neuen Licht erscheinen lassen<br />

(BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 7. Oktober 2008 – GSSt 1/08, BGHSt 52, 379, 390 ff.). Beraten<br />

von zwei Sachverständigen kommt es zu der Überzeugung, dass beim Verurteilten ein relevanter Defekt im Sinne<br />

der §§ 20, 21 <strong>StGB</strong> zum Tatzeitpunkt nicht bestanden habe, namentlich nicht die im Urteil vom 17. November 2000<br />

angenommene schwere andere seelische Abartigkeit wegen einer Borderline-Störung. Allerdings habe bereits zum<br />

damaligen Zeitpunkt aufgr<strong>und</strong> der „psychopathischen Struktur“ des Verurteilten im Sinne des „Psychopathie-<br />

Konzepts von HARE“ ein Hang zur Begehung von schweren Straftaten, insbesondere Sexualstraftaten, vorgelegen.<br />

Der Verurteilte sei mit einem hohen Durchsetzungsbedürfnis <strong>und</strong> großer Rücksichtslosigkeit ausgestattet <strong>und</strong> in nur<br />

sehr geringem Maße emotional berührbar. Die Annahme einer höchst dissozialen <strong>und</strong> aggressiven Persönlichkeit sah<br />

das Landgericht zudem rechtsfehlerfrei in seinem manipulativen <strong>und</strong> auf Drohungen ausgerichteten Vollzugsverhalten<br />

bestätigt.<br />

3. Nach dem Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BGBl. I S. 1003) darf § 66b Abs. 2 <strong>StGB</strong> aF<br />

auf Taten, die – wie vorliegend – vor seinem Inkrafttreten begangen worden sind, allerdings nur noch dann angewendet<br />

werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- <strong>und</strong> Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in<br />

der Person oder dem Verhalten des Verurteilten abzuleiten ist <strong>und</strong> dieser an einer psychischen Störung im Sinne von<br />

§ 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG leidet. Die durch das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht vorgegebenen einschränkenden Voraussetzungen,<br />

die auch die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 <strong>StGB</strong> aF jedenfalls in<br />

Fällen der Rückwirkung erfassen, sind hier bereits auf der Gr<strong>und</strong>lage des angefochtenen Urteils ohne Weiteres als<br />

erfüllt anzusehen, selbst wenn darin der neue Maßstab noch nicht umfassend berücksichtigt werden konnte.<br />

a) Mit dem genannten Urteil hat das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht die Regelungen des Strafgesetzbuchs über die Sicherungsverwahrung<br />

mangels ausreichender Wahrung des „Abstandsgebots“ für unvereinbar mit dem – auch im Blick<br />

der Wertungen des Art. 7 Abs. 1 MRK auszulegenden – Freiheitsgr<strong>und</strong>recht erklärt <strong>und</strong> eine gesetzliche Neuregelung<br />

bis 31. Mai 2013 verlangt. Darüber hinaus hat es – neben der rückwirkenden unbefristeten Anordnung der Fortdauer<br />

der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung – die rückwirkende nachträgliche Anordnung der Unterbringung<br />

in der Sicherungsverwahrung für unvereinbar mit dem Freiheitsgr<strong>und</strong>recht in seiner Ausprägung durch den<br />

rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutz – in einer an den Wertungen des Art. 5 Abs. 1 <strong>und</strong> Art. 7 Abs. 1 MRK<br />

orientierten Auslegung – erklärt. Namentlich die rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung<br />

durch Sicherungsverwahrung kann daher nur noch als verhältnismäßig angesehen werden, wenn der gebotene Abstand<br />

zur Strafe gewahrt wird, eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten<br />

Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist <strong>und</strong> die Voraussetzungen des Art. 5<br />

Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK erfüllt sind (BVerfG aaO Rn. 156). Bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber hat<br />

das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht eine weitere Anwendung der Vorschrift nur unter den genannten strengen Anforderungen<br />

für zulässig erachtet (BVerfG aaO Tenor Ziffer III).<br />

b) Diese einschränkenden Maßgaben beanspruchen auch für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

nach § 66b Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> aF Gültigkeit. Zwar hat das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht in Ziffer II. 2 des Urteilstenors<br />

– ersichtlich geschuldet den ihm zur Entscheidung vorgelegten Fällen – ausdrücklich nur § 66b Abs. 2 <strong>StGB</strong> aF für<br />

verfassungswidrig erklärt. Jedoch treten – wie auch der verfahrensgegenständliche Sachverhalt zeigt – im Rahmen<br />

des § 66b Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> aF ebenfalls häufig Fallgestaltungen auf, in denen die der Anlassverurteilung zugr<strong>und</strong>e<br />

liegende Straftat vor Inkrafttreten der Norm begangen wurde; § 66b Abs. 1 Satz 2 <strong>StGB</strong> aF stellt in seinen rechtlichen<br />

Voraussetzungen sogar allein auf Straftaten ab, die bereits vor Inkrafttreten der Regelung begangen wurden.<br />

Die durch das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht insbesondere gegen die rückwirkende Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung<br />

gemäß § 66b Abs. 2 <strong>StGB</strong> aF angeführten durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken sind<br />

86


daher jedenfalls in Altfällen auf § 66b Abs. 1 <strong>StGB</strong> aF zu übertragen. Dem entspricht es, dass das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

in Leitsatz Ziffer 4 die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung umfassend benennt.<br />

c) Dem Beschluss des Senats vom 21. Juli 2010 – 5 StR 60/10 (BGHSt 55, 234) zur Rückwirkungsproblematik bei<br />

nachträglicher Sicherungsverwahrung folgend hat das Landgericht seiner Entscheidung bereits den nunmehr auch<br />

vom B<strong>und</strong>esverfassungsgericht geforderten erhöhten Gefährlichkeitsmaßstab (vgl. auch BGH, Beschluss vom 23.<br />

Mai 2011 – 5 StR 394, 440, 474/10, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt) rechtsfehlerfrei zugr<strong>und</strong>e gelegt.<br />

Sachverständig beraten ist es zu der Überzeugung gelangt, dass der 43 Jahre alte <strong>und</strong> körperlich ges<strong>und</strong>e Verurteilte<br />

kurz- bis mittelfristig nach seiner Entlassung wieder schwerste Sexualstraftaten begehen werde. Es handele sich bei<br />

ihm um einen stark bedürfnisorientierten Serienvergewaltiger, dessen innere Einstellung plakativ in seiner Äußerung<br />

hervortrete, er nehme sich Geld, wenn er Geld brauche, <strong>und</strong> eine Frau, wenn er Sex brauche. Behandlungsangebote<br />

habe er aufgr<strong>und</strong> mangelnder Auseinandersetzung mit seiner Persönlichkeit sowie seinen Straftaten nicht nutzen<br />

können, weshalb „die persönlichkeitsgeb<strong>und</strong>ene Disposition zur Begehung erheblicher Straftaten, primär von sexuellen<br />

Gewaltdelikten fortbestehe“ (UA S. 48). Die außerordentlich hohe Rückfallgeschwindigkeit der früheren Taten<br />

sowie das massiv gewaltbereite <strong>und</strong> berechnende Auftreten im Strafvollzug verdeutlichten die von ihm konkret ausgehende<br />

höchste Gefährlichkeit.<br />

d) Das Vorliegen einer psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThuG, die das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

in Konkretisierung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK verlangt, vermag der Senat – obgleich nicht Prüfungsmaßstab<br />

des Landgerichts – den Urteilsfeststellungen hier ohne Weiteres sicher zu entnehmen. Eine solche Störung muss<br />

gerade nicht zu einer Einschränkung der Schuldfähigkeit nach §§ 20, 21 <strong>StGB</strong> führen (vgl. BVerfG aaO Rn. 152,<br />

173; BGH, Beschluss vom 23. Mai 2011 aaO Rn. 7). Spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der<br />

Sexualpräferenz, der Impuls- <strong>und</strong> Triebkontrolle sind der psychischen Störung zuzurechnen; dies gilt insbesondere<br />

für die dissoziale Persönlichkeitsstörung (vgl. BVerfG aaO Rn. 152 mwN; siehe auch BT-Drucks. 17/3403 S. 54).<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage von Gutachten zweier Sachverständiger hat das Landgericht im Blick auf den Verurteilten nachvollziehbar<br />

eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit paranoiden Zügen angenommen. Es hat ihn rechtsfehlerfrei als<br />

eine von ihrer eigenen Überlegenheit <strong>und</strong> Großartigkeit überzeugte narzisstische Persönlichkeit mit hohem Durchsetzungsbedürfnis<br />

<strong>und</strong> nur sehr geringer emotionaler Berührbarkeit gekennzeichnet: Er fühle sich nur gut <strong>und</strong> stark,<br />

wenn er anderen Menschen wehtun, sie beleidigen oder kränken könne; die Verletzung anderer befriedige ein inneres<br />

Bedürfnis <strong>und</strong> sei nicht bloße Begleiterscheinung zielstrebigen Verhaltens. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser Persönlichkeitsstörung<br />

seien soziale Auffälligkeiten <strong>und</strong> kriminelle Fehlverhaltensweisen entwickelt worden, die in die abgeurteilten,<br />

überwiegend sehr schweren Gewalt- bzw. Sexualstraftaten eingemündet hätten. Ohne weitreichende therapeutische<br />

Behandlung sei eine Änderung des strafrechtlichen Verhaltens des Verurteilten nicht zu erwarten. Diese<br />

die Gefährlichkeitsbeurteilung tragenden Bef<strong>und</strong>e ergeben die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThuG, Art. 5<br />

Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK mit Eindeutigkeit. Angesichts der fehlerfrei getroffenen Bewertung im angefochtenen Urteil<br />

ist zweifelsfrei auszuschließen, dass bei einer tatgerichtlichen Beurteilung in positiver Kenntnis des vom B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

über BGHSt 55, 234 hinaus eingeschränkten Maßstabes ein abweichendes Ergebnis erzielt werden<br />

könnte. Dies gestattet hier trotz der Maßstabsverengung – ausnahmsweise – eine sofortige Verwerfung der Revision.<br />

<strong>StGB</strong> § 73; AWG § 34 I S. 1 Nr. 1 – Verfall nur i.H. der ersparten Aufwendungen<br />

BGH, Urt. V. 19.01.2012 - 3 StR 343/11 - NJW 2012, 1159; Anm. Rönnau/Kreuzer NZWiSt2012, 147<br />

LS: Hat der Täter in <strong>Teil</strong> I Abschnitt A der Ausfuhrliste (Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung)<br />

genannte Güter ohne die erforderliche Genehmigung ausgeführt, hätte diese indes erteilt<br />

werden müssen, so ist nicht der gesamte für die Güter eingenommene Kaufpreis das im Sinne des §<br />

73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> aus der Tat Erlangte; vielmehr sind dies nur die durch das Unterbleiben des<br />

Genehmigungsverfahrens ersparten Aufwendungen.<br />

Auf die Revisionen der Nebenbeteiligten <strong>und</strong> der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom<br />

8. Juni 2011 im Ausspruch über den Verfall von Wertersatz gegen die Nebenbeteiligte bezüglich der Fälle III. 3. 1<br />

bis 36 <strong>und</strong> 38 bis 47 der Urteilsgründe aufgehoben; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.<br />

Die weitergehenden Revisionen der Nebenbeteiligten <strong>und</strong> der Staatsanwaltschaft werden verworfen. Im Umfang der<br />

Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels der<br />

Nebenbeteiligten, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Die Kosten der Revision der<br />

87


Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> die der Nebenbeteiligten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse<br />

auferlegt.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen fahrlässigen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz in 47 Fällen zu<br />

einer Gesamtgeldstrafe von 35 Tagessätzen zu je 1.000 € verurteilt. Gegen die Nebenbeteiligte hat es den Verfall von<br />

Wertersatz in Höhe von 200.000 € angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der<br />

Nebenbeteiligten, die das Urteil beanstandet, soweit die Verfallsanordnung auf den Fällen III. 3. 1 bis 36 <strong>und</strong> 38 bis<br />

47 der Urteilsgründe beruht. Die Verfallsentscheidung in Höhe von 8.040 € hinsichtlich des Falles III. 3. 37 der Urteilsgründe<br />

hat die Nebenbeteiligte demgegenüber von ihrem Revisionsangriff ausgenommen. Die Staatsanwaltschaft<br />

wendet sich mit ihrem die Verletzung materiellen Rechts beanstandenden, zum Nachteil der Nebenbeteiligten eingelegten<br />

Rechtsmittel dagegen, dass das Landgericht es unterlassen hat, gegen die Nebenbeteiligte einen Wertersatzverfall<br />

von mehr als 200.000 € anzuordnen. Die Revisionen der Nebenbeteiligten <strong>und</strong> der Staatsanwaltschaft - letztere<br />

soweit sie in den Fällen III. 3. 1 bis 36 <strong>und</strong> 38 bis 47 der Urteilsgründe auch zu Gunsten der Nebenbeteiligten<br />

wirkt (§ 301 StPO) - haben Erfolg; das weitergehende Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist unbegründet. Nach den<br />

Feststellungen war die Angeklagte im Tatzeitraum die alleinige, einzelvertretungsberechtigte Geschäftsführerin <strong>und</strong><br />

faktische Alleingesellschafterin der Nebenbeteiligten. Gegenstand deren Unternehmens ist u.a. der Im- <strong>und</strong> Export<br />

sowie der Groß- <strong>und</strong> Einzelhandel mit Jagd- <strong>und</strong> Sportwaffen sowie Munition. Die Nebenbeteiligte wird regelmäßig<br />

als Zwischenhändlerin tätig <strong>und</strong> beliefert insbesondere K<strong>und</strong>en im Ausland vor allem mit Jagd- <strong>und</strong> Sportwaffen<br />

sowie Jagdzubehör. Zwischen August 2007 <strong>und</strong> Mai 2008 führte die Nebenbeteiligte in 47 Fällen Jagd- <strong>und</strong> Sportselbstladeflinten<br />

in Drittländer aus; die Verkaufserlöse betrugen insgesamt 1.157.020,11 €. Die Magazine der Waffen<br />

waren zuvor von den Herstellern mit Reduzierungen versehen worden, welche die ursprünglich größere Kapazität<br />

auf zwei Schuss neben einer im Lauf befindlichen Patrone beschränken sollten. Diese Reduzierungen konnten jedoch<br />

innerhalb kurzer Zeit mit einfachen Mitteln rückgängig gemacht werden. Die Angeklagte verließ sich auf die Herstellerangaben<br />

<strong>und</strong> überprüfte die Wirksamkeit der Magazinbeschränkungen nicht; sie kannte deshalb die Beschaffenheit<br />

der Waffen <strong>und</strong> die fehlende Nachhaltigkeit der Magazinbeschränkungen nicht. Sie hatte kein wirtschaftliches<br />

Interesse daran, Waffen ohne wirksame Beschränkung zu verkaufen. Sowohl im Einkauf als auch im Verkauf<br />

hatte sie die Lieferung von Waffen vereinbart, deren Kapazität entsprechend den deutschen Vorschriften auf "2+1"<br />

(eine Patrone im Lauf <strong>und</strong> zwei Patronen im Magazin) beschränkt war. Die Angeklagte holte in keinem Fall eine<br />

Ausfuhrgenehmigung des B<strong>und</strong>esamts für Wirtschaft <strong>und</strong> Ausfuhrkontrolle (im Folgenden: BAFA) ein. Hätte sie die<br />

Waffen dort zur Prüfung vorgelegt, hätte sie die Auskunft erhalten, dass die Ausfuhr genehmigungspflichtig sei. In<br />

den Fällen III. 3. 1 bis 36 <strong>und</strong> 38 bis 47 der Urteilsgründe hätte das BAFA die Ausfuhrgenehmigung erteilen müssen.<br />

Lediglich im Fall III. 3. 37 der Urteilsgründe wäre die Genehmigung wegen eines gegen das Empfängerland gerichteten<br />

Embargos verweigert worden. Das Landgericht hat das Verhalten der Angeklagten als fahrlässigen Verstoß<br />

gegen das Außenwirtschaftsgesetz in 47 Fällen (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 7 AWG) gewertet, da sie ohne die<br />

nach § 5 Abs. 1 AWV i.V.m. § 7 Abs. 1 AWG aF erforderliche Genehmigung in <strong>Teil</strong> I Abschnitt A der Ausfuhrliste<br />

(Anlage AL zur AWV), Position 0001 Unternummer 0001b2b, aufgeführte halbautomatische Flinten in Gebiete<br />

außerhalb des Gemeinschaftsgebietes ausgeführt <strong>und</strong> dabei gegen ihr obliegende Sorgfaltspflichten verstoßen habe.<br />

Die Strafkammer hat gegen die Nebenbeteiligte den Verfall von Wertersatz in Höhe von insgesamt 200.000 € angeordnet<br />

(§ 73 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, §§ 73a, 73c Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong>). Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Nebenbeteiligte<br />

habe aus den von der Angeklagten begangenen Taten als Drittbegünstigte die gesamten Verkaufserlöse in<br />

Höhe von 1.157.020,11 € im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> erlangt. Zur Vermeidung einer Doppelbelastung der<br />

Nebenbeteiligten seien hiervon lediglich bereits gezahlte Steuern in Höhe von 41.320,98 € in Abzug zu bringen. Die<br />

vereinnahmten Beträge seien das direkte Äquivalent für in ihrer konkreten Form untersagt gewesene Leistungen <strong>und</strong><br />

damit als Gegenleistung für verbotene Geschäfte bemakelt. Daran ändere es auch nichts, dass die Ausfuhren hätten<br />

genehmigt werden müssen; denn bei der Feststellung des durch die Taten Erlangten sei zur Gewährleistung der Effektivität<br />

des Verfalls <strong>und</strong> des mit ihm verfolgten Präventionszwecks eine formale Betrachtungsweise geboten. Dem<br />

Umstand, dass die Voraussetzungen für die Genehmigung der Ausfuhren vorlagen, sei lediglich im Rahmen der<br />

Billigkeitsprüfung nach § 73c Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> Rechnung zu tragen. Danach sei der Verfallsbetrag auf 200.000 €<br />

zu mindern, weil eine darüber hinausgehende Verfallsanordnung eine unbillige Härte für die Nebenbeteiligte darstelle.<br />

Der vorliegende Sachverhalt weise Besonderheiten auf, so dass das aus dem Zweck des Verfalls zu bestimmende<br />

Ausmaß an erforderlicher Prävention erheblich gemindert erscheine. Die Ausfuhren hätten zum ganz überwiegenden<br />

<strong>Teil</strong> genehmigt werden müssen; nur aus der Tat im Fall III. 3. 37 der Urteilsgründe habe die Nebenbeteiligte im<br />

Endeffekt einen gesetzlich verbotenen wirtschaftlichen Vorteil gezogen. Die Nebenbeteiligte habe die erzielten Einnahmen<br />

auch ohne Durchführung eines Genehmigungsverfahrens vor dem BAFA legal erreichen können, da sie nach<br />

88


den getroffenen vertraglichen Abreden von den Herstellern habe verlangen können, Waffen mit nachhaltigen Magazinreduzierungen<br />

zu erhalten. Die Straftaten ließen sich im Kern nicht auf finanzielle Anreize durch die Ausfuhrgeschäfte<br />

zurückführen, sondern auf Nachlässigkeiten der Angeklagten, die der Nebenbeteiligten für sich genommen<br />

keine wirtschaftlichen Vorteile gebracht hätten. Lediglich ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass eine höhere Verfallsanordnung<br />

auch weitere unangemessene, vom Gesetz nicht gewollte Folgen hätte, die letztlich durch ein Missverhältnis<br />

zwischen Anlass - fahrlässige Straftat - <strong>und</strong> Reaktion - umfassender Verfall der Bruttoeinnahmen - begründet<br />

seien.<br />

I. Revision der Nebenbeteiligten<br />

1. Die Beschränkung der Revision durch die Nebenbeteiligte auf die Verfallsanordnung, soweit diese auf den Fällen<br />

III. 3. 1 bis 36 <strong>und</strong> 38 bis 47 der Urteilsgründe beruht, ist wirksam; denn sie kann in diesen Fällen, die sich von Fall<br />

III. 3. 37 der Urteilsgründe vor allem dadurch unterscheiden, dass das BAFA auf entsprechende Anträge der Nebenbeteiligten<br />

die Ausfuhrgenehmigung jeweils hätte erteilen müssen, losgelöst von derjenigen im letztgenannten Fall<br />

rechtlich <strong>und</strong> tatsächlich selbstständig beurteilt werden.<br />

2. Das Rechtsmittel der Nebenbeteiligten ist begründet. Zwar ist die Anordnung des Verfalls entgegen der Auffassung<br />

der Nebenbeteiligten nicht nur bei Vorsatzdelikten, sondern auch bei fahrlässig begangenen Straftaten möglich.<br />

Jedoch hat das Landgericht den Umfang dessen rechtsfehlerhaft zu hoch bestimmt, was die Nebenbeteiligte aus den<br />

Taten der Angeklagten im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> erlangte; denn dies war hier ausschließlich der wirtschaftliche<br />

Wert der Aufwendungen, welche die Nebenbeteiligte jeweils dadurch ersparte, dass sie die erforderliche<br />

Genehmigung des BAFA nicht einholte. Im Einzelnen:<br />

a) § 73 Abs. 1 <strong>StGB</strong> setzt für die Anordnung des Verfalls eine rechtswidrig begangene Tat voraus. Im Gegensatz zur<br />

Einziehung nach § 74 Abs. 1 <strong>StGB</strong> enthält die Norm keine Beschränkung auf vorsätzlich begangene Delikte. Die<br />

Anordnung des Verfalls kommt somit auch bei der Verwirklichung eines Fahrlässigkeitstatbestands in Betracht (vgl.<br />

LK/Schmidt, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 73 Rn. 15; S/S-Eser, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 73 Rn. 4; zum Ordnungswidrigkeitenrecht<br />

vgl. BayObLG, Beschluss vom 27. April 2000 - 3 ObOWi 16/2000, wistra 2000, 395, 396; OLG Celle, Beschluss<br />

vom 16. Mai 1997 - 2 Ss (OWi) 358/96, NStZ 1997, 554, 556).<br />

b) Die Frage, nach welchen Kriterien die Bestimmung des Erlangten im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> bei Straftaten<br />

vorzunehmen ist, die wie hier wesentlich dadurch geprägt werden, dass ein formeller Verstoß gegen einen Genehmigungsvorbehalt<br />

sanktioniert wird, die erforderliche Genehmigung indessen bei entsprechender Antragstellung<br />

hätte erteilt werden müssen, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bisher nicht entschieden (zur uneinheitlichen<br />

Rechtsprechung der Instanzgerichte vgl. etwa OLG Celle, Beschluss vom 30. August 2011 - 322 SsBs 175/11,<br />

DAR 2011, 642; OLG Koblenz, Beschluss vom 28. September 2006 - 1 Ss 247/06, ZfSch 2007, 108). Hierzu gilt:<br />

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> unterliegt dem Verfall, was der Täter für die Tat oder aus der Tat erlangt hat. Maßgeblich<br />

ist deshalb die Bestimmung des wirtschaftlichen Wertes des Vorteils, den der Täter für oder durch die Tat<br />

erzielt hat (BGH, Urteile vom 21. März 2002 - 5 StR 138/01, BGHSt 47, 260, 268; vom 19. November 1993 - 2 StR<br />

468/93, BGHR <strong>StGB</strong> § 73 Erlangtes 1). Das erlangte Etwas im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> umfasst dabei die<br />

Gesamtheit des für oder aus der Tat materiell Erlangten. Nach dem gesetzlichen Bruttoprinzip sind wirtschaftliche<br />

Werte, die in irgendeiner Phase des Tatablaufs unmittelbar erlangt wurden, in ihrer Gesamtheit abzuschöpfen; Gegenleistungen<br />

oder Kosten des Täters bei der Tatdurchführung sind nicht in Abzug zu bringen (BGH, Urteile vom<br />

21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 370; vom 16. Mai 2006 - 1 StR 46/06, BGHSt 51, 65, 66 f.; vgl.<br />

auch BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2006 - 2 BvR 527/06, juris Rn. 4).<br />

aa) Die Alternative "für die Tat erlangt" scheidet hier aus; denn "für die Tat erlangt" sind Vorteile nur dann, wenn sie<br />

dem Beteiligten als Gegenleistung für sein rechtswidriges Handeln gewährt werden, aber - wie etwa ein Lohn für die<br />

Tatbegehung oder eine Provision - nicht auf der Tatbestandsverwirklichung selbst beruhen (BGH, Urteile vom 2.<br />

Dezember 2005 - 5 StR 119/05, BGHSt 50, 299, 309 f.; vom 22. Oktober 2002 - 1 StR 169/02, BGHR <strong>StGB</strong> § 73<br />

Erlangtes 4). Eine derartige Gegenleistung erhielt die Nebenbeteiligte vorliegend nicht. Die Abnehmer der Waffen<br />

leisteten ihr weder gesonderte Zahlungen noch erhöhte Kaufpreise dafür, dass sie - etwa zur Geheimhaltung der<br />

Geschäfte - keine Genehmigungen für die einzelnen Ausfuhren einholte.<br />

bb) In Betracht kommt deshalb lediglich die Alternative "aus der Tat erlangt". Unter diese Tatbestandsvariante fallen<br />

alle Vermögenswerte, die dem Täter oder <strong>Teil</strong>nehmer unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestands zufließen.<br />

(1) Bereits der Wortlaut des § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> belegt indes, dass nicht alles, was der Tatbeteiligte oder Dritte<br />

(§ 73 Abs. 3 <strong>StGB</strong>) in irgendeinem beliebigen Zusammenhang mit der Verwirklichung der rechtswidrigen Tat erlangt<br />

hat, dem Verfall unterliegt, sondern nur derjenige Vermögenszuwachs, den er gerade - gleichsam spiegelbildlich<br />

- aus der Tat erzielt hat (vgl. Kudlich/Noltensmeier, wistra 2007, 121, 124). Es werden daher nur solche Vorteile<br />

erfasst, die der Tatteilnehmer oder Dritte nach dem Schutzzweck der Strafnorm nicht erlangen <strong>und</strong> behalten dürfen<br />

89


soll, weil sie von der Rechtsordnung - einschließlich der verletzten Strafvorschrift - als Ergebnis einer rechtswidrigen<br />

Vermögensverschiebung bewertet werden (SK-<strong>StGB</strong>/Wolters/Horn, <strong>StGB</strong>, 110. Lfg., § 73 Rn. 9 [Stand: September<br />

2007]).<br />

(2) Gleiches folgt aus Sinn <strong>und</strong> Zweck des Verfalls. Dieser verfolgt selbst keinen Strafzweck, sondern dient als öffentlich-rechtliche<br />

Maßnahme eigener Art der Abschöpfung des unrechtmäßig aus der Tat Erlangten <strong>und</strong> damit dem<br />

Ausgleich einer rechtswidrigen Vermögensverschiebung. Er stellt sich als Abschöpfung des illegitimen Vermögensvorteils<br />

dar, der als Entgelt für die Tat oder als Erlös aus ihr in das Vermögen eines an der Straftat Beteiligten oder<br />

durch dessen Handeln unmittelbar in das Vermögen eines tatunbeteiligten Dritten (§ 73 Abs. 3 <strong>StGB</strong>) gelangt ist.<br />

Dadurch soll dem Tatbeteiligten, aber auch der Allgemeinheit, vor Augen geführt werden, dass sich Verletzungen<br />

der Strafrechtsordnung über die eigentliche Ahndung der Tat durch eine entsprechende Sanktion hinaus auch finanziell<br />

nicht auszahlen. Auf diese Weise bezweckt der Verfall auf vermögensrechtlichem Gebiet auch die Wiederherstellung<br />

der verletzten Rechtsordnung. Dieser Normzweck gilt ebenfalls für die Anordnung des Verfalls gegen einen<br />

Drittbegünstigten nach § 73 Abs. 3 <strong>StGB</strong> (vgl. BGH, Urteile vom 28. Oktober 2010 - 4 StR 215/10, NJW 2011, 624,<br />

626; vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 373 f.; LK/Schmidt, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 73 Rn. 8).<br />

(3) Der dem Verfall unterliegende Vorteil ist deshalb danach zu bestimmen, was letztlich strafbewehrt ist. Hat sich<br />

der Tatbeteiligte im Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit - insbesondere dem Abschluss oder der<br />

Erfüllung eines Vertrages - strafbar gemacht, so ist demgemäß bei der Bestimmung dessen, was er aus der Tat erlangt<br />

hat, in den Blick zu nehmen, welchen geschäftlichen Vorgang die Vorschrift nach ihrem Zweck verhindern<br />

will; nur der aus diesem Vorgang gezogene Vorteil ist dem Täter im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> erwachsen.<br />

Soweit das Geschäft bzw. seine Abwicklung an sich verboten <strong>und</strong> strafbewehrt ist, unterliegt danach gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

der gesamte hieraus erlangte Erlös dem Verfall. Ist dagegen strafrechtlich nur die Art <strong>und</strong> Weise bemakelt, in der das<br />

Geschäft ausgeführt wird, so ist nur der hierauf entfallende Sondervorteil erlangt (BGH, Beschluss vom 27. Januar<br />

2010 - 5 StR 224/09, NJW 2010, 882, 884 mwN). Diese Gr<strong>und</strong>sätze gelten auch in den Fällen, in denen das geschäftliche<br />

Tätigwerden des Tatbeteiligten einem Genehmigungsvorbehalt unterliegt, den dieser in strafbarer Weise umgeht.<br />

Erreicht er hierdurch, dass er ein - gegebenenfalls auch nur nach dem Ermessen der Genehmigungsbehörde -<br />

nicht genehmigungsfähiges Geschäft abschließen <strong>und</strong>/oder erfüllen sowie daraus entsprechende Vermögenszuwächse<br />

erzielen kann, so sind diese in vollem Umfang erlangt im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> unterliegen daher<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich uneingeschränkt dem Verfall. Hatte er dagegen einen Anspruch auf die Genehmigung, so bemakelt<br />

die Rechtsordnung nicht den Abschluss oder die Erfüllung des Vertrages; vielmehr soll durch die Strafbewehrung<br />

allein die Umgehung der Kontrollbefugnis der Genehmigungsbehörde sanktioniert werden. Erlangt ist somit nur der<br />

durch die Nichtdurchführung des Genehmigungsverfahrens erwachsene (Sonder-)Vorteil.<br />

(4) Dem steht das im Rahmen des § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> geltende Bruttoprinzip nicht entgegen. Dieses besagt<br />

lediglich, dass der erlangte wirtschaftliche Wert "brutto", also ohne gewinnmindernde Abzüge anzusetzen ist. Im<br />

vorliegenden Fall geht es indessen nicht um die Anrechnung gewinnmindernder Abzüge, sondern um die Bestimmung<br />

des unmittelbar aus der Tat Erlangten unter Beachtung insbesondere von Wortlaut sowie Sinn <strong>und</strong> Zweck des<br />

§ 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong>. Die dem Verfall unterliegenden Aufwendungen, welche die Nebenbeteiligte dadurch ersparte,<br />

dass sie die erforderlichen Genehmigungen nicht einholte, entsprechen nicht dem Bruttoerlös aus den getätigten<br />

Veräußerungsgeschäften abzüglich dabei entstandener Kosten; sie sind vielmehr qualitativ etwas anderes. Insoweit<br />

ist das Bruttoprinzip nicht beeinträchtigt; denn die Bestimmung des für die Abschöpfung überhaupt in Betracht<br />

kommenden Vorteils ist der Bestimmung seines Umfangs logisch vorgelagert (vgl. auch BGH, Beschluss vom 27.<br />

Januar 2010 - 5 StR 224/09, NJW 2010, 882, 884; Urteil vom 21. März 2002 - 5 StR 138/01, BGHSt 47, 260, 269).<br />

(5) Nach diesen Maßstäben ist in den Fällen, in denen wie hier die Verfallsanordnung auf einer Straftat nach § 34<br />

Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AWG beruht <strong>und</strong> die erforderliche Genehmigung durch das BAFA hätte erteilt werden müssen,<br />

auch unter Beachtung des Schutzzwecks der Strafvorschrift als dem Unwertgehalt der Tat entsprechender Sondervorteil<br />

lediglich die Ersparnis derjenigen Aufwendungen anzusehen, die für die Erteilung der Genehmigung hätten erbracht<br />

werden müssen. § 34 Abs. 1 Satz 1 AWG stellt das Ausführen (§ 4 Abs. 2 Nr. 4 AWG) oder Verbringen (§ 4<br />

Abs. 2 Nr. 5 AWG) bestimmter Güter ohne Genehmigung unter Strafe. Die Vorschrift hat vor allem den Schutz des<br />

Allgemeinwohls im Blick, indem sie mit ihrer Strafdrohung den Genehmigungsvorbehalt im Außenwirtschaftsverkehr<br />

sicherstellt, mit dessen Hilfe der Staat den nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AWG gr<strong>und</strong>sätzlich freien Wirtschaftsverkehr<br />

mit dem Ausland aus übergeordneten Interessen des Gemeinwohls beschränken kann (Erbs/Kohlhaas/Diemer, Strafrechtliche<br />

Nebengesetze, § 1 Rn. 1, § 34 Rn. 4 [Stand: Januar 2009]). Der gr<strong>und</strong>sätzlich freie Export ist nur insoweit<br />

genehmigungspflichtig, als er wegen überwiegender gesamtwirtschaftlicher Belange im Interesse der Sicherheit der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, ihrer auswärtigen Beziehungen <strong>und</strong> des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder<br />

im Hinblick auf zwischenstaatliche Vereinbarungen der Kontrolle bedarf (BGH, Urteil vom 14. Dezember 1994 - 5<br />

90


StR 210/94, BGHSt 40, 378, 384). Danach handelt es sich bei einem Verstoß gegen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AWG,<br />

wenn die erforderliche Genehmigung vom BAFA zu erteilen gewesen wäre, nicht um eine primär gewinnorientierte<br />

Straftat, wie sie der Gesetzgeber im Rahmen der Regelung des § 73 <strong>StGB</strong> vor allem erfassen wollte (BGH, Urteil<br />

vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 373 f., 375). Auch unter präventiven Gesichtspunkten ist die<br />

Abschöpfung des Verkaufserlöses folglich bei einem Verstoß gegen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AWG nicht angezeigt,<br />

wenn die Ausfuhr hätte genehmigt werden müssen; denn der Kern des strafbewehrten Tatunrechts liegt bei diesem<br />

rein formalen Verstoß gegen den Genehmigungsvorbehalt lediglich darin, dass die Angeklagte vor der Ausfuhr der<br />

Waren nicht die erforderliche Genehmigung eingeholt hat. Der Umstand, dass diese Genehmigung vom BAFA jeweils<br />

auf Antrag hätte erteilt werden müssen, belegt, dass der Abschluss der Veräußerungsgeschäfte sowie deren<br />

Erfüllung <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Ausfuhr aus dem Gemeinschaftsgebiet als solche den Prinzipien der Rechtsordnung<br />

gerade nicht widersprachen. Somit entfällt die Notwendigkeit, durch die Anordnung des Verfalls des gesamten<br />

Verkaufserlöses der verletzten Rechtsordnung wieder Geltung zu verschaffen. In diesem Punkt unterscheiden sich<br />

die Fälle der vorliegenden Art wesentlich von solchen, in denen gerade das Veräußerungsgeschäft als solches oder<br />

dessen Erfüllung den wesentlichen Gehalt des Tatunrechts bilden. Die Abschöpfung des gesamten Verkaufserlöses<br />

entspräche hier nicht spiegelbildlich dem bemakelten Vermögensvorteil, den der Täter oder Drittbeteiligte gerade aus<br />

der Tat gezogen hat.<br />

(6) Somit ist entgegen der Auffassung des Landgerichts der Umstand, dass die Ausfuhren jeweils vom BAFA hätten<br />

genehmigt werden müssen, nicht erst bei der Prüfung von Belang, ob die Verfallsanordnung für den Betroffenen eine<br />

unbillige Härte nach § 73c Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> darstellt (aA Münch-Komm<strong>StGB</strong>/Joecks, § 73c Rn. 12; Franzheim,<br />

wistra 1989, 87, 90). Damit wird schließlich auch dem Gesichtspunkt der Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung<br />

besser Genüge getan. Während der im Rahmen des § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> in Fällen der vorliegenden Art abzuschöpfende<br />

Sondervorteil regelmäßig berechenbar ist <strong>und</strong> das Erlangte daher beziffert werden kann, ist für den unbestimmten<br />

Rechtsbegriff der unbilligen Härte nach § 73c Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> nach ständiger Rechtsprechung maßgebend,<br />

ob die Anordnung den Betroffenen empfindlich treffen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>sätze der Billigkeit sowie das Übermaßverbot<br />

verletzen <strong>und</strong> damit "schlechthin ungerecht" erscheinen würde (BGH, Urteil vom 2. Oktober 2008 - 4 StR<br />

153/08, BGHR <strong>StGB</strong> § 73c Härte 13). Diese Umschreibung eröffnet dem Tatgericht einen weiten Beurteilungsspielraum.<br />

Es obliegt im Wesentlichen seiner Bewertung, ob eine unbillige Härte vorliegt. Die Gewichtung der hierfür<br />

maßgeblichen Umstände ist der Nachprüfung in der Revisionsinstanz entzogen (BGH, Urteil vom 26. März 2009 - 3<br />

StR 579/08, BGHR <strong>StGB</strong> § 73c Härte 14). Hieraus folgt, dass ähnlich gelagerte Sachverhalte eine ganz unterschiedliche<br />

Behandlung erfahren können. Dies belegt auch der vorliegende Fall, in dem das Landgericht den Verfallsbetrag<br />

von 1.115.699,13 € (Gesamterlös 1.157.020,11 € abzüglich angerechneter Steuern in Höhe von 41.320,98 €) auf<br />

200.000 € herabgesetzt hat, ohne dass den Urteilsgründen entnommen werden kann, warum gerade dieser Betrag<br />

angemessen sein soll.<br />

II. Revision der Staatsanwaltschaft<br />

1. Die ausweislich ihrer Begründung wirksam auf die Höhe der Verfallsanordnung beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft<br />

(vgl. BGH, Urteile vom 9. Mai 2001 - 3 StR 541/00, NStZ 2001, 531; vom 25. September 1990 - 1 StR<br />

400/90, BGHR <strong>StGB</strong> § 73a Wert 1) bleibt ohne Erfolg, soweit sie einen höheren Verfallsbetrag erstrebt. Wie dargelegt<br />

ist die Entscheidung des Landgerichts zu § 73 <strong>StGB</strong> zum Nachteil der Nebenbeteiligten rechtsfehlerhaft <strong>und</strong><br />

deshalb aufzuheben. Der Senat schließt aus, dass in einer neuen Hauptverhandlung Feststellungen getroffen werden,<br />

welche die Anordnung des Verfalls in Höhe von mehr als 200.000 € begründen.<br />

2. Das Rechtsmittel führt jedoch aus den zu der Revision der Nebenbeteiligten dargestellten Gründen zur Aufhebung<br />

der Verfallsanordnung in den Fällen III. 3. 1 bis 36 <strong>und</strong> 38 bis 47 der Urteilsgründe (§ 301 StPO).<br />

3. Die insoweit nicht beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft erfasst zu Gunsten der Nebenbeteiligten auch den<br />

Fall III. 3. 37 der Urteilsgründe. Bezüglich der auf dieser Tat beruhenden Verfallsanordnung hält das Urteil sachlichrechtlicher<br />

Nachprüfung stand. Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang insbesondere rechtsfehlerfrei im<br />

Rahmen des § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> den erzielten Verkaufserlös als von der Nebenbeteiligten erlangtes Etwas bewertet.<br />

Anders als in den übrigen Fällen war die Ausfuhr der Waffen hier nicht genehmigungsfähig, da sie gegen ein<br />

Embargo verstieß. Embargoverstöße sind - ähnlich wie etwa Rauschgiftgeschäfte - an sich verboten, so dass der<br />

gesamte hieraus erlöste Wert dem Verfall unterliegt. In diesen Fällen kommt mit Blick darauf, dass die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland auch aufgr<strong>und</strong> internationaler Verpflichtungen gehalten ist, derartigen Handlungen mit effektiven<br />

Maßnahmen entgegenzuwirken, der Anordnung des Verfalls des aus solchen Geschäften Erlangten nach dem<br />

Bruttoprinzip auch beim Drittbegünstigten große Bedeutung zu. Auf diese Weise kann vor dem Hintergr<strong>und</strong> der<br />

präventiven Zielrichtung des Verfalls das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass sich derartige Geschäfte nicht<br />

lohnen, Aufwendungen hierfür nutzlos sind <strong>und</strong> es deshalb auch wirtschaftlicher ist, wirksame Kontrollmechanismen<br />

91


zur Verhinderung solcher Straftaten einzurichten (BGH, Beschluss vom 18. Februar 2004 - 1 StR 269/03, NStZ-RR<br />

2004, 214, 215; Urteil vom 21. August 2002 - 1 StR 115/02, BGHSt 47, 369, 372).<br />

III. Umfang der Aufhebung<br />

Die Entscheidung des Landgerichts ist rechtskräftig, soweit sie die Verfallsanordnung im Fall III. 3. 37 in Höhe von<br />

8.040 € betrifft. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen werden durch den aufgezeigten Wertungsfehler nicht<br />

berührt; sie können deshalb bestehen bleiben. Ergänzende Feststellungen, die den bisherigen nicht widersprechen,<br />

etwa zur Höhe der von der Nebenbeteiligten ersparten Aufwendungen, sind möglich. Das neue Tatgericht wird dabei<br />

die Kosten <strong>und</strong> gegebenenfalls Gebühren in den Blick zu nehmen haben, die der Nebenbeteiligten durch das Verfahren<br />

beim BAFA entstanden wären. Daneben sind etwa auch die Kosten für diejenigen Maßnahmen einzubeziehen,<br />

die von der Nebenbeteiligten zu treffen gewesen wären, um eine angemessene Prüfung der veräußerten Ware auf ihre<br />

Genehmigungsbedürftigkeit <strong>und</strong> -fähigkeit zu gewährleisten. Sollten insoweit konkrete Feststellungen nur mit unverhältnismäßigem<br />

Aufwand zu treffen sein, kommt eine Schätzung nach Maßgabe des § 73b <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> der hierzu<br />

entwickelten Gr<strong>und</strong>sätze in Betracht.<br />

<strong>StGB</strong> § 74, 74a; <strong>StGB</strong> § 184b Unbrauchbarmachung statt Einziehung des PC (Kinderpornografie)<br />

BGH, Beschl. v. 11.01.2012 - 4 StR 612/11 - BeckRS 2012, 04841<br />

Rechtsgr<strong>und</strong>lage für die Einziehungsanordnung ist bei einer Verurteilung wegen Besitzes kinderpornographischer<br />

Schriften hinsichtlich der Beziehungsgegenstände § 184b Abs. 6 Satz 2 <strong>StGB</strong> als<br />

spezielle Vorschrift; der Rechner als solcher nebst Zubehör unterliegt im vorliegenden Fall als Tatwerkzeug<br />

der Einziehung nach den §§ 74, 74a in Verb. mit § 184b Abs. 6 Satz 3 <strong>StGB</strong>.<br />

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 29. August 2011 wird<br />

mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass, soweit die Einziehung des dem Angeklagten gehörenden Computers<br />

(Midi–Tower) der Marke „M.“ angeordnet worden ist, der Angeklagte angewiesen wird, die auf der Festplatte<br />

dieses Computers befindliche Bilddatei „T- “ mit der Bezeichnung „P. .mpg“ unbrauchbar zu machen <strong>und</strong> die Unbrauchbarmachung<br />

der Strafvollstreckungsbehörde gegenüber in geeigneter Form nachzuweisen. Bis zu diesem<br />

Nachweis bleibt die Einziehung vorbehalten.<br />

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen<br />

notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, wegen schweren sexuellen Missbrauchs<br />

von Kindern in 40 Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, sowie<br />

wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt <strong>und</strong> ihn<br />

im Übrigen freigesprochen. Wegen des Besitzes kinderpornographischer Schriften hat es eine Einzelgeldstrafe verhängt<br />

<strong>und</strong> die Einziehung des sichergestellten Personal-Computers angeordnet.<br />

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der nicht näher ausgeführten Sachrüge. Das Rechtsmittel führt<br />

lediglich zu einer Änderung im Ausspruch über die Anordnung der Einziehung. Im Übrigen hat die Überprüfung des<br />

angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

1. Nach den Feststellungen speicherte der Angeklagte zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt eine Videodatei mit<br />

kinderpornographischem Inhalt auf seinem Personal-Computer, die er sich vermutlich durch Datenübertragung im<br />

Internet verschafft hatte. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten am 18. Februar 2011 wurde der<br />

Computer mit der fraglichen Datei sichergestellt.<br />

2. a) Im Ausgangspunkt rechtsfehlerfrei hat das Landgericht angenommen, dass mit der Verurteilung des Angeklagten<br />

die Voraussetzungen der Einziehung vorliegen. Rechtsgr<strong>und</strong>lage für die Einziehungsanordnung ist bei einer<br />

Verurteilung wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften hinsichtlich der Beziehungsgegenstände, im vorliegenden<br />

Fall also für die Festplatte des Computers als Speichermedium, § 184b Abs. 6 Satz 2 <strong>StGB</strong> als spezielle Vorschrift;<br />

der Rechner als solcher nebst Zubehör unterliegt im vorliegenden Fall als Tatwerkzeug der Einziehung nach<br />

den §§ 74, 74a in Verb. mit § 184b Abs. 6 Satz 3 <strong>StGB</strong> (HansOLG Hamburg, Beschluss vom 3. Mai 1999 – 1 Ss<br />

39/99, NStZ-RR 1999, 329, Tz. 21; LK-<strong>StGB</strong>/Laufhütte/Roggenbuck, 12. Aufl., § 184b Rn. 20).<br />

b) Im Hinblick auf den Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom 28. November 2008<br />

– 2 StR 501/08, BGHSt 53, 69, 70 zur Sicherungseinziehung) macht der Senat von der Möglichkeit einer Anordnung<br />

92


gemäß § 74b Abs. 2 <strong>StGB</strong> Gebrauch, zumal die Strafzumessungserwägungen des angefochtenen Urteils nicht erkennen<br />

lassen, ob sich das Landgericht der Wechselwirkung zwischen der Höhe der verhängten Strafe <strong>und</strong> der Einziehung<br />

bewusst war. Danach bleibt die Einziehung des Computers insgesamt bis zum Nachweis der Unbrauchbarmachung<br />

der Festplatte durch den Angeklagten vorbehalten. Wegen der insoweit gegebenenfalls erforderlichen gerichtlichen<br />

Entscheidungen weist der Senat auf § 462 Abs. 1 Satz 2 StPO hin (vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 74b Rn. 5).<br />

<strong>StGB</strong> § 78c; EuAlÜbk Art. 14 I b IRG § 72 Spezialität in Revision Auslieferung Schweiz<br />

BGH, Beschl. v. 09.02.2012 - 1 StR 148/11 - NJW 2012, 1301<br />

LS: 1. Ein wegen eines Verstoßes gegen den Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität aus Art. 14 des Europäischen<br />

Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (EuAlÜbk) bestehendes Verfahrenshindernis<br />

kann auch noch im Revisionsverfahren beseitigt werden.<br />

2. Ist der Ausgelieferte mit Verkündung des erstinstanzlichen Urteils auf freien Fuß gesetzt worden,<br />

entfällt die Spezialitätsbindung gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk dann, wenn er - obwohl er<br />

über die Rechtsfolgen dieser Vorschrift informiert worden ist <strong>und</strong> die Möglichkeit einer Ausreise<br />

hatte - nicht innerhalb von 45 Tagen die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland verlassen hat oder wenn er<br />

nach dem Verlassen Deutschlands dorthin zurückgekehrt ist.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 28. April 2010 wird mit der Maßgabe<br />

als unbegründet verworfen, dass die vom Angeklagten in dieser Sache in der Schweiz erlittene Auslieferungshaft<br />

im Maßstab von 1 : 1 angerechnet wird. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 16 Fällen <strong>und</strong> wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung<br />

in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten verurteilt. Hiergegen wendet<br />

er sich mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision, mit der er gleichzeitig ein Verfahrenshindernis geltend<br />

macht. Die Urteilsformel ist lediglich um die Entscheidung über die Anrechnung der in der Schweiz erlittenen Auslieferungshaft<br />

zu ergänzen. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen<br />

Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Der Erörterung bedarf lediglich Folgendes:<br />

I. Ein Verfahrenshindernis besteht nicht.<br />

1. Der Eröffnungsbeschluss genügt den an ihn zu stellenden inhaltlichen Anforderungen. Die Anklageschrift, an die<br />

der Eröffnungsbeschluss anknüpft, erfüllt noch ihre Funktion, die hier angeklagten Taten der Hinterziehung von<br />

Umsatzsteuer ausreichend zu umschreiben (vgl. zu den Anforderungen an die Darstellung in der Anklageschrift beim<br />

Vorwurf der Steuerhinterziehung BGH, Beschluss vom 27. Mai 2009 - 1 StR 665/08, NStZ-RR 2009, 340; siehe<br />

auch Weyand in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- <strong>und</strong> Steuerstrafrecht, § 385 AO Rn. 19 ff.).<br />

a) Eine Anklage ist dann unwirksam mit der Folge, dass das Verfahren wegen Fehlens einer Prozessvoraussetzung<br />

einzustellen ist, wenn etwaige Mängel dazu führen, dass die Anklage ihrer Umgrenzungsfunktion nicht genügt (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 9. August 2011 - 1 StR 194/11 mwN). Mängel der Informationsfunktion berühren ihre Wirksamkeit<br />

dagegen nicht (vgl. u.a. BGH, Urteile vom 24. Januar 2012 - 1 StR 412/11 <strong>und</strong> vom 2. März 2011 - 2 StR<br />

524/10; BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2007 - 4 StR 481/07, jeweils mwN); insoweit können Fehler auch noch in<br />

der Hauptverhandlung durch Hinweise entsprechend § 265 StPO geheilt werden (vgl. BGH, Urteil vom 28. Oktober<br />

2009 - 1 StR 205/09, NJW 2010, 308 mwN). Genügt der Anklagesatz den Anforderungen an die Wahrung der Umgrenzungsfunktion<br />

für sich allein nicht, dürfen die Ausführungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen zur<br />

Verdeutlichung <strong>und</strong> ergänzenden Erläuterung des Anklagesatzes herangezogen werden (BGHSt 46, 130, 134; BGH<br />

NStZ 2001, 656, 657; BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 24; Schneider in KK-StPO, 6. Aufl., § 200 StPO Rn. 30).<br />

Voraussetzung hierfür ist jedoch stets, dass sich aus dem Anklagesatz zumindest die Gr<strong>und</strong>lagen einer Tatbeteiligung<br />

ergeben. Fehlende Angaben im Anklagesatz können dann aus dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen entnommen<br />

werden, wenn sie dort eindeutig benannt sind <strong>und</strong> daraus deutlich wird, dass sich der Verfolgungswille der<br />

Staatsanwaltschaft hierauf erstreckt (vgl. BGH, Urteil vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09, NJW 2010, 308 mwN).<br />

b) Ausgehend von diesen Maßstäben genügt die Anklageschrift den Anforderungen an die Umgrenzungsfunktion,<br />

wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift vom 3. Mai 2011 zutreffend darlegt. Es waren auch sämtliche<br />

abgeurteilten Taten von der Anklage <strong>und</strong> vom Eröffnungsbeschluss erfasst (zur Reichweite der prozessualen Tat in<br />

93


Fällen der Hinterziehung von Umsatzsteuer vgl. BGH, Urteil vom 17. März 2009 - 1 StR 627/08, BGHSt 53, 221<br />

Rn. 28 ff.).<br />

2. Auch im Hinblick auf den Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität besteht kein Verfahrenshindernis.<br />

a) Allerdings bestand zum Zeitpunkt der Verurteilung des Angeklagten durch das Landgericht wegen des Gr<strong>und</strong>satzes<br />

der Spezialität hinsichtlich einzelner von der Verurteilung erfasster Delikte ein von Amts wegen zu berücksichtigendes<br />

Verfolgungsverbot (Verfahrenshindernis) aus Art. 14 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom<br />

13. Dezember 1957 (EuAlÜbk), denn der Angeklagte war nicht wegen dieser Delikte von der Schweiz nach<br />

Deutschland ausgeliefert worden <strong>und</strong> hatte auch nicht auf die Einhaltung des Spezialitätsgr<strong>und</strong>satzes verzichtet.<br />

aa) Der Angeklagte wurde zur Durchführung des Strafverfahrens aus der Schweiz ausgeliefert. Dieser Auslieferung<br />

lag ein Haftbefehl vom 8. Mai 2009 zugr<strong>und</strong>e (der unzutreffend unter dem 8. Mai 2008 datiert). Dieser Haftbefehl<br />

erfasste jedoch - wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift vom 3. Mai 2011 zutreffend dargelegt hat -<br />

die Lebenssachverhalte nicht, die der Verurteilung in den Fällen 9 <strong>und</strong> 14 bis 19 der Urteilsgründe zugr<strong>und</strong>e liegen.<br />

Die Zustimmung des Angeklagten zur vereinfachten Auslieferung ließ den Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität nicht entfallen<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 8. August 1989 - 1 StR 296/89, NStE Nr. 5 zu Art. 14 EuAlÜbk).<br />

(1) Aus dem Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität ergibt sich für den ersuchenden Staat eine Beschränkung seiner Hoheitsrechte<br />

(vgl. dazu Schomburg/ Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl. 2006, Einl. 74).<br />

Ihr Umfang bestimmt sich hier nach den Regelungen des EuAlÜbk in Verbindung mit der Auslieferungsbewilligung<br />

der Schweiz. Aus Art. 14 Abs. 1 EuAlÜbk ergibt sich, dass der Ausgelieferte „wegen einer anderen, vor der Übergabe<br />

begangenen Handlung als derjenigen, die der Auslieferung zugr<strong>und</strong>e liegt, nur … verfolgt, abgeurteilt, zur Vollstreckung<br />

einer Strafe oder Maßregel der Sicherung oder Besserung in Haft gehalten oder einer sonstigen Beschränkung<br />

seiner persönlichen Freiheit unterworfen werden“ darf, wenn der Staat, der ihn ausgeliefert hat, zustimmt (Art.<br />

14 Abs. 1 Buchst. a EuAlÜbk) oder wenn nach Verstreichen der Schonfrist des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk<br />

die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Danach durfte der Angeklagte nur wegen solcher vor der Auslieferung<br />

begangener Taten bestraft werden, für die die Auslieferung bewilligt wurde (vgl. BGH, Urteil vom 20. Dezember<br />

1968 - 1 StR 508/67, BGHSt 22, 307; BGH, Urteil vom 11. März 1999 - 4 StR 526/98, NStZ 1999, 363).<br />

(2) Zur Reichweite des Gr<strong>und</strong>satzes der Spezialität gilt Folgendes (vgl. BGH, Beschluss vom 2. November 2010 - 1<br />

StR 544/09 mwN): Der dem Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz zugr<strong>und</strong>e liegende Tatbegriff umfasst den gesamten mitgeteilten<br />

Lebenssachverhalt, innerhalb dessen der Verfolgte einen oder mehrere Straftatbestände erfüllt haben soll. Im Rahmen<br />

dieses historischen Vorgangs sind die Gerichte des ersuchenden Staates nicht gehindert, die Tat abweichend<br />

rechtlich oder tatsächlich zu würdigen, soweit insofern ebenfalls Auslieferungsfähigkeit besteht. Auch eine Änderung<br />

in der Rechtsauffassung berührt die Hoheitsinteressen des um Auslieferung ersuchten Staates regelmäßig nicht.<br />

Dementsprechend steht der Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz etwa einer Verurteilung wegen Einzeltaten anstelle einer im Auslieferungsersuchen<br />

angenommenen fortgesetzten Handlung nicht entgegen. Das Gleiche gilt, wenn der den Haftbefehl<br />

erlassende Richter anstatt von Tatmehrheit rechtsfehlerhaft von einer Verknüpfung der Taten im Sinne einer<br />

Handlungseinheit ausgegangen ist, sofern die dem Beschuldigten vorgeworfenen Tathandlungen dem Auslieferungsersuchen<br />

zu entnehmen sind. Maßgeblich ist insoweit ausgehend von Sinn <strong>und</strong> Zweck des Spezialitätsgr<strong>und</strong>satzes<br />

der Verfolgungswille des ersuchenden Staates, wie er für den ersuchten Staat im Auslieferungsverfahren objektiv<br />

erkennbar zum Ausdruck gebracht wird. Dem ersuchten Staat steht es frei, bei insoweit bestehenden Unklarheiten<br />

oder Unschärfen im Hinblick auf den Tatvorwurf seinerseits um Ergänzung der Darstellung der Handlungen, die<br />

Gegenstand des Auslieferungsersuchens sind, zu ersuchen (vgl. Art. 12 Abs. 2 Buchst. b, Art. 13 EuAlÜbk). Sieht er<br />

hiervon ab, bringt er mit der unbedingten Bewilligung zum Ausdruck, dass die Auslieferung zur Verfolgung all derjenigen<br />

Taten erfolgt, die für alle Verfahrensbeteiligten erkennbar vom Verfolgungswillen des ersuchenden Staats<br />

erfasst waren, auch wenn die einzelnen Taten im Auslieferungsverfahren noch nicht näher konkretisiert waren.<br />

(3) Auch unter Heranziehung dieser Gr<strong>und</strong>sätze waren die Lebenssachverhalte, die zur Verurteilung in den Fällen 9<br />

<strong>und</strong> 14 bis 19 der Urteilsgründe geführt haben, von der Auslieferungsbewilligung auf der Gr<strong>und</strong>lage des dem Auslieferungsverfahren<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden Haftbefehls nicht umfasst.<br />

(4) Eine Aburteilung wegen dieser Taten hätte allenfalls dann erfolgen dürfen, wenn der Angeklagte zu Protokoll<br />

einer Justizbehörde bzw. eines Richters (vgl. Art. VI Abs. 2 <strong>und</strong> 3 des Vertrages vom 13. November 1969 zwischen<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland <strong>und</strong> der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Ergänzung des Europäischen<br />

Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 <strong>und</strong> die Erleichterung seiner Anwendung) auf die Einhaltung<br />

des Spezialitätsgr<strong>und</strong>satzes verzichtet hätte. Dies war jedoch nicht der Fall. Vielmehr ist den Auslieferungsunterlagen<br />

zu entnehmen, dass der Angeklagte diesen Verzicht nicht erklärt hat (vgl. SH „Rechtshilfe“ 92 AR 127/09,<br />

Bl. 131, 145).<br />

94


) Damit bestand zum Zeitpunkt der Verurteilung ein sich aus Art. 14 EuAlÜbk ergebendes Verfahrenshindernis<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 29. Oktober 1963 - 1 StR 353/63, BGHSt 19, 118, 119). Die zur Auslieferung aufgr<strong>und</strong> eines<br />

Europäischen Haftbefehls ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, nach der sich aus<br />

einem Verstoß gegen den Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz lediglich ein Vollstreckungshindernis <strong>und</strong> ein Verbot freiheitsbeschränkender<br />

Maßnahmen ergibt (EuGH, Urteil vom 1. Dezember 2008 - Rechtssache C-388/08 [Leymann <strong>und</strong><br />

Pustovarov], NStZ 2010, 35 mit Anm. Heine, vgl. dazu BGH, Beschluss vom 27. Juli 2011 - 4 StR 303/11, NStZ<br />

2012, 100), findet auf die hier vorliegende Auslieferung aus der Schweiz keine Anwendung.<br />

cc) Das bestehende Verfahrenshindernis hatte jedoch nicht zur Folge, dass das Strafurteil des Landgerichts insoweit<br />

nichtig wäre; vielmehr ist dieses lediglich anfechtbar (vgl. RGSt 72, 77, 78; Schomburg/Hackner in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner,<br />

Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl. 2006, § 72 IRG Rn. 28).<br />

b) Der Verstoß gegen den Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität führt allerdings auch nicht dazu, dass der Senat das Urteil aufheben<br />

<strong>und</strong> das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses einstellen müsste. Denn die Beschränkung der Hoheitsrechte<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland aufgr<strong>und</strong> des im EuAlÜbk vereinbarten Spezialitätsgr<strong>und</strong>satzes ist hier nachträglich<br />

weggefallen, weil der in Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk geregelte Ausnahmefall, bei dem die Spezialitätsbindung<br />

wieder entfällt, eingetreten ist.<br />

aa) Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk lässt die Verfolgung <strong>und</strong> Aburteilung von in einer Auslieferungsbewilligung<br />

nicht genannten Taten dann zu, wenn der Ausgelieferte, obwohl er die Möglichkeit hatte, das Hoheitsgebiet des<br />

Staates, dem er ausgeliefert worden ist, innerhalb von 45 Tagen nach seiner endgültigen Freilassung nicht verlassen<br />

hat oder wenn er nach Verlassen dieses Gebiets dorthin zurückgekehrt ist (s. auch Art. 38 Abs. 2 Buchst. b Nr. 1<br />

Schweizerisches IRSG).<br />

bb) Diese Voraussetzungen liegen hier vor; der Angeklagte befand sich nach seiner Haftentlassung mehr als 45 Tage<br />

auf freiem Fuß <strong>und</strong> hat die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland trotz vorherigen Hinweises auf die sich aus Art. 14 Abs. 1<br />

Buchst. b EuAlÜbk ergebenden Rechtsfolgen nicht verlassen oder ist - was dem gleich steht (vgl. OLG <strong>Hamm</strong> wistra<br />

1999, 359) - nach einer Ausreise dorthin wieder zurückgekehrt.<br />

(1) Im Anschluss an die Urteilsverkündung am 28. April 2010 wurde der bereits seit 12. März 2010 außer Vollzug<br />

gesetzte Haftbefehl gegen den Angeklagten aufgehoben (PB I Bl. 75, 259). Damit wurde der Angeklagte im Sinne<br />

von Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk i.V.m. Art. VI Abs. 1 Schweiz-EuAlÜbk-ErgV vom 13. November 1969<br />

endgültig freigelassen. „Endgültig freigelassen“ im Sinne des EuAlÜbk ist der Ausgelieferte dann, wenn ihm nach<br />

seiner Entlassung aus dem Gewahrsam des ersuchenden Staates in dem Verfahren, für das die Auslieferung bewilligt<br />

worden war, freisteht, das Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates zu verlassen <strong>und</strong> er dazu die tatsächliche Möglichkeit<br />

hat (vgl. dazu auch Walter, NStZ 1993, 393). Dies war hier mit Aufhebung des gegen den Angeklagten bestehenden<br />

Haftbefehls bei der Urteilsverkündung der Fall. Hierdurch wurde auch die letzte die Bewegungsfreiheit des<br />

Angeklagten beeinträchtigende Maßnahme durch das Gericht aufgehoben. Ladungen standen angesichts des mit<br />

Urteil abgeschlossenen Hauptverfahrens erster Instanz nicht mehr an. Vollstreckungsmaßnahmen konnten im Hinblick<br />

auf die vom Angeklagten eingelegte Revision noch nicht ergriffen werden. Einer die Bewegungsfreiheit beeinträchtigenden<br />

Maßnahme steht nicht gleich, dass der Angeklagte für den Fall der Rechtskraft des gegen ihn ergangenen<br />

erstinstanzlichen Urteils trotz Anrechnung verbüßter Auslieferungs- <strong>und</strong> Untersuchungshaft (vgl. § 51 Abs. 1<br />

<strong>StGB</strong>) noch mit der Verbüßung eines Strafrests rechnen musste. Denn bis dahin konnte sich der Angeklagte völlig<br />

frei bewegen; eine Auflage, nicht ins Ausland zu reisen, wurde vom Gericht nicht getroffen. Der Umstand, dass der<br />

Angeklagte damit letztlich einer Strafverfolgung wegen der zunächst vom Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz erfassten Tatvorwürfe<br />

dauerhaft allenfalls dadurch hätte entgehen können, dass er ausreist <strong>und</strong> nicht nach Deutschland zurückkehrt, steht<br />

der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk nicht entgegen. Denn diese Lage unterscheidet sich nicht von<br />

derjenigen, die bestehen würde, wenn der Angeklagte nicht von der Schweiz nach Deutschland ausgeliefert worden<br />

wäre. Auch dann könnte er nicht nach Deutschland zurückkehren, ohne sich einer Strafverfolgung auszusetzen. Diese<br />

Situation ist damit allein die Folge der von ihm begangenen Straftaten, nicht der Auslieferung. Der vorliegende<br />

Fall ist auch nicht mit der von der Verteidigung angesprochenen Konstellation einer Strafvollstreckung vergleichbar,<br />

bei der ein Verurteilter nach Aussetzung der Vollstreckung eines Strafrests zur Bewährung der Aufsicht <strong>und</strong> Leitung<br />

eines Bewährungshelfers unterstellt war, der er sich bei einer Ausreise mit dem Risiko eines Bewährungswiderrufes<br />

(vgl. § 56f Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong>) entziehen müsste (vgl. OLG München NStZ 1993, 392). Eine zur Bewährung ausgesetzte<br />

Strafe war gegen den Angeklagten gerade nicht verhängt worden; Weisungen, Auflagen oder sonstige Verhaltensanordnungen<br />

für die Dauer des Revisionsverfahrens wurden ebenfalls nicht ausgesprochen <strong>und</strong> standen daher<br />

einer Ausreise auch nicht entgegen. Vielmehr war der zunächst gegen Auflagen außer Vollzug gesetzte Haftbefehl<br />

mit Urteilsverkündung ersatzlos aufgehoben worden. Damit konnte sich der Angeklagte frei bewegen <strong>und</strong> individuell<br />

entscheiden, ob er ausreist oder nicht (vgl. auch LG Berlin ZfStrVo 1999, 116).<br />

95


(2) Mit Schreiben vom 12. August 2011, dem Angeklagten zugegangen am 18. August 2011, hat der Vorsitzende des<br />

Senats den Angeklagten <strong>und</strong> seine Verteidiger auf die Rechtswirkungen eines Verbleibs des Angeklagten in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland gemäß der Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk, Art. 38 Abs. 2 Buchst. b Nr. 1 Schweizerisches<br />

IRSG hingewiesen.<br />

(3) Wie der Senat im Freibeweisverfahren unter Einschaltung der Polizei ermittelt hat, wohnte der Angeklagte im<br />

Oktober 2011 in der Wohnung seiner Mutter. Damit steht fest, dass der Angeklagte nach Ablauf der Schonfrist von<br />

45 Tagen des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk entweder Deutschland nicht verlassen hatte oder nach einer Ausreise<br />

dorthin wieder zurückgekehrt ist. In beiden Fällen entfällt die Spezialitätsbindung (vgl. Schomburg/Hackner in<br />

Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl. 2006, § 72 IRG Rn. 15<br />

mwN).<br />

(4) Unbeachtlich ist insoweit, dass das Strafverfahren, dessentwegen seine Auslieferung bewilligt worden war, noch<br />

nicht endgültig abgeschlossen ist. Eine der Vorschrift des § 11 Abs. 2 Nr. 2 IRG entsprechende diesbezügliche Voraussetzung<br />

enthalten weder Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk noch Art. 38 Abs. 2 Buchst. b Nr. 1 Schweizerisches<br />

IRSG. Ausreichend für den Wegfall der Spezialitätsbindung ist daher, dass eine - auch nur bedingte - Freilassung<br />

erfolgt ist <strong>und</strong> der Betroffene die Möglichkeit zur Ausreise aus Deutschland hatte. Dies ist hier der Fall.<br />

(5) Damit steht fest, dass gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk, Art. 38 Abs. 2 Buchst. b Nr. 1 Schweizerisches<br />

IRSG die Spezialitätsbindung entfallen ist. Der Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität steht somit der Verurteilung des Angeklagten<br />

in den Fällen 9 <strong>und</strong> 14 bis 19 der Urteilsgründe nicht (mehr) entgegen.<br />

c) Der Umstand, dass das Strafverfahren wegen dieser Taten über weite <strong>Teil</strong>e des Verfahrens unter Verstoß gegen<br />

das sich aus Art. 14 Abs. 1 EuAlÜbk ergebende Verfolgungs- <strong>und</strong> Verurteilungsverbot geführt worden ist, hindert<br />

einer Verwerfung der Revision des Angeklagten nicht. Er führt insbesondere nicht dazu, dass das Verfahren wiederholt<br />

werden müsste.<br />

aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs können Verfahrenshindernisse auch noch im Revisionsverfahren<br />

beseitigt werden (vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 1951 – 3 StR 961/51 zur Nachholung eines erforderlichen<br />

Strafantrags in der Revisionsinstanz; BGH, Urteil vom 26. Juni 1952 - 5 StR 382/52, BGHSt 3, 73; BGH,<br />

Beschluss vom 26. Mai 1961 - 2 StR 40/61, BGHSt 16, 225; BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2000 - 4 StR<br />

464/00, NJW 2001, 836). Die Beseitigung von behebbaren Verfahrenshindernissen kann dabei aus Gründen der<br />

Prozessökonomie (vgl. BGH, Urteil vom 15. März 2000 - 1 StR 483/99, StV 2000, 347) <strong>und</strong> im Hinblick auf die<br />

prozessuale Fürsorgepflicht gegenüber dem Beschuldigten (vgl. dazu Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 206a Rn. 2)<br />

sogar geboten sein, um dem Angeklagten eine erneute Anklageerhebung <strong>und</strong> eine erneute Hauptverhandlung zu<br />

ersparen. Auch das Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2 StPO), das gebietet, wegen aller verfolgbaren Taten einzuschreiten,<br />

verlangt, behebbare Verfahrenshindernisse mit den rechtlich dafür zur Verfügung stehenden Mitteln zu beseitigen.<br />

bb) Diese Gr<strong>und</strong>sätze gelten auch für Verstöße gegen den Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität.<br />

(1) Es ist allgemein anerkannt, dass es bei einem Verstoß gegen den Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz auch dem Revisionsgericht<br />

möglich ist, ein Verfahrenshindernis zu beseitigen, indem es den ausliefernden Staat in einem Nachtragsersuchen<br />

um Zustimmung zur Strafverfolgung für die nicht von der Auslieferungsbewilligung erfassten Taten ersucht<br />

(vgl. Schomburg/Hackner in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl.<br />

2006, § 72 IRG Rn. 28b; Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., <strong>Teil</strong> II S.<br />

16 Vorbem. Rn. 18). Stimmt der ersuchte Staat der Ausdehnung der Strafverfolgung auf die weiteren Taten zu, sind<br />

seine Rechte, die mit dem Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz geschützt werden sollen (Schomburg/Hackner aaO Rn. 13), gewahrt.<br />

Allerdings ist dann dem Angeklagten rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. Schomburg/Hackner aaO Rn. 28b). Dies<br />

ist hier geschehen.<br />

(2) In gleicher Weise entfällt die Spezialitätsbindung aus Art. 14 EuAlÜbk dann, wenn der Ausgelieferte noch nachträglich<br />

auf die Einhaltung des Gr<strong>und</strong>satzes der Spezialität verzichtet <strong>und</strong> sich mit der uneingeschränkten Strafverfolgung<br />

einverstanden erklärt (vgl. Art. VI Abs. 2 Schweiz-EuAlÜbk-ErgV vom 13. November 1969). Denn dann<br />

beruht die Strafverfolgung insoweit nicht auf der Auslieferung durch den ersuchten Staat, sondern auf der freien<br />

Entscheidung des Ausgelieferten, sich auch insoweit dem Strafverfahren zu stellen. Auch in Art. 14 Abs. 1 Buchst. b<br />

EuAlÜbk kommt zum Ausdruck, dass die Rechte des ersuchten Staates dann nicht verletzt sind, wenn der Ausgelieferte<br />

sich freiwillig der Strafverfolgung des ersuchenden Staates unterwirft. Der Verzicht des ausliefernden Staates<br />

auf die Einhaltung des Spezialitätsgr<strong>und</strong>satzes ergibt sich damit insoweit bereits aus dem Auslieferungsübereinkommen<br />

selbst (vgl. Schomburg/Hackner aaO § 72 IRG Rn. 12a). Zugleich unterstreicht dies die „aktive Beteiligung<br />

des Individuums im Rechtshilferecht“ (vgl. Schomburg/Lagodny/ Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen,<br />

4. Aufl. 2006, Einl. 74 mit Belegen aus weiteren Auslieferungsübereinkommen).<br />

96


(3) Hieraus wird deutlich, dass der in der Verletzung des Spezialitätsgr<strong>und</strong>satzes liegende Mangel jederzeit behebbar<br />

ist, <strong>und</strong> zwar sowohl durch ein Tätigwerden des ausliefernden Staates als auch durch ein solches des Ausgelieferten.<br />

Damit kann weder der Ausgelieferte noch der ausliefernde Staat für sich allein die nachträgliche Herbeiführung der<br />

Verfolgungsvoraussetzungen verhindern. Etwaige Verwertungsverbote für die Ergebnisse des zuvor unter Verstoß<br />

gegen den Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz geführten Verfahrens bestehen nach einer nachträglichen Beseitigung des Verfahrenshindernisses<br />

nicht.<br />

3. Auch im Hinblick auf den Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität fehlt es nicht an der von Amts wegen zu berücksichtigenden<br />

Verfahrensvoraussetzung eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses. Der Umstand, dass zum Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses<br />

die Taten in den Fällen 9 <strong>und</strong> 14 bis 19 der Urteilsgründe im Hinblick auf den Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz<br />

nach Art. 14 EuAlÜbk nicht verfolgt werden durften, steht der Wirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses auch<br />

hinsichtlich dieser Taten nicht entgegen.<br />

(1) Der Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz gebietet den Strafverfolgungsbehörden <strong>und</strong> Gerichten des ersuchenden Staates nach<br />

einer Auslieferung nicht, jegliche Untersuchungshandlungen im Hinblick auf solche Taten einzustellen, die von der<br />

Auslieferungsbewilligung nicht umfasst sind. Insbesondere ergibt sich aus dem Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz kein Befassungsverbot<br />

für die nicht von der Auslieferungsbewilligung erfassten Taten. Vielmehr bestimmt sich die Reichweite<br />

der Beschränkung der Hoheitsrechte für die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland durch den Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität im<br />

vorliegenden Fall allein nach dem der Auslieferung des Angeklagten zugr<strong>und</strong>e liegenden Art. 14 EuAlÜbk.<br />

(2) Der Senat braucht nicht zu klären, wie weit der Kreis der durch den Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz verbotenen Untersuchungshandlungen<br />

reicht (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 10. Januar 2007 - 5 StR 305/06, NStZ 2007, 345 mit abl.<br />

Anm. Lagodny sowie OLG Zweibrücken, Beschluss vom 25. Februar 1991 - 1 Ws 641-642/90, StV 1993, 37 mit abl.<br />

Anm. Lagodny; vgl. auch BGH, Beschluss vom 15. August 1979 - 2 StR 465/79, BGHSt 29, 94 <strong>und</strong> BGH, Urteil<br />

vom 15. April 1987 - 2 StR 697/86, BGHSt 34, 352). Denn jedenfalls war der Eröffnungsbeschluss im vorliegenden<br />

Fall nach den Vorgaben des Art. 14 Abs. 2 EuAlÜbk zulässig. Nach dieser Vorschrift darf der ersuchende Staat die<br />

erforderlichen Maßnahmen treffen, um nach seinen Rechtsvorschriften die Verjährung zu unterbrechen. Demnach<br />

war hier sowohl die Erhebung der öffentlichen Klage (vgl. § 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 <strong>StGB</strong>) als auch die Eröffnung<br />

des Hauptverfahrens (§ 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 <strong>StGB</strong>) zur Verjährungsunterbrechung zulässig, zumal im vorliegenden<br />

Fall wegen des Tatvorwurfs der Steuerhinterziehung die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Landgericht<br />

dazu führte, dass die Verjährung für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren ruhte (vgl. § 78b Abs. 4 <strong>StGB</strong>).<br />

(3) Der Senat ist im Übrigen der Auffassung, dass ein Eröffnungsbeschluss auch dann hinsichtlich aller angeklagter<br />

Taten wirksam ist, wenn zum Zeitpunkt der Beschlussfassung für alle oder einzelne Taten ein aus dem Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz<br />

folgendes Verfahrenshindernis besteht, das aber behebbar ist.<br />

(a) Nur schwerwiegende Mängel machen einen Eröffnungsbeschluss unwirksam, denn die gänzliche Unwirksamkeit<br />

mit der Folge rechtlicher Unbeachtlichkeit einer gerichtlichen Entscheidung kommt allenfalls in seltenen Ausnahmefällen<br />

in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Oktober 1980 - 1 BJs 80/78 - 3, StB 29, 30 <strong>und</strong> 31/80, NJW 1981,<br />

133 mwN; vgl. auch Paeffgen in SK-StPO, 4. Aufl., § 207 StPO Rn. 23). Sonstige Mängel - selbst das Fehlen eines<br />

hinreichenden Tatverdachts (vgl. Stuckenberg in Löwe/ Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 207 Rn. 76) - lassen dagegen<br />

die Wirksamkeit eines Eröffnungsbeschlusses unberührt. Fehlt etwa zur Zeit der Entscheidung über die Eröffnung<br />

des Hauptverfahrens ein erforderlicher Strafantrag, führt dies nicht zur Unwirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 1951 - 3 StR 961/51). Vielmehr ist bei Antragsdelikten gemäß § 130 StPO sogar<br />

der Erlass eines Haftbefehls zulässig, wenn der für die Verfolgung erforderliche Strafantrag noch nicht gestellt ist,<br />

weil insoweit ein noch behebbares Verfahrenshindernis vorliegt.<br />

(b) Es besteht kein Anlass, die Frage der Wirksamkeit eines unter Missachtung des Spezialitätsgr<strong>und</strong>satzes ergangenen<br />

Eröffnungsbeschlusses anders zu beurteilen, wenn - wie hier - dieser Verstoß behebbar ist. Denn das deswegen<br />

bestehende (behebbare) Verfahrenshindernis führt nicht dazu, dass der Eröffnungsbeschluss seine Funktion als Verfahrensvoraussetzung<br />

nicht erfüllen kann; insbesondere ist die Umgrenzungsfunktion des Eröffnungsbeschlusses<br />

gewahrt. Im Hinblick darauf, dass das sich aus der Verletzung des Spezialitätsgr<strong>und</strong>satzes ergebende Verfahrenshindernis<br />

zu jedem Zeitpunkt durch einen Verzicht des Beschuldigten auf die Wahrung der Spezialitätsbindung oder<br />

durch ein erfolgreiches Nachtragsersuchen an den ausliefernden Staat beseitigt werden kann, ist ein Verstoß gegen<br />

den Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz nicht als so schwerwiegend anzusehen, dass er die Unwirksamkeit des Beschlusses als<br />

solches nach sich ziehen würde (a.A. Vogler/Walter in Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in<br />

Strafsachen, 3. Aufl., <strong>Teil</strong> I A2 § 72 IRG Rn. 14). Der Einhaltung des Spezialitätsgr<strong>und</strong>satzes wird vielmehr dadurch<br />

ausreichend Rechnung getragen, dass gemäß § 206a StPO das Verfahren einzustellen ist, wenn das Verfahrenshindernis<br />

nicht beseitigt werden kann (vgl. dazu Stuckenberg in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl., § 206a StPO Rn. 70).<br />

97


(c) Der Beschluss des 2. Strafsenats vom 15. August 1979 in dem Verfahren 2 StR 465/79 (BGHSt 29, 94) steht dem<br />

nicht entgegen. Denn diese Entscheidung bezieht sich nicht auf das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom<br />

13. Dezember 1957 (EuAlÜbk), sondern auf eine Auslieferungsbewilligung auf der Gr<strong>und</strong>lage des Auslieferungsvertrags<br />

zwischen dem Deutschen Reich <strong>und</strong> Spanien vom 2. Mai 1878 (RGBl 213), der abweichende Vereinbarungen<br />

enthält. Nach dem dortigen Art. 6 darf die ausgelieferte Person wegen eines Verbrechens oder Vergehens, wegen<br />

dessen die Auslieferung nicht bewilligt worden ist, ohne Nachtragsbewilligung nur dann „zur Untersuchung gezogen<br />

<strong>und</strong> bestraft werden“, wenn sie, nachdem sie wegen der zur Auslieferung führenden Taten bestraft oder endgültig<br />

freigesprochen ist, während dreier Monate im Lande bleibt oder nach Verlassen desselben wieder dorthin zurückkehrt.<br />

Anders als nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk war dort für den Beginn der Schonfrist ein endgültiger<br />

Abschluss des Verfahrens, für das die Auslieferung bewilligt wurde, erforderlich.<br />

(4) Soweit angenommen wird, eine nachträgliche Bewilligung zur Strafverfolgung oder ein nachträglicher Verzicht<br />

auf den Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz habe keine ex-tunc-Wirkung (vgl. OLG Oldenburg, StV 1995, 13; OLG Dresden, Beschluss<br />

vom 4. Dezember 2001 - 1 Ss 463/01, juris), geht dies bereits von einem unzutreffenden Ansatz aus. Prämisse<br />

dieser Auffassung ist, dass eine Anklageerhebung <strong>und</strong> ein Eröffnungsbeschluss unwirksam sind, wenn sie unter<br />

Verstoß gegen den Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz erfolgt sind. Dies ist indes - wie dargelegt - nicht der Fall.<br />

II. Aus den zutreffenden Gründen der Antragsschriften des Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom 3. Mai 2011 <strong>und</strong> vom 20.<br />

Oktober 2011 enthält das angefochtene Urteil zum Schuldspruch <strong>und</strong> zum Strafausspruch keinen den Angeklagten<br />

beschwerenden Rechtsfehler; allerdings fehlt es im Urteil an der gemäß § 51 Abs. 1, Abs. 4 Satz 2 <strong>StGB</strong> gebotenen<br />

Anrechnung der von dem Angeklagten in der Schweiz erlittenen Auslieferungshaft auf die verhängte Freiheitsstrafe.<br />

Diese muss in der Urteilsformel ebenso zum Ausdruck kommen, wie der festgesetzte Maßstab der Anrechnung.<br />

Vorliegend kann der Senat diesen Ausspruch selbst nachholen. Ein anderer Anrechnungsmaßstab als 1 : 1 kommt<br />

hier ersichtlich nicht in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 15. April 2008 - 1 StR 166/08).<br />

98<br />

<strong>StGB</strong> Besonderer <strong>Teil</strong><br />

<strong>StGB</strong> § 129, § 129b - kriminellen Vereinigung in der EU<br />

BGH, Beschl. v. 13.09.2011 - 3 StR 231/11 - NJW 2012, 325<br />

LS: Zur Einordnung einer kriminellen Vereinigung als in- oder ausländische bzw. als solche innerhalb<br />

oder außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 5. April 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,<br />

an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbsmäßiger Bandenhehlerei in zwei Fällen <strong>und</strong> Geldwäsche in<br />

neun Fällen, jeweils in Tateinheit mit "Bildung krimineller Vereinigungen" (zutreffend: mitgliedschaftlicher Beteiligung<br />

an einer kriminellen Vereinigung), zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten verurteilt.<br />

Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten<br />

hat Erfolg. Nach den Feststellungen des Landgerichts entstand in der ehemaligen Sowjetunion eine kriminelle Subkultur,<br />

die nach ihrer eigenen Ideologie, den sogenannten "Diebesregeln", lebt. Dieses System dehnte sich nach Westen<br />

aus <strong>und</strong> etablierte sich teilweise auch in Deutschland. Die Verbandsstruktur ist regional organisiert <strong>und</strong> überregional<br />

koordiniert. An oberster Stufe steht jeweils ein "Dieb im Gesetz", der diese Stellung mittels "Krönung" durch<br />

alle "Diebe im Gesetz" in Moskau erhält. Diesem wird ein bestimmtes Gebiet zugewiesen, in dem sich kein anderer<br />

"Dieb im Gesetz" ansiedeln darf. Organisatorische Aufgaben übernehmen als seine unmittelbaren Vertrauenspersonen<br />

"Nahestehende", unter denen "Statthalter" oder "Kassenhalter" stehen, welche die untergeordneten Mitglieder zu<br />

leiten <strong>und</strong> Beiträge zur Gemeinschaftskasse einzusammeln <strong>und</strong> abzuführen haben. Die Willensbildung unterliegt<br />

verbindlichen, in der Organisation anerkannten Regeln. Die Verhaltensregeln gebieten den Mitgliedern eine Abschottung<br />

nach außen sowie Solidarität nach innen <strong>und</strong> untersagen jegliche Kooperation mit staatlichen Behörden.


Verstöße werden abgestuft sanktioniert. Im Konfliktfall werden höhere Autoritätsstufen angerufen; deren "Schiedssprüche"<br />

erkennen die Mitglieder als bindend an <strong>und</strong> machen sie zur Maxime ihres Handelns. Verbindlich festgelegte<br />

Zielsetzung der Organisation ist, bestimmte Straftaten zu begehen <strong>und</strong> einen <strong>Teil</strong> der hieraus gewonnenen Erlöse<br />

in die Gemeinschaftskasse ("Abschtschjak") zu zahlen. Diese dient der Bereicherung der höherrangigen Mitglieder<br />

sowie allgemein der Unterstützung der Mitglieder in besonderen Situationen, etwa im Falle einer Inhaftierung. Spätestens<br />

im Juni 2005 begründeten die "Diebe im Gesetz" K. <strong>und</strong> L. S. eine nach den dargelegten Regeln agierende,<br />

europaweit tätige Gruppierung aus georgischstämmigen Mitgliedern, die Diebstähle organisierte <strong>und</strong> die Beute an<br />

Hehler weiterverkaufte. Auf der untersten Ebene standen die tatausführenden Diebe, die ihren Unterhalt aus organisierten,<br />

von mehreren Mitgliedern durchgeführten gemeinsamen Ladendiebstählen bestritten. Diebesbeute waren<br />

hochwertige Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie etwa Zigaretten, Drogerieartikel, Designerkleidung <strong>und</strong><br />

elektronische Geräte. Die Mitglieder hatten in der Regel monatlich 50 € in den "Abschtschjak" zu zahlen. Die Vereinigung,<br />

die "Diebesregeln" <strong>und</strong> der "Abschtschjak" waren oberste Maximen des Handelns des Einzelnen. In verschiedenen<br />

deutschen Städten waren regionale Kassenhalter eingesetzt. Die an die Gemeinschaftskasse abgeführten<br />

Gelder <strong>und</strong> die darüber geführten Einzahlungslisten wurden letztlich zu K. S. nach Spanien gebracht. Die Vereinigung<br />

in Deutschland war gr<strong>und</strong>sätzlich autonom, bei Konflikten oder bei groben Regelverstößen griffen allerdings<br />

die Brüder S. ein. Der Angeklagte war zumindest seit Mitte 2009 bis zu seiner Festnahme am 15. März 2010 innerhalb<br />

der Organisation Statthalter für D.. Er hatte Kontakt zur Führungsebene <strong>und</strong> konnte K. S. bei Bedarf telefonisch<br />

erreichen. Spätestens ab September 2009 schloss er sich mit weiteren Mitgliedern zusammen, um Diebesgut von<br />

Mitgliedern aus M. bei Hehlern in D. gewinnbringend abzusetzen. So organisierte er im September/Oktober 2009<br />

sowie im Dezember 2009 jeweils den Transport von Diebesgut von M. nach D. <strong>und</strong> den Verkauf an einen dortigen<br />

Hehler. Überdies transferierte er zwischen dem 18. August 2009 <strong>und</strong> dem 20. Februar 2010 in neun Fällen Einnahmen<br />

in Höhe von insgesamt 1.700 €, die andere Mitglieder der Organisation durch Diebstähle oder den Verkauf von<br />

Diebesgut erzielt hatten, in Kenntnis ihrer Herkunft nach Georgien.<br />

I. Das Urteil hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand, soweit das Landgericht den Angeklagten wegen mitgliedschaftlicher<br />

Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung (§ 129 Abs. 1 <strong>StGB</strong>) <strong>und</strong> wegen gewerbsmäßiger Bandenhehlerei<br />

in zwei Fällen (§ 260a Abs. 1 <strong>StGB</strong>) verurteilt hat. Die Feststellungen belegen zwar, dass sich der Angeklagte<br />

als Mitglied an einer kriminellen Vereinigung beteiligte, nicht aber - worauf bereits der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

in seiner Antragsschrift zutreffend hingewiesen hat -, dass es sich bei der Vereinigung um eine solche im Inland nach<br />

§ 129 Abs. 1 <strong>StGB</strong> handelte. Auch fehlen tragfähige Feststellungen für ein gewerbsmäßiges Handeln des Angeklagten<br />

im Sinne des § 260a Abs. 1 <strong>StGB</strong>. Im Einzelnen:<br />

1. Das Landgericht hat im Ergebnis zutreffend die Voraussetzungen für eine Vereinigung im Sinne der §§ 129 ff.<br />

<strong>StGB</strong> als erfüllt angesehen; denn nach den Feststellungen ist ein auf eine gewisse Dauer angelegter, freiwilliger<br />

organisatorischer Zusammenschluss von mindestens drei Personen gegeben, die bei Unterordnung des Willens des<br />

Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame Zwecke verfolgen <strong>und</strong> unter sich derart in Beziehung stehen,<br />

dass sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen (st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa BGH, Urteile vom 28.<br />

Oktober 2010 - 3 StR 179/10, NJW 2011, 542, 544 mwN; vom 3. Dezember 2009 - 3 StR 277/09, BGHSt 54, 216,<br />

221). Näherer Erörterung bedürfen allein die folgenden Gesichtspunkte:<br />

a) Die erforderliche Unterordnung der Mitglieder unter den Gesamtwillen der Vereinigung liegt nach den Feststellungen<br />

vor:<br />

aa) Insoweit ist für eine Vereinigung wesentlich die subjektive Einbindung der Beteiligten in die kriminellen Ziele<br />

der Organisation <strong>und</strong> in deren entsprechende Willensbildung unter Zurückstellung individueller Einzelmeinungen;<br />

denn nur ein derartiger Gruppenwille schafft die spezifischen Gefahren einer für die Vereinigung typischen, vom<br />

Willen des Einzelnen losgelösten Eigendynamik zur Begehung von Straftaten. Innerhalb der Vereinigung müssen<br />

deshalb bestimmte, von ihren Mitgliedern anerkannte Entscheidungsstrukturen bestehen; dieser organisierten Willensbildung<br />

müssen sich die Mitglieder als für alle verbindlich unterwerfen. Die Art <strong>und</strong> Weise der Willensbildung<br />

ist allerdings gleichgültig; die für alle Mitglieder verbindlichen Regeln können etwa dem Demokratieprinzip entsprechen<br />

oder auf dem Prinzip von Befehl <strong>und</strong> Gehorsam aufgebaut sein (st. Rspr.; vgl. im Einzelnen BGH, Urteil vom<br />

3. Dezember 2009 - 3 StR 277/09, BGHSt 54, 216, 221 ff. mwN).<br />

bb) Diese Voraussetzungen sind in den Urteilsgründen dargetan. Die Mitglieder der Gruppierung verband nicht allein<br />

der Wille, gemeinsam Straftaten zu begehen; sie unterwarfen sich auch nicht lediglich je für sich der autoritären<br />

Führung der Brüder S.. Vielmehr bestanden verbindliche Regeln, nach denen die Mitglieder der Organisation ihr<br />

Handeln ausrichteten, <strong>und</strong> solche, die der Konfliktbewältigung innerhalb der Organisation dienten. Diese Regeln<br />

wurden von den Mitgliedern übereinstimmend anerkannt; diese stellten insoweit ihre Einzelmeinungen zurück <strong>und</strong><br />

ordneten sich dem entsprechenden Gruppenwillen unter.<br />

99


cc) Es ist deshalb nicht entscheidungserheblich, ob im vorliegenden Fall eine tatsächliche Konstellation gegeben ist,<br />

bei der nach der neueren Rechtsprechung des Senats (BGH, Urteil vom 3. Dezember 2009 - 3 StR 277/09, BGHSt<br />

54, 216, 228 ff.) geringere Anforderungen an die tatrichterlichen Feststellungen bezüglich des voluntativen Elements<br />

der Vereinigung zu stellen sind. Mit Blick auf die diesbezüglichen Ausführungen des Landgerichts merkt der Senat<br />

dazu allerdings an: Die Anforderungen an die tatrichterlichen Feststellungen zum Willenselement sind dann geringer,<br />

wenn die Mitglieder der Organisation eine über den bloßen Zweckzusammenhang der Begehung von Straftaten<br />

hinausreichende Zielsetzung verfolgen <strong>und</strong> die für Vereinigungen typische Eigendynamik vor allem dadurch in Gang<br />

gesetzt wird, dass die Beteiligten sich in der Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Ziels verb<strong>und</strong>en fühlen,<br />

wie dies typischerweise bei politisch, ideologisch, religiös oder weltanschaulich motivierter Kriminalität der Fall ist<br />

(BGH aaO). Diese Voraussetzungen werden durch die Feststellungen nicht belegt. Die Organisation war hier im<br />

Kern allein auf die Begehung von Eigentums- <strong>und</strong> Vermögensdelikten sowie die dadurch ermöglichte Finanzierung<br />

einer Gemeinschaftskasse gerichtet, die wiederum der Bereicherung der Führungsebene <strong>und</strong> der materiellen Unterstützung<br />

der Mitglieder in bestimmten Situationen diente; die Vereinigung war somit durch wirtschaftliche, nicht<br />

aber durch politisch-ideologische Zielsetzungen der Beteiligten geprägt. Der Umstand, dass sich die Vereinigungsmitglieder<br />

nach außen abgrenzten <strong>und</strong> die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen ablehnten, ist für kriminelle Organisationen<br />

jeglicher Art nicht ungewöhnlich. Ihm kommt deshalb im hier relevanten Zusammenhang keine erhebliche<br />

Bedeutung zu. Dieser Gesichtspunkt reicht insbesondere nicht aus, um darin bereits eine eigene, über den auf<br />

Straftaten ausgerichteten Zweckzusammenhang der Vereinigung hinausgehende Ideologie in dem dargelegten Sinne<br />

zu sehen.<br />

b) Die Organisation war darauf ausgerichtet, Straftaten, vor allem Eigentums- <strong>und</strong> Vermögensdelikte, zu begehen,<br />

mit denen - obwohl die einzelnen festgestellten Taten isoliert betrachtet überwiegend eher dem unteren Bereich der<br />

Kriminalität zuzurechnen sind - eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit verb<strong>und</strong>en war (BGH, Urteil<br />

vom 22. Februar 1995 - 3 StR 583/94, BGHSt 41, 47, 51; Beschluss vom 4. August 1995 - StB 31/95, NJW 1995,<br />

2117, 2118). Für diese Beurteilung ist nicht lediglich auf die einzelne Straftat oder die jeweilige Strafandrohung<br />

abzustellen; vielmehr ist eine Gesamtwürdigung der begangenen <strong>und</strong>/oder geplanten Straftaten unter Einbeziehung<br />

aller Umstände vorzunehmen, die für das Maß der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit von Bedeutung sein können.<br />

Hierzu gehören insbesondere auch die Auswirkungen der Straftaten (BGH, Urteil vom 22. Februar 1995 - 3 StR<br />

583/94, BGHSt 41, 47, 51). Ins Gewicht fällt deshalb neben der Höhe der Erlöse, die etwa allein der Angeklagte mit<br />

seinen Straftaten im September/Oktober <strong>und</strong> im Dezember 2009 erzielte, insbesondere die organisierte, planmäßige<br />

<strong>und</strong> überregionale Vorgehensweise der Vereinigungsmitglieder. Diese Umstände belegen ohne Weiteres eine erhebliche<br />

Gefahr für die öffentliche Sicherheit.<br />

c) Da nach den Feststellungen die Brüder S. als "Diebe im Gesetz" in der Organisation an oberster Stufe standen <strong>und</strong><br />

der Wille der Organisation demzufolge unabhängig von den übrigen "Dieben im Gesetz" gebildet wurde, stellte die<br />

ihnen untergeordnete Gruppierung eine eigenständige Vereinigung dar. Es bedarf daher keiner näheren Betrachtung,<br />

wie die Versammlung der verschiedenen "Diebe im Gesetz" zu bewerten ist <strong>und</strong> ob diese etwa als eine übergeordnete<br />

Dach-Vereinigung anzusehen sein könnte (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 30. März 2001 - StB 4/01 u.a., BGHSt<br />

46, 349, 354; LK/Krauß, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 129 Rn. 23).<br />

2. Aus den Urteilsfeststellungen ergibt sich jedoch nicht, dass es sich bei der von den Brüdern S. geführten Organisation<br />

um eine Vereinigung im Inland nach § 129 Abs. 1 <strong>StGB</strong> handelte.<br />

a) Die Kriterien, an denen die Einordnung einer Organisation als in- oder ausländische Vereinigung - im letzten Fall<br />

zudem als Vereinigung innerhalb oder außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union - auszurichten ist, sind<br />

gesetzlich nicht bestimmt <strong>und</strong> in der Gesetzesbegründung bei Einführung des § 129b <strong>StGB</strong> nicht näher erörtert worden<br />

(vgl. etwa BT-Drucks. 14/7025 S. 1, 6). In der Rechtsprechung (BGH, Beschluss vom 14. April 2010 - StB 5/10,<br />

BGHR <strong>StGB</strong> § 129 Gruppenwille 6) <strong>und</strong> dem Schrifttum (vgl. etwa Stein, GA 2005, 433, 443; Zöller, Terrorismusstrafrecht,<br />

2009, S. 523; Nehring, Kriminelle <strong>und</strong> terroristische Vereinigungen im Ausland, 2007, S. 177 ff.;<br />

LK/Krauß, aaO § 129 Rn. 36 ff.) sind sie verschiedentlich angedeutet bzw. erörtert worden, indessen noch nicht<br />

abschließend geklärt. Hierzu gilt: Vereinigungen, die den §§ 129 ff. <strong>StGB</strong> unterfallen, können in einer kaum überschaubaren<br />

Vielzahl von tatsächlichen Organisationsformen auftreten. So werden etwa Gruppierungen mit wirtschaftlichen<br />

Zielsetzungen ebenso erfasst wie solche, die politische, ideologische oder religiöse Zwecke verfolgen.<br />

Bezüglich der Größe der Vereinigung ist lediglich die Mindestzahl von drei Mitgliedern bestimmt, es kommen deshalb<br />

sowohl Vereinigungen mit relativ wenigen als auch solche mit außerordentlich zahlreichen Mitgliedern in Betracht.<br />

Weder die Organisationsform noch die Art der Willensbildung ist im Einzelnen festgelegt. Nicht zuletzt sind<br />

die Gruppierungen etwa im Bereich der Organisierten Kriminalität, aber auch des Terrorismus zunehmend länderübergreifend<br />

organisiert; ihre Aktionsfelder betreffen häufig die Gebiete mehrerer Staaten. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong><br />

100


erscheint eine abstrakte Umschreibung der maßgeblichen Gesichtspunkte, die für die Einordnung derartiger Vereinigungen<br />

als in- oder ausländisch - <strong>und</strong> im letztgenannten Fall als solche innerhalb oder außerhalb der Mitgliedstaaten<br />

der Europäischen Union - den Anspruch der Verbindlichkeit für alle denkbaren Einzelfälle erheben könnte, weder<br />

möglich noch sachgerecht. Mit Blick auf die Unterschiedlichkeit <strong>und</strong> Komplexität der in Betracht zu ziehenden Fallgestaltungen<br />

liegt es näher, die geographische Zuordnung einer Vereinigung von einer an den konkreten Einzelfallumständen<br />

orientierten Gesamtbetrachtung abhängig zu machen. Dabei sind regelmäßig namentlich die folgenden<br />

Kriterien von Bedeutung:<br />

aa) Als wesentliches Zuordnungskriterium ist der Schwerpunkt der Organisationsstruktur anzusehen (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 14. April 2010 - StB 5/10, BGHR <strong>StGB</strong> § 129 Gruppenwille 6; s. auch Art. 4 Unterabsatz 1 der Gemeinsamen<br />

Maßnahme vom 21. Dezember 1998 betreffend die Strafbarkeit der Beteiligung an einer kriminellen<br />

Vereinigung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl. L 351 vom 29. Dezember 1998, S. 1: "Ort…, an<br />

dem die Vereinigung ihre Operationsbasis hat"; vgl. hierzu Stein, GA 2005, 433, 443). Dieser Schwerpunkt der organisatorischen<br />

Strukturen ist seinerseits anhand verschiedener Merkmale zu ermitteln (vgl. Zöller, Terrorismusstrafrecht,<br />

2009, S. 523). Er kann sich insbesondere aus dem Ort ergeben, an dem gleichsam "die Verwaltung geführt<br />

wird" (s. Nehring, Kriminelle <strong>und</strong> terroristische Vereinigungen im Ausland, 2007, S. 178). Anhaltspunkt dafür kann<br />

die Konzentration personeller <strong>und</strong>/oder sachlicher Ressourcen sein, beispielsweise für Organisationszwecke genutzte<br />

Gebäude, Ausbildungsstätten oder Material, wie Tatwerkzeuge, Unterlagen oder auch Datenverarbeitungsanlagen.<br />

bb) Ferner ist in den Blick zu nehmen, wo nach den Strukturen der Vereinigung deren Gruppenwille gebildet wird,<br />

d.h. wo der durch die entscheidungsbefugten Organe der Vereinigung gebildete Verbandswille zustande kommt <strong>und</strong><br />

erstmals durch konkrete Umsetzungsakte nach außen in Erscheinung tritt (Zöller aaO S. 523; Nehring aaO S. 178).<br />

Auch kann zu berücksichtigen sein, an welchem Ort sich die Vereinigung gegründet hat. Demgegenüber sind die<br />

Staatsangehörigkeit der Mitglieder <strong>und</strong> deren bloßer Wohnsitz regelmäßig nicht von entscheidendem Belang (BGH,<br />

Beschluss vom 5. Januar 1982 - StB 53/81, BGHSt 30, 328, 331 f.).<br />

cc) Daneben kann das eigentliche Aktionsfeld Bedeutung erlangen, mithin der Ort, an dem die Straftaten, auf deren<br />

Begehung die Zwecke oder Tätigkeit der Vereinigung gerichtet sind, begangen werden sollen bzw. begangen werden<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2010 - StB 5/10, BGHR <strong>StGB</strong> § 129 Gruppenwille 6; vgl. auch Art. 4 Unterabsatz<br />

1 der Gemeinsamen Maßnahme vom 21. Dezember 1998 betreffend die Strafbarkeit der Beteiligung an einer<br />

kriminellen Vereinigung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl. L 351 vom 29. Dezember 1998, S. 1:<br />

"Ort…, an dem die Vereinigung ihre strafbaren Tätigkeiten ausübt"; vgl. hierzu Stein, GA 2005, 433, 443). Dabei<br />

sind gegebenenfalls sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsort in die Bewertung einzustellen. Allerdings genügt<br />

es für die Einordnung einer Gruppierung als inländische oder EU-Vereinigung nicht, dass sie auf dem jeweiligen<br />

Gebiet lediglich Straftaten begeht oder begehen will. Erforderlich ist vielmehr zumindest, dass in Deutschland bzw.<br />

dem Bereich der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch Organisationsstrukturen bestehen <strong>und</strong> die Vereinigungsmitglieder<br />

nicht nur zur Vorbereitung <strong>und</strong> Begehung der Straftaten, auf die die Vereinigung gerichtet ist, in die<br />

betreffende Region einreisen <strong>und</strong> sich dort aufhalten.<br />

b) Nach diesen Maßstäben wies die Organisation der Gebrüder S. auf der Gr<strong>und</strong>lage der bisherigen Urteilsfeststellungen<br />

keine ausreichende räumlich-organisatorische Inlandsverankerung auf. Weder befand sich der Schwerpunkt<br />

der Organisationsstrukturen im Inland, noch war das Aktionsfeld der Vereinigung auf Deutschland beschränkt. Der<br />

"Dieb im Gesetz" K. S., der im Konfliktfall die maßgebliche Autorität <strong>und</strong> mithin für die Bildung des Gruppenwillens<br />

von entscheidender Bedeutung war, lebte nicht in Deutschland. Die Weiterleitung der für die Organisation gesammelten<br />

Gelder <strong>und</strong> der darüber geführten Listen an ihn nach Spanien ist ein Indiz dafür, dass dort wesentliche<br />

Aufgaben betreffend die Organisation bzw. "Verwaltung" der Vereinigung vorgenommen wurden. Da die Vereinigung<br />

- etwa durch Statt- <strong>und</strong> Kassenhalter - regional organisiert war, liegt es nahe, dass neben der "Verwaltung" in<br />

Spanien auch in weiteren Staaten außerhalb Deutschlands Organisationsstrukturen bestanden. Die Vereinigungsmitglieder<br />

wurden europaweit tätig. Der Umstand, dass die Strukturen <strong>und</strong> Aktivitäten der Vereinigung teilweise in die<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland hineinreichten, genügt nicht, um die Gruppierung als inländische anzusehen. Schließlich<br />

wurde die Vereinigung nicht in Deutschland, sondern in Moskau gegründet.<br />

c) Die in Deutschland agierende Gruppierung ist auch nicht als eigenständige inländische Vereinigung im Sinne<br />

einer <strong>Teil</strong>organisation zu werten. Eine solche eigenständige Vereinigung setzt nach der neueren Rechtsprechung des<br />

Senats, an der festzuhalten ist, voraus, dass die Gruppierung für sich genommen alle für eine Vereinigung notwendigen<br />

personellen, organisatorischen, zeitlichen <strong>und</strong> voluntativen Voraussetzungen erfüllt. Dazu muss sie ein ausreichendes<br />

Maß an organisatorischer Selbstständigkeit aufweisen <strong>und</strong> insbesondere einen eigenen, von der ausländischen<br />

(Haupt-)Organisation unabhängigen Willensbildungsprozess vollziehen (BGH, Urteil vom 28. Oktober 2010 -<br />

3 StR 179/10, NJW 2011, 542, 544 f.). Daran fehlt es hier. Im Konfliktfall oder bei groben Verstößen gegen die<br />

101


Regeln der Vereinigung schalteten sich die Gebrüder S. in ihrer Eigenschaft als "Anführer" der Vereinigung ein.<br />

Angesichts der gerade bei Fragen von besonderer Bedeutung von diesen "Dieben im Gesetz" abhängigen Willensbildung<br />

vollzog sich der Willensbildungsprozess somit nicht vollständig im Inland. Die in die Gemeinschaftskasse<br />

eingezahlten Gelder wurden nach Spanien weitergeleitet, über ihre Verwendung wurde somit ebenfalls nicht vollständig<br />

im Inland entschieden. Die Gruppierung war deshalb in Deutschland nur in begrenztem, für die Annahme<br />

einer eigenständigen Vereinigung nicht ausreichendem Umfang autonom.<br />

3. Die getroffenen Feststellungen belegen auch nicht die Verurteilung wegen gewerbsmäßiger Bandenhehlerei nach<br />

§ 260a Abs. 1 <strong>StGB</strong> in den Fällen B. II. 2. a. der Urteilsgründe.<br />

a) Die erhöhte Strafbarkeit wegen gewerbsmäßigen Handelns setzt voraus, dass der Täter sich aus wiederholter Tatbegehung<br />

eine nicht nur vorübergehende, nicht ganz unerhebliche Einnahmequelle verschaffen will (vgl. Fischer,<br />

<strong>StGB</strong>, 58. Aufl., Vor § 52 Rn. 62). Die Gewerbsmäßigkeit, die ein besonderes persönliches Merkmal im Sinne des §<br />

28 Abs. 2 <strong>StGB</strong> darstellt (BGH, Beschluss vom 11. Januar 2005 - 1 StR 547/04, wistra 2005, 177), erfordert stets<br />

Eigennützigkeit; es genügt nicht, wenn eine fortdauernde Einnahmequelle allein für Dritte geschaffen werden soll<br />

(BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2007 - 5 StR 543/07, NStZ 2008, 282 f. zu § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong>).<br />

Ein bloß mittelbarer Vorteil des Täters reicht zur Begründung der Gewerbsmäßigkeit nur aus, wenn er ohne Weiteres<br />

darauf zugreifen kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Mai 2009 - 4 StR 10/09, wistra 2009, 351; vom 5. Juni 2008 -<br />

1 StR 126/08, NStZ-RR 2008, 282; vom 16. April 2008 - 5 StR 615/07, wistra 2008, 342, 343) oder sich selbst<br />

geldwerte Vorteile aus den Taten über Dritte verspricht (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2007 - 5 StR 543/07,<br />

NStZ 2008, 282 f.; Urteil vom 1. Juli 1998 - 1 StR 246/98, BGHR <strong>StGB</strong> § 261 Strafzumessung 2).<br />

b) Den Urteilsfeststellungen ist nicht hinreichend zu entnehmen, dass das deliktische Handeln des Angeklagten auf<br />

die Erlangung eines derartigen eigenen Vorteils gerichtet war. Danach beging er die Straftaten vielmehr in der Absicht,<br />

anderen Mitgliedern der Vereinigung <strong>und</strong> der Vereinigung als solcher eine fortdauernde Einnahmequelle zu<br />

schaffen. Dass er selbst direkt auf die Einnahmen der Vereinigung zugreifen konnte oder tatsächlich aufgr<strong>und</strong> der<br />

Hehlereitaten einen bestimmten geldwerten Vorteil aus der Gemeinschaftskasse erwartete, ergibt sich nicht. Die in<br />

die Gemeinschaftskasse eingezahlten Gelder wurden zu K. S. nach Spanien gebracht. Allein die Möglichkeit, in<br />

Zukunft möglicherweise unter gewissen, noch unbestimmten Umständen selbst vom Inhalt der Gemeinschaftskasse<br />

zu profitieren, reicht für die Annahme gewerbsmäßigen Handelns nicht aus.<br />

II.<br />

1. Die aufgezeigten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des gesamten Urteils. Zwar hat das Landgericht für sich<br />

betrachtet rechtsfehlerfrei die neun Taten der Geldwäsche nach § 261 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 4 Buchst. a, Abs. 2<br />

Nr. 1 <strong>StGB</strong> festgestellt; diese Delikte stehen jedoch jeweils in Tateinheit mit der mitgliedschaftlichen Beteiligung<br />

des Angeklagten an einer kriminellen Vereinigung, so dass sich die Urteilsaufhebung auf sie zu erstrecken hat (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 20. Juni 2001 - 3 StR 135/01, juris Rn. 18; Urteile vom 20. Februar 1997 - 4 StR 642/96, NStZ<br />

1997, 276; vom 7. Juli 2011 - 5 StR 561/10, juris Rn. 30; KK-Kuckein, 6. Aufl., § 353 Rn. 12; Meyer-Goßner, StPO,<br />

54. Aufl., § 353 Rn. 7a; zur Tateinheit mit dem Vereinigungsdelikt s. etwa BGH, Urteil vom 11. Juni 1980 - 3 StR<br />

9/80, BGHSt 29, 288, 290). Die Änderung des Schuldspruchs durch den Senat in entsprechender Anwendung des §<br />

354 Abs. 1 StPO dahin, dass der Angeklagte in diesen Fällen wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen<br />

Vereinigung im Ausland bzw. wahlweise wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung<br />

im Inland oder im Ausland, dies jeweils in Tateinheit mit Geldwäsche nach § 129 Abs. 1, § 129b Abs. 1, §<br />

261 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 4 Buchst. a, Abs. 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> strafbar ist, scheidet aus; denn es fehlt an der möglicherweise<br />

gemäß § 129b Abs. 1 Satz 3 <strong>StGB</strong> zur Verfolgung des Vereinigungsdelikts erforderlichen Ermächtigung des<br />

B<strong>und</strong>esministeriums der Justiz.<br />

a) Gegenstand der revisionsrechtlichen Überprüfung sind insoweit allein die schriftlichen Urteilsgründe. Die örtliche<br />

Einordnung der Vereinigung als inländische, solche in dem Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder<br />

solche außerhalb dieses Bereichs ist sowohl für den Schuldspruch als auch für die Frage von Bedeutung, ob eine<br />

Verfolgungsermächtigung als Verfahrensvoraussetzung erforderlich ist. Die Bildung einer richterlichen Überzeugung<br />

zu dieser doppelrelevanten Tatsache im Wege des Freibeweises durch den Senat - etwa auf der Gr<strong>und</strong>lage des<br />

sonstigen Akteninhalts - scheidet deshalb aus (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 337 Rn. 6).<br />

b) In den Fällen, in denen ausreichend sichere Feststellungen zur örtlichen Einordnung der Vereinigung vor dem<br />

Hintergr<strong>und</strong> der aufgezeigten Vielgestaltigkeit der Erscheinungsformen nicht getroffen werden können, kommt auch<br />

eine wahlweise Verurteilung wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer inländischen oder ausländischen kriminellen<br />

oder terroristischen Vereinigung in Betracht. Vor allem mit Blick darauf, dass nach § 129b Abs. 1 Satz 1<br />

<strong>StGB</strong> die §§ 129, 129a <strong>StGB</strong> auch bei einer Vereinigung im Ausland gr<strong>und</strong>sätzlich uneingeschränkt gelten, mithin<br />

insbesondere der gesetzlich vorgesehene Strafrahmen nicht davon abhängt, ob die Tat sich auf eine in- oder ausländi-<br />

102


sche Vereinigung bezieht, sieht der Senat keinen Anlass, die rechtsethische <strong>und</strong> psychologische Vergleichbarkeit der<br />

§§ 129, 129a <strong>StGB</strong> einerseits <strong>und</strong> des § 129b <strong>StGB</strong> andererseits in Zweifel zu ziehen. Eine Verurteilung auf alternativer<br />

Tatsachengr<strong>und</strong>lage setzt nach den in der Rechtsprechung anerkannten allgemeinen Gr<strong>und</strong>sätzen aber voraus,<br />

dass innerhalb des durch § 264 StPO gezogenen Rahmens die angeklagte Tat nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten<br />

nicht so eindeutig aufzuklären ist, dass ein bestimmter Tatbestand festgestellt werden kann, aber sicher<br />

festzustellen ist, dass der Angeklagte einen von mehreren Tatbeständen verwirklicht hat, <strong>und</strong> andere, straflose Handlungen<br />

ausgeschlossen sind (Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 1 Rn. 19 mwN). Hieraus folgt insbesondere, dass das Tatgericht<br />

die Voraussetzungen einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung sowie eine strafbare Tathandlung des<br />

Angeklagten sicher feststellen muss; nicht aufklärbar darf allein die geographische Einordnung der Vereinigung sein.<br />

Die bisherigen Urteilsfeststellungen, welche die geographische Einordnung der Vereinigung nicht näher in den Blick<br />

nehmen, lassen es jedoch zumindest als möglich erscheinen, dass die Vereinigung ihren Schwerpunkt außerhalb der<br />

Mitgliedstaaten der Europäischen Union hatte. So ergibt sich aus den bisherigen Feststellungen etwa nicht, wo sich<br />

der mit seinem Bruder an der Spitze der Organisation stehende "Dieb im Gesetz" L. S. befand <strong>und</strong> die Vereinigung<br />

betreffende Handlungen vornahm. Ferner wurde die Vereinigung europaweit tätig, ohne dass das Landgericht diese<br />

Feststellung näher konkretisiert <strong>und</strong> etwa auf das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beschränkt hat.<br />

Damit bleibt offen, in welchen anderen europäischen Staaten die Vereinigung Straftaten organisierte, ob diese möglicherweise<br />

teilweise außerhalb der Europäischen Union lagen <strong>und</strong> welchen Umfang die Organisation außerhalb<br />

Deutschlands <strong>und</strong> der Europäischen Union hatte. Da sämtliche vom Angeklagten transferierten Gelder nach Georgien<br />

flossen, ist überdies nicht völlig auszuschließen, dass möglicherweise auch dort nicht unerhebliche Organisationsstrukturen<br />

bestanden. Schließlich ist unklar, was Hintergr<strong>und</strong> für Geldgeschenke an "Diebe im Gesetz" in Moskau<br />

war <strong>und</strong> ob sich daraus weitere Erkenntnisse über die Organisationsstruktur ergeben könnten. Es ist daher nicht ausgeschlossen,<br />

dass die Verfolgbarkeit des Vereinigungsdelikts nach § 129b Abs. 1 Satz 3 <strong>StGB</strong> hier von einer entsprechenden<br />

Ermächtigung des B<strong>und</strong>esministeriums der Justiz abhängt. Diese liegt bisher nicht vor; damit fehlt es<br />

für diesen Fall an einer Verfahrensvoraussetzung, so dass eine Wahlfeststellung ausscheidet.<br />

2. Der Senat weist für die neue Hauptverhandlung darauf hin, dass die bisherigen Feststellungen zu der Vereinigung<br />

als solcher <strong>und</strong> ihrer Gründung in Moskau teilweise nicht ohne Weiteres nachvollziehbar erscheinen. Danach agiert<br />

die Vereinigung der Gebrüder S. einerseits europaweit; andererseits erhält ein "Dieb im Gesetz" nach seiner "Krönung"<br />

ein eigenes Gebiet zugewiesen, in dem ihm gestattet ist, durch kriminelle Handlungen jedweder Art Geld zu<br />

verdienen, <strong>und</strong> in dem sich kein anderer "Dieb im Gesetz" ansiedeln darf. Danach wäre naheliegend die Gruppierung<br />

um die Brüder S. die einzige Vereinigung der "Diebe im Gesetz" in Europa. Dem könnten allerdings die sonstigen<br />

Urteilsgründe widersprechen, denen zu entnehmen ist, dass es mehrere "Diebe im Gesetz" gibt, ohne dass festgestellt<br />

ist, dass sich deren Organisationen über Europa hinaus ausgebreitet haben. Somit bleibt offen, wo sich die diesen<br />

zugewiesenen Gebiete befinden sollen.<br />

<strong>StGB</strong> § 129a IV, § 129b - Deutschlandverantwortliche der DHKP-C als Rädelsführer<br />

BGH, Urt. v. 16.02.2012 - 3 StR 243/11 - NJW 2012, 1973<br />

LS: Zur Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung.<br />

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 16. Dezember 2010,<br />

soweit es sie betrifft, aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen aufrechterhalten. Im Umfang der Aufhebung<br />

wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an einen anderen<br />

Strafsenat des Oberlandesgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Oberlandesgericht hat die Angeklagte wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland<br />

zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren <strong>und</strong> neun Monaten verurteilt. Mit ihrer hiergegen gerichteten Revision<br />

beanstandet die Angeklagte die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge<br />

den aus der Urteilsformel ersichtlichen Erfolg. Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts war die Angeklagte<br />

während des Tatzeitraums von Ende August 2002 bis November 2008 eine hochrangige Funktionärin der Devrimci<br />

Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei/-front, im Folgenden: DHKP-C). Sie leitete<br />

zunächst die DHKP-C-Region Westfalen, zu der u.a. die Gebiete Köln, Dortm<strong>und</strong> <strong>und</strong> Duisburg gehörten. Spätestens<br />

im Juli 2007 übernahm sie die Funktion der Deutschlandverantwortlichen <strong>und</strong> übte diese bis zum November 2008<br />

103


aus. In diesem Tatzeitraum verfolgte die DHKP-C als marxistisch-leninistisch orientierte Gruppierung das Ziel,<br />

durch bewaffneten Kampf das verfassungsmäßige Regierungssystem in der Türkei im Wege eines revolutionären<br />

Umsturzes zu beseitigen <strong>und</strong> durch ein kommunistisches "Regime" zu ersetzen. Sie verübte seit dem Jahr 1994 zahlreiche<br />

Brand- <strong>und</strong> Sprengstoffanschläge, die insbesondere gegen Repräsentanten des türkischen Staates, Mitglieder<br />

türkischer Justizbehörden <strong>und</strong> Angehörige der türkischen Armee gerichtet waren. Die Organisation war streng hierarchisch<br />

<strong>und</strong> zentralistisch aufgebaut. Sie bestand aus einem politischen Bereich, der DHKP, <strong>und</strong> einem militärischen<br />

Arm, der DHKC. Die DHKP bestimmte die politischen Leitlinien der Organisation <strong>und</strong> überwachte bzw. koordinierte<br />

die Durchführung der Parteibeschlüsse. Das höchste Organ war der Parteikongress, der als Leitungsgremium<br />

den Generalsekretär sowie die Mitglieder des Zentral- <strong>und</strong> Generalkomitees bestimmte. Das Zentralkomitee hatte<br />

als "Befehlshaber des Krieges" über "politische Vorgehensweisen <strong>und</strong> Taktiken" zu beschließen. Der an seiner Spitze<br />

stehende Generalsekretär war faktisch nicht absetzbar <strong>und</strong> mit umfassenden Vollmachten ausgestattet. Ihm oblag<br />

die Kontrolle sämtlicher Organe der DHKP <strong>und</strong> DHKC. Das Generalkomitee war zur Schlichtung von Meinungsverschiedenheiten<br />

zwischen Mitgliedern des Zentralkomitees berufen. In außerordentlichen (Krisen-)Situationen konnte<br />

es auch anstelle des Parteikongresses vorläufige Anordnungen treffen. Darüber hinaus war die Partei in Form von<br />

Komitees <strong>und</strong> Zellen organisiert, die sowohl nach geographischen Gesichtspunkten als auch nach Sach- bzw. Arbeitsbereichen<br />

gegliedert waren. Die Frontorganisation DHKC führte den bewaffneten Kampf in der Türkei. Sie<br />

bestand im Wesentlichen aus "bewaffneten Propagandaabteilungen" <strong>und</strong> Milizverbänden, war hierarchisch der<br />

DHKP nachgeordnet <strong>und</strong> hatte die in deren Gremien getroffenen Entscheidungen auszuführen. Die DHKP-C war<br />

auch außerhalb der Türkei, vor allem in Westeuropa, aktiv. Die hier bestehende "Rückfront" bzw. "Hinterfront"<br />

diente der Aufrechterhaltung <strong>und</strong> Fortführung des bewaffneten Kampfes in der Türkei. Die Organisationseinheiten<br />

hatten insbesondere die Aufgabe, die für die Aktivitäten in der Türkei erforderlichen finanziellen Mittel zu beschaffen.<br />

Daneben rekrutierten sie "Kämpfer" für Anschläge in der Türkei <strong>und</strong> sorgten für deren Ausstattung; ebenso<br />

schafften sie Rückzugsräume für Mitglieder. Innerhalb der "Rückfront" war Deutschland aufgr<strong>und</strong> der hohen Anzahl<br />

der hier lebenden türkischstämmigen Personen, deren finanziellen Möglichkeiten <strong>und</strong> des daraus resultierenden Potentials<br />

zur personellen <strong>und</strong> materiellen Unterstützung von Aktivitäten der DHKP-C in der Türkei das wichtigste<br />

Betätigungsgebiet dieser Organisation. Für die Organisation betätigten sich im Jahre 2008 b<strong>und</strong>esweit etwa 650<br />

Aktivisten. Die DHKP-C baute in Europa festgefügte, hierarchisch gegliederte Strukturen auf. Die aus mehreren<br />

Personen bestehende Europaführung hatte die Aufgabe, die Organisation nach den vom Zentralkomitee bzw. Generalsekretär<br />

erteilten Weisungen zu leiten <strong>und</strong> die praktische Umsetzung einzelner Anordnungen in eigener Verantwortung<br />

sicherzustellen. Als höchste Hierarchieebene in der Europaorganisation war der/die Europaverantwortliche<br />

unmittelbar der Partei- bzw. Organisationsführung unterstellt <strong>und</strong> weisungsgeb<strong>und</strong>en. Der Europaführung nachgeordnet<br />

waren nationale Organisationseinheiten in den verschiedenen, zur "Rückfront" gehörenden Staaten, die jeweils<br />

durch Einzelpersonen oder durch innerhalb mehrköpfiger Länder-Komitees agierende Länderverantwortliche<br />

geführt wurden. Dabei war zuletzt der - von der Europaführung eingesetzte - Deutschlandverantwortliche zugleich<br />

den Funktionären in den Niederlanden, Belgien, Frankreich <strong>und</strong> Österreich vorgesetzt. In Deutschland war die Organisation<br />

in Regionen <strong>und</strong> Gebiete aufgeteilt, die von professionellen Führungskadern, den sog. Regions- bzw. Gebietsverantwortlichen,<br />

geleitet wurden. Daneben bestanden besondere, nach sachlichen Kriterien abgegrenzte Arbeitsgebiete<br />

bzw. Organisationseinheiten, etwa die Jugendorganisation "Devrimci Genclik" ("Revolutionäre Jugend")<br />

oder der Bereich Nachschub <strong>und</strong> Logistik. Die als Gebietsleiter, Regions- <strong>und</strong> Deutschlandverantwortliche<br />

tätig gewesenen Funktionäre waren durch ein Berichts- <strong>und</strong> Kontrollsystem fest in die hierarchischen Strukturen der<br />

Organisation eingeb<strong>und</strong>en; sie unterstanden der einheitlichen Führung durch den Generalsekretär, das Zentralkomitee<br />

<strong>und</strong> die Europaführung.<br />

1. Der Schuldspruch wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§ 129a Abs. 1 Nr. 1,<br />

Abs. 4, § 129b Abs. 1 <strong>StGB</strong>) hält auf der Gr<strong>und</strong>lage der bisher getroffenen Feststellungen sachlichrechtlicher Nachprüfung<br />

nicht stand. Bei seiner rechtlichen Würdigung hat das Oberlandesgericht darauf abgestellt, die Angeklagte<br />

sei als Deutschlandverantwortliche <strong>und</strong> damit als herausgehobene, die Bestrebungen der Organisation in Europa<br />

entscheidend fördernde Führungskraft aufgr<strong>und</strong> ihres maßgebenden Einflusses auf deren Tätigkeiten Rädelsführerin<br />

der DHKP-C gewesen, ohne dass in diesem Zusammenhang von Belang sei, dass sie selbst von Weisungen der<br />

nächsthöheren Hierarchieebenen abhängig war. Damit hat der Strafsenat nicht alle Gesichtspunkte in den Blick genommen,<br />

die für die Beurteilung der Rädelsführerschaft von Bedeutung sind.<br />

a) Nach gefestigter, ursprünglich zu § 90a <strong>StGB</strong> aF entwickelter <strong>und</strong> später auf die §§ 129, 129a <strong>StGB</strong> übertragener<br />

Rechtsprechung ist Rädelsführer, wer in der Vereinigung dadurch eine führende Rolle spielt, dass er sich in besonders<br />

maßgebender Weise für sie betätigt. Entscheidend ist dabei nicht der Umfang, sondern das Gewicht, das der<br />

geleistete Beitrag für die Vereinigung hat. Besonders maßgebend ist eine Tätigkeit dann, wenn sie von Einfluss ist<br />

104


auf die Führung der Vereinigung im Ganzen oder in wesentlichen <strong>Teil</strong>en, wenn also der Täter, falls er nicht schon<br />

selbst zu den Führungskräften gehört, doch durch sein Tun gleichsam an der Führung mitwirkt (BGH, Urteil vom 2.<br />

Oktober 1963 - 3 StR 34/63, BGHSt 19, 109, 110). Der vom Täter ausgeübte Einfluss muss der Sache nach beträchtlich<br />

sein (BGH, Urteil vom 1. Dezember 1964 - 3 StR 37/64, BGHSt 20, 121, 123 f.). Eine rein formale Stellung<br />

innerhalb eines Führungsgremiums reicht für sich genommen noch nicht aus (LK/Krauß, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 129 Rn.<br />

173 mwN). Liegen die genannten Voraussetzungen vor, so wird die Rädelsführerschaft andererseits nicht schon<br />

dadurch ausgeschlossen, dass der Täter von Weisungen abhängig ist (BGH, Beschluss vom 25. Januar 1956 - 6 StR<br />

100/55, bei Wagner GA 1960, 235).<br />

b) Der Senat hält an den dargestellten Gr<strong>und</strong>sätzen fest. Er präzisiert sie dahin, dass der bestimmende Einfluss des<br />

Täters als Führungskraft bzw. als gleichsam an der Führung der Organisation mitwirkende Person sich auf die Vereinigung<br />

als solche richten, mithin etwa die Bestimmung der Organisationszwecke, -tätigkeiten oder -ziele, die ideologische<br />

Ausrichtung der Vereinigung, deren Organisationsstruktur oder sonstige Belange mit für die Vereinigung<br />

wesentlicher Bedeutung betreffen muss. Diese Auslegung des Tatbestandsmerkmals ist geboten aufgr<strong>und</strong> von dessen<br />

Sinn <strong>und</strong> Zweck, die dahin gehen, "Drahtzieher" (BGH, Urteil vom 12. Mai 1954 - 6 StR 30/54, BGHSt 6, 129, 130<br />

mwN), Führungskräfte <strong>und</strong> solche Personen zu erfassen, die kraft einer Schlüsselstellung einen bestimmenden Einfluss<br />

haben (LK/Krauß, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 129 Rn. 173), der hohen, im Vergleich zum jeweiligen Gr<strong>und</strong>tatbestand<br />

deutlich gesteigerten Strafdrohung des § 129a Abs. 4 <strong>StGB</strong> (Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren in den Fällen des §<br />

129a Abs. 1 <strong>und</strong> 2, Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren in den Fällen des § 129a Abs. 3 <strong>StGB</strong>) sowie<br />

der gesetzlichen Gleichstellung des Rädelsführers mit dem Hintermann. Für letzteren ist kennzeichnend, dass er zwar<br />

- im Unterschied zum Rädelsführer - nicht Mitglied der Vereinigung ist, gleichwohl aber die Vereinigung als Außenstehender<br />

dadurch wesentlich fördert, dass er geistig oder wirtschaftlich maßgebenden Einfluss auf die Führung der<br />

Vereinigung hat (BGH, Urteil vom 1. Dezember 1964 - 3 StR 37/64, BGHSt 20, 121, 123).<br />

c) Diese Gr<strong>und</strong>sätze gelten auch bei Betätigungen für Vereinigungen im Ausland, die seit Einfügung des § 129b in<br />

das Strafgesetzbuch durch das 34. StrÄndG vom 22. August 2002 (BGBl. I S. 3390) unter Strafe gestellt sind; denn §<br />

129b Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> verweist insoweit ohne Einschränkung auf die §§ 129 <strong>und</strong> 129a <strong>StGB</strong>. In diesen Fällen ist<br />

den gesetzlichen Anforderungen deshalb nicht ohne Weiteres allein dadurch Genüge getan, dass der Täter auf eine<br />

möglicherweise bestehende inländische <strong>Teil</strong>organisation der Vereinigung (zur Abgrenzung zwischen in- <strong>und</strong> ausländischer<br />

Vereinigung vgl. BGH, Beschluss vom 13. September 2011 - 3 StR 231/11, NJW 2012, 325) maßgebenden<br />

Einfluss hat, mag dieser auch in dem Gesamtgefüge der Vereinigung eine nicht unerhebliche Bedeutung zukommen.<br />

Erforderlich ist vielmehr, dass der Täter in dem näher umschriebenen Sinne als Führungskraft der Gesamtorganisation<br />

anzusehen ist oder durch sein Tun in sonstiger Weise gleichsam an der Führung der Gesamtvereinigung teilnimmt.<br />

d) Gemessen an diesen Maßstäben belegen die bisherigen Feststellungen die Rädelsführerschaft der Angeklagten<br />

nicht. Dies gilt auch für denjenigen Zeitraum, in dem die Angeklagte die Funktion der Deutschlandverantwortlichen<br />

der DHKP-C ausübte.<br />

aa) Die in Deutschland <strong>und</strong> anderen <strong>Teil</strong>en Westeuropas agierenden Führungsfunktionäre waren vollständig in die<br />

streng hierarchischen Strukturen der DHKP-C eingeb<strong>und</strong>en. Der Angeklagten waren danach gleich mehrere Ebenen,<br />

namentlich der Generalsekretär, das Zentralkomitee, der Europaverantwortliche sowie die weiteren Mitglieder der<br />

Europaführung übergeordnet. Die Funktionäre der DHKP-C waren zwar innerhalb ihres jeweiligen Zuständigkeitsbereichs<br />

für sämtliche Angelegenheiten organisatorischer, personeller, finanzieller <strong>und</strong> sonstiger Art verantwortlich.<br />

Sie schuldeten den übergeordneten Kadern indes jederzeit unbedingten Gehorsam <strong>und</strong> nahmen deren Befehle <strong>und</strong><br />

Anweisungen verbindlich entgegen. So hatte die - über der Angeklagten stehende - Europaführung die Aufgabe, die<br />

DHKP-C nach den vom Generalsekretär bzw. dem Zentralkomitee erteilten Weisungen zu führen. Lediglich die<br />

praktische Umsetzung der einzelnen Anordnungen war von der Europaführung in eigener Verantwortung sicherzustellen.<br />

Entsprechendes gilt für das Verhältnis zwischen der Europaführung <strong>und</strong> dem Deutschlandverantwortlichen.<br />

Mit Blick auf diese Umstände erscheint es bereits zweifelhaft, ob die Angeklagte allein aufgr<strong>und</strong> ihrer Stellung in<br />

der Organisation einen für die Annahme der Rädelsführerschaft ausreichenden Einfluss auf die Gesamtorganisation<br />

als solche ausüben konnte.<br />

bb) Jedenfalls wird ein derartiger maßgeblicher Einfluss der Angeklagten von den Feststellungen zu den konkreten<br />

Aufgaben <strong>und</strong> Tätigkeiten der einzelnen Parteiorgane nicht belegt. Aus diesen ergibt sich vielmehr, dass die für die<br />

Vereinigung wesentlichen Belange von der Partei- <strong>und</strong> Europaführung bestimmt <strong>und</strong> geprägt wurden, ohne dass ein<br />

für die Rädelsführerschaft ausreichender Einfluss der Angeklagten auf die diesbezüglichen Entscheidungen ersichtlich<br />

ist. Hierzu im Einzelnen:<br />

105


(1) Wichtigste Aufgabe der an der "Rückfront" eingesetzten Funktionäre war die Geldbeschaffung zur Finanzierung<br />

des bewaffneten Kampfes in der Türkei. Die Haupteinnahmequelle stellten Spendensammlungen dar, die nach festen,<br />

streng überwachten Regeln durchgeführt wurden. Der jeweilige Zeitraum dieser Sammlungen, die Mindesthöhe<br />

der erwarteten Spendengelder, die Verbringung <strong>und</strong> Verwendung der vereinnahmten Spenden sowie die bei der<br />

Sammlung eingesetzten Propagandamittel wurden zentral von der Parteiführung vorgegeben. Zudem waren von den<br />

ausführenden Funktionären Berichte zu fertigen, die über die Europaführung an die Parteiführung weitergeleitet<br />

wurden. Die Gesamtverantwortung für weitere, der Geldbeschaffung dienende kommerzielle Veranstaltungen wie<br />

etwa Konzerte oder das jährliche Parteifest trug der Europaverantwortliche. Dieser legte die Rahmenbedingungen<br />

fest <strong>und</strong> erteilte den nachgeordneten Funktionären konkrete Handlungsanweisungen zur Vorbereitung sowie Durchführung<br />

der betreffenden Veranstaltung. Die in Deutschland <strong>und</strong> anderen Ländern der Rückfront agierenden Parteikader<br />

waren zudem spätestens seit dem Jahr 1998 an der Bereitstellung von Nachschub <strong>und</strong> Logistik für den bewaffneten<br />

Kampf in der Türkei beteiligt. Die mit diesen Aktivitäten betrauten hochrangigen Parteifunktionäre waren<br />

indes unmittelbar der Parteiführung unterstellt. Nach deren Weisungen oblag den Verantwortlichen die Bereitstellung<br />

von Fahrzeugen <strong>und</strong> die Einweisung der Kurierfahrer. Als Kuriere geeignete Personen waren der Europaführung<br />

zu benennen. Mitteilungen der DHKP-C wurden unter der Kontrolle der Europaführung herausgegeben. Maßnahmen<br />

zur Kaderschulung wurden ebenfalls zentral gesteuert. Die Europaführung legte auch fest, welche zukünftigen<br />

Funktionäre in den einzelnen Gebieten Ausbildungsaufgaben wahrzunehmen hatten. Die Inhalte der Schulungen<br />

waren an den Vorgaben des Parteiprogramms orientiert <strong>und</strong> wurden von der Organisationsführung vorgegeben. Die<br />

Entscheidungen, ob, wann <strong>und</strong> in welcher Weise Schleusungen durchgeführt wurden, um Funktionäre vor Strafverfolgungsmaßnahmen<br />

zu schützen, traf die Parteiführung. Lediglich die entsprechende Ausführung oblag der Europaführung<br />

<strong>und</strong> den nachgeordneten Funktionären. Die Angeklagte war schließlich nicht direkt in die Planung oder die<br />

Durchführung der von der Vereinigung in der Türkei verübten Anschläge <strong>und</strong> damit nicht in die Straftaten eingeb<strong>und</strong>en,<br />

auf deren Begehung die Zwecke <strong>und</strong> Tätigkeit der DHKP-C vor allem gerichtet waren.<br />

(2) Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> belegen die Feststellungen, die Angeklagte sei mit Befehlsgewalt über sämtliche Funktionäre<br />

<strong>und</strong> Kader in Deutschland ausgestattet, mit Schulungsaufgaben befasst sowie für sämtliche Angelegenheiten<br />

organisatorischer, personeller, finanzieller <strong>und</strong> sonstiger Art zuständig gewesen, die in den von ihr jeweils geleiteten<br />

Bereichen angefallen seien, nicht den für die Rädelsführerschaft erforderlichen maßgeblichen Einfluss auf die Führung<br />

der ausländischen Gesamtorganisation. Dabei ist weder die große Bedeutung Deutschlands für die DHKP-C<br />

noch die Vielzahl durchaus gewichtiger Aufgaben zu verkennen, welche die Angeklagte in konspirativer Vorgehensweise<br />

zu erfüllen hatte. Diese Umstände vermögen indessen nichts daran zu ändern, dass alle wesentlichen Entscheidungen<br />

mit für die DHKP-C gr<strong>und</strong>sätzlicher Bedeutung von Parteiorganen getroffen wurden, die der Angeklagten<br />

übergeordnet waren. Die Angeklagte war demgegenüber in Bezug auf alle Aktivitäten, die ihr als DHKP-C Funktionärin<br />

oblagen, etwa der Gebietsarbeit, dem Mitwirken an Spendenkampagnen, beim Verkauf von Publikationen,<br />

bei kommerziellen Veranstaltungen, Schulungen <strong>und</strong> Demonstrationen gegenüber dem bzw. der Europaverantwortlichen<br />

berichtspflichtig. Ihre Tätigkeit war somit vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie für die höheren Parteiorgane<br />

nachvollziehbar dafür Sorge zu tragen hatte, die von den ihr übergeordneten Führungsebenen ausgegebenen<br />

Direktiven in dem jeweils von ihr geleiteten Bereich umzusetzen.<br />

2. Eine Schuldspruchänderung in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO dahin, dass die Angeklagte<br />

wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar ist, kommt nicht in<br />

Betracht. Das Oberlandesgericht hat die Feststellungen zwar rechtsfehlerfrei getroffen; die hiergegen erhobenen<br />

verfahrensrechtlichen Einwendungen der Revision dringen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

nicht durch. Der Inhalt der knappen Ausführungen des Oberlandesgerichts im Rahmen der rechtlichen Würdigung<br />

deutet jedoch darauf hin, dass der Strafsenat die Frage, welchen Einfluss die Angeklagte auf die wesentlichen<br />

Belange der ausländischen Gesamtorganisation nahm, jedenfalls nicht ausreichend im Blick hatte. Es erscheint deshalb<br />

nicht ausgeschlossen, dass ein neues Tatgericht Feststellungen treffen kann, welche die Rädelsführerschaft der<br />

Angeklagten in der DHKP-C nach Maßgabe der dargelegten Anforderungen belegen.<br />

3. Die bisherigen Feststellungen insbesondere zu Aufbau <strong>und</strong> Struktur der DHKP-C sowie den Tätigkeiten der Angeklagten<br />

sind von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffen; sie können deshalb bestehen bleiben. Das neue<br />

Tatgericht kann ergänzende Feststellungen - etwa zum Einfluss der Angeklagten auf die Führung der Gesamtorganisation<br />

- treffen, die allerdings den bisherigen nicht widersprechen dürfen.<br />

106


<strong>StGB</strong> § 130 – Volksverhetzung gegen Ausländer durch NPD<br />

BGH, Urt. v. 20.09.2011 - 4 StR 129/11 - BeckRS 2011, 24305<br />

Zur Auslegung des § 130 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong><br />

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Bochum vom 8. November 2010 wird<br />

verworfen.<br />

2. Die Kosten des Rechtsmittels sowie die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die<br />

Staatskasse<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Volksverhetzung aus rechtlichen Gründen freigesprochen.<br />

Gegen diesen Freispruch wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Rüge der Verletzung materiellen<br />

Rechts. Das vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertretene Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.<br />

I. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, während einer K<strong>und</strong>gebung des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen der<br />

NPD durch Ausrufe während des Aufzuges sowie durch eine Rede in einer Weise, die geeignet sei, den öffentlichen<br />

Frieden zu stören, zum Hass gegen <strong>Teil</strong>e der Bevölkerung aufgestachelt zu haben (§ 130 Abs. 1 Nr. 1 Fall 1 <strong>StGB</strong> in<br />

der Fassung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes vom 28. Oktober 1994, BGBl. I S. 3186).<br />

1. Die Strafkammer hat dazu Folgendes festgestellt: Am 25. Oktober 2008 fand in Bochum der von dem Landesverband<br />

Nordrhein-Westfalen der NPD angemeldete Aufzug statt. Das zuvor auf dessen Homepage bekannt gegebene<br />

Motto lautete: „Deutsche wehrt Euch – Gegen Überfremdung, Islamisierung <strong>und</strong> Ausländerkriminalität!“ Der unter<br />

anderem wegen Volksverhetzung vorbestrafte Angeklagte, der seit ca. 1979 politisch im „rechten Spektrum“ aktiv ist<br />

<strong>und</strong> dem B<strong>und</strong>esvorstand der NPD angehört, war als Gastredner eingeladen. Das Thema der Veranstaltung war ihm<br />

bekannt. Nicht festgestellt werden konnte, dass er in die Vorbereitung <strong>und</strong> Gestaltung der Veranstaltung eingeb<strong>und</strong>en<br />

war. Gegen 13.00 Uhr versammelten sich ca. 250 <strong>Teil</strong>nehmer einschließlich des Angeklagten. Auf einem mitgeführten<br />

Lkw waren eine Lautsprecheranlage sowie ein Transparent mit der Aufschrift „www.ausländerstopp.nrw.de“<br />

angebracht. Während des Umzugs skandierte der Angeklagte über die Lautsprecheranlage wiederholt: „Hoch die<br />

nationale Solidarität!“. Weiterhin äußerte er: „Ist der Ali kriminell, in die Heimat, aber schnell!“ sowie „Multikulti<br />

ist kein Himmelsgesetz. Multikulti <strong>und</strong> Masseneinwanderung sind nicht vom deutschen Volk gewollt, …“. Daneben<br />

führte er sinngemäß unter anderem aus, die Deutschen hätten ein Recht darauf, sich gegen eine seines Erachtens<br />

fehlgeleitete Politik, die den Interessen der „Nochmehrheitsbevölkerung“ widerspreche, zu wenden. Während des<br />

Aufzugs kam es zu Protesten von Gegendemonstranten. Gegen 14.00 Uhr erreichte der Aufzug den K<strong>und</strong>gebungsplatz,<br />

wo sich zahlreiche Gegendemonstranten aufhielten. Dort hielt der Angeklagte gegen 15.00 Uhr im Anschluss<br />

an zwei andere Personen eine Rede. Hierbei stand er auf der Ladefläche des Lkw <strong>und</strong> nutzte die Lautsprecheranlage.<br />

Am Rednerpult war vom Veranstalter ein Plakat angebracht worden, welches drei Personen zeigte, die Kapuzen über<br />

den Kopf gezogen hatten <strong>und</strong> Sonnenbrillen trugen. Eine der abgebildeten Personen hielt einen Schlagstock in der<br />

Hand. Das Bild war überschrieben mit „Deutsche wehrt euch!“ Unter dem Bild stand „Gegen Überfremdung, Islamisierung<br />

<strong>und</strong> Ausländerkriminalität!“ Unten auf dem Plakat stand: „www.ausländerstopp.nrw.de“. Während der Rede<br />

des Angeklagten zeigten einige <strong>Teil</strong>nehmer Transparente mit den Aufschriften: „Gegen Islamisierung, Überfremdung<br />

<strong>und</strong> Ausländerkriminalität“ <strong>und</strong> „kriminelle Ausländer raus“. Der Angeklagte hielt die Rede frei <strong>und</strong> sprach<br />

wegen des durch die Gegendemonstration verursachten Lärms zwar laut; von der Vortragsweise her waren aber<br />

keine Auffälligkeiten erkennbar. In Redepausen erfolgten Beifallsk<strong>und</strong>gebungen, die jedoch im Vergleich zu den<br />

Reaktionen auf die weiteren Reden deutlich gemäßigter <strong>und</strong> moderater ausfielen. Während der Rede kam es nicht zu<br />

Zurufen mit ausländerfeindlichen Inhalten aus der Gruppe der Zuhörer. Zu Beginn seiner Rede verwies der Angeklagte<br />

darauf, dass sie als „nationale Opposition“ wieder Flagge gezeigt <strong>und</strong> die Medien gezwungen hätten zu berichten,<br />

dass es auch etwas anderes als den „multikulti Wahnsinn“ der etablierten „Einheitsparteien“ gebe. Sie hätten<br />

die Medien gezwungen, sich eindeutig klar hinzustellen, ob sie auf der Seite des Volkes stünden oder auf der Seite<br />

der „multikulturellen, multikriminellen Massenpsychose“, der sie „unser Volk“ aussetzten. Der gegen die Deutschen<br />

schlagende „multikulti Wahnsinn“ sei auch heute wieder darin erkennbar geworden, dass sie ein Transparent mit der<br />

Aufschrift: „Multikulti ist Völkermord“ nicht hätten zeigen dürfen. Dieses sei Unterdrückung der freien Meinungsäußerung.<br />

Der Angeklagte erinnerte dabei an den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten, der genau dies gesagt<br />

habe. Nach dessen Meinung sei „Multikulti“ Völkermord zum Nachteil des türkischen Volkes. Sodann äußerte der<br />

Angeklagte wörtlich: „Wir haben als Deutsche das Recht in die Öffentlichkeit zu gehen, Öffentlichkeit herzustellen,<br />

107


um damit zu dokumentieren, dass wir als Deutsche nicht bereit sind, widerspruchslos zur Minderheit im eigenen<br />

Lande zu werden.“<br />

Ferner führte der Angeklagte aus, die „Einheitspolitiker, diese Multikultifanatiker“, gingen mit großem Aufwand,<br />

mit Pressekampagnen <strong>und</strong> mit der ganzen Macht der etablierten Parteien gegen sie vor. Sie würden jedoch das Spiel<br />

dieser Politiker als ein von oben aufgepfropftes, von oben aufgesetztes Spektakel entlarven, das meilenweit an den<br />

Interessen <strong>und</strong> an der Wirklichkeit des eigenen Volkes vorbeigehe; er behauptete, die schweigende Mehrheit der<br />

Deutschen denke inzwischen, „Multikulti“ sei gescheitert <strong>und</strong> zerstöre die gewachsenen Strukturen des Volkes. Im<br />

Folgenden kritisierte der Angeklagte die für den Polizeieinsatz vor Ort sowie die für die akustischen Störungen während<br />

der Veranstaltung Verantwortlichen <strong>und</strong> führte davon abgrenzend in Bezug auf die <strong>Teil</strong>nehmer aus, sie dagegen<br />

seien Deutsche. Sie hätten <strong>und</strong> würden es nicht vergessen, was das ewige Recht „unseres Volkes“ sei, das Recht, sein<br />

Überleben zu sichern sowie es das Recht eines jeden anderen Volkes auf dieser Welt sei, <strong>und</strong> so sähen sie sich eins<br />

mit den nationalistischen Befreiungsbewegungen, mit nationalen, sozialen Bewegungen überall in der Welt. Nach<br />

seinen Ausführungen stünden „überall … die Völker auf gegen den amerikanischen ‚one World’-Traum <strong>und</strong> deren<br />

multikriminellen, internationalistischen Börsengaunern, die die Welt langsam aber sicher der internationalen Hochfinanz<br />

zum Fraße vorwerfen … <strong>und</strong> auch das letzte Volk in Unfreiheit führen wollen“. Sodann führte der Angeklagte<br />

weiter zur weltwirtschaftlichen Situation aus, das „liberal-kapitalistische ‚Anti-Menschentum’“ gehe einem großen<br />

Exodus entgegen. Ein aufgepumptes Finanzsystem der internationalen Börsenspekulanten habe dafür gesorgt, das<br />

jetzt der Crash komme. Dieser habe gezeigt, dass all’ das, wofür diese Politiker, wofür diese „Börsengauner“ stünden,<br />

zusammenbreche. Es sei eine falsche Welt mit falschen Werten. Daneben griff der Angeklagte das Thema „Soziale<br />

Gerechtigkeit“ auf <strong>und</strong> führte dazu aus, dass sie gerade erlebten, wie die „Links Partei“ versuche, mit sozialen<br />

Themen als „Bauernfänger“ die Menschen wieder einmal „für dumm zu verkaufen“. Die „Links Partei, die … für<br />

Multikulti, für Masseneinwanderung <strong>und</strong> somit auch für die Zerstörung des Sozialsystems unseres Volkes“ stehe,<br />

habe gefordert, eine sozial gerechte Globalisierung zu erkämpfen. Dies funktioniere aber nicht, weil sie als „nationale<br />

Kämpfer“ wüssten, dass sozial nur national gehe. Soziale Errungenschaften seien von den Franzosen, Engländern<br />

<strong>und</strong> Deutschen in Jahrh<strong>und</strong>erte langem Ringen erkämpft worden <strong>und</strong> nicht von irgendwelchen inhomogenen „Multikultimassen“.<br />

Soziale Gerechtigkeit sei Ausdruck einer Lebensform, ein kultureller Bestandteil eines Volkes <strong>und</strong><br />

könne nur von einem gewachsenen Volk erkämpft werden. Ferner meinte er, dass sie in Deutschland in der Zukunft<br />

mit massiven Einbrüchen des Sozialsystems zu kämpfen hätten <strong>und</strong> es mit einer massiven Verelendung in <strong>Teil</strong>en des<br />

Volkes zu tun bekämen. Alles das, was jetzt noch „in Flitter <strong>und</strong> Glanz <strong>und</strong> Schein“ zu funktionieren scheine, werde<br />

langsam aber sicher zusammenbrechen. Der Angeklagte kündigte an, „Parallelgesellschaften“ würden dazu übergehen,<br />

sich ihr Recht zu nehmen, wenn sie es denn nicht mehr bekämen; Auswüchse wie in den Vororten von Paris<br />

oder London würden auch Deutschland erreichen. Ganze Stadtteile in Berlin seien inzwischen von der Polizei für<br />

nicht mehr handhabbar erklärt worden. Die Polizei habe offen erklärt, dass man der Banden mit dem „multikulturellen<br />

Abgr<strong>und</strong>“ dort nicht mehr Herr werden könne. Wörtlich äußerte er: „Mafiastrukturen aus dem Ausland haben<br />

sich in unsere Gesellschaft hineingefressen. Es fängt ganz klein an in den Ortsämtern, bei den Sozialämtern, wo die<br />

Leute unter Druck gesetzt werden, wenn sie vielleicht einer Großfamilie nicht mehr das Geld zugestehen, welches<br />

diese Großfamilie beansprucht. Ganz klein fangen die Mafiastrukturen an, aber sie fressen sich seit Jahrzehnten in<br />

die Gesellschaft hinein, bis hoch in höchste politische Ämter. Wir müssen davon ausgehen, dass dieses System langsam<br />

aber sicher am Ende ist <strong>und</strong> krepiert.“ Abschließend führte er aus, dass sie die letzte Chance für „unser Volk“<br />

seien. Sie, die „noch Deutsche sein wollten in Deutschland“, würden schon bald von den Deutschen in diesem Lande<br />

die Unterstützung erfahren in der Masse, für die sie seit Jahren auf die Straße gingen, denn der Untergang der „multikulturellen<br />

Gesellschaft“ sei vorprogrammiert. Dabei forderte er die <strong>Teil</strong>nehmer auf, ohne zu zögern <strong>und</strong> ohne<br />

Angst auch zukünftig gemeinschaftlich auf die Straße zu gehen, weil sie es nur als eine Einheit der Deutschen, als<br />

eine „Kampfgemeinschaft aller nationalen Kräfte“ schaffen würden, Veränderungen in diesem Lande herbeizuführen.<br />

Zugleich sprach er indirekt von innerparteilichen Schwierigkeiten, die „ihr großes Werk einer Gesamtbewegung“<br />

zu zerreden oder zu zerstören drohten, <strong>und</strong> endete mit den Worten: „Es ist unsere Aufgabe als nationale, soziale<br />

Bewegung zusammenzustehen, nur gemeinsam werden wir den Sieg erringen.“<br />

2. Das Landgericht meint, nach den getroffenen Feststellungen sei der objektive Tatbestand der Volksverhetzung<br />

gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 1 Fall 1 <strong>StGB</strong> aF nicht erfüllt. Die auf der Gr<strong>und</strong>lage der vom B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

aufgestellten Gr<strong>und</strong>sätze vorzunehmende Würdigung der Äußerungen des Angeklagten führe auch unter Berücksichtigung<br />

der festgestellten Begleitumstände nicht allein zu einer die Strafbarkeit begründenden Auslegung (UA 10).<br />

II. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg. Das Landgericht ist rechtsfehlerfrei davon ausgegangen,<br />

dass die Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Nr. 1 Fall 1 <strong>StGB</strong> aF nicht vorliegen, weil der Angeklagte nicht zum<br />

Hass gegen <strong>Teil</strong>e der Bevölkerung aufgestachelt hat. Die am 22. März 2011 in Kraft getretene Neufassung des § 130<br />

108


Abs. 1 <strong>StGB</strong> durch Gesetz vom 16. März 2011 (BGBl. I S. 418) hat diese Tatvariante nicht geändert <strong>und</strong> ist daher<br />

kein milderes Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 <strong>StGB</strong>. Die in Deutschland lebenden Ausländer kommen als hinreichend<br />

abgrenzbarer <strong>und</strong> damit vom Tatbestand der Volksverhetzung geschützter <strong>Teil</strong> der Bevölkerung in Betracht<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 1988 – 3 StR 561/87, BGHR <strong>StGB</strong> § 130 Nr. 1 Bevölkerungsteil 2; Urteil vom<br />

8. August 2006 – 5 StR 405/05, BGHR <strong>StGB</strong> § 130 Abs. 1 Friedensstörung 1; OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 368;<br />

OLG Brandenburg NJW 2002, 1440; OLG Stuttgart, Urteil vom 19. Mai 2011 – 1 Ss 175/11; LK-Krauß, <strong>StGB</strong>, 12.<br />

Aufl., § 130 Rn. 28, 31; Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 130 Rn. 3, 4). Unter<br />

Aufstachelung zum Hass ist ein Verhalten zu verstehen, welches auf die Gefühle oder den Intellekt eines anderen<br />

einwirkt <strong>und</strong> objektiv geeignet sowie subjektiv bestimmt ist, eine emotional gesteigerte, über die bloße Ablehnung<br />

oder Verachtung hinausgehende, feindselige Haltung gegen den betreffenden Bevölkerungsteil oder die betreffende<br />

Gruppe zu erzeugen oder zu verstärken (BGH, Urteile vom 15. März 1994 – 1 StR 179/93, BGHSt 40, 97, 102, vom<br />

12. Dezember 2000 – 1 StR 184/00, BGHSt 46, 212, 217, vom 8. August 2006 – 5 StR 405/05, BGHR <strong>StGB</strong> § 130<br />

Abs. 1 Friedensstörung 1 <strong>und</strong> vom 3. April 2008 – 3 StR 394/07, BGHR § 130 Nr. 1 Aufstacheln 2).<br />

1. Die Annahme des Landgerichts, „eine (allein) zur Strafbarkeit führende Auslegung der Äußerungen des Angeklagten<br />

(sei) auch unter Berücksichtigung der … festgestellten Begleitumstände nicht möglich (UA 10), bei der vorzunehmenden<br />

Gesamtbetrachtung (sei) kein Fall gegeben, bei dem die Äußerungen des Angeklagten nur so gedeutet<br />

werden können, dass er seine Angriffe auch unmittelbar gegen die in Deutschland lebenden Ausländer gerichtet“<br />

habe (UA 11), hält rechtlicher Nachprüfung stand.<br />

a) Bei der Deutung des objektiven Sinns der Äußerungen des Angeklagten hat das Landgericht die Anforderungen<br />

beachtet, die sich nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ergeben:<br />

Dieses Gr<strong>und</strong>recht gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift <strong>und</strong> Bild frei zu äußern <strong>und</strong> zu verbreiten<br />

(BVerfGE 93, 266, 289). Jedermann hat insbesondere in der öffentlichen Auseinandersetzung, zumal im politischen<br />

Meinungskampf, das Recht, auch in überspitzter <strong>und</strong> polemischer Form Kritik zu äußern (BVerfG NJW 1992, 2750).<br />

Meinungen genießen den Schutz der Meinungsfreiheit, ohne dass es dabei auf deren Begründetheit, Werthaltigkeit<br />

oder Richtigkeit ankäme. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf <strong>und</strong> überzogen geäußert werden<br />

(vgl. BVerfGE 61, 1, 7; 85, 1, 14 f.; 90, 241, 247). Geschützt sind damit gr<strong>und</strong>sätzlich auch – in den Schranken<br />

des Art. 5 Abs. 2 GG – rechtsextremistische Meinungen (vgl. BVerfGK 7, 221, 227; 8, 159, 163; BVerfG EuGRZ<br />

2008, 769, 772; 2011, 88; NJW 2010, 47, 49). Das Gr<strong>und</strong>recht der Meinungsfreiheit findet gemäß Art. 5 Abs. 2 GG<br />

eine Schranke in den allgemeinen Gesetzen (vgl. näher BVerfGE 7, 198, 208 f.; BVerfGK 13, 1, 4 f.), zu denen auch<br />

§ 130 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> aF gehört.<br />

Bei der Subsumtion unter diese Strafvorschrift ist Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung, dass der Sinn der<br />

Meinungsäußerung zutreffend erfasst wird. Ziel der Deutung ist die Ermittlung des objektiven Sinns einer Äußerung.<br />

Maßgeblich ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung<br />

Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen <strong>und</strong> verständigen<br />

Publikums objektiv hat. Dabei ist stets von dem Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber<br />

nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung<br />

steht, <strong>und</strong> ihren Begleitumständen bestimmt, soweit diese für den Rezipienten erkennbar sind (vgl. BVerfGE 93,<br />

266, 295; BVerfG NJW 2008, 2907, 2908). Es ist deshalb von Bedeutung, ob sich die Äußerungen an einen in irgendeiner<br />

Richtung voreingenommenen Zuhörerkreis richten <strong>und</strong> ob den Zuhörern die politische Einstellung des<br />

Angeklagten bekannt ist. Diese Umstände können Hinweise darauf geben, wie der durchschnittliche Zuhörer die<br />

Äußerungen auffassen wird (vgl. BGH, Urteil vom 15. Dezember 2005 – 4 StR 283/05, NStZ-RR 2006, 305 mwN).<br />

Die Notwendigkeit der Berücksichtigung begleitender Umstände ergibt sich in besonderer Weise dann, wenn die<br />

betreffende Formulierung ersichtlich ein Anliegen nur in schlagwortartiger Form zusammenfasst (vgl. BVerfGK 13,<br />

1, 5; BVerfG NJW 2009, 3503, 3504). Ein solcher Fall liegt typischerweise bei dem Motto einer Versammlung vor,<br />

das in der Regel nur den Kern eines Anliegens in knappen Worten zum Ausdruck bringen kann. Ist eine Äußerung<br />

mehrdeutig, so haben die Gerichte, wollen sie die zur Anwendung sanktionierender Normen führende Deutung ihrer<br />

rechtlichen Würdigung zu Gr<strong>und</strong>e legen, andere Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren <strong>und</strong> tragfähigen Gründen<br />

auszuschließen (vgl. BVerfGE 85, 1, 13 f.; 94, 1, 9; 114, 339, 349). Gründe dieser Art können sich auch aus den<br />

Umständen ergeben, unter denen die Äußerung gefallen ist (vgl. BVerfGE 82, 43, 52). Frühere eigene K<strong>und</strong>gebungen<br />

kommen nur in Betracht, wenn zu ihnen ein eindeutiger Bezug hergestellt wird (vgl. BVerfG aaO S. 52 f.). Denn<br />

mit Art. 5 Abs. 1 GG wäre es nicht vereinbar, wenn Meinungsäußerungen mit dem Risiko verb<strong>und</strong>en wären, dass der<br />

Äußernde wegen einer nachfolgenden Deutung durch die Strafgerichte verurteilt wird, die dem objektiven Sinn seiner<br />

Äußerung nicht entspricht. Der Einzelne darf vielmehr in der Freiheit seiner Meinungsäußerung nicht aufgr<strong>und</strong><br />

von Meinungen eingeengt werden, die er zwar hegen oder bei anderer Gelegenheit geäußert haben mag, im konkre-<br />

109


ten Fall aber nicht k<strong>und</strong>gegeben hat (BVerfG aaO S. 53). Diese verfassungsrechtlichen Anforderungen schließen<br />

zwar nicht aus, dass die Verurteilung auf ein Auseinanderfallen von sprachlicher Fassung <strong>und</strong> objektivem Sinn gestützt<br />

wird (vgl. BVerfGE 93, 266, 303), wie dies insbesondere auf in der Äußerung verdeckt enthaltene Aussagen<br />

zutrifft. Ein solches Verständnis muss aber unvermeidlich über die reine Wortinterpretation hinausgehen <strong>und</strong> bedarf<br />

daher der Heranziehung weiterer, dem Text nicht unmittelbar zu entnehmender Gesichtspunkte <strong>und</strong> Maßstäbe. Diese<br />

müssen mit Art. 5 Abs. 1 GG vereinbar sein (vgl. BVerfGE 43, 130, 139; BVerfG NJW 2008, 2907, 2908). Auf eine<br />

im Zusammenspiel der offenen Aussagen verdeckt enthaltene zusätzliche Aussage dürfen die Verurteilung zu einer<br />

Sanktion oder vergleichbar einschüchternd wirkende Rechtsfolgen daher nur gestützt werden, wenn sich die verdeckte<br />

Aussage dem angesprochenen Publikum als unabweisbare Schlussfolgerung aufdrängt (vgl. BVerfG NJW 2008,<br />

1654, 1655; 2010, 2193). Hierfür müssen die Gerichte die Umstände benennen, aus denen sich ein solches am Wortlaut<br />

der Äußerung nicht erkennbares abweichendes Verständnis ergibt (BVerfG NJW 2008, 2907, 2908). Bei der<br />

Abwägung ist von Bedeutung, ob es sich bei den beanstandeten Äußerungen um Werturteile oder Tatsachenbehauptungen<br />

handelt. Bei Tatsachenbehauptungen hängt die Abwägung vom Wahrheitsgehalt ab; wahre Aussagen müssen<br />

in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen sind (vgl. BVerfGE 99, 185, 196).<br />

Bei tatsachenhaltigen Werturteilen spielt die Wahrheit der tatsächlichen Bestandteile eine Rolle. Eine mit erwiesen<br />

unwahren Annahmen vermengte Meinung ist weniger schutzwürdig als eine auf zutreffende Annahmen gestützte<br />

(vgl. BVerfGE 90, 241, 253).<br />

b) An diesen Gr<strong>und</strong>sätzen gemessen begegnet die Deutung des Landgerichts, die Erklärungen des Angeklagten ließen<br />

sich – ungeachtet einer ausländerfeindlichen Gr<strong>und</strong>einstellung – als Äußerung einer ablehnenden Haltung gegen<br />

eine bestimmte tatsächliche oder mutmaßlich praktizierte Einwanderungspolitik verstehen <strong>und</strong> könnten nicht nur so<br />

gedeutet werden, dass er seine Angriffe auch unmittelbar gegen die in Deutschland lebenden Ausländer gerichtet<br />

habe, keinen rechtlichen Bedenken. Nach dem Wortlaut, dem sprachlichen Kontext <strong>und</strong> den Begleitumständen, in<br />

denen die umstrittenen Äußerungen fielen, kam diese nicht dem Tatbestand des § 130 <strong>StGB</strong> unterfallende Auslegung<br />

in Betracht. Dem standen nachvollziehbare, tragfähige Gründe nicht entgegen.<br />

aa) Der von der Revision erhobene Einwand, das Landgericht habe entgegen der vielfach verwendeten Formel einer<br />

Gesamtbetrachtung eine solche nicht vorgenommen, geht fehl. Die Strafkammer hat vielmehr ausgehend vom Wortlaut<br />

<strong>und</strong> der konkreten Ausdrucks- <strong>und</strong> Verhaltensweise des Angeklagten auch die sonstigen Begleitumstände in die<br />

Auslegung einbezogen. Insoweit hat sie die zu den einzelnen Themenbereichen jeweils geäußerte Kritik aufgegriffen<br />

<strong>und</strong> einer ausführlichen Bewertung unterzogen. Zudem hat sie sowohl dem Motto der Veranstaltung als auch dem<br />

Umstand Rechnung getragen, dass der Angeklagte als Mitglied <strong>und</strong> Funktionsträger der NPD seit vielen Jahren politisch<br />

im rechten Parteienspektrum aktiv <strong>und</strong> überdies bereits mehrfach wegen politischer Straftaten vorbelastet ist.<br />

Sie hat alle erheblichen Gesichtspunkte hinreichend zueinander in Beziehung gesetzt.<br />

bb) Die gebotene Gesamtbetrachtung der konkreten Äußerungen einschließlich der Begleitumstände nötigt – entgegen<br />

der Auffassung der Revision – nicht zur Annahme, dass der Angeklagte sich unmittelbar gegen die hier lebenden<br />

Ausländer wenden wollte; jedenfalls drängt sich bei unbefangener Betrachtung diese Angriffsrichtung nicht sofort<br />

derartig auf, dass die vom Landgericht gef<strong>und</strong>ene Auslegung fern liegend wäre (vgl. OLG Stuttgart NStZ 2010, 453,<br />

454).<br />

(1) In seiner Rede grenzte der Angeklagte zwar das deutsche Volk von anderen Völkern ab, sprach vom deutschen<br />

Volk <strong>und</strong> im Gegensatz dazu von anderen Völkern, Ausländern, Fremden oder „Parallelgesellschaften“ <strong>und</strong> behauptete,<br />

das deutsche Volk sei durch „Überfremdung“ bedroht, weil „Parallelgesellschaften“ sich in Deutschland „breit“<br />

gemacht hätten <strong>und</strong> die noch mehrheitlich deutsche Bevölkerung bedrohten. Auch äußerte er, das deutsche Volk<br />

habe – wie nationalistische Befreiungsbewegungen in aller Welt – das Recht, das Überleben im eigenen Land zu<br />

sichern <strong>und</strong> müsse nicht widerspruchslos hinnehmen, eine Minderheit im eigenen Land zu werden. Diese Äußerungen<br />

des Angeklagten stehen jedoch der Deutung des Landgerichts nicht entgegen. Sie können zwanglos als Beschreibung<br />

der Folgen einer seiner Ansicht nach verfehlten Ausländerpolitik sowie als Aufruf verstanden werden,<br />

sich für eine andere Politik einzusetzen, zumal sie im Kontext mit der Kritik an politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Kräften, namentlich den von ihm als „Einheitspolitiker“ <strong>und</strong> „Multikultifanatiker“ bezeichneten Entscheidungsträgern<br />

der „etablierten Parteien“ standen. Dafür spricht auch der Aufbau der Rede selbst. Denn der Angeklagte bezeichnete<br />

bereits zu Beginn der Rede die <strong>Teil</strong>nehmer als „nationale Opposition“ <strong>und</strong> nahm eine Abgrenzung zu den<br />

„etablierten Einheitsparteien“ vor. Dabei warf er diesen pauschal vor, den Interessen des eigenen Volkes zuwider zu<br />

handeln. Anschließend griff er – in überspitzter <strong>und</strong> polemischer Form – verschiedene Themenkomplexe (Störungen<br />

während der Veranstaltung, die Finanzkrise, Globalisierung <strong>und</strong> soziale Gerechtigkeit einschließlich einer Gefahr für<br />

das deutsche Sozialsystem) auf <strong>und</strong> kritisierte pauschal unterschiedliche Entscheidungsträger. Abschließend forderte<br />

er die <strong>Teil</strong>nehmer auf, durch gemeinsames Handeln Veränderungen herbeizuführen, wobei er insoweit lediglich auf<br />

110


gemeinsame Demonstrationen verwies. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> liegt jedenfalls nicht fern, dass sich der Angeklagte<br />

mit seiner Rede gegen die bisherige Politik wenden wollte <strong>und</strong> Änderungen in der Ausländerpolitik anstrebte, besonders<br />

weil er schon während des Aufzugs behauptete, in Deutschland werde eine fehlgeleitete Politik gegen die Interessen<br />

der „Nochmehrheitsbevölkerung“ geführt. Gleiches gilt hinsichtlich der vom Angeklagten während des Umzugs<br />

gerufenen weiteren Parolen, zumal § 53 AufenthG die Abschiebung rechtskräftig verurteilter Ausländer ermöglicht,<br />

unter bestimmten Voraussetzungen sogar zwingend vorschreibt, <strong>und</strong> die Forderung des Angeklagten zwanglos<br />

hierauf bezogen werden kann. Soweit die Revision demgegenüber der Rede den Sinn entnimmt, der Angeklagte habe<br />

den Begriff „Parallelgesellschaften“ als Synonym für die in Deutschland lebenden Ausländer verwendet <strong>und</strong> sich<br />

nicht auf eine Kritik an der Politik beschränkt, handelt es sich lediglich um eine von mehreren Deutungsmöglichkeiten.<br />

Denn die hierfür von der Revision aufgegriffenen Textpassagen (Ausländer hätten sich aktiv „breit“ gemacht<br />

<strong>und</strong> würden die deutsche Bevölkerung zurückdrängen; Ausländer würden das soziale System „unterwandern“,<br />

wodurch eine massive Verelendung in <strong>Teil</strong>en der deutschen Bevölkerung drohe; Parallelgesellschaften würden dazu<br />

übergehen, sich ihr Recht zu nehmen, wenn sie es denn nicht bekämen; Mafiastrukturen hätten sich in die deutsche<br />

Gesellschaft hineingefressen, es fange ganz klein an in den Ortsämtern…) können – auch unter Beachtung der Wortschöpfung<br />

„multikriminell“ <strong>und</strong> der Parolen: „Sozial geht nur national!“ <strong>und</strong> „Hoch die nationale Solidarität!“ –<br />

ebenfalls als überspitzte Beispiele für die Folgen einer seiner Ansicht nach verfehlten Politik gedeutet werden; sie<br />

stehen damit der vom Landgericht getroffenen Wertung nicht entgegen. Die Strafkammer hat zu Recht auch den<br />

Umstand in seine Würdigung einbezogen, dass der Angeklagte für eine nicht für verfassungswidrig erklärte Partei<br />

aufgetreten ist, der das Parteienprivileg des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG zukommt (vgl. BVerfG NJW 1998, 3631).<br />

(2) Die vom Landgericht festgestellten Begleitumstände schließen die von ihm gef<strong>und</strong>ene Auslegung nicht aus. Das<br />

Plakat mit dem Motto der Veranstaltung „Deutsche wehrt Euch – Gegen Überfremdung, Islamisierung <strong>und</strong> Ausländerkriminalität!“,<br />

das drei vermummte Personen zeigte, wobei eine zudem einen Schlagstock in der Hand hielt, lässt<br />

– ungeachtet der aggressiven Form – infolge ihrer knappen Ausdrucksweise verschiedene Deutungen zu; das hat das<br />

Landgericht zutreffend erkannt. Der im Imperativ verwendete Begriff „wehren“ ist insoweit neutral, als er sich nicht<br />

unbedingt auf eine natürliche Person oder konkrete Personengruppe beziehen muss, sich vielmehr auch auf ein politisches<br />

System, auf bestehende politische Verhältnisse beziehen kann. Zwar spricht der Angeklagte selbst wiederholt<br />

von „Kampf“ bzw. „Kämpfer“ <strong>und</strong> bezeichnet die <strong>Teil</strong>nehmer als „nationale Befreiungsbewegung“. Gleichwohl<br />

kann damit unschwer auch der politische Meinungskampf oder ein Kampf mit politischen Mitteln zum Ausdruck<br />

gebracht werden. Dafür streiten auch der Hinweis des Angeklagten, „sie hätten das Recht, in die Öffentlichkeit zu<br />

gehen, Öffentlichkeit herzustellen“, <strong>und</strong> sein Aufruf zur <strong>Teil</strong>nahme an Demonstrationen, einem regelmäßig der politischen<br />

Meinungsbildung dienenden Mittel zur Erreichung von Veränderungen. Gleiches gilt in Bezug auf die Begriffe<br />

„Überfremdung, Islamisierung <strong>und</strong> Ausländerkriminalität“ sowie die am Rednerpult angebrachte Internetadresse.<br />

Abgesehen davon, dass dem Angeklagten die Gestaltung der Veranstaltung ausweislich der Feststellungen<br />

nicht zugerechnet werden kann, handelt es sich um Schlagworte, die auch in der politischen Auseinandersetzung<br />

Verwendung finden <strong>und</strong> daher seinen Äußerungen insgesamt nicht zwingend einen anderen als den vom Landgericht<br />

angenommenen Sinn geben. Soweit die Revision unter Hinweis auf das Urteil des 1. Strafsenats vom 15. März 1994<br />

(1 StR 179/93, BGHSt 40, 97, 101) geltend macht, neben dem Plakat sei bei der Auslegung maßgeblich zu beachten,<br />

dass dem Angeklagten die politische Gr<strong>und</strong>einstellung der Zuhörer bekannt gewesen sei, die sich unter dem Motto<br />

zusammengef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> sich in einer feindseligen Haltung gegen in Deutschland lebende Ausländer gewandt hätten,<br />

greift auch dieser Einwand nicht durch. Festgestellt werden konnte insoweit lediglich, dass <strong>Teil</strong>nehmer des Aufzugs<br />

schwarz-weiß-rote Fahnen bzw. eine Fahne in den Farben weiß <strong>und</strong> rot mit der Aufschrift NPD mit sich führten,<br />

Zuhörer Transparente zeigten <strong>und</strong> in Redepausen Beifall bek<strong>und</strong>eten, der jedoch im Vergleich zu den Reaktionen auf<br />

die anderen Reden deutlich gemäßigter <strong>und</strong> moderater ausfiel (vgl. in diesem Zusammenhang zur Bedeutung von<br />

Beifallsk<strong>und</strong>gebungen BGH aaO). Da die Strafkammer zudem festgestellt hat, dass die Vortragsweise keine Auffälligkeiten<br />

erkennen ließ <strong>und</strong> aus der Gruppe der Zuhörer während der Rede – anders als bei den weiteren Reden –<br />

keine Zurufe mit ausländerfeindlichem Inhalt erfolgten, ist trotz einer zu unterstellenden ausländerfeindlichen<br />

Gr<strong>und</strong>richtung der <strong>Teil</strong>nehmer nicht fern liegend, dass diese die Äußerungen in dem vom Landgericht festgestellten<br />

Sinn verstanden. Das Landgericht hat neben den offenen Äußerungen weder für die Zuhörer erkennbare verdeckt<br />

enthaltene Aussagen noch Anhaltspunkte dafür festgestellt, dass sich der Angeklagte auf frühere, als Volksverhetzung<br />

gewertete eigene Äußerungen bezog.<br />

2. Zudem kann das Verhalten des Angeklagten auch nicht als Aufstacheln zum Hass angesehen werden. Allerdings<br />

hat sich der Angeklagte dahingehend sinngemäß geäußert, Mafiastrukturen aus dem Ausland hätten sich in die deutsche<br />

Gesellschaft hineingefressen, bis in höchste politische Ämter, ausländische Großfamilien würden Mitarbeiter<br />

der Sozialämter unter Druck setzen, um Geld zu erlangen, das ihnen nicht zustehe, sowie Parallelgesellschaften wür-<br />

111


den dazu übergehen, sich ihr Recht zu nehmen, wenn sie es nicht mehr bekämen. Weiter hat er ausgeführt, es drohten<br />

massive Einbrüche unseres Sozialsystems <strong>und</strong> eine massive Verelendung in <strong>Teil</strong>en „unseres Volkes“. Selbst wenn<br />

man der Revisionsführerin im Ausgangspunkt darin folgen würde, dass diese Ausführungen <strong>und</strong> deren Begleitumstände<br />

geeignet wären, eine auf Ablehnung, ggf. auch auf Verachtung beruhende Haltung gegen in Deutschland<br />

lebende Ausländer herbeizuführen, so sind sie jedoch weder für sich noch in ihrer Gesamtheit objektiv geeignet, eine<br />

emotional gesteigerte feindselige Haltung gegen diese Personengruppe zu erzeugen oder zu verstärken. Den Äußerungen<br />

ist zwar eine ausgeprägte negative Gr<strong>und</strong>richtung gegenüber ausländischen Mitbürgern zu entnehmen, <strong>und</strong><br />

sie widersprechen ohne Zweifel der für die freiheitliche demokratische Gr<strong>und</strong>ordnung gr<strong>und</strong>legenden Erwartung<br />

einer Toleranz der deutschen Bevölkerung gegenüber Ausländern (vgl. BVerfG NJW 2010, 2193, 2196). Das Strafgesetzbuch<br />

stellt aber nicht schon ausländerfeindliche Äußerungen als solche unter Strafe (BVerfG NJW 2001, 2072,<br />

2073). Da der Angeklagte darüber hinaus keine Bereitschaft zu Übergriffen oder Gewalttätigkeiten gegenüber Ausländern<br />

erkennen ließ, vielmehr als Mittel zur Herbeiführung von Veränderungen ausschließlich die Möglichkeit zu<br />

demonstrieren erwähnte, ist hier die für ein Aufstacheln zum Hass erforderliche besonders intensive Form der Einwirkung<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 3. April 2008 – 3 StR 394/07, BGHR <strong>StGB</strong> § 130 Nr. 1 Aufstacheln 2; LK-Krauß,<br />

aaO, § 130 Rn. 34, 38, 40) auch unter Beachtung des zu berücksichtigenden Kontextes nicht gegeben. Dies bestätigt<br />

der Umstand, dass es während der Rede nicht zu Zurufen mit ausländerfeindlichen Inhalten kam.<br />

<strong>StGB</strong> § 152a - Maestro-Karte wie frühere Euroscheck-Karte<br />

BGH, Beschl. v. 13.10.2011 - 3 StR 239/11 - NStZ 2012, 318<br />

Die Maestro-Karte ist 2002 an die Stelle der Euroscheck-Karte getreten. Für letztere war bis dahin<br />

anerkannt, dass es sich um eine Zahlungskarte im Sinne des § 152a Abs. 1, 4 <strong>StGB</strong> aF (Zahlungskarte<br />

mit Garantiefunktion) handelte. Für die Maestro-Karte gilt nichts anderes.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 14. April 2011 dahin geändert,<br />

dass der Angeklagte wegen Beihilfe zur gewerbsmäßigen Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion in<br />

Tateinheit mit Beihilfe zum Computerbetrug zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> drei Monaten verurteilt<br />

wird.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zur gewerbsmäßigen Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion<br />

in sieben Fällen jeweils in Tateinheit mit Beihilfe zum Computerbetrug zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von drei Jahren <strong>und</strong> drei Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten<br />

führt zu der aus dem Tenor ersichtlichen Änderung des Urteils; im Übrigen ist sie unbegründet.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts manipulierte der Angeklagte am 2. Oktober 2010 kurz nach 17 Uhr<br />

entweder den Türöffner einer Filiale der Bank in K. oder den Karteneinzugsschacht eines dort aufgestellten Geldautomaten<br />

mittels eines Vorsatzgerätes <strong>und</strong> brachte eine Kameraleiste oberhalb der Tastatur an, während sein unbekannt<br />

gebliebener Mittäter einen anderen Geldausgabeautomaten mit einer Kameraleiste versah. Kurz vor 21 Uhr<br />

demontierten beide die Vorrichtungen wieder. In der Zwischenzeit wurden von sieben Bankk<strong>und</strong>en die Kartendaten<br />

sowie deren PIN ausgelesen bzw. abgefilmt. Nach Zuordnung durch den Angeklagten <strong>und</strong> den Mittäter stellten diese<br />

die Daten unbekannt gebliebenen Dritten zur Verfügung, welche die Daten - was vom Vorsatz des Angeklagten<br />

umfasst war - auf sieben Kartendubletten übertrugen <strong>und</strong> anschließend mithilfe der PIN im Zeitraum von 4. bis zum<br />

7. Oktober 2010 unberechtigt Bargeld in Höhe von insgesamt umgerechnet 14.829,94 € an verschiedenen Geldautomaten<br />

in Mexiko abhoben, wobei der Zugriff auf die Konten der sieben Geschädigten teilweise mehrfach an einem<br />

Tag <strong>und</strong> teilweise über verschiedene Tage hinweg geschah.<br />

2. Taugliche Tatobjekte des § 152b <strong>StGB</strong> sind nach Absatz 4 der Vorschrift Kreditkarten, Euroscheckkarten <strong>und</strong><br />

sonstige Karten, die es ermöglichen, den Aussteller im Zahlungsverkehr zu einer garantierten Zahlung zu veranlassen,<br />

<strong>und</strong> die außerdem durch Ausgestaltung oder Codierung besonders gegen Nachahmung gesichert sind. Zwar<br />

verhält sich das Urteil nicht dazu, welche Arten von Karten durch den Angeklagten ausgelesen wurden. Die Verurteilung<br />

auch wegen Beihilfe zur Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion hält gleichwohl rechtlicher<br />

Nachprüfung stand. Da mit den ausgelesenen Daten Abhebungen an Geldautomaten im außereuropäischen Ausland<br />

112


vorgenommen worden waren, handelte es sich bei den Karten entweder um Kreditkarten oder um Maestro-Karten.<br />

Kreditkarten sind Zahlungskarten mit Garantiefunktion (vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2008 - 2 StR 44/08, NStZ<br />

2008, 568; Beschluss vom 17. Juni 2008 - 1 StR 229/08, NStZ-RR 2008, 280). Diese Qualität kommt aber auch den<br />

Maestro-Karten zu. Die Maestro-Karte ist 2002 an die Stelle der Euroscheck-Karte getreten. Für letztere war bis<br />

dahin anerkannt, dass es sich um eine Zahlungskarte im Sinne des § 152a Abs. 1, 4 <strong>StGB</strong> aF (Zahlungskarte mit<br />

Garantiefunktion) handelte. Für die Maestro-Karte gilt nichts anderes. Es handelt sich um eine Karte, die im "Drei-<br />

<strong>Partner</strong>-System" eingesetzt wird, also auch gegenüber anderen als dem Aussteller der Karte benutzt werden kann. Es<br />

besteht die Möglichkeit, mit der Karte den Aussteller im Zahlungsverkehr zu einer garantierten Zahlung zu veranlassen:<br />

Nutzt der Karteninhaber die Karte am Geldautomaten einer dritten Bank, so ist die kartenausgebende Bank<br />

verpflichtet, den abgehobenen Betrag an die Betreiberin des Geldautomaten zu erstatten (vgl. zur früheren ec-Karte<br />

BGH, Beschluss vom 21. November 2001 - 2 StR 260/01, BGHSt 47, 160, 164 f.). Solche Karten sollten nach dem<br />

Willen des Gesetzgebers von § 152b Abs. 4 <strong>StGB</strong> erfasst werden (vgl. BT-Drucks. 15/1720 S. 9). Dass es möglich<br />

ist, die Karte auch auf eine Weise zu nutzen, in der eine Zahlung von der ausgebenden Bank nicht garantiert wird, ist<br />

unerheblich (vgl. BGH, Urteil vom 21. September 2000 - 4 StR 284/00, BGHSt 46, 146, 148).<br />

3. Die konkurrenzrechtliche Einordnung des Geschehens durch das Landgericht hält hingegen rechtlicher Prüfung<br />

nicht stand, denn die Bewertung als tatmehrheitlich begangenes Delikt wird durch die Urteilsgründe nicht belegt. Der<br />

Angeklagte hat nach Zuordnung der sieben PIN zu den sieben Karten diese Kartendaten Dritten zur Verfügung gestellt,<br />

worauf die Kartendaten auf Dubletten übertragen wurden, die dann zu unterschiedlichen Zeitpunkten zum<br />

Einsatz kamen. Den Urteilsausführungen kann schon nicht hinreichend entnommen werden, dass die zugeordneten<br />

Kartendaten jeweils einzeln zu verschiedenen Zeitpunkten an Dritte übermittelt worden sind. Selbst wenn die Kartendubletten<br />

später zu unterschiedlichen Zeitpunkten hergestellt <strong>und</strong> eingesetzt worden wären, es sich mithin um<br />

sieben in Tatmehrheit zueinander stehende Haupttaten gehandelt hätte, spricht somit alles dafür, dass der Angeklagte<br />

durch die einheitliche Weitergabe der Daten nur eine Beihilfe zu diesen Haupttaten geleistet hätte (vgl. Fischer,<br />

<strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 27 Rn. 31 mwN). Da die Dubletten indes nach den Feststellungen in sechs Fällen noch am 4.<br />

Oktober 2010 zum Einsatz kamen <strong>und</strong> nur in einem Fall erst am 5. Oktober 2010 erstmals Geld abgehoben wurde,<br />

deutet darüber hinaus aber auch alles darauf hin, dass die sieben Dubletten in engem zeitlichen <strong>und</strong> örtlichen Zusammenhang<br />

hergestellt wurden, um mit ihnen - wie geschehen - zeitnah Abhebungen vorzunehmen. Damit läge<br />

auch nur eine Haupttat des Fälschens von Zahlungskarten mit Garantiefunktion in Tateinheit mit Computerbetrug<br />

vor (vgl. BGH, Urteil vom 10. Mai 2005 - 3 StR 425/04, NStZ 2005, 566; Beschluss vom 23. Juni 2010 - 2 StR<br />

243/10, StraFo 2010, 391 f.). Selbst wenn der Angeklagte diese Haupttat durch mehrere selbständige Unterstützungshandlungen<br />

gefördert haben sollte, wäre er daher nur wegen einer einheitlichen Beihilfetat zu bestrafen (vgl.<br />

Fischer, aaO, Rn. 31a mwN). Da weitergehende Feststellungen zum Konkurrenzverhältnis nicht zu erwarten sind,<br />

ändert der Senat den Schuldspruch wie aus der Beschlussformel ersichtlich ab. § 265 StPO steht nicht entgegen, da<br />

sich der Angeklagte gegen den Vorwurf nur einer Beihilfetat nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.<br />

4. Die Änderung des Schuldspruchs hat den Fortfall der vom Landgericht festgesetzten Einzelstrafen zur Folge. Der<br />

Senat kann jedoch in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO die Gesamtstrafe als Einzelstrafe bestehen<br />

lassen. Er schließt aus, dass bei richtiger Bewertung des Konkurrenzverhältnisses eine niedrigere Strafe verhängt<br />

worden wäre.<br />

5. Der geringfügige Erfolg des Rechtsmittels gibt keinen Anlass, den Angeklagten von den Kosten des Verfahrens<br />

<strong>und</strong> seinen Auslagen auch nur teilweise zu entlasten, § 473 Abs. 4 StPO.<br />

<strong>StGB</strong> § 174c I, - Anvertrautsein; StPO § 338 Nr. 5<br />

BGH, Urt. v. 01.12.2011 - 3 StR 318/11 - BeckRS 2012, 03434<br />

Zum Merkmal des "Anvertrautseins" i.S.d. § 174c Abs. 1 <strong>StGB</strong>.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 22. März 2011 mit den zugehörigen<br />

Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.<br />

2. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der Nebenklägerin B. wird das vorbezeichnete Urteil mit den zugehörigen<br />

Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte im Fall 6 der Anklage freigesprochen worden ist.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtsmittel des Angeklagten, der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der Nebenklägerin B. <strong>und</strong> die dem Angeklagten <strong>und</strong> den<br />

113


Nebenklägerinnen B. <strong>und</strong> K. dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts<br />

zurückverwiesen.<br />

4. Die Revision der Nebenklägerin W. gegen das vorbezeichnete Urteil wird verworfen. Die Beschwerdeführerin hat<br />

die Kosten ihres Rechtsmittels <strong>und</strong> die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in<br />

zwei Fällen (Taten zum Nachteil der Nebenklägerin K.) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs<br />

Monaten verurteilt. Vom Vorwurf weiterer vier gleichartiger Straftaten zum Nachteil der Nebenklägerinnen W. <strong>und</strong><br />

B. hat es den Angeklagten freigesprochen. Die Revision des Angeklagten richtet sich mit Verfahrensbeschwerden<br />

<strong>und</strong> der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gegen die Verurteilung. Die Freisprüche sind Gegenstand der Revisionen<br />

der jeweils betroffenen Nebenklägerinnen <strong>und</strong> - insoweit auf den Vorwurf einer Tat zum Nachteil der Nebenklägerin<br />

B. beschränkt - der Staatsanwaltschaft. Während die Revisionen des Angeklagten sowie der Staatsanwaltschaft<br />

<strong>und</strong> der Nebenklägerin B. jeweils im beantragten Umfang zur Aufhebung des Urteils führen, hat die Revision<br />

der Nebenklägerin W. keinen Erfolg.<br />

I. Revision des Angeklagten<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts vollzog der Angeklagte mit der Nebenklägerin K. im Jahr 2004 anlässlich<br />

von zwei Osteopathie-Behandlungen jeweils den Geschlechtsverkehr. Er machte sich dabei zunutze, dass die<br />

Frau wegen langjährigen, äußerst nachhaltigen sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater an einer posttraumatischen<br />

Belastungsstörung litt. Sie geriet deshalb - was der Angeklagte zumindest billigend in Kauf nahm - in dem Augenblick,<br />

in dem sich der Angeklagte völlig entkleidete, in den Zustand einer dissoziativen Reaktion, war dadurch wie<br />

erstarrt <strong>und</strong> nicht mehr in der Lage, sich gegen die sexuellen Übergriffe des Angeklagten durch Worte oder Handlungen<br />

zu wehren.<br />

2. Die Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Ihr liegt folgender Sachverhalt zugr<strong>und</strong>e: Das<br />

Landgericht hat für die Dauer der Vernehmung der Nebenklägerin den Angeklagten nach § 247 Satz 2 StPO aus der<br />

Hauptverhandlung ausgeschlossen. Nach Abschluss der Vernehmung hat es ihn vom wesentlichen Inhalt der Zeugenaussage<br />

unterrichtet. Sodann hat es in erneuter Abwesenheit des Angeklagten über die (Nicht-)Vereidigung der<br />

Zeugin entschieden <strong>und</strong> diese "im allseitigen Einverständnis entlassen". Da das Landgericht in Abwesenheit des<br />

Angeklagten über die Entlassung der Zeugin entschieden hat, ist der absolute Revisionsgr<strong>und</strong> gemäß § 338 Nr. 5, §<br />

230 Abs. 1 StPO gegeben. Nach der durch den Großen Senat für Strafsachen (BGH, Beschluss vom 21. April 2010 -<br />

GSSt 1/09, BGHSt 55, 87) bestätigten Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs (vgl. nur BGH, Beschluss vom 26.<br />

September 2006 - 4 StR 353/06, NStZ 2007, 352, 353) gehört die Verhandlung über die Entlassung eines in Abwesenheit<br />

des Angeklagten vernommenen Zeugen nicht mehr zu seiner Vernehmung im Sinne des § 247 StPO, sondern<br />

bildet einen selbständigen Verfahrensabschnitt <strong>und</strong> regelmäßig einen "wesentlichen <strong>Teil</strong>" der Hauptverhandlung. Der<br />

Angeklagte, dessen Entfernung aus dem Sitzungssaal für die Dauer der Vernehmung der Zeugin K. angeordnet war,<br />

musste daher zur Verhandlung über die Entlassung der Zeugin wieder zugelassen werden. Dies ist hier ausweislich<br />

der Sitzungsniederschrift nicht geschehen. Zwar wurde der Angeklagte zuvor in Abwesenheit der Zeugin über den<br />

wesentlichen Inhalt von deren Aussage unterrichtet. Dass er im Rahmen der Unterrichtung auf Fragen an die Zeugin<br />

verzichtet <strong>und</strong> sich mit ihrer Entlassung einverstanden erklärt hat, ist indes nicht ersichtlich. Der Angeklagte wurde<br />

nach dem unwidersprochenen Sachvortrag der Revision vielmehr weder gefragt, ob er noch Fragen an die Zeugin<br />

stellen wolle, noch hat er von sich aus erklärt, keine Fragen mehr stellen zu wollen (dazu BGH, Großer Senat, aaO.;<br />

Urteil vom 8. April 1998 - 3 StR 463/97 - <strong>und</strong> Beschluss vom 19. August 1998 - 3 StR 290/98, BGHR StPO § 247<br />

Abwesenheit 18, 19; Beschluss vom 30. März 2000 - 4 StR 80/00, NStZ 2000, 440). Im Anschluss daran wurde der<br />

Angeklagte wieder aus dem Sitzungssaal entfernt. Der im Protokoll enthaltene Vermerk, die Entlassung der Zeugin<br />

sei "im allseitigen Einverständnis" geschehen, kann deshalb das Einverständnis des (abwesenden) Angeklagten nicht<br />

belegen. Das Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensmangel wird gemäß § 338 Nr. 5 StPO gesetzlich vermutet.<br />

Dass sich der Verfahrensverstoß vorliegend ausnahmsweise denkgesetzlich im Urteil nicht ausgewirkt haben könnte<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2006 - 4 StR 131/06, NStZ 2006, 713), ist nicht zu erkennen.<br />

II. Revisionen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der Nebenklägerin B.<br />

1. Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen<br />

Person zum Nachteil der Nebenklägerin B. freigesprochen. Nach seinen Feststellungen kam es bei einer osteopathischen<br />

Behandlung im Mai 2009 zu sexuellen Handlungen des Angeklagten an der Frau. Diese litt aufgr<strong>und</strong><br />

jahrelanger Misshandlungen <strong>und</strong> Vergewaltigungen durch den Ehemann an einer posttraumatischen Belastungsstörung<br />

<strong>und</strong> an einer abhängigen Persönlichkeitsstörung. Dem sexuellen Ansinnen des Angeklagten konnte sie sich in<br />

der Tatsituation zuerst noch durch Handbewegungen <strong>und</strong> durch entsprechende verbale Äußerungen entziehen. Erst<br />

114


als der Angeklagte sein Glied entblößt hatte, geriet sie - wie das Landgericht sachverständig beraten ausgeführt hat -<br />

in einen Zustand, in dem sie dem Angeklagten aufgr<strong>und</strong> ihrer seelischen Behinderung keinen Widerstand mehr zu<br />

leisten vermochte. Das Landgericht konnte sich aber nicht davon überzeugen, dass der Angeklagte angesichts des<br />

dynamischen Geschehens den Eintritt der Widerstandsunfähigkeit erkannte. Eine Verurteilung des Angeklagten<br />

wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses (§ 174c Abs. 1 <strong>StGB</strong>) hat das<br />

Landgericht abgelehnt, weil die Nebenklägerin dem Angeklagten mangels eines intensiven, eine Abhängigkeitsbeziehung<br />

schaffenden Behandlungsverhältnisses nicht im Sinne der Vorschrift "anvertraut" gewesen sei. Zudem sei<br />

dem Angeklagten ein entsprechender Missbrauchsvorsatz nicht nachzuweisen.<br />

2. Während die Beweiswürdigung zum fehlenden Vorsatz des Angeklagten bezüglich des Missbrauchs einer widerstandsunfähigen<br />

Person der Überprüfung auf die allgemeine Sachrüge der Beschwerdeführer standhält, muss der<br />

Freispruch aufgehoben werden, weil das Landgericht eine Strafbarkeit des Angeklagten nach § 174c Abs. 1 <strong>StGB</strong><br />

mit rechtsfehlerhafter Begründung verneint hat. Eine Verurteilung nach dieser Strafnorm erfordert, dass das Opfer<br />

dem Täter wegen einer Krankheit oder Behinderung zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut ist <strong>und</strong> der<br />

Täter unter Missbrauch dieses Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses sexuelle Handlungen am<br />

Opfer vornimmt oder vom Opfer an sich vornehmen lässt. Diese tatbestandlichen Voraussetzungen können nach den<br />

bisher getroffenen Feststellungen nicht verneint werden.<br />

a) Dies gilt - entgegen der Auffassung des Landgerichts - insbesondere für das Merkmal des "Anvertrautseins". Dieses<br />

setzt weder das Vorliegen einer rechtsgeschäftlichen Beziehung zwischen Täter <strong>und</strong> Opfer voraus noch kommt es<br />

darauf an, ob das Verhältnis auf Initiative des Patienten, Täters oder eines Dritten begründet wurde. Ebenso ist unerheblich,<br />

ob die entsprechenden Tätigkeiten innerhalb von geschlossenen Einrichtungen, in der ambulanten Versorgung<br />

oder im Rahmen häuslicher Betreuung wahrgenommen werden. Ohne Belang ist zudem, ob tatsächlich eine<br />

behandlungsbedürftige Krankheit oder eine Behinderung vorliegt, sofern nur die betroffene Person subjektiv eine<br />

Behandlungs- oder Beratungsbedürftigkeit empfindet. Das Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis<br />

muss auch nicht von einer solchen - zumindest beabsichtigten - Intensität <strong>und</strong> Dauer sein, dass eine Abhängigkeit<br />

entstehen kann, die es dem Opfer zusätzlich, d.h. über die mit einem derartigen Verhältnis allgemein verb<strong>und</strong>ene<br />

Unterordnung unter die Autorität des Täters <strong>und</strong> die damit einhergehende psychische Hemmung, erschwert, einen<br />

Abwehrwillen gegenüber dem Täter zu entwickeln <strong>und</strong> zu betätigen (BGH, Urteil vom 14. April 2011 - 4 StR<br />

669/10, NJW 2011, 1891, 1893; aA MünchKomm<strong>StGB</strong>/ Renzikowski, 1. Aufl., § 174c Rn. 23; S/S-Perron-Eisele,<br />

<strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 174c Rn. 5). Es ist ausreichend, wenn das Opfer eine fürsorgerische Tätigkeit des Täters entgegennimmt<br />

(LK/Hörnle, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 174c Rn. 12). Hiervon ist auch der Gesetzgeber ausgegangen, der die<br />

Opfer bereits aufgr<strong>und</strong> ihrer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung in gewisser Weise als "der Autoritätsperson<br />

von vornherein 'ausgeliefert'" angesehen <strong>und</strong> auf den Nachweis einer Abhängigkeit des Opfers vom<br />

Täter im konkreten Tatzeitpunkt gerade verzichtet hat (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs BT-Drucks. 13/8267 S.<br />

7).<br />

b) Nach diesen Maßstäben legen die getroffenen Feststellungen nahe, dass der Angeklagte die tatbestandlichen Voraussetzungen<br />

des § 174c Abs. 1 <strong>StGB</strong> erfüllt hat. Dies gilt unabhängig davon, dass das Landgericht keine Einzelheiten<br />

dazu mitteilt, was zunächst Gegenstand der "Routineuntersuchung" war, zu der die Nebenklägerin den Angeklagten<br />

aufsuchte, <strong>und</strong> was hierbei besprochen wurde. Denn jedenfalls das nachfolgende Geschehen - die Nebenklägerin<br />

entkleidete sich, legte sich nackt auf die Liege <strong>und</strong> ließ den Zugriff des Angeklagten auf ihren Körper zu einer osteopathischen<br />

Behandlung zu - zeigt hinreichend, dass sich die Nebenklägerin dem Angeklagten im oben dargestellten<br />

Sinne zu Behandlungszwecken anvertraut hatte. Nach alledem wird der <strong>Teil</strong>freispruch auch nicht von der weiteren<br />

Begründung des Landgerichts getragen, dem Angeklagten sei jedenfalls kein Vorsatz dahin nachzuweisen, dass sich<br />

die Nebenklägerin in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm bef<strong>und</strong>en habe.<br />

III. Revision der Nebenklägerin W.<br />

1. Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen<br />

Person in drei Fällen zum Nachteil der Nebenklägerin W. freigesprochen. Nach seinen Feststellungen kam es<br />

bei mehreren osteopathischen Behandlungsterminen Anfang 2004 zu sexuellen Handlungen. Bei einem Termin erklärte<br />

der Angeklagte der Frau, es gebe im Rahmen der Therapie bestimmte osteopathische Griffe im Vaginalbereich,<br />

um Blockaden im Beziehungsleben zu beheben. Er führte sodann seinen Finger in die Scheide der Frau ein,<br />

was diese als überraschend <strong>und</strong> unangenehm empfand, aber darauf vertraute, der Angeklagte werde als Arzt schon<br />

wissen, was er tue. Bei drei weiteren Osteopathieterminen kam es jeweils zu sexuellen Handlungen zwischen dem<br />

Angeklagten <strong>und</strong> der Patientin, davon in zwei Fällen - von denen nur einer Gegenstand der Anklage ist - zum Geschlechtsverkehr.<br />

Der Angeklagte hat das objektive Geschehen im Wesentlichen eingeräumt, sich aber dahin eingelassen,<br />

die Handlungen seien im Einvernehmen mit der Patientin erfolgt. Das Landgericht hat im ersten Fall bereits<br />

115


den objektiven Tatbestand des § 179 Abs. 1, 5 <strong>StGB</strong> als nicht gegeben angesehen, weil es keine Widerstandsunfähigkeit<br />

der Nebenklägerin festzustellen vermochte. Diese habe zwar den Griff in die Scheide als unangenehm empf<strong>und</strong>en,<br />

indes von Widerstand abgesehen, weil sie dem Angeklagten als Arzt vertraut habe. Damit läge eine Widerstandsunfähigkeit<br />

nicht vor. Hinsichtlich der beiden anderen Taten hat die Strafkammer die Einlassung des Angeklagten<br />

nicht widerlegen können. Sie hat dabei darauf abgestellt, dass die Nebenklägerin teilweise unwahre Angaben<br />

gemacht hatte. Entgegen ihren Bek<strong>und</strong>ungen habe sie, nachdem sie sich ihrem Mann anvertraut hatte, doch noch<br />

mehrfach die Praxis des Angeklagten betreten <strong>und</strong> sich von ihm behandeln <strong>und</strong> Medikamente verordnen lassen.<br />

Zudem habe sie zeitnah zu den Behandlungsterminen einer Bekannten gegenüber zugegeben, "etwas mit dem Angeklagten<br />

zu haben".<br />

2. Die von der Nebenklägerin erhobenen Verfahrensrügen bleiben aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

ohne Erfolg. Der Freispruch hält auch der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand. Die Beweiswürdigung<br />

ist nach den Maßstäben der revisionsgerichtlichen Überprüfung (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 StR<br />

269/04, NJW 2005, 2322, 2324) ohne Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten. Soweit die Revision beanstandet,<br />

das Landgericht habe sich nicht "mit eventuellen Nebenwirkungen des Medikaments" Cipralex auseinandergesetzt,<br />

"welche die Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigt haben könnten", verkennt sie, dass solche - auch von der Revision<br />

nur als möglich angesehene - Nebenwirkungen im Urteil nicht festgestellt sind. Die Urteilsurk<strong>und</strong>e ist aber die alleinige<br />

Gr<strong>und</strong>lage für die sachlichrechtliche Überprüfung des Urteils im Revisionsverfahren. Die Revision zeigt auch,<br />

soweit sie eine Gesamtwürdigung der belastenden Umstände vermisst, keinen Rechtsfehler auf. Insbesondere war<br />

das Gericht nicht verpflichtet zu erörtern, dass sich der Angeklagte auch anderen Frauen im Rahmen seiner Osteopathiebehandlungen<br />

sexuell genähert hatte. Dass es mit der Nebenklägerin zu sexuellen Handlungen gekommen ist,<br />

steht aufgr<strong>und</strong> deren Angaben, die mit denen des Angeklagten übereinstimmen, fest. Für die Frage, ob die Handlungen<br />

einvernehmlich oder gegen den Willen der Nebenklägerin erfolgten, war der genannte Umstand nicht von Bedeutung.<br />

Soweit trotz des Einverständnisses der Nebenklägerin mit den sexuellen Handlungen eine Strafbarkeit des<br />

Angeklagten nach § 174c Abs. 1 <strong>StGB</strong> in Betracht kommen könnte (vgl. BGH, Urteil vom 14. April 2011 - 4 StR<br />

669/10, NJW 2011, 1891), ist - wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat - Strafverfolgungsverjährung eingetreten.<br />

<strong>StGB</strong> § 176 Versuchsbeginn bei bloßer Aufforderung?<br />

BGH, Beschl. v. 27.09.2011 - 4 StR 454/11 - BGHR <strong>StGB</strong> § 176 I Versuch 1<br />

Zum Versuchsbeginn bei § 176 Abs. 1 Fall 2, Abs. 6 Halbsatz 1 <strong>StGB</strong>.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 19. Mai 2011 mit den zugehörigen<br />

Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit<br />

versuchtem sexuellen Missbrauch eines Kindes verurteilt worden ist.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit versuchtem sexuellen<br />

Missbrauch eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> vier Monaten verurteilt <strong>und</strong> ihn im<br />

Übrigen freigesprochen. Mit seiner hiergegen eingelegten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen<br />

Rechts. Sein Rechtsmittel hat Erfolg.<br />

I. Nach den Feststellungen des Landgerichts begleitete der Angeklagte die ihm unbekannte neun Jahre alte Gr<strong>und</strong>schülerin<br />

C. auf ihrem Schulweg. Dabei erzählte er ihr, dass zwei etwa 12 Jahre alte Fre<strong>und</strong>innen seiner Tochter bei<br />

ihm zuhause gebadet hätten. Eine von ihnen habe auf seine Aufforderung hin seinen Penis angefasst <strong>und</strong> sei anschließend<br />

von ihm von hinten „gefickt“ worden. Im Anschluss daran forderte er C. auf, ebenfalls seinen Penis anzufassen.<br />

Diese weigerte sich, ging aber weiter neben dem Angeklagten her. Kurz darauf kam ihr Vater hinzugeeilt <strong>und</strong><br />

stellte den Angeklagten zur Rede. Ob C. die Bedeutung des Wortes „Ficken“ geläufig war, vermochte das Landgericht<br />

nicht sicher festzustellen. Sie war jedoch in der Lage, sowohl den sexuellen Bezug der Erzählungen, als auch<br />

den Inhalt der an sie gerichteten Aufforderung zu erfassen. Noch am Folgetag wirkte sie deshalb peinlich berührt.<br />

Das Landgericht hat in den Erzählungen des Angeklagten einen sexuellen Missbrauch von Kindern im Sinne von §<br />

176 Abs. 4 Nr. 4 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> in der sich anschließenden Aufforderung seinen Penis anzufassen einen hierzu in Tatein-<br />

116


heit stehenden versuchten sexuellen Missbrauch eines Kindes gemäß § 176 Abs. 1 Fall 2, Abs. 6 Halbsatz 1; § 23<br />

Abs. 1, § 22 <strong>StGB</strong> gesehen.<br />

II. Ein versuchter sexueller Missbrauch eines Kindes wird durch die Feststellungen nicht belegt.<br />

Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar<br />

ansetzt (§ 22 <strong>StGB</strong>). Noch nicht tatbestandsmäßige Handlungen erfüllen diese Voraussetzungen nur dann, wenn sie<br />

nach dem Tatplan der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals so dicht vorgelagert sind, dass das Geschehen bei<br />

ungestörtem Fortgang ohne weiteren Zwischenakt in die Tatbestandsverwirklichung einmündet (BGH, Urteil vom<br />

16. Januar 1991 – 2 StR 527/90, BGHSt 37, 294, 297 f.; Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 22 Rn. 10 mwN). Danach kann<br />

in der Aufforderung des Angeklagten, seinen Penis anzufassen, nur dann ein unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung<br />

des Tatbestandes des § 176 Abs. 1 Fall 2 <strong>StGB</strong> gesehen werden, wenn der Angeklagte dabei angenommen hat,<br />

dass es im unmittelbaren Anschluss – also auf offener Straße – zur Vornahme der angestrebten sexuellen Handlung<br />

kommt. Ausdrückliche Feststellungen hierzu hat das Landgericht nicht getroffen. Obgleich der Angeklagte in der<br />

Vergangenheit mehrfach wegen exhibitionistischer Handlungen <strong>und</strong> Vornahme sexueller Handlungen in der Öffentlichkeit<br />

verurteilt werden musste, versteht sich ein solcher Tatplan hier nicht von selbst. Die Sache bedarf daher<br />

neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung. Da das Landgericht von Tateinheit (§ 52 <strong>StGB</strong>) ausgegangen ist, betrifft die<br />

Aufhebung auch die an sich rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes nach § 176<br />

Abs. 4 Nr. 4 <strong>StGB</strong>.<br />

<strong>StGB</strong> § 177 I Nr. 1 - Vergewaltigung Gewalt<br />

BGH, Beschl. v. 28.06.2011 - 1 StR 255/11 - BeckRS 2011, 19718<br />

Zu den Voraussetzungen des § 177 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong>: Ausreichend kann je nach den Umständen<br />

des Falles auch das Packen an der Hand, das Beiseite-Drücken der abwehrenden Hand, das auf das<br />

Bett Stoßen oder das sich auf das Opfer Legen bzw. der Einsatz überlegener Körperkraft sowie das<br />

Auseinanderdrücken der Beine sein. Entscheidend ist eine Kraftentfaltung, die vom Opfer als körperlicher<br />

Zwang empf<strong>und</strong>en wird.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ulm vom 19. November 2010 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil<br />

des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die<br />

der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Ergänzend zu den zutreffenden<br />

Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts merkt der Senat an: Der Angeklagte ist nicht dadurch beschwert,<br />

dass das Landgericht nicht - wie angeklagt - auch die Verwirklichung von § 177 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> (mit Gewalt)<br />

angenommen hat. Das Landgericht hat das Vorliegen von Gewalt verneint (UA S. 49), weil es von einem zu engen<br />

Verständnis dieses Begriffes ausgegangen ist. Das mit nicht ganz unerheblicher Krafteinwirkung verb<strong>und</strong>ene Festhalten<br />

des Opfers ist ebenso wie die Überwindung von geringfügiger Gegenwehr als Gewalt zu qualifizieren (vgl.<br />

u.a. BGH, Urteil vom 10. Februar 2011 - 4 StR 566/10 mwN). Ausreichend kann je nach den Umständen des Falles<br />

auch das Packen an der Hand, das Beiseite-Drücken der abwehrenden Hand, das auf das Bett Stoßen oder das sich<br />

auf das Opfer Legen bzw. der Einsatz überlegener Körperkraft sowie das Auseinanderdrücken der Beine sein (vgl.<br />

im Einzelnen Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 177 Rn. 7). Entscheidend ist eine Kraftentfaltung, die vom Opfer als körperlicher<br />

Zwang empf<strong>und</strong>en wird. Als solche Krafteinwirkungen des Angeklagten kommen im vorliegenden Fall in<br />

Betracht: Er versuchte das Opfer auszuziehen; dieses machte den Reißverschluss des Pullovers wieder zu, zog die<br />

Hose wieder hoch <strong>und</strong> hielt diese fest (UA S. 9, 25 <strong>und</strong> 32); nach einigem Hin <strong>und</strong> Her gelang es dem Angeklagten<br />

dann die Hose herabzuziehen <strong>und</strong> die Oberbekleidung nach oben zu schieben (UA S. 9). Er hob die Beine des Opfers<br />

auf dem engen Beifahrersitz des Fahrzeuges nach oben (UA S. 9), wobei er die Beine zum Autodach hochdrückte<br />

(UA S. 25). Er fasste das Opfer kräftig an den Hüften, um es zu drehen (UA S. 9 <strong>und</strong> 25).<br />

117


<strong>StGB</strong> § 179 I; Beweisanforderungen für die Widerstandsunfähigkeit des Opfers<br />

BGH, Beschl. v. 10.08.2011 - 4 StR 338/11 - NStZ 2012, 150<br />

Kann die Geschädigte einer Tat gem. § 179 Abs. 1 <strong>StGB</strong> sowohl das sexuelle Ansinnen des Angeklagten<br />

als auch ihre Handlungsalternativen <strong>und</strong> deren Folgen erkennen, so zeigt die Tatsache, dass<br />

sie sich dafür entschieden hat - wenn auch aus krankhaft bedingter Existenzangst - keinerlei Widerstand<br />

zu äußern [<strong>und</strong> zu leisten], dass sie eine Abwägung vorgenommen, mithin ein Willensbildungsprozess<br />

stattgef<strong>und</strong>en hat.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 25. Februar 2011<br />

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass die Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen<br />

Person in drei Fällen entfällt,<br />

b) im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in<br />

drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses, zu<br />

einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt <strong>und</strong> dem Angeklagten für die Dauer von drei Jahren die psychotherapeutische<br />

Behandlung von Personen weiblichen Geschlechts untersagt. Gegen das Urteil richtet sich die auf<br />

die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Diese hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im<br />

Übrigen ist sie unbegründet.<br />

1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen behandelte der Angeklagte, der seit 1999 als "Psychologischer<br />

Psychotherapeut" tätig war <strong>und</strong> mit dem Zusatz "Biodynamische Körperpsychotherapie" warb, ab Februar<br />

2007 die Zeugin Dr. T. , die damals als wissenschaftliche Mitarbeiterin <strong>und</strong> Doktorandin an der Universität B. beschäftigt<br />

war. Die Behandlung der von ihm diagnostizierten "Angst <strong>und</strong> depressiven Störung", in deren Rahmen er<br />

Körperkontakt einsetzte, führte - was der Angeklagte zumindest erkannt hatte - zu einer zunehmenden Regredierung<br />

bei der Zeugin, wobei sie sich als Baby bzw. Kind <strong>und</strong> den Angeklagten als ihre Mutter ansah.<br />

Während der Therapie übte der Angeklagte in seinen Praxisräumen - nachdem es dort schon zuvor zu sexuellen<br />

Handlungen gekommen war - am 14. <strong>und</strong> 21. Juni 2007 den Geschlechtsverkehr mit der Zeugin aus; hierzu hatte er<br />

ihr erklärt, "es sei Bestandteil der Körpertherapie, Energien durch Bewegungen überall am Körper zum Fließen zu<br />

bringen" (UA 9). Am 10. August 2007 kam es in einem vom Angeklagten zu Therapiezwecken genutzten<br />

Schwimmbad zum wechselseitigen Oralverkehr. Die Strafkammer bewertete dies als sexuellen Missbrauch unter<br />

Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch<br />

einer widerstandsunfähigen Person. Hierzu ging sie - sachverständig beraten - davon aus, dass die Zeugin<br />

nicht in der Lage gewesen sei, "einen Willensentschluss gegen das sexuelle Ansinnen des Angeklagten zu bilden, da<br />

es für sie existentielle Bedeutung hatte, nicht ihre Mutter [den Angeklagten] zu verlieren, <strong>und</strong> sie seine Bedürfnisse<br />

<strong>und</strong> Wünsche als eigene empfand, was er … zumindest billigend in Kauf nahm" (UA 9, 12).<br />

2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses<br />

in drei Fällen begegnet keinen rechtlichen Bedenken (vgl. dazu auch BGH, Urteil vom 14. April 2011 - 4 StR<br />

669/10, NJW 2011, 1891). Die Voraussetzungen des schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen<br />

Person (§ 179 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 5 Nr. 1 <strong>StGB</strong>) sind hingegen nicht belegt.<br />

a) Opfer einer Tat nach § 179 <strong>StGB</strong> kann nur sein, wer aufgr<strong>und</strong> einzelner, im Tatbestand des Absatzes 1 näher beschriebener<br />

Gegebenheiten unfähig ist, einen ausreichenden Widerstandswillen gegen das sexuelle Ansinnen des<br />

Täters zu bilden, zu äußern oder durchzusetzen (BGH, Urteil vom 15. März 1989 - 2 StR 662/88, BGHSt 36, 145,<br />

147; Beschluss vom 28. Oktober 2008 - 3 StR 88/08, NStZ 2009, 324, 325). Die Feststellung der Widerstandsunfähigkeit<br />

ist eine normative Entscheidung (BGH, Beschluss vom 1. Oktober 2008 - 2 StR 385/08, NStZ-RR 2009, 14,<br />

15); sie erfordert die Überzeugung des Tatrichters, dass das Opfer zum Widerstand gänzlich unfähig war (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 28. Oktober 2008 - 3 StR 88/08, NStZ 2009, 324, 325).<br />

b) Die Überzeugung, dass die Zeugin Dr. T. widerstandsunfähig im Sinne des § 179 Abs. 1 <strong>StGB</strong> war, stützt die<br />

Strafkammer allein auf das Gutachten eines Sachverständigen. Dabei kann dahinstehen, ob die Strafkammer, die sich<br />

dem Gutachten mit der Begründung angeschlossen hat, die Ausführungen des forensisch erfahrenen Sachverständi-<br />

118


gen seien detailliert, widerspruchsfrei <strong>und</strong> nachvollziehbar (UA 38), für ihre Entscheidung über eine ausreichende<br />

Gr<strong>und</strong>lage verfügte, da die bloße Nachvollziehbarkeit einer sachverständigen Beurteilung die notwendige richterliche<br />

Überzeugung nicht begründen kann. Dies bedarf indes keiner Entscheidung. Denn die im Urteil wiedergegebenen<br />

Ausführungen des Sachverständigen belegen nicht die Widerstandsunfähigkeit der Zeugin im Sinne des § 179<br />

Abs. 1 <strong>StGB</strong>. Hierzu hat der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in der Antragsschrift vom 4. Juli 2011 ausgeführt, dass die Zeugin<br />

"aus (Existenz-)Angst, die Beziehung zu ihrem Therapeuten - dem Angeklagten - könne abbrechen <strong>und</strong> ihre "Mutter“<br />

werde ihr genommen, nicht in der Lage gewesen [sei], "nein“ zu sagen <strong>und</strong> Widerstand zu leisten (UA S. 37).<br />

Bereits diese Ausführungen belegen, dass die Nebenklägerin sowohl das sexuelle Ansinnen des Angeklagten als<br />

auch ihre Handlungsalternativen <strong>und</strong> deren Folgen erkannt hat. Dass sie sich dafür entschieden hat - wenn auch aus<br />

krankhaft bedingter Existenzangst - keinerlei Widerstand zu äußern [<strong>und</strong> zu leisten], zeigt aber, dass die Nebenklägerin<br />

eine Abwägung vorgenommen, mithin ein Willensbildungsprozess stattgef<strong>und</strong>en hat. Der Umstand, dass sie in<br />

ihrer Entscheidung "nicht frei gewesen" sei (UA S. 37), steht dem nicht entgegen. Denn er bedeutet lediglich, dass<br />

der zu erwartende Behandlungsabbruch für die Nebenklägerin einen derart großen (vermeintlichen) Nachteil dargestellt<br />

hätte, den sie für sich nicht in Kauf nehmen wollte.“ Dem tritt der Senat auch im Hinblick auf die weiteren<br />

Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts, insbesondere zum (erfolgreichen verbalen) Widerstand der Nebenklägerin<br />

bei dem Vorfall am D. See, sowie die Ausführungen des Sachverständigen zum erhaltenen Wahrnehmungsvermögen<br />

der Zeugin bei.<br />

3. Der Senat schließt im Hinblick auf die umfassende Beweisaufnahme durch das Landgericht - unter anderem durch<br />

Anhörung zweier Sachverständiger, die die Nebenklägerin begutachtet haben - aus, dass nach einer Aufhebung <strong>und</strong><br />

Zurückverweisung der Sache die sichere Feststellung getroffen werden kann, dass die Nebenklägerin den sexuellen<br />

Handlungen des Angeklagten keinen Widerstand entgegensetzen konnte. Er lässt daher - dem Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

entsprechend - den Schuldspruch wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen<br />

Person in drei Fällen entfallen.<br />

4. Dies hat die Aufhebung des gesamten Strafausspruchs zur Folge, da die Strafkammer die gegen den Angeklagten<br />

verhängten Einzelstrafen dem gegenüber § 174c <strong>StGB</strong> höheren Strafrahmen des § 179 Abs. 6 <strong>StGB</strong> entnommen hat.<br />

Ferner hebt der Senat das gegen den Angeklagten verhängte Berufsverbot auf, um der neu zur Entscheidung berufenen<br />

Strafkammer eine umfassende eigene Entscheidung über die Rechtsfolgen zu ermöglichen. Bei der neuen Entscheidung<br />

über die Verhängung eines Berufsverbots wird auch zu bedenken sein, dass der Angeklagte - soweit ersichtlich<br />

- seinen Beruf über viele Jahre hin beanstandungsfrei ausgeübt hat; auch dies steht indes einer negativen<br />

Gefährlichkeitsprognose nicht von vorneherein entgegen.<br />

<strong>StGB</strong> § 182 Körperverletzungen (Legen von Kathedern) als sexuelle Handlungen<br />

BGH, Urt. v. 14.03.2012 - 2 StR 561/11 - BeckRS 2012, 08188<br />

1. Bei Handlungen, die ihrem äußeren Erscheinungsbild nach eindeutig einen Sexualbezug haben,<br />

kommt es (anders als bei ambivalenten Handlungen) zur Bejahung des Sexualbezugs auf die Motivation<br />

des Täters nicht an.<br />

2. Auch durch ein Fortwirken ihres tatbestandlichen Erfolges, etwa anhaltende Schmerzen, wird<br />

eine Körperverletzung nicht zu einem Dauerdelikt.<br />

3. Eine Verfahrensbeschränkung nach § 154 Abs. 2 StPO ist bei fehlender Konkretisierung der eingestellten<br />

Tatvorwürfe unwirksam.<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 22. März 2011<br />

mit den Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung <strong>und</strong> Misshandlung<br />

von Schutzbefohlenen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung<br />

es zur Bewährung ausgesetzt hat. Gegen dieses Urteil richtet sich die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte<br />

Revision der Staatsanwaltschaft. Neben der Verletzung formellen Rechts beanstandet die Beschwerdeführerin mit<br />

119


der Sachrüge insbesondere die konkurrenzrechtliche Bewertung des Tatgeschehens durch das Landgericht <strong>und</strong> erstrebt<br />

eine Verurteilung auch wegen eines Verbrechens des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung<br />

nach § 232 Abs. 4 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 <strong>StGB</strong>. Das Rechtsmittel hat Erfolg.<br />

I. Nach den Feststellungen hielt sich der u.a. wegen Vergewaltigung <strong>und</strong> Mordes vorbestrafte Angeklagte ab dem<br />

Frühjahr 2005 in den USA auf, wo er nach eigener Darstellung eine Model-Agentur betrieb. In der Folgezeit bot er<br />

einer früheren Nachbarin, der in Berlin lebenden Zeugin S. K., an, in den USA eine Au-Pair-Stelle für deren Tochter,<br />

die am 5. Februar 1988 geborene Geschädigte E. K., zu organisieren. S. K. ging auf diesen Vorschlag des mit ihr<br />

befre<strong>und</strong>eten Angeklagten ein, da sie sich für ihre Tochter im Anschluss an den für ein Jahr vorgesehenen Auslandsaufenthalt<br />

eine bessere berufliche Perspektive erhoffte. Nachdem der Angeklagte gegenüber der allein sorgeberechtigten<br />

S. K. bek<strong>und</strong>et hatte, er habe sich nunmehr um alles Erforderliche gekümmert <strong>und</strong> insbesondere eine Familie<br />

in Florida gef<strong>und</strong>en, bei der E. K. arbeiten könne, erklärte die Mutter ihr Einverständnis zu der Reise <strong>und</strong> gab ihre<br />

Tochter in die Obhut des Angeklagten.<br />

1. Am 2. November 2005 reiste die damals 17 Jahre alte Geschädigte, die zuvor noch nie längere Zeit von ihrer Mutter<br />

getrennt gewesen <strong>und</strong> kaum der englischen Sprache mächtig war, allein in die USA zu dem Angeklagten. Dieser<br />

verbrachte die Geschädigte nach Fort Myers, wo sich beide für ca. zwei Wochen aufhielten. Spätestens dort eröffnete<br />

ihr der Angeklagte, dass sie die in Aussicht gestellte Au-Pair-Stelle nicht antreten, wohl aber bei einer von ihm -<br />

angeblich - betriebenen Model-Agentur eine Karriere starten könne. Die leichtgläubige <strong>und</strong> unerfahrene Geschädigte<br />

fühlte sich hierdurch geschmeichelt <strong>und</strong> stimmte zu. In der Folgezeit unterzeichnete sie ein in englischer Sprache<br />

gehaltenes <strong>und</strong> vom Angeklagten als Modelvertrag bezeichnetes Schriftstück, dessen Inhalt sie aufgr<strong>und</strong> fehlender<br />

Sprachkenntnisse jedoch nicht verstand. Anschließend erklärte der Angeklagte, dass sie für die angestrebte Modelkarriere<br />

an den Oberschenkeln abnehmen müsse. Hierzu sei es erforderlich, regelmäßig "Entwässerungstabletten"<br />

einzunehmen <strong>und</strong> einen Blasenkatheter zu legen. Die Geschädigte schenkte auch dieser Erklärung Glauben <strong>und</strong> bek<strong>und</strong>ete<br />

deshalb ihr Einverständnis, sich von dem - entgegen seinen Behauptungen - medizinisch nicht aus- <strong>und</strong><br />

vorgebildeten Angeklagten einen Dauerkatheter legen zu lassen. Nachdem der Angeklagte einen - ersten - Katheter<br />

gelegt hatte, fertigte er von der Geschädigten zwei Ganzkörpernacktaufnahmen, was er mit dem Erfordernis begründete,<br />

den Abnehmerfolg im Sinne eines "Vorher-Nachher-Vergleichs" überprüfen zu müssen.<br />

2. In der zweiten Novemberhälfte reiste der Angeklagte mit der Geschädigten nach Kanada, wo er diese Ende November<br />

oder Anfang Dezember 2005 aufforderte, sich den in ihre Harnröhre eingebrachten Katheter, den er zwischenzeitlich<br />

bereits einmal gewechselt hatte, entfernen <strong>und</strong> einen neuen - dritten - Dauerkatheter legen zu lassen.<br />

Die Geschädigte verweigerte dies zunächst, da sie mittlerweile unter erheblichen Schmerzen im Unterbauchbereich<br />

litt. Hierauf äußerte der Angeklagte, dass eine solche Weigerung einen Bruch des zuvor geschlossenen Modelvertrages<br />

bedeuten würde <strong>und</strong> sie deshalb eine Vertragsstrafe an ihn zu zahlen habe. Um sie weiter in seiner Abhängigkeit<br />

zu halten, gab er gegenüber der völlig mittellosen Geschädigten ferner wahrheitswidrig an, für sie finanzielle Forderungen<br />

eines Erpressers erfüllt zu haben, der mit der Veröffentlichung der von ihr gefertigten Nacktaufnahmen gedroht<br />

habe. Die zu diesem Zeitpunkt bereits verängstigte Geschädigte schenkte diesen Behauptungen Glauben <strong>und</strong><br />

gestattete es, dass der Angeklagte den einliegenden Katheter entfernte <strong>und</strong> einen neuen, größeren Dauerkatheter in<br />

ihre Harnröhre einbrachte. Das Einlegen <strong>und</strong> Tragen der Katheter verursachte bei der Geschädigten u.a. eine<br />

schmerzhafte Harnblasenentzündung, was der Angeklagte zumindest billigend in Kauf genommen hatte.<br />

3. Ferner verlangte der Angeklagte von der Geschädigten, für sogenannte "Fetisch-Nacktbilder" zu posieren. Dieses<br />

begründete er gegenüber der Geschädigten damit, dass er die Aufnahmen benötige, um geschlossene Verträge abzusichern<br />

bzw. um Schulden zu begleichen. Wiederum sah die Geschädigte aufgr<strong>und</strong> ihrer Unsicherheit <strong>und</strong> Leichtgläubigkeit<br />

keinen anderen Weg, als sich dem Ansinnen des Angeklagten zu beugen. Auf entsprechende Anweisung<br />

zog die Geschädigte ihren Slip aus <strong>und</strong> posierte auf einem Bett sitzend, wobei sie weisungsgemäß ihren Genitalbereich<br />

zur Schau stellte. Der Angeklagte fertigte sechs oder sieben Aufnahmen, die in der Folgezeit zumindest vorübergehend<br />

im Internet eingestellt <strong>und</strong> mit einem Eintrag versehen waren, aus dem Adresse <strong>und</strong> Telefonnummer der<br />

Geschädigten <strong>und</strong> der sinngemäße Zusatz „Ich bin für alles zu haben, mit mir kann man alles machen" hervorgingen.<br />

Den zugehörigen Link teilte der Angeklagte in der Folge auch der Mutter der Geschädigten mit.<br />

4. Ende November/Anfang Dezember 2005 bat die Geschädigte den Angeklagten wegen ihrer anhaltenden <strong>und</strong> intensiver<br />

werdenden Schmerzen, den gelegten Blasenkatheter wieder zu entfernen. Der Angeklagte redete der erheblich<br />

verängstigten Geschädigten ein, dieser könne nur entfernt werden, wenn er zuvor einen Katheter in den After<br />

einführe <strong>und</strong> Analspülungen vornehme. Unter dem Eindruck der fortdauernden Schmerzwirkung des in der Blase<br />

einliegenden Katheters erklärte sich die Geschädigte mit dieser Prozedur einverstanden. Der Angeklagte führte darauf<br />

einen Katheter auch in den After der Geschädigten ein <strong>und</strong> nahm Spülungen mit "Beruhigungsöl" <strong>und</strong> Weißwein<br />

vor. Die Geschädigte verharrte weisungsgemäß <strong>und</strong> unter Schmerzen 45 Minuten lang mit dem Katheter im<br />

120


After, bevor der Angeklagte diesen wieder entfernte. Den Blasenkatheter beließ der Angeklagte gleichwohl weiter<br />

im Körper der Geschädigten, was er mit der unwahren Behauptung begründete, dieser sei verwachsen <strong>und</strong> lasse sich<br />

nicht entfernen. In einem unbeobachteten Moment gelang der Geschädigten die Flucht zu einer kanadischen Familie,<br />

durch deren Vermittlung sie am 5. Dezember 2005 nach Deutschland zurückkehren konnte.<br />

II. Das Landgericht hat das Legen der Katheter als eine Tat der gefährlichen Körperverletzung <strong>und</strong> Misshandlung<br />

von Schutzbefohlenen gemäß §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, 225 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> gewertet. Ein von der Geschädigten jedenfalls<br />

anfänglich erklärtes Einverständnis mit dem Anbringen der Katheter sei unwirksam, da dieses durch Täuschung<br />

im Hinblick auf die suggerierte Modelkarriere erwirkt <strong>und</strong> spätestens beim dritten Blasenkatheter wegen der anhaltenden<br />

Schmerzen widerrufen worden sei. Daneben liege in der Drohung mit hohen Geldforderungen eine Nötigung<br />

nach § 240 Abs. 1 <strong>StGB</strong>, weil die Geschädigte hierdurch zu ihr unangenehmen bzw. ungewollten Handlungen bewegt<br />

oder von Abwehrhandlungen gegen solche Handlungen abgehalten worden sei. Straftaten gegen die sexuelle<br />

Selbstbestimmung, namentlich eine sexuelle Nötigung nach § 177 Abs. 1 <strong>StGB</strong>, seien hingegen nicht nachweisbar,<br />

weil ein sexueller Hintergr<strong>und</strong> für das Handeln des Angeklagten nicht feststellbar sei. Das Gesamtgeschehen sei als<br />

eine einzige materiell-rechtliche Tat zu werten, weil "die mit der Katheterlegung verwirklichte gefährliche Körperverletzung<br />

als Dauerdelikt die übrigen Delikte klammer(e)".<br />

III. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft dringt bereits mit der Sachbeschwerde durch; auf die daneben erhobenen<br />

Verfahrensrügen kommt es nicht an.<br />

1. Das Urteil unterliegt schon deshalb der Aufhebung, weil das Landgericht das Konkurrenzverhältnis der abgeurteilten<br />

Taten unrichtig bestimmt hat.<br />

a) Entgegen der Ansicht des Landgerichts kommt der mit dem Legen der Katheter verwirklichten gefährlichen Körperverletzung<br />

eine Klammerwirkung nicht zu. Zwischen Dauerdelikten <strong>und</strong> anderen Straftaten, die während des<br />

Dauerzustands begangen werden, kann zwar Tateinheit bestehen, wenn sich die Ausführungshandlungen wenigstens<br />

in einem für die jeweilige Tatbestandserfüllung notwendigen <strong>Teil</strong> decken, also die zur Verwirklichung des einen<br />

Tatbestands beitragende Handlung zugleich der Begründung oder Aufrechterhaltung des durch das Dauerdelikt geschaffenen<br />

rechtswidrigen Zustandes dient (BGHSt 18, 29, 31; 29, 184, 186; 31, 29, 30; Rissing-van Saan in LK 12.<br />

Aufl. § 52 Rn. 23; v. Heintschel-Heinegg in MünchKomm-<strong>StGB</strong> 2. Aufl. § 52 Rn. 91 ff. jew. mwN). Indes handelt<br />

es sich bei den Körperverletzungsdelikten der §§ 223 ff. <strong>StGB</strong> nicht um Dauer-, sondern um sog. Zustandsdelikte,<br />

bei denen es nicht auf die Aufrechterhaltung eines widerrechtlichen Zustandes ankommt. Deren Begehung ist vielmehr<br />

bereits mit der Herbeiführung des vom jeweiligen Tatbestand umschriebenen Zustandes beendet (vgl. BGH<br />

NJW 1983, 1745, 1746; Fischer <strong>StGB</strong> 59. Aufl. Vor § 52 Rn. 58; v. Heintschel-Heinegg aaO § 52 Rn. 28). Auch<br />

durch ein Fortwirken ihres tatbestandlichen Erfolges, etwa anhaltende Schmerzen, wird die Körperverletzung nicht<br />

zu einem Dauerdelikt (Stree/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder <strong>StGB</strong> 28. Aufl. Vorbem. § 52 ff. Rn. 82 a.E.).<br />

b) Die festgestellten Handlungen des Angeklagten können auch nicht deshalb als eine Tat bewertet werden, weil<br />

"von einem einheitlichen Vorsatz des Angeklagten bezüglich der gefährlichen Körperverletzung auszugehen (war),<br />

da der Angeklagte der Geschädigten einen Dauerkatheter legen wollte <strong>und</strong> diesen 'lediglich' erneuerte" (vgl. UA S.<br />

23). Zutreffend weist die Revision darauf hin, dass nach den getroffenen Feststellungen bereits offen bleibt, ob ein<br />

solcher Gesamtvorsatz auch das Legen des Analkatheters <strong>und</strong> das Anfertigen der "Fetisch-Nacktbilder" umfasste.<br />

Die Annahme von Tateinheit würde jeden-falls aber ein Zusammentreffen mehrerer objektiver Tatbestandsverwirklichungen<br />

in einem einheitlichen Handlungsablauf voraussetzen. Ein Zusammentreffen nur im subjektiven Bereich<br />

genügt demgegenüber nicht (BGHSt 43, 149, 151; Fischer aaO Vor § 52 Rn. 24; Eschelbach in S/S/W-<strong>StGB</strong> § 52<br />

Rn. 52). An einem solchen Zusammentreffen objektiver Tatbestandsverwirklichungen fehlt es hier. Dabei kann dahinstehen,<br />

ob - wofür einiges spricht - nicht schon das Legen des ersten <strong>und</strong> zweiten Blasenkatheters jeweils eine von<br />

der erschlichenen Einwilligung der Geschädigten nicht gedeckte körperliche Misshandlung beinhaltete (vgl. BGHSt<br />

16, 309, 310; BGH NStZ 2004, 442). Nach den getroffenen Feststellungen lagen jedenfalls dem schmerzhaften Legen<br />

des dritten Blasenkatheters, der Anfertigung der sog. "Fetisch-Nacktbilder" sowie dem ebenfalls mit Schmerzen<br />

verb<strong>und</strong>enen Legen des Analkatheters jeweils separate Tathandlungen zugr<strong>und</strong>e, wovon im Übrigen auch die Anklage<br />

ausgeht. Dass der Angeklagte die Vornahme dieser Handlungen teilweise durch Nötigungsmittel ermöglicht hat,<br />

führt zu keiner anderen rechtlichen Bewertung. Denn der Angeklagte nutzte hierbei nicht lediglich die Wirkungen<br />

einer früheren, bereits vor der ersten Tathandlung geäußerten Drohung aus, sondern erneuerte diese auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

eines jeweils neu gefassten Tatentschlusses. Während dem Einlegen des Blasenkatheters die Behauptung einer<br />

angeblich anfallenden Vertragsstrafe <strong>und</strong> zu erstattender Auslagen vorausging, sollten die "Fetisch-Nacktbilder"<br />

dazu dienen, angebliche Verträge abzusichern <strong>und</strong> Schulden zu begleichen. Das Legen des Analkatheters wiederum<br />

duldete die Geschädigte lediglich vor dem Hintergr<strong>und</strong> ihrer anhaltenden <strong>und</strong> intensiver werdenden Schmerzen <strong>und</strong><br />

der Behauptung des Angeklagten, diese Prozedur sei zur Entfernung des einliegenden Blasenkatheters unerlässlich.<br />

121


c) Das festgestellte Gesamtgeschehen wird auch nicht im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit zu einer einheitlichen<br />

Tat verb<strong>und</strong>en. Der Begriff der natürlichen Handlungseinheit setzt voraus, dass der Handelnde den auf die<br />

Erzielung eines Erfolges in der Außenwelt gerichteten einheitlichen Willen durch eine Mehrheit gleichgearteter Akte<br />

betätigt <strong>und</strong> diese einzelnen Betätigungsakte aufgr<strong>und</strong> ihres räumlichen <strong>und</strong> zeitlichen Zusammenhangs objektiv<br />

erkennbar derart zusammengehören, dass sie nach der Auffassung des Lebens eine Handlung bilden (st. Rspr. vgl.<br />

BGHSt 41, 368; 43, 312, 315; BGHR <strong>StGB</strong> vor § 1 natürliche Handlungseinheit, Entschluss, einheitlicher 4, 6, 12<br />

sowie Fischer aaO Vor § 52 Rn. 3; Rissing-van Saan aaO Vor § 52 Rn. 10; v. Heintschel-Heinegg aaO § 52 Rn. 55).<br />

Wie bereits ausgeführt fehlt es hierfür bereits an der Feststellung eines einheitlich gefassten Willens bezogen auf das<br />

Legen der Blasenkatheter einerseits <strong>und</strong> das Anfertigen der "Fetisch-Nacktaufnahmen" bzw. das Legen des Analkatheters<br />

andererseits. Zudem mangelt es auch an einem hinreichend engen räumlichen <strong>und</strong> zeitlichen Zusammenhang<br />

der im Abstand von mehreren Tagen an unterschiedlichen Orten vorgenommenen Tathandlungen. Aus diesen Gründen<br />

kommt auch bei Verwirklichung des § 225 <strong>StGB</strong> die Annahme einer tatbestandlichen Handlungseinheit zwischen<br />

dem Legen des dritten Blasenkatheters einerseits <strong>und</strong> dem Einbringen des Analkatheters andererseits nicht in<br />

Betracht (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 304, 306; Fischer aaO § 225 Rn. 8a).<br />

d) Der demnach gebotenen eigenständigen Betrachtung <strong>und</strong> Bewertung der verschiedenen Handlungsakte war die<br />

Strafkammer auch nicht aufgr<strong>und</strong> einer wirksamen Verfahrensbeschränkung nach § 154 Abs. 2 StPO enthoben. Dem<br />

liegt folgendes prozessuale Geschehen zu Gr<strong>und</strong>e: Das Landgericht hat in der Hauptverhandlung am 22. März 2011<br />

folgenden rechtlichen Hinweis erteilt:<br />

"1) Es kommt eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong>) - Setzen bzw.<br />

Nichtentfernen von Kathetern - in Tateinheit mit Nötigung (§ 240 Abs. 1 <strong>StGB</strong>) - "Vertragsstrafe" - <strong>und</strong> mit Misshandlung<br />

von Schutzbefohlenen (§ 225 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong>) in Betracht.<br />

2) Es wird angeregt, das Verfahren gemäß Nr. 1 zu beschränken..."<br />

Daraufhin beantragte die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft, "das Verfahren entsprechend dem Hinweis zu<br />

Punkt 1 zu beschränken", worauf die Kammer nach Beratung einen Beschluss mit dem Inhalt verkündete: "Entsprechend<br />

soll verfahren werden".<br />

Selbst wenn - was aufgr<strong>und</strong> des insoweit unklaren Beschlussinhalts höchst zweifelhaft ist - die Strafkammer hierdurch<br />

eine Einstellung von materiell rechtlich selbständigen Taten nach § 154 Abs. 2 StPO beabsichtigt haben sollte,<br />

liefe eine solche Beschränkung ins Leere. Zutreffend weist der Generalb<strong>und</strong>esanwalt darauf hin, dass eine Verfahrensbeschränkung<br />

nach § 154 Abs. 2 StPO schon aufgr<strong>und</strong> der fehlenden Konkretisierung der eingestellten Tatvorwürfe<br />

unwirksam wäre (vgl. Beulke in LR StPO 26. Aufl. § 154 Rn. 43; Weßlau in SK-StPO 4. Aufl. § 154 Rn. 33),<br />

weil völlig offen bliebe, welche der von der Anklage bezeichneten Taten das Landgericht bei seiner Einstellungsentscheidung<br />

im Blick gehabt hätte. Soweit das Landgericht eine Beschränkung nach § 154a Abs. 2 StPO vornehmen<br />

wollte, wogegen bereits spricht, dass es sich in den Urteilsgründen mit möglicherweise tateinheitlich verwirklichten<br />

Tatbeständen des 13. Abschnitts des <strong>StGB</strong> inhaltlich auseinandergesetzt hat, wäre eine solche aufgr<strong>und</strong> der unklaren<br />

Formulierung <strong>und</strong> inhaltlichen Unbestimmtheit ebenfalls unwirksam (vgl. BGH NStZ 2002, 489 sowie Beschluss<br />

vom 7. Februar 2001 - 3 StR 579/00; Beulke aaO § 154a Rn. 8; Plöd in KMR 46. EL April 2007 § 154a Rn. 13).<br />

2. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen daneben die Erwägungen, mit denen das Landgericht das Vorliegen<br />

von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung verneint hat.<br />

a) Das Landgericht hat bei der Prüfung der Sexualbezogenheit der vom Angeklagten vorgenommenen Handlungen<br />

einen falschen rechtlichen Maßstab zu Gr<strong>und</strong>e gelegt. Es hat gemeint, sexuelle Handlungen bzw. ein sexueller Hintergr<strong>und</strong><br />

seien nicht nachweisbar, weil der Angeklagte "vehement bestritten" habe, dass das Legen der Katheter sexuell<br />

intendiert war oder ihn erregt habe, <strong>und</strong> die Hauptverhandlung gegenteilige Indizien <strong>und</strong> Beweise nicht erbracht<br />

habe. Jedoch kommt es bei objektiv, also allein gemessen an ihrem äußeren Erscheinungsbild, eindeutig sexualbezogenen<br />

Handlungen auf die Motivation des Täters nicht an. Gleichgültig ist deshalb, ob er die Handlung etwa<br />

aus Wut, Sadismus, Scherz oder Aberglaube vornimmt. Auch eine sexuelle Absicht des Täters ist bei solchen Handlungen<br />

- im Unterschied zu äußerlich ambivalenten Handlungen - nicht erforderlich. Insoweit reicht es aus, wenn<br />

sich der Täter der Sexualbezogenheit seines Handelns bewusst ist (BGHR <strong>StGB</strong> § 178 Abs. 1 Sexuelle Handlung 6;<br />

BGH NStZ-RR 2008, 339, 340; Laufhütte/Roggenbuck in LK 12. Aufl. § 184g Rn. 8). Dies zugr<strong>und</strong>e gelegt drängt<br />

sich aufgr<strong>und</strong> der festgestellten Gesamtumstände jedenfalls für das Anfertigen der sog. "Fetisch-Nacktbilder" die<br />

Annahme einer eindeutig sexualbezogenen Handlung auf, was jedenfalls den Tatbestand eines besonders schweren<br />

Falls der Nötigung im Sinne des § 240 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> erfüllt. Dass der Angeklagte die Sexualbezogenheit<br />

seines Handelns auch erkannt hat, kann hier schon im Hinblick auf das spätere Einstellen der Bilder in das Internet<br />

nicht zweifelhaft sein.<br />

122


) Ob - was nahe liegt - auch dem Legen der Blasen- <strong>und</strong> des Analkatheters nach den Gesamtumständen bereits<br />

objektiv ein eindeutiger Sexualbezug beizumessen ist, kann im Ergebnis dahinstehen. Selbst wenn man insoweit<br />

lediglich von sexuell ambivalenten Handlungen ausgehen <strong>und</strong> deshalb eine sexuelle Absicht des Täters verlangen<br />

würde (BGH NStZ-RR 2008, 339, 340; vgl. auch Fischer aaO § 184g Rn. 4a; Hörnle in MünchKomm-<strong>StGB</strong> 2. Aufl.<br />

§ 184g Rn. 4; Perron/Eisele in Schönke/Schröder <strong>StGB</strong> 28. Aufl. § 184g Rn. 9 jew. mwN auch zur Gegenansicht),<br />

trägt die Begründung des Landgerichts nicht. So sind die Ausführungen zur Motivlage des Angeklagten lückenhaft<br />

<strong>und</strong> lassen wesentliche, für eine sexuelle Tatmotivation sprechende Gesichtspunkte unerörtert. Insbesondere hat sich<br />

das Landgericht nicht mit der Frage auseinandergesetzt, welchem anderen Zweck als der sexuellen Bedürfnisbefriedigung<br />

das - medizinisch augenscheinlich sinnlose - Legen der Katheter hätte dienen sollen. Dies gilt vor allem vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong>, dass der Angeklagte bereits unmittelbar nach dem Legen des ersten Blasenkatheters zwei Ganzkörpernacktaufnahmen<br />

von der Geschädigten angefertigt <strong>und</strong> die später von der Geschädigten angefertigten "Fetisch-<br />

Nacktaufnahmen" ins Internet eingestellt <strong>und</strong> mit dem eindeutig sexualbezogenen Zusatz: "Ich bin für alles zu haben,<br />

mit mir kann man alles machen" versehen hat. Für eine sexuelle Absicht bereits bei der Tatbegehung sprechen zudem<br />

die Feststellungen zu den Vorverurteilungen des Angeklagten, mit denen sich das Landgericht nicht erkennbar<br />

auseinander gesetzt hat. Der Angeklagte hat wiederholt aus sexueller Intention schlauchähnliche Gegenstände verwendet<br />

bzw. sich verschafft. So hatte der Angeklagte bei zwei früher begangenen Vergewaltigungen einem Tatopfer<br />

einen Plastik-Kühlschlauch in die Scheide eingeführt <strong>und</strong> nach den hier angeklagten Taten bei einem "Klinik-Sex-<br />

Shop" u.a. mehrere Ballonkatheter bestellt <strong>und</strong> erhalten.<br />

c) Das Landgericht hat sich hierdurch den Blick darauf verstellt, dass die Analspülung unter der Drohung, ansonsten<br />

den schmerzhaften Blasenkatheter nicht zu entfernen, geeignet sein kann, den Tatbestand des § 177 <strong>StGB</strong> zu erfüllen.<br />

Unerörtert gelassen hat das Landgericht zudem den sich im Hinblick auf das Legen der Blasen- bzw. des Analkatheters<br />

ebenfalls aufdrängenden Tatbestand des § 182 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong>.<br />

3. Die Sache bedarf somit insgesamt neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung. Der neu zur Entscheidung berufene<br />

Tatrichter wird gegebenenfalls die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts zu prüfen <strong>und</strong><br />

zudem zu beachten haben, dass für durch Zahlung erledigte, ursprünglich gesamtstrafenfähige Geldstrafen kein Härteausgleich<br />

zu gewähren ist (vgl. BGH NStZ 1990, 436; Fischer aaO § 55 Rn. 21a).<br />

<strong>StGB</strong> § 184 g Nr. 1, § 177 sexuelle Handlung Berühren<br />

BGH, Urt. v. 01.12.2011 - 5 StR 417/11 - NStZ 2012, 269<br />

Als erheblich im Sinne des § 184g Nr. 1 <strong>StGB</strong> sind solche Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität<br />

<strong>und</strong> Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand<br />

geschützten Rechtsguts besorgen lassen. Bei der am Schutzgut der sexuellen Selbstbestimmung<br />

orientierten Bewertung sind auch die gesamten Begleitumstände des Tatgeschehens einzubeziehen<br />

<strong>und</strong> neben den näheren Umständen der Handlung die Beziehung zwischen den Beteiligten<br />

<strong>und</strong> die konkrete Tatsituation zu berücksichtigen. Eine ergänzende Betrachtung des Gesamtzusammenhangs<br />

ist insbesondere dann geboten, wenn die Handlungen für sich genommen in ihrer<br />

sexuellen Ausprägung nicht besonders gravierend oder nachhaltig sind.<br />

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> – betreffend den Fall 4 – der Nebenklägerin K. wird das Urteil des<br />

Landgerichts Berlin vom 26. Mai 2011 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Jedoch bleiben die Feststellungen<br />

zum objektiven Tatgeschehen in den Fällen 4, 6 <strong>und</strong> 7 aufrechterhalten; insoweit werden die Revisionen<br />

verworfen.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Nötigung in sieben Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher<br />

Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt <strong>und</strong> deren Vollstreckung zur<br />

Bewährung ausgesetzt. Gegen das Urteil wenden sich die Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> hinsichtlich Fall 4 die Nebenklägerin<br />

K. mit ihren jeweils auf die Sachrüge gestützten Revisionen. Die Rechtsmittel haben den aus dem Urteilstenor<br />

ersichtlichen Erfolg.<br />

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

123


a) Der zur Tatzeit 21-jährige, im elterlichen Haushalt lebende, „gehemmte <strong>und</strong> eigenwillig sperrige“ (UA S. 5) Angeklagte<br />

fühlte sich nach der Trennung von seiner Fre<strong>und</strong>in oft einsam. Er war auf der Suche nach körperlicher Nähe,<br />

die er besonders beim Küssen empfand. Aus diesem Gr<strong>und</strong> näherte er sich in sieben Fällen zwischen dem 12.<br />

August 2008 <strong>und</strong> dem 17. Januar 2009 in seinem Wohnumfeld auf offener Straße jungen, ihm unbekannten Frauen,<br />

die ihn optisch ansprachen, umfasste sie jeweils von hinten <strong>und</strong> hielt sie fest. In einigen Fällen küsste er sie (Taten 1<br />

<strong>und</strong> 3) oder verlangte, sie sollten ihn küssen (Tat 6), <strong>und</strong> berührte sie über der Kleidung an den Brüsten oder im<br />

Genitalbereich (Taten 2 bis 6). Er ließ jeweils von den Frauen ab, als sie sich wehrten oder Dritte auf das Geschehen<br />

aufmerksam wurden. Zwei der Frauen trugen leichte körperliche Verletzungen davon (Taten 3 <strong>und</strong> 7).<br />

b) Das Landgericht hat sämtliche Taten als Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 <strong>StGB</strong> gewertet <strong>und</strong> in den Fällen 3<br />

<strong>und</strong> 7 jeweils tateinheitlich hierzu eine vorsätzliche Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 <strong>StGB</strong> angenommen. Eine<br />

Strafbarkeit wegen – vollendeter oder versuchter – sexueller Nötigung hat es in allen Fällen verneint. Eine sexuelle<br />

Handlung liege nicht vor, da es an der gemäß § 184g Nr. 1 <strong>StGB</strong> erforderlichen Erheblichkeit fehle. Bei den vom<br />

Angeklagten vorgenommenen Handlungen handele es sich um Zudringlichkeiten <strong>und</strong> nur ganz flüchtige Berührungen<br />

oberhalb der Bekleidung. Da der Angeklagte nicht mehr erstrebt habe als in Küssen <strong>und</strong> Umarmung bestehende<br />

Nähe, scheide auch eine Strafbarkeit wegen versuchter sexueller Nötigung aus. Von einer solchen wäre der Angeklagte<br />

im Übrigen in jedem der Fälle gemäß § 24 Abs. 1 <strong>StGB</strong> strafbefreiend zurückgetreten.<br />

2. Das angefochtene Urteil begegnet schon deshalb durchgreifenden Bedenken, weil die Beweiswürdigung des<br />

Landgerichts hinsichtlich der vom Angeklagten verfolgten Ziele <strong>und</strong> damit zu seinem Tatvorsatz lückenhaft ist (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 2. Dezember 2005 – 5 StR 119/05, NJW 2006, 925, 928, insoweit in BGHSt 50, 299 nicht abgedruckt).<br />

Die Strafkammer ist der Einlassung des Angeklagten, er sei lediglich auf der Suche nach körperlicher Nähe<br />

(„Kuscheln“, UA S. 3) gewesen, gefolgt, ohne dem widersprechende Umstände zu erwägen. Schon die vom Angeklagten<br />

durchweg gewählte Art der Kontaktaufnahme – überraschendes gewaltsames Umfassen der jungen ihm unbekannten<br />

Frauen auf offener Straße von hinten – war offensichtlich ungeeignet, das vom Angeklagten behauptete<br />

Handlungsziel zu erreichen. Zudem hat der Angeklagte Handlungen vorgenommen, die über das angegebene Ziel<br />

hinausgingen <strong>und</strong> ersichtlich auf eine sexuelle Annäherung ausgerichtet waren: In den Fällen 2 <strong>und</strong> 5 fasste er die<br />

Frauen an die Brust <strong>und</strong> den Genitalbereich, ohne dass ein von ihm erstrebtes Küssen als Ausdruck der körperlichen<br />

Nähe überhaupt angesprochen oder versucht wurde. Im Fall 4 umfasste er – seine Hose stand dabei offen – die Nebenklägerin<br />

K. <strong>und</strong> berührte die Frau für wenige Sek<strong>und</strong>en an den Brüsten, ohne sie zu küssen oder dies zu versuchen.<br />

Das gleiche gilt im Fall 7, als er den M<strong>und</strong> der Frau zuhielt. Im Fall 3 berührte er zunächst nach Öffnen eines<br />

Reißverschlusses die Brust der Frau <strong>und</strong> verlangte „richtiges Küssen“ erst, nachdem er die Frau so fest gegen eine<br />

Wand gedrückt hatte, dass sie Hämatome davontrug.<br />

3. Die Tatserie bedarf demnach neuer Aufklärung <strong>und</strong> Bewertung. Nachdem das Landgericht die Einlassung des<br />

Angeklagten fehlerhaft bewertet hat, muss der Senat auch die objektiven Feststellungen in den Fällen aufheben, in<br />

denen diese allein auf der Einlassung des Angeklagten beruhen. Das neue Tatgericht wird zu bedenken haben, dass<br />

als erheblich im Sinne des § 184g Nr. 1 <strong>StGB</strong> solche Handlungen zu werten sind, die nach Art, Intensität <strong>und</strong> Dauer<br />

eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen<br />

lassen (BGH, Urteil vom 24. September 1991 – 5 StR 364/91, NJW 1992, 324). Bei der am Schutzgut der sexuellen<br />

Selbstbestimmung orientierten Bewertung sind auch die gesamten Begleitumstände des Tatgeschehens einzubeziehen<br />

<strong>und</strong> neben den näheren Umständen der Handlung die Beziehung zwischen den Beteiligten <strong>und</strong> die konkrete<br />

Tatsituation zu berücksichtigen (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2006 – 2 StR 575/05, StraFo 2006, 251; BGH,<br />

Urteil vom 25. Juli 1989 – 1 StR 95/89, NJW 1989, 3029; LK-Laufhütte/Roggenbuck, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 184g Rn.<br />

12). Eine ergänzende Betrachtung des Gesamtzusammenhangs ist insbesondere dann geboten, wenn die Handlungen<br />

für sich genommen in ihrer sexuellen Ausprägung nicht besonders gravierend oder nachhaltig sind. In die Bewertung<br />

wird deshalb hier neben der (zum <strong>Teil</strong> eher geringen) Intensität der sexuellen Handlungen einzustellen sein, dass der<br />

Angeklagte jeweils ihm unbekannte Frauen überraschend <strong>und</strong> unvermittelt von hinten angriff <strong>und</strong> sie unter beträchtlicher<br />

Kraftentfaltung körperlich so heftig bedrängte, dass sich die Frauen ihm nur durch erhebliche körperliche<br />

Gegenwehr entziehen konnten. Aufgr<strong>und</strong> des engen Zusammenhangs der schon länger zurückliegenden Taten wird<br />

wiederum die Festsetzung einer die Einzelstrafen eng zusammenfassenden Gesamtstrafe geboten sein. Auch könnten<br />

die Erwägungen des angefochtenen Urteils zur Strafaussetzung zur Bewährung auch in Ansehung eines geänderten<br />

Schuldspruchs tragfähig bleiben.<br />

124


<strong>StGB</strong> § 184b Zugänglichmachen<br />

BGH, Urt. v. 18.01.2012 - 2 StR 151/11 - BeckRS 2012, 06061<br />

1. Ein Zugänglichmachen i.S.d. § 184b Abs. Nr. 2 Var. 4, Abs. 3 Alt. 2 <strong>StGB</strong> liegt in der Zurverfügungstellung<br />

einer Plattform, die dem Einstellen von Dateien im Internet dient, wobei die Möglichkeit<br />

des Lesezugriffs genügt.Nichts anderes gilt für das Bereitstellen entsprechender Links, wobei es<br />

nach Auffassung des Senats ohne Belang ist, ob das Zugänglichmachen durch das Posten eines<br />

Links auf einer kinderpornographischen Datei erfolgt, oder ob die Zieladresse durch Verändern<br />

von Buchstaben aus Sicherheitsgründen geringfügig verändert <strong>und</strong> von den Nutzern nach Weisung<br />

manuell eingegeben wird.<br />

2. Ein öffentliches Zugänglichmachen von kinderpornographischem Material liegt vor, wenn der<br />

Zugang nicht auf einen dem Anbieter überschaubaren kleinen Personenkreis beschränkt werden<br />

kann, es sich vielmehr um einen anonymen, nicht überschaubaren Benutzerkreis handelt.<br />

3. Das Unternehmen des Drittbesitzverschaffens an einer kinderpornographischen Datei erfasst alle<br />

mit der Besitzübertragung <strong>und</strong> -begründung verb<strong>und</strong>enen Aktivitäten, auch wenn diese sich noch<br />

im Versuchsstadium befinden (§ 11 Nr. 6 <strong>StGB</strong>).<br />

4. Für das Unternehmen des Drittbesitzverschaffens bedeutet es keinen Unterschied, ob der Täter<br />

dem Nutzer die Daten etwa per E-Mail mit entsprechendem Anhang übermittelt oder ob er diesem<br />

die Möglichkeit des Zugriffs auf diese durch Übermitteln eines anzuklickenden Links verschafft<br />

hat.<br />

1. Der Beschluss des Landgerichts Darmstadt vom 10. März 2011, mit dem die Revision des Angeklagten N. gegen<br />

das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 25. November 2010 als unzulässig verworfen worden ist, wird aufgehoben.<br />

2. Die Revisionen der Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil werden verworfen.<br />

3. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht Darmstadt hat u.a. den Angeklagten N. des bandenmäßigen "Verbreitens" kinderpornographischer<br />

Schriften in zwei Fällen sowie des bandenmäßigen Unternehmens des Drittbesitzverschaffens kinderpornographischer<br />

Schriften in 13 Fällen <strong>und</strong> den Angeklagten P. des bandenmäßigen "Verbreitens" kinderpornographischer<br />

Schriften sowie des bandenmäßigen Unternehmens des Drittbesitzverschaffens kinderpornographischer Schriften in<br />

vier Fällen schuldig gesprochen. Gegen beide Angeklagte hat es jeweils eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten verhängt. Der Angeklagte N. rügt mit seiner Revision die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen<br />

Rechts; der Angeklagte P. erhebt die allgemeine Sachrüge. Die Revisionen beider Angeklagter haben keinen Erfolg.<br />

I.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts waren die Angeklagten in eine bandenmäßige Gruppierung von "Pädophilen"<br />

eingeb<strong>und</strong>en, die sich zusammengeschlossen hatte, um eine Internetplattform für Gleichgesinnte zu betreiben.<br />

Diese Gruppe unterhielt von Frühjahr 2007 bis September 2008 das Internetboard "Z." nebst dazugehörigen<br />

Chat-Räumen. Das Board fungierte als "schwarzes Brett", auf dem Mitglieder Nachrichten oder Anfragen (sog. Postings)<br />

hinterließen <strong>und</strong> insbesondere dauerhaft <strong>und</strong> ungestört kinderpornographische Bild- <strong>und</strong> Videodateien austauschten.<br />

Von den Nutzern wurden Links eingestellt, die anderen "Usern" durch bloßes Anklicken ohne weitere<br />

Zwischenschritte unmittelbaren Zugriff auf die Dateien ermöglichten. Bei Videos wurden in der Regel zusätzlich zu<br />

dem Link Vorschaubilder (previews) mitgepostet, denen der wesentliche Inhalt der Zieldatei zu entnehmen war.<br />

Später wurden die Nutzer des "Z."-Boards dazu angehalten, die Zieladresse durch Weglassen, Hinzufügen oder Verändern<br />

von Buchstaben dergestalt zu modifizieren, dass ein unmittelbarer Zugriff auf die kinderpornographische<br />

Datei durch Anklicken der Zieladresse nicht möglich war (etwa durch Angabe von hxxp:// anstelle von http://). Stattdessen<br />

sollten die Besucher des Boards die Zieladresse in die Adressleiste ihres Webbrowsers kopieren <strong>und</strong> dort<br />

entsprechend ändern, um eine Rückverfolgbarkeit zu dem Board zu verhindern. Das Board war in verschiedene Bereiche<br />

unterteilt. Ein <strong>Teil</strong> hiervon war jedermann zugänglich, im Übrigen war das Board nur Mitgliedern vorbehal-<br />

125


ten, die - graduell abgestuft - durch verschiedene Aktivitäten, insbesondere das eigene Posten von kinderpornographischen<br />

Dateien innerhalb des Boards, eine entsprechende Zugangsberechtigung erhalten hatten. Der Angeklagte N.<br />

war hierbei als "Moderator" tätig, um für "Ruhe <strong>und</strong> Ordnung" unter den Besuchern des Boards zu sorgen. Zudem<br />

brachte er in dieser Funktion zahlreiche eigene Ideen ein, um den Erhalt des "Z."-Boards zu sichern <strong>und</strong> zu fördern.<br />

Im Herbst 2008 kam es nach der Festnahme eines Boardmitglieds zur Schließung des Boards.<br />

2. Danach richtete die Gruppe eine neue Internetplattform ein <strong>und</strong> betrieb von März 2009 bis zum 29. September<br />

2009 mit den dazugehörigen Chat-Räumen das nunmehr nur Mitgliedern zugängliche "S."-Board. Der Angeklagte N.<br />

übernahm wiederum die Rolle eines "Moderators", während sich der Angeklagte P. um die technische Einrichtung<br />

<strong>und</strong> Betreuung des Boards <strong>und</strong> der dazu gehörigen Chats kümmerte. So schrieb er das Skript für den "S."-Chat <strong>und</strong><br />

erhöhte durch technische Installierungen die Sicherheit des Chats. Beide Angeklagte nahmen zudem die Rollen von<br />

Administratoren ein, die für die Aktivierung, Deaktivierung <strong>und</strong> Höherstufung von Mitgliedern, die Auswahl von<br />

weiteren Moderatoren <strong>und</strong> die inhaltliche Entwicklung des Boards verantwortlich waren. Mitglied in dem "S."-Board<br />

konnte jedermann werden, der in einem der zugehörigen Chat-Räume einen Link auf eine kinderpornographische<br />

"Hardcore"-Datei postete. Um dies sicherzustellen, erhielt der Angeklagte P. durch eine virtuelle Türklingel Meldung<br />

von der Anwesenheit neuer Gäste im Gästebereich des Chats. Diese fragte er über ihre Absichten <strong>und</strong> Interessen<br />

aus <strong>und</strong> forderte das Aufnahmeritual ein. Wenn die Administratoren die gepostete kinderpornographische Datei<br />

hinsichtlich des Alters des Kindes <strong>und</strong> der gezeigten sexuellen Handlungen als geeignet befanden, kam es zur Aufnahme<br />

als (einfaches) Mitglied. Um höhere Mitgliederränge mit Zugangsberechtigung zu weiteren Bereichen des<br />

Boards zu erreichen, mussten die Mitglieder entsprechend mehr kinderpornographische Bild- <strong>und</strong> Videodateien<br />

posten. Obwohl die Angeklagten dies aus Sicherheitsgründen für nicht unbedenklich hielten, wurden von Mitgliedern<br />

auch sog. "Eigenproduktionen", also selbst gefertigtes Bild- <strong>und</strong> Filmmaterial, gepostet, die den sexuellen<br />

Missbrauch nahestehender Personen zeigten. Sofern die Mitglieder innerhalb eines bestimmten Zeitraums keine<br />

Aktivitäten entfalteten, wurde ihr Zugang automatisch deaktiviert, um passive <strong>Teil</strong>nehmer von dem Board fernzuhalten.<br />

So unterlag die Szene einem ständigen Wechsel. Am 29. September 2009 hatte das "S."-Board aktuell 476 Mitglieder<br />

zu verzeichnen.<br />

3. Über diese Tätigkeiten hinaus posteten die Angeklagten in den zugehörigen Chats des "S."-Boards selbst Links<br />

auf kinderpornographisches Bild- <strong>und</strong> Videomaterial. Der Angeklagte N. stellte in der Zeit vom 8. April bis 20. September<br />

2009 an dreizehn verschiedenen Tagen insgesamt 20 solcher Links auf kinderpornographische Dateien ein;<br />

der Angeklagte P. postete in der Zeit vom 15. April bis 10. Juni 2009 an vier verschiedenen Tagen insgesamt sieben<br />

Links auf entsprechende Dateien.<br />

II.<br />

1. Die Revision des Angeklagten N. ist zulässig. Mit Beschluss vom 10. März 2011 hat das Landgericht Darmstadt<br />

die Revision des Angeklagten N. unter Hinweis auf die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist als unzulässig<br />

verworfen, hierbei jedoch verkannt, dass dieser Angeklagte seine Revision rechtzeitig per Telefax begründet hatte.<br />

Auf dessen gemäß § 346 Abs. 2 StPO angebrachten Antrag war deshalb der Verwerfungsbeschluss des Landgerichts<br />

aufzuheben.<br />

2. Die Revisionen der Angeklagten sind unbegründet. Wegen der von dem Angeklagten N. geltend gemachten Verfahrensrügen<br />

wird auf die zutreffenden Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts in seiner Antragsschrift Bezug<br />

genommen. Die Überprüfung des Urteils aufgr<strong>und</strong> der erhobenen Sachrügen hat keinen die Angeklagten belastenden<br />

Rechtsfehler ergeben.<br />

a) Zutreffend hat das Landgericht das Betreiben des "Z."-Boards durch den Angeklagten N. <strong>und</strong> des "S."-Boards<br />

durch beide Angeklagte - jeweils nebst den dazugehörigen Chats - als bandenmäßige Verbreitung kinderpornographischer<br />

Schriften in der Variante des öffentlichen Zugänglichmachens (§ 184b Abs. 1 Nr. 2 Var. 4, Abs. 3 Alt. 2<br />

<strong>StGB</strong>) gewertet. Ein solches Zugänglichmachen liegt in der Zurverfügungstellung einer Plattform, die dem Einstellen<br />

von Dateien im Internet dient, wobei die Möglichkeit des Lesezugriffs genügt (vgl. Gercke, Rechtswidrige Inhalte im<br />

Internet S. 42; König, Kinderpornographie im Internet Rn. 227; Kudlich JZ 2002, 310, 311 f.; Lindemann/Wachsmuth<br />

JR 2002, 206, 208 f.; Hörnle MünchKomm-<strong>StGB</strong> 2. Aufl. § 184b Rn. 23; Perron/Eisele in Schönke/Schröder<br />

28. Aufl. § 184b Rn. 6). Nichts anderes gilt für das Bereitstellen entsprechender Links, wobei es nach<br />

Auffassung des Senats ohne Belang ist, ob das Zugänglichmachen durch das Posten eines Links auf eine kinderpornografische<br />

Datei erfolgt (so auch Hilgendorf/Frank/Valerius, Computer- <strong>und</strong> Internetstrafrecht Rn. 399) oder ob -<br />

wie hier in Einzelfällen - die Zieladresse durch Verändern von Buchstaben aus Sicherheitsgründen geringfügig verändert<br />

<strong>und</strong> von den Nutzern nach Weisung manuell eingegeben wird.<br />

aa) Der Angeklagte N. hat durch seine Funktion als Moderator <strong>und</strong> Ideengeber im "Z."-Board an dem Betrieb der<br />

Internetplattform mitgewirkt <strong>und</strong> auf diese Weise dazu beigetragen, dass den Nutzern das Einstellen von <strong>und</strong> der<br />

126


Zugriff auf kinderpornographische Dateien ermöglicht wurden. Bei dem "S."-Board haben beide Angeklagte dies<br />

durch ihre Tätigkeit als Administratoren bewirkt.<br />

bb) Das Zugänglichmachen erfolgte bei beiden Boards öffentlich, da einem größeren, in seiner Zahl <strong>und</strong> Zusammensetzung<br />

unbestimmten Personenkreis die Möglichkeit der Kenntnisnahme eröffnet wurde. Bei dem "Z."- Board war<br />

zunächst jedermann die Möglichkeit der Kenntnisnahme der Dateien eröffnet, die im uneingeschränkt zugänglichen<br />

Bereich des "Z."- Boards gepostet wurden. Darüber hinaus wurden der übrige Bereich des "Z."-Boards sowie der<br />

gesamte Bereich des "S."-Boards, der nur Mitgliedern zugänglich war, die - graduell abgestuft - durch das eigene<br />

Posten bestimmter kinderpornographischer Dateien eine besondere Zugangsberechtigung zu diesen Bereichen erlangt<br />

hatten, i.S.v. § 184b Abs. 1 Nr. 2 Var. 4 <strong>StGB</strong> öffentlich zugänglich gemacht. Der Gesetzgeber ist bei der Neufassung<br />

des § 184b <strong>StGB</strong> durch das Sexualdelikteänderungsgesetz vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I 3007) davon<br />

ausgegangen, dass ein öffentliches Zugänglichmachen im Rahmen geschlossener Benutzergruppen mit bestimmten<br />

Zugangssicherungen bei zwei oder wenig mehr Personen nicht vorliege (BT-Drs. 15/350 S. 20 f.). Von dieser Einschränkung<br />

ersichtlich nicht erfasst werden Fälle, in denen - wie hier - ein professionell organisierter Kinderpornoring<br />

im Internet eine Tauschbörse mit mehreren tausenden Zugriffen pro Tag <strong>und</strong> vielen h<strong>und</strong>ert anonymen pädophilen<br />

Mitgliedern unterhält, wobei das einzige Zugangshindernis das eigene Posten kinderpornografischer Dateien ist.<br />

Ein öffentliches Zugänglichmachen von kinderpornografischem Material liegt deshalb vor, wenn der Zugang nicht<br />

auf einen dem Anbieter überschaubaren kleinen Personenkreis beschränkt werden kann, es sich vielmehr um einen<br />

anonymen, nicht überschaubaren Benutzerkreis handelt (so auch Fischer 59. Aufl. § 184b Rn. 10). Sowohl bei dem<br />

"Z."-Board als auch bei dem "S."-Board war der Kreis der Mitglieder für die Angeklagten <strong>und</strong> ihre Mittäter nicht<br />

überschaubar <strong>und</strong> nicht mehr kontrollierbar. Das "Z."-Board hatte bis zu 4.000 Zugriffe pro Tag zu verzeichnen (UA<br />

S. 32), was auf eine entsprechend große Mitgliederzahl schließen lässt. Das "S."-Board umfasste zuletzt 476 anonyme<br />

Mitglieder. Zu keinem anderen Ergebnis gelangt eine in der Literatur vertretene, einschränkende Auffassung,<br />

geschlossene Benutzergruppen seien nur dann öffentlich, wenn jeder ohne größere Schwierigkeiten beitreten könne<br />

bzw. nur Scheinhindernisse, wie etwa das Erfordernis eines Passwortes, das automatisch an die angegebene<br />

Mailadresse versandt werde, bestünden (Gercke, Rechtswidrige Inhalte im Internet S. 69; Hilgendorf/Frank/Valerius,<br />

Computer- <strong>und</strong> Internetstrafrecht Rn. 408; Lindemann/Wachsmuth JR 2002, 206, 208; Hörnle in MünchKomm-<br />

<strong>StGB</strong> 2. Aufl. § 184b Rn. 23; Perron/Eisele in Schönke/Schröder 28. Aufl. § 184b Rn. 6). Das Posten einer kinderpornografischen<br />

Datei als Zugangsvoraussetzung stellt letztlich nur ein bloßes Scheinhindernis für pädophile Nutzer<br />

dar, die regelmäßig bereits im Besitz entsprechender Dateien sind oder sich diese beschaffen können.<br />

b) Zutreffend hat das Landgericht weiter angenommen, dass das eigene Posten von Links auf kinderpornographische<br />

Dateien in den zu dem "S."-Board gehörenden Chats den Tatbestand des bandenmäßigen Unternehmens des Drittbesitzverschaffens<br />

kinderpornographischer Schriften (§ 184b Abs. 2, Abs. 3 Alt. 2 <strong>StGB</strong>) erfüllt.<br />

aa) Das Unternehmen des Drittbesitzverschaffens an einer kinderpornographischen Datei erfasst alle mit der Besitzübertragung<br />

<strong>und</strong> -begründung verb<strong>und</strong>enen Aktivitäten, auch wenn diese sich noch im Versuchsstadium befinden (§<br />

11 Nr. 6 <strong>StGB</strong>). Soweit im Übersenden von Links auf kinderpornographische Dateien noch kein Unternehmen des<br />

Besitzverschaffens i.S.v. § 184b Abs. 2 <strong>StGB</strong> gesehen wird (vgl. Hilgendorf/Frank/Valerius, Computer- <strong>und</strong> Internetstrafrecht<br />

Rn. 421; Hörnle in MünchKomm-<strong>StGB</strong> 2. Aufl. § 184b Rn. 30; Perron/Eisele in Schönke/Schröder<br />

<strong>StGB</strong> 28. Aufl. § 184b Rn. 10; Schreibauer, Pornographieverbot S. 310; a.A. Matzky ZRP 2003, 167, 168), folgt<br />

dem der Senat nicht.<br />

bb) Das Übersenden eines Links zielt darauf, dem Nutzer Besitz an dem kinderpornografischen Material zu verschaffen.<br />

Besitz an einer kinderpornographischen Datei erlangt, wer die Verfügungsgewalt über das Speichermedium hat,<br />

auf dem diese sich befindet (vgl. König, Kinderpornografie im Internet Rn. 250; Schreibauer, Pornographieverbot S.<br />

309). Dateien werden bei ihrem Aufruf im Internet regelmäßig im Cache-Speicher der Festplatte gespeichert. Mit<br />

diesem Speichern einer Datei im Cache-Speicher erlangt der Nutzer hieran Besitz - sofern er sich des Vorhandenseins<br />

dieser Daten bewusst ist - da es ihm möglich ist, diese jederzeit wieder aufzurufen, solange sie nicht manuell<br />

oder systembedingt automatisch gelöscht werden (BGH NStZ 2007, 95; vgl. auch Gercke, Praxishandbuch Internetstrafrecht<br />

Rn. 332; Hilgendorf/Frank/Valerius, Computer- <strong>und</strong> Internetstrafrecht Rn. 419; König, Kinderpornografie<br />

im Internet Rn. 250; Hörnle in MünchKomm-<strong>StGB</strong> 2. Aufl. § 184b Rn. 38 f.; Schreibauer, Pornographieverbot S.<br />

309). Drittbesitzverschaffen setzt zwar gr<strong>und</strong>sätzlich - in Abgrenzung zum eigenen Sichverschaffen des Nutzers -<br />

voraus, dass die Handlung des Täters direkt <strong>und</strong> unmittelbar auf die Besitzverschaffung des Dritten gerichtet ist.<br />

Bedarf es aber - wie hier - nur noch einer geringfügigen Mitwirkungshandlung des Empfängers selbst, der lediglich<br />

den Link anklicken muss, um die tatsächliche Herrschaft über die kinderpornografischen Dateien zu erlangen, <strong>und</strong> ist<br />

aufgr<strong>und</strong> der gerade auf den Austausch <strong>und</strong> die Übermittlung solcher Daten gerichtete Kommunikation in einem<br />

Chat mit einer alsbaldigen Inanspruchnahme des Downloadangebots zu rechnen, ist es ohne Bedeutung, dass der<br />

127


letzte Schritt zur eigentlichen Besitzerlangung in der Hand des Nutzers liegt. Ob dies auch so zu sehen wäre, wenn<br />

statt eines Links die selbst in den Browser einzugebende Adresse für kinderpornografische Dateien in den Chat eingestellt<br />

wird, braucht der Senat an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Danach bedeutet es für das Unternehmen des<br />

Drittbesitzverschaffens keinen Unterschied, ob der Täter dem Nutzer die Daten etwa per E-Mail mit entsprechendem<br />

Anhang (dazu vgl. Hilgendorf/Frank/Valerius, Computer- <strong>und</strong> Internetstrafrecht Rn. 421; Fischer <strong>StGB</strong> 59. Aufl. §<br />

184b Rn. 15; Hörnle in MünchKomm-<strong>StGB</strong> 2. Aufl. § 184b Rn. 30) übermittelt oder ob er diesem die Möglichkeit<br />

des Zugriffs auf diese - wie vorliegend - durch Übermitteln eines anzuklickenden Links verschafft hat. Auch für die<br />

Tathandlung des Verbreitens i.S.v. § 184b Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> macht es nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

(BGHSt 47, 55, 59 f.) keinen rechtlich relevanten Unterschied, ob der Anbieter dem Nutzer die Dateien<br />

explizit zusendet (Upload) oder der Nutzer diese durch Aktivieren eines Links anfordert (Download). Die Angeklagten,<br />

denen angesichts ihrer speziellen Computerkenntnisse <strong>und</strong> ihrer mehrjährigen Erfahrung im Aufbau kinderpornographischer<br />

Seiten im Internet die Speichervorgänge in den Cache-Speichern bekannt waren, haben nach alledem<br />

mit der Übermittlung der Links nach ihrer Vorstellung alles Erforderliche getan <strong>und</strong> es damit unternommen, den<br />

Nutzern Besitz hieran zu verschaffen.<br />

<strong>StGB</strong> § 185 Nicht jede sexuell motivierte Handlung (Begrapschen) ist auch Ehrverletzung<br />

BGH, Beschl. v. 16.02.2012 - 3 StR 13/12 - NStZ-RR 2012, 206<br />

Zur Auslegung des § 185 <strong>StGB</strong>: In einer sexuell motivierten Handlung allein kann regelmäßig keine<br />

ehrverletzende K<strong>und</strong>gabe von Missachtung gesehen werden.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Strals<strong>und</strong> vom 14. Oktober 2011 wird das<br />

Verfahren nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt.<br />

2. Die Kosten des Verfahrens fallen der Staatskasse zur Last. Ihr werden die Hälfte der dem Angeklagten entstandenen<br />

notwendigen Auslagen auferlegt.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beleidigung zur Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Von einem<br />

weiteren Tatvorwurf hat es ihn freigesprochen. Nach den Feststellungen näherte sich der seit dem Jahr 2000 in einem<br />

psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Angeklagte einer Mitpatientin vollständig bekleidet von hinten, drückte<br />

sein Becken gegen ihr Gesäß <strong>und</strong> sagte "Hups, angedockt !". Der Anstoß war so fest, dass die Geschädigte das nicht<br />

erigierte Geschlechtsteil des Angeklagten spürte <strong>und</strong> einige Schritte nach vorne machen musste, um die Kraft des<br />

Stoßes aufzufangen. Mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet <strong>und</strong> die Verletzung sachlichen Rechts<br />

rügt, wendet sich der Angeklagte gegen seine Verurteilung. Gegen den Schuldspruch bestehen rechtliche Bedenken.<br />

In einer sexuell motivierten Handlung allein kann regelmäßig keine ehrverletzende K<strong>und</strong>gabe von Missachtung<br />

gesehen werden. Ein Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung erfüllt nur dann den Tatbestand der Beleidigung,<br />

wenn nach den gesamten Umständen in dem Verhalten des Täters zugleich eine von ihm gewollte herabsetzende<br />

Bewertung des Opfers zu sehen ist (BGH, Beschluss vom 12. August 1992 - 3 StR 318/92, BGHR <strong>StGB</strong> § 185 Ehrverletzung<br />

4). Dass dies der Fall war, hat das Landgericht nicht hinreichend dargelegt, erscheint aber nicht völlig<br />

ausgeschlossen. Denkbar wäre auch eine Verurteilung des Angeklagten wegen Nötigung (§ 240 <strong>StGB</strong>). Der Senat<br />

hat das Verfahren mit Zustimmung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> des Angeklagten nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt.<br />

Eine Zurückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung erscheint nicht sachgerecht, da selbst im Falle einer<br />

erneuten Verurteilung die Schuld des seit über elf Jahren in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten<br />

Angeklagten sehr gering ist <strong>und</strong> ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung nicht besteht. Die Kostenentscheidung<br />

beruht auf § 464 Abs. 1 <strong>und</strong> 2, § 467 Abs. 1 <strong>und</strong> 4 StPO.<br />

128


<strong>StGB</strong> § 211 - Mordversuch, Tritte gegen den Kopf<br />

BGH, Beschl. v. 31.01.2012 - 3 StR 453/11 –NStZ-RR 2012, 169, Anm. Jünemann FD-StrafR 2012, 329511<br />

Ein versuchter Mord durch wuchtige Tritte mit den Füßen gegen den Kopf ist regelmäßig mit roher<br />

<strong>und</strong> brutaler Gewalt verb<strong>und</strong>en. Die strafschärfende Erwägung, der Angeklagte habe sich zunächst<br />

nicht durch einen Dritten von der Fortsetzung seiner Tritte abhalten lassen, ist rechtsfehlerhaft,<br />

wenn ihm dadurch vorgeworfen wird, vom Versuch nicht freiwillig zurückgetreten zu sein.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 8. September 2011 mit den<br />

Feststellungen aufgehoben<br />

a) im Einzelstrafausspruch zur Tat 1 der Urteilsgründe,<br />

b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe <strong>und</strong><br />

c) im Ausspruch über die Dauer des Vorwegvollzugs der Strafe vor Vollziehung der Maßregel. Im Umfang der Aufhebung<br />

wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die<br />

dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung<br />

(Tat 1), wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Hausfriedensbruch <strong>und</strong> wegen vorsätzlichen Fahrens<br />

ohne Fahrerlaubnis zur Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt, seine Unterbringung in<br />

einer Entziehungsanstalt angeordnet <strong>und</strong> bestimmt, dass ein Jahr <strong>und</strong> drei Monate der Freiheitsstrafe vor Vollziehung<br />

der Maßregel vollstreckt werden. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren<br />

beanstandet <strong>und</strong> die Verletzung sachlichen Rechts rügt.<br />

Die auf die Sachrüge gestützte Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg; im Übrigen ist sie<br />

aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Der<br />

Strafausspruch zur Tat 1 der Urteilsgründe hat keinen Bestand.<br />

1. Nach den Feststellungen zu dieser Tat wollte der Angeklagte den Geschädigten aus Wut abstrafen, weil dieser ihn<br />

einige Zeit zuvor angespuckt <strong>und</strong> ihm eine Ohrfeige gegeben hatte. Er schlug ihm von hinten mit der Faust gegen<br />

den Kopf, wobei er dessen Arglosigkeit bewusst ausnutzte. Anschließend trat er mit Turnschuhen an den Füßen<br />

mindestens sieben Mal wuchtig auf den Kopf des Tatopfers ein <strong>und</strong> nahm dabei dessen möglichen Tod billigend in<br />

Kauf. Die - sachverständig beratene - Strafkammer ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte durch das Zusammenwirken<br />

seiner Alkoholisierung (Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit von 1,89 ‰) <strong>und</strong> einer massiven affektiven<br />

Erregung nicht ausschließbar in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert war (§ 21 <strong>StGB</strong>). In der Strafzumessung<br />

hat es zu Lasten des Angeklagten gewertet, dass er mit einem erschreckenden Ausmaß von roher <strong>und</strong> brutaler<br />

Gewalt gegen sein Opfer vorging.<br />

2. Diese Strafzumessungserwägung begegnet unter den hier gegebenen Umständen durchgreifenden rechtlichen<br />

Bedenken; denn die Art der Tatausführung darf einem Angeklagten nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last<br />

gelegt werden, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar ist, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht oder<br />

nur eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt (BGH, Beschluss vom 29. Juni 2000 - 1<br />

StR 223/00, StV 2001, 615; Urteil vom 17. Juli 2003 - 4 StR 105/03, NStZ-RR 2003, 294; Beschluss vom 8. Oktober<br />

2002 - 5 StR 365/02, NStZ-RR 2003, 104; Beschluss vom 16. Juli 2003 - 1 StR 251/03, NStZ-RR 2003, 362; Beschluss<br />

vom 29. November 2011 - 3 StR 375/11; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 46 Rn. 32). Damit, ob dem Angeklagten<br />

die ihm vorgeworfene "rohe <strong>und</strong> brutale Gewalt" seines Vorgehens trotz der Umstände, die seine nicht ausschließbar<br />

erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit begründen, uneingeschränkt vorwerfbar ist, setzt sich das Urteil indes<br />

nicht auseinander. Sie kann auch Ausdruck der verminderten Schuldfähigkeit gewesen sein. Die Aufhebung des<br />

Einzelstrafausspruchs zur Tat 1 der Urteilsgründe hat die Aufhebung der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe <strong>und</strong> der<br />

Entscheidung über die Dauer des Vorwegvollzugs der Freiheitsstrafe vor der Maßregel zur Folge.<br />

3. Der Senat weist darauf hin, dass bei der Strafzumessung sorgfältig auf das Verbot der Doppelverwertung von<br />

Tatbestandsmerkmalen (§ 46 Abs. 3 <strong>StGB</strong>) zu achten ist. Ein versuchter Mord durch wuchtige Tritte mit den Füßen<br />

gegen den Kopf ist regelmäßig mit roher <strong>und</strong> brutaler Gewalt verb<strong>und</strong>en. Die strafschärfende Erwägung, der Ange-<br />

129


klagte habe sich zunächst nicht durch einen Dritten von der Fortsetzung seiner Tritte abhalten lassen, ist rechtsfehlerhaft,<br />

wenn ihm dadurch vorgeworfen wird, vom Versuch nicht freiwillig zurückgetreten zu sein (vgl. Fischer,<br />

<strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 46 Rn. 76 f.).<br />

<strong>StGB</strong> § 211, 212 - "Hemmschwellentheorie" bei Tötungsdelikten<br />

BGH, Urt. v. 22.03.2012 - 4 StR 558/11<br />

LS: Zur "Hemmschwellentheorie" bei Tötungsdelikten.<br />

Der 4. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 22. März 2012 für Recht erkannt:<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 17. Juni 2011 mit den<br />

zugehörigen Feststellungen aufgehoben,<br />

a) soweit der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist,<br />

b) in den Aussprüchen über die Gesamtfreiheitsstrafe, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt<br />

<strong>und</strong> den Vorwegvollzug eines <strong>Teil</strong>s der Gesamtstrafe vor der Unterbringung.<br />

2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,<br />

a) soweit der Angeklagte wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs verurteilt worden ist,<br />

b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe <strong>und</strong><br />

c) im gesamten Ausspruch über die verhängten Maßnahmen.<br />

3. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere<br />

als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

4. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung <strong>und</strong> fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs<br />

zu der Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> einem Monat verurteilt, seine Unterbringung in einer<br />

Entziehungsanstalt <strong>und</strong> den Vorwegvollzug eines <strong>Teil</strong>s der Gesamtstrafe angeordnet sowie Maßnahmen nach §§ 69,<br />

69a <strong>StGB</strong> verhängt. Hiergegen wenden sich die Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der Angeklagte mit ihren jeweils auf die<br />

Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen. Die Staatsanwaltschaft hat ihr Rechtsmittel nach<br />

Ablauf der Revisionsbegründungsfrist mit Einzelausführungen zur Verneinung des Tötungsvorsatzes <strong>und</strong> zur Anordnung<br />

der Unterbringung in dem angefochtenen Urteil näher begründet; im danach verbleibenden Umfang hat ihre<br />

Revision Erfolg. Der Angeklagte erzielt mit seinem Rechtsmittel einen <strong>Teil</strong>erfolg.<br />

A. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:<br />

I. Nach den Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen war der Angeklagte vor den hier abgeurteilten Taten<br />

u.a. bereits wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten: Am 8. Juni 2009 ordnete das Amtsgericht Saarbrücken<br />

gegen ihn wegen gefährlicher Körperverletzung eine Erziehungsmaßregel <strong>und</strong> ein Zuchtmittel an. Der Angeklagte<br />

hatte im Rahmen einer tätlichen Auseinandersetzung zweimal mit einem Schraubenzieher in den linken Mittelbauch<br />

des Geschädigten gestochen. Wegen einer etwa sechs Wochen nach dieser Ahndung begangenen (ersichtlich: vorsätzlichen)<br />

Körperverletzung verhängte das Amtsgericht Saarbrücken gegen ihn mit Strafbefehl vom 2. Oktober<br />

2009 eine Geldstrafe in Höhe von 80 Tagessätzen. Er hatte seine damalige Lebensgefährtin so lange gewürgt, bis<br />

diese Angst hatte zu ersticken; von ihr hatte er erst abgelassen, als sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.<br />

Sechs Tage vor dem hier abgeurteilten Angriff auf den Nebenkläger (nachfolgend zu Ziff. III.) stellte die Staatsanwaltschaft<br />

Saarbrücken ein gegen den Angeklagten geführtes Ermittlungsverfahren mangels öffentlichen Interesses<br />

ein; der Angeklagte hatte einem Besucher der Saarbrücker Diskothek „ “ angedroht, er werde ihn „abstechen, wenn<br />

er herauskomme“. Bei der konkreten Strafzumessung teilt das Landgericht mit, dass der Angeklagte sich darauf<br />

berufen habe, in sämtlichen Fällen von den Zeugen bewusst der Wahrheit zuwider belastet worden zu sein.<br />

II. Am 12. Oktober 2010 befuhr der Angeklagte mit einem entliehenen <strong>und</strong> abredewidrig weiter genutzten Pkw<br />

Smart gegen 5.45 Uhr öffentliche Straßen in Saarbrücken, u.a. die Straße in Saarbrücken-St. Johann. Infolge seiner<br />

alkoholischen Beeinflussung – er wies bei der Tat einen Blutalkoholgehalt von mindestens 1,35 ‰ auf – verkannte<br />

er den Straßenverlauf <strong>und</strong> überfuhr ein Stopp-Schild. Es kam beinahe zu einem Zusammenstoß mit dem Kleinbus<br />

des V., der die vorfahrtberechtigte Straße befuhr. An der Kreuzung Straße/ straße stieß der Angeklagte an einen<br />

eisernen Begrenzungspfosten <strong>und</strong> riss diesen um; er kam mit dem von ihm gefahrenen, schwer beschädigten Fahrzeug<br />

erst auf einem angrenzenden Schulhof zum Stehen. Seine Fahrunsicherheit hätte er bei gewissenhafter Prüfung<br />

vor Antritt der Fahrt erkennen können.<br />

130


III. In der Nacht zum 18. November 2010 beobachtete der Angeklagte in der Saarbrücker Diskothek „ “ einen Streit<br />

zwischen zwei ihm nicht näher bekannten Personen. Als der Nebenkläger diesen Streit schlichten wollte, mischte<br />

sich auch der Angeklagte in die Auseinandersetzung ein <strong>und</strong> geriet mit dem Nebenkläger in Streit. Es kam zu wechselseitigen<br />

Beleidigungen; der Angeklagte schlug dem Nebenkläger ins Gesicht. Anschließend trennten die Türsteher<br />

die Streitenden. Etwa 20 Minuten später lebte die Auseinandersetzung vor der Diskothek erneut auf; nach weiteren<br />

wechselseitigen Beleidigungen schlug nunmehr der Nebenkläger dem Angeklagten ins Gesicht. Auch dieses Mal<br />

trennten die Türsteher die Streitenden. Nachdem man sich kurzzeitig in unterschiedliche Richtungen entfernt hatte,<br />

setzte der Nebenkläger dem Angeklagten nach <strong>und</strong> schlug ihm ein weiteres Mal ins Gesicht; im Rahmen der sich<br />

anschließenden Rangelei blieb der Angeklagte der körperlich Unterlegene. Ein drittes Mal trennten die herbeigeeilten<br />

Türsteher die Streitenden. Der Angeklagte entfernte sich. Der Nebenkläger begab sich in Begleitung eines Fre<strong>und</strong>es<br />

zu einem Taxistand, an dem sich eine Gruppe von „Nachtschwärmern“ versammelt hatte. Nach etwa 15 Minuten<br />

kam der Angeklagte plötzlich hinter einer Ecke hervor. Er lief unmittelbar auf den Nebenkläger zu <strong>und</strong> stach seinem<br />

nichts ahnenden Opfer sofort von seitlich hinten kommend in den Rücken. Mit den Worten „Verreck‘, du Hurensohn“<br />

rammte er ihm ein 22 cm langes doppelklingiges Messer mit einer Klingenlänge von 11 cm derart heftig in<br />

den Rücken, dass die achte Rippe des Opfers durchtrennt wurde <strong>und</strong> die Klinge anschließend noch in die Lunge<br />

eindrang. Der Nebenkläger sackte auf dem Boden zusammen. Es entwickelten sich tumultartige Zustände; der Begleiter<br />

des Nebenklägers brachte den Angeklagten zu Boden <strong>und</strong> hielt ihn bis zum Eintreffen der Polizei fest. Die<br />

Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit betrug beim Angeklagten maximal 1,58 ‰. Der Nebenkläger erlitt einen Hämatopneumothorax;<br />

es bestand akute Lebensgefahr. Ohne eine sofort durchgeführte Notoperation wäre er mit an<br />

Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verstorben. Er leidet nach wie vor unter erheblichen physischen <strong>und</strong> psychischen<br />

Beeinträchtigungen.<br />

B. Die Revision des Angeklagten<br />

I. Der Angeklagte hat mit seinem Revisionsangriff Erfolg, soweit er sich gegen seine Verurteilung wegen fahrlässiger<br />

Gefährdung des Straßenverkehrs nach § 315 c Abs. 1 Nr. 1 a, Abs. 3 Nr. 2 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> seine Unterbringung in<br />

einer Entziehungsanstalt wendet.<br />

1. Die Feststellungen des Landgerichts belegen die für die Annahme einer Tat nach § 315 c Abs. 1 Nr. 1 a, Abs. 3<br />

Nr. 2 <strong>StGB</strong> vorausgesetzte Herbeiführung einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder<br />

eine fremde Sache von bedeutendem Wert nicht. Nach gefestigter Rechtsprechung muss die Tathandlung über die ihr<br />

innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt haben, in der - was nach allgemeiner<br />

Lebenserfahrung auf Gr<strong>und</strong> einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist - die Sicherheit einer bestimmten<br />

Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt<br />

wurde oder nicht (BGH, Urteile vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131 f., zu § 315 c <strong>StGB</strong>, <strong>und</strong> vom<br />

4. September 1995 – 4 StR 471/95, NJW 1996, 329 f., zu § 315 b <strong>StGB</strong>; vgl. weiter SSW-Ernemann, <strong>StGB</strong>, § 315 c<br />

Rn. 22 ff.). Da für den Eintritt des danach erforderlichen konkreten Gefahrerfolgs das vom Angeklagten geführte<br />

fremde Fahrzeug nicht in Betracht kommt (vgl. BGH, Urteil vom 28. Oktober 1976 – 4 StR 465/76, BGHSt 27, 40;<br />

Beschluss vom 19. Januar 1999 – 4 StR 663/98, NStZ 1999, 350, 351), auch der Verkehrswert <strong>und</strong> die Höhe des<br />

Schadens an dem Begrenzungspfosten nicht festgestellt sind (vgl. OLG Stuttgart DAR 1974, 106, 107; OLG Jena<br />

OLGSt § 315 c <strong>StGB</strong> Nr. 16; zur maßgeblichen Wertgrenze s. BGH, Beschluss vom 28. September 2010 – 4 StR<br />

245/10, NStZ 2011, 215), kommt es auf die Begegnung mit dem Kleinbus des V. an. Nach den in der Rechtsprechung<br />

des Senats entwickelten Maßstäben genügen die hierauf bezogenen Feststellungen des Landgerichts den Anforderungen<br />

zur Darlegung einer konkreten Gefahr nicht. Einen Verkehrsvorgang, bei dem es zu einem "Beinahe-<br />

Unfall" gekommen wäre - also ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt,<br />

"das sei noch einmal gut gegangen" (Senat, Urteile vom 30. März 1995 <strong>und</strong> vom 4. September 1995, jew. aaO) -, hat<br />

das Schwurgericht nicht mit Tatsachen belegt. Dass sich beide Fahrzeuge beim Querverkehr in enger räumlicher<br />

Nähe zueinander bef<strong>und</strong>en haben, genügt für sich allein nicht. Insbesondere ergeben die bisher getroffenen Feststellungen<br />

nicht, dass es dem Angeklagten <strong>und</strong> V. etwa nur auf Gr<strong>und</strong> überdurchschnittlich guter Reaktion sozusagen im<br />

allerletzten Moment gelungen ist, einer sonst drohenden Kollision durch Ausweichen zu begegnen.<br />

2. Die Aufhebung des Schuldspruchs wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs entzieht der hierwegen<br />

verhängten Einzelstrafe, der Gesamtstrafe <strong>und</strong> den Maßnahmen nach §§ 69, 69 a <strong>StGB</strong> die Gr<strong>und</strong>lage.<br />

3. Die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 <strong>StGB</strong> hält rechtlicher Nachprüfung<br />

nicht stand. Das Landgericht ist „vollumfänglich“ der psychiatrischen Sachverständigen gefolgt, welche die negative<br />

Gefahrenprognose mit „seiner (des Angeklagten) offenk<strong>und</strong>igen sich steigernden Neigung zu körperlichen Übergriffen“<br />

begründet hat. Im Rahmen der konkreten Strafzumessung teilt das Schwurgericht mit, dass es, nachdem der<br />

Angeklagte behauptet hatte, früherer Aggressionsdelikte bewusst wahrheitswidrig beschuldigt worden zu sein, „die<br />

131


Anträge der Verteidigung auf Sachverhaltsaufklärung aller vorheriger Verfahren zurückgewiesen“ <strong>und</strong> „lediglich die<br />

Warnfunktion der beiden Vorstrafen“ berücksichtigt hat. Danach findet die die Prognose tragende Erwägung in den<br />

getroffenen Feststellungen keine ausreichende Gr<strong>und</strong>lage.<br />

II. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum<br />

Nachteil des Angeklagten ergeben.<br />

III.<br />

1. Der nunmehr zur Entscheidung berufene Tatrichter wird zunächst die Verkehrssituation, in der sich die beiden<br />

beteiligten Fahrzeuge bei ihrer Annäherung im Vorfallszeitpunkt befanden, näher aufzuklären haben. Auch wenn an<br />

die diesbezüglichen Feststellungen im Urteil keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen (vgl. Senat, Urteil<br />

vom 30. März 1995, aaO), wird sich der Tatrichter um nähere Ermittlung der von beiden Fahrzeugen im Vorfallszeitpunkt<br />

gefahrenen Geschwindigkeiten, ihrer Entfernung zueinander, zur Beschaffenheit des Straßenverlaufs<br />

<strong>und</strong> der Kreuzung sowie der am Vorfallsort bestehenden Ausweichmöglichkeiten zu bemühen <strong>und</strong> das Ergebnis in<br />

einer Weise im Urteil darzulegen haben, die dem Revisionsgericht eine Nachprüfung ermöglicht, ob eine - wie beschrieben<br />

- konkrete Gefahr im Sinne eines "Beinahe-Unfalls" bereits vorlag.<br />

2. Der neue Tatrichter wird auch die Einwendungen der revisionsführenden Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

gegen die Unterbringungsanordnung zu berücksichtigen haben.<br />

C. Die Revision der Staatsanwaltschaft<br />

Das vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertretene Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat in vollem Umfang Erfolg.<br />

I. Das Rechtsmittel ist zulässig.<br />

1. Zwar hat die Staatsanwaltschaft entgegen § 344 Abs. 1 StPO innerhalb der Revisionsbegründungsfrist (§ 345 Abs.<br />

1 Satz 2 StPO) keinen Revisionsantrag gestellt. Sie hat bis zu diesem Zeitpunkt lediglich die bereits in ihrer Einlegungsschrift<br />

vorgebrachte allgemeine Sachrüge erhoben. Diese – auch Nr. 156 Abs. 2 RiStBV widersprechende –<br />

Verfahrensweise ist in dem hier gegebenen Einzelfall aber unschädlich. Freilich hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof wiederholt<br />

Revisionen der Staatsanwaltschaft, die ohne Antragstellung lediglich mit der allgemeinen Sachrüge begründet<br />

waren, für unzulässig gehalten. Dies betraf jedoch Strafverfahren, in denen einem (BGH, Beschluss vom 21. Mai<br />

2003 – 5 StR 69/03, bei Becker NStZ-RR 2004, 228) oder mehreren Angeklagten (BGH, Beschluss vom 7. November<br />

2002 – 5 StR 336/02, NJW 2003, 839) eine Vielzahl von Straftaten zur Last gelegt oder in denen der Angeklagte<br />

teilweise freigesprochen worden war <strong>und</strong> die Angriffsrichtung des Rechtsmittels bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist<br />

unklar blieb (BGH, Beschluss vom 5. November 2009 – 2 StR 324/09, NStZ-RR 2010, 288). So verhält<br />

es sich hier nicht: Gegenstand des von der Staatsanwaltschaft angefochtenen Urteils sind lediglich zwei Taten; in<br />

der Erhebung der uneingeschränkten allgemeinen Sachrüge ist daher die Erklärung der revisionsführenden Staatsanwaltschaft<br />

zu sehen, dass das Urteil insgesamt angefochten werde (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 344 Rn. 3<br />

m.w.N.).<br />

2. Nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist hat die Staatsanwaltschaft mit Schriftsatz vom 12. September 2011<br />

einen umfassenden Aufhebungsantrag gestellt. Mit ihren Einzelausführungen hat sie sodann jedoch lediglich gerügt,<br />

dass das Landgericht in dem oben unter A. III. geschilderten Fall zu Unrecht den Tötungsvorsatz des Angeklagten<br />

verneint hat; außerdem hat sie die Anordnung seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt beanstandet. Dies ist<br />

als <strong>Teil</strong>rücknahme gemäß § 302 Abs. 1 Satz 1 StPO zu werten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Mai 2005 – 5 StR<br />

86/05 <strong>und</strong> vom 6. Juli 2005 – 2 StR 131/05) <strong>und</strong> führt dazu, dass der Schuldspruch wegen fahrlässiger Gefährdung<br />

des Straßenverkehrs, die dieserhalb verhängte Einzelstrafe <strong>und</strong> die Maßnahmen nach §§ 69, 69 a <strong>StGB</strong> nicht (mehr)<br />

auf Revision der Staatsanwaltschaft zu überprüfen sind.<br />

II. In dem vorgenannten Umfang erweist sich das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft als begründet. Die Beweiswürdigung<br />

des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.<br />

1. Nach Auffassung des Schwurgerichts sprechen zwar nicht unerhebliche Gesichtspunkte für einen zumindest bedingten<br />

Tötungsvorsatz, nämlich insbesondere die erhebliche Wucht des von dem Ausspruch „Verreck‘, du Hurensohn“<br />

begleiteten Messerstichs. Dagegen stehe indes die Tatsache, dass der Angeklagte lediglich einen Stich ausgeführt<br />

habe <strong>und</strong> darüber hinaus auch nicht unerheblich alkoholisiert gewesen sei. „Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> unter<br />

Berücksichtigung der Hemmschwellentheorie sieht die Kammer im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten einen Tötungsvorsatz<br />

als nicht mit letzter Sicherheit erwiesen an.“<br />

2. Diese Beweiserwägungen halten – auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 12. Januar 2012 – 4 StR 499/11, m.w.N.) – rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Begründung,<br />

mit der das Landgericht meinte, dem Angeklagten nicht wenigstens bedingten Tötungsvorsatz nachweisen zu<br />

können, ist lückenhaft <strong>und</strong> teilweise widersprüchlich.<br />

132


a) Bedingt vorsätzliches Handeln setzt nach ständiger Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs voraus, dass der Täter<br />

den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich <strong>und</strong> nicht ganz fernliegend erkennt, ferner dass er ihn billigt<br />

oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet (BGH, Urteil vom<br />

9. Mai 1990 – 3 StR 112/90, BGHR <strong>StGB</strong> § 15 Vorsatz, bedingter 7 m.w.N.). Bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen<br />

liegt es nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen <strong>und</strong> - weil er mit<br />

seinem Handeln gleichwohl fortfährt - einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt (BGH, Beschluss vom 7. Juli<br />

1992 – 5 StR 300/92, NStZ 1992, 587, 588). Zwar können das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes<br />

gleichwohl im Einzelfall fehlen, so etwa, wenn dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, die sein Vorgehen<br />

zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, das Risiko der Tötung infolge einer psychischen Beeinträchtigung<br />

– z.B. Affekt, alkoholische Beeinflussung oder hirnorganische Schädigung (BGH, Beschluss vom 16. Juli<br />

1996 – 4 StR 326/96, StV 1997, 7; Schroth NStZ 1990, 324, 325) – zur Tatzeit nicht bewusst ist (Fehlen des Wissenselements)<br />

oder wenn er trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft <strong>und</strong> nicht nur vage auf ein<br />

Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut (Fehlen des Willenselements). Bei der erforderlichen Gesamtschau aller<br />

objektiven <strong>und</strong> subjektiven Tatumstände (vgl. BGH, Urteile vom 4. November 1988 – 1 StR 262/88, BGHSt 36, 1, 9<br />

f., vom 20. Dezember 2011 – VI ZR 309/10, WM 2012, 260, 262, <strong>und</strong> vom 21. Dezember 2011 – 1 StR 400/11) darf<br />

der Tatrichter den Beweiswert offensichtlicher Lebensgefährlichkeit einer Handlungsweise für den Nachweis eines<br />

bedingten Tötungsvorsatzes nicht so gering veranschlagen, dass auf eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen<br />

Beweisanzeichen verzichtet werden kann (BGH, Urteil vom 7. Juni 1994 – 4 StR 105/94, StV 1994, 654; vgl. zusammenfassend<br />

zuletzt BGH, Urteil vom 23. Februar 2012 – 4 StR 608/11 m.w.N.).<br />

b) Diese Prüfung lässt das Landgericht vermissen. Seinen knappen Ausführungen kann der Senat schon nicht die<br />

erforderliche Gesamtschau aller objektiven <strong>und</strong> subjektiven Tatumstände entnehmen. Es wird darüber hinaus nicht<br />

erkennbar, ob das Schwurgericht bereits Zweifel daran hatte, dass der Angeklagte den Eintritt des tatbestandlichen<br />

Erfolges als möglich <strong>und</strong> nicht ganz fernliegend erkannte, oder nur daran, dass er ihn billigte oder sich um des erstrebten<br />

Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung abfand.<br />

aa) Soweit die Alkoholisierung des Angeklagten angesprochen wird, könnte dies für Zweifel des Landgerichts auch<br />

am Wissenselement sprechen. Abgesehen davon jedoch, dass eine maximale Alkoholkonzentration von 1,58 ‰ bei<br />

dem zur Tatzeit trinkgewohnten Angeklagten keinen Anhalt für solche Zweifel begründet, leidet das angefochtene<br />

Urteil an dieser Stelle – wie der Generalstaatsanwalt in Saarbrücken zu Recht geltend macht – an einem inneren<br />

Widerspruch: Während die Alkoholisierung bei der Prüfung des Tötungsvorsatzes als „nicht unerheblich“ bezeichnet<br />

wird, geht das Schwurgericht im Zusammenhang mit § 64 <strong>StGB</strong> – in Übereinstimmung mit der gehörten Sachverständigen<br />

– von einer „lediglich geringe(n) Beeinträchtigung durch Alkohol“ aus. Auch bei der Prüfung verminderter<br />

Schuldfähigkeit gelangt das sachverständig beratene Landgericht „nicht zu der Annahme einer erheblichen Beeinflussung“<br />

des Angeklagten. Es legt auch nicht dar, wieso die den Stich begleitende Bemerkung überhaupt Raum für<br />

Zweifel daran lässt, dass der Angeklagte, dem die Lebensgefährlichkeit des Messerstichs bewusst war (§ 224 Abs. 1<br />

Nr. 5 <strong>StGB</strong>), die Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs erkannt hat. Insgesamt ergeben sich aus den bisherigen Feststellungen<br />

keine Anhaltspunkte, die die Annahme rechtfertigen könnten, eine psychische Beeinträchtigung habe dem<br />

Angeklagten die Erkenntnis einer möglichen tödlichen Wirkung seines in den oberen Rückenbereich zielenden, in<br />

hohem Maße lebensgefährlichen Angriffs verstellt (vgl. zur Allgemeink<strong>und</strong>igkeit dieses Umstands BGH, Urteil vom<br />

16. April 2008 – 2 StR 95/08 <strong>und</strong> zur Entbehrlichkeit medizinischen Detailwissens BGH, Urteil vom 13. Dezember<br />

2005 – 1 StR 410/05, NStZ 2006, 444, 445).<br />

bb) Die Annahme einer Billigung liegt nahe, wenn der Täter sein Vorhaben trotz erkannter Lebensgefährlichkeit<br />

durchführt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 28. Juli 2005 – 4 StR 109/05, NStZ-RR 2005, 372; Urteil vom 18.<br />

Oktober 2007 – 3 StR 226/07, NStZ 2008, 93 f.). Hierbei sind die zum Tatgeschehen bedeutsamen Umstände – insbesondere<br />

die konkrete Angriffsweise –, die psychische Verfassung des Täters bei der Tatbegehung sowie seine<br />

Motivation in die Beweiswürdigung mit einzubeziehen (vgl. BGH, Urteile vom 27. August 2009 – 3 StR 246/09,<br />

NStZ-RR 2009, 372, <strong>und</strong> vom 27. Januar 2011 – 4 StR 502/10, NStZ 2011, 699, 702). Nach ständiger Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist das Vertrauen auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolgs regelmäßig dann zu verneinen,<br />

wenn der vorgestellte Ablauf des Geschehens einem tödlichen Ausgang so nahe kommt, dass nur noch ein<br />

glücklicher Zufall diesen verhindern kann (BGH, Urteile vom 16. September 2004 – 1 StR 233/04, NStZ 2005, 92,<br />

vom 23. Juni 2009 – 1 StR 191/09, NStZ 2009, 629, 630, <strong>und</strong> vom 1. Dezember 2011 - 5 StR 360/11). Rechtlich<br />

tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte trotz der Lebensgefährlichkeit des Messerstichs ernsthaft <strong>und</strong><br />

nicht nur vage (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Oktober 1990 – 3 StR 332/90, BGHR <strong>StGB</strong> § 212 Abs. 1 Vorsatz,<br />

bedingter 24) darauf vertraut haben könnte, der Nebenkläger würde nicht zu Tode kommen, hat das Landgericht<br />

nicht festgestellt <strong>und</strong> liegen bei dem Tatgeschehen auch fern (vgl. BGH, Urteile vom 6. März 1991 – 2 StR 333/90,<br />

133


NStE Nr. 27 zu § 212 <strong>StGB</strong>, <strong>und</strong> vom 18. Oktober 2006 – 2 StR 340/06, NStZ 2007, 150, 151). Entgegen der Meinung<br />

des Landgerichts spricht insbesondere das Unterlassen weiterer Angriffe nicht gegen die Billigung des Todes.<br />

Nach dem Messerstich sackte der – nach dem Gutachten des gerichtsmedizinischen Sachverständigen konkret lebensbedrohlich<br />

verletzte – Nebenkläger zu Boden; es ist schon nicht festgestellt, ob der Angeklagte davon ausging,<br />

ihn bereits tödlich verletzt zu haben, so dass es aus seiner Sicht weiterer Stiche nicht bedurfte (vgl. BGH, Urteil vom<br />

16. April 2008 – 2 StR 95/08). Außerdem brachte der Begleiter des Nebenklägers den Angeklagten mit Gewalt zu<br />

Boden <strong>und</strong> hielt ihn bis zum Eintreffen der Polizei fest; auch brach infolge der Tat ein Tumult aus. Danach liegt es<br />

nicht nahe, dass der Angeklagte überhaupt noch die Gelegenheit zu einem weiteren Messerstich auf sein am Boden<br />

liegendes Opfer hatte.<br />

cc) Soweit das Landgericht sich ergänzend auf eine „Hemmschwellentheorie“ berufen hat, hat es deren Bedeutung<br />

für die Beweiswürdigung verkannt. Es hat schon nicht mitgeteilt, was es darunter im Einzelnen versteht <strong>und</strong> in welchem<br />

Bezug eine solche „Theorie“ zu dem von ihm zu beurteilenden Fall stehen soll. Die bloße Erwähnung dieses<br />

Schlagworts wird vom Generalstaatsanwalt in Saarbrücken <strong>und</strong> vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt daher mit Recht als „pauschal“<br />

bzw. „formelhaft“ bezeichnet. Zwar hat auch der B<strong>und</strong>esgerichtshof immer wieder auf die „für Tötungsdelikte<br />

deutlich höhere Hemmschwelle“ hingewiesen (vgl. nur BGH, Urteil vom 7. Juni 1994 – 4 StR 105/94, StV 1994,<br />

654; abl. z.B. Brammsen JZ 1989, 71, 78; Fahl NStZ 1997, 392; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 212 Rn. 15 f.; Geppert<br />

Jura 2001, 55, 59; SSW-<strong>StGB</strong>/Momsen § 212 Rn. 12; Paeffgen, FS für Puppe, 791, 797 Fn. 25, 798 Fn. 30; NK-<br />

<strong>StGB</strong>/Puppe, 3. Aufl., § 212 Rn. 97 ff.; Rissing-van Saan, FS für Geppert, 497, 505 f., 510; Roxin, Strafrecht AT,<br />

Bd. I, 4. Aufl., § 12 Rn. 79 ff.; Münch-Komm<strong>StGB</strong>/Schneider § 212 Rn. 48 f.; SK-<strong>StGB</strong>/Sinn § 212 Rn. 35; Trück<br />

NStZ 2005, 233, 234 f.; Verrel NStZ 2004, 233 ff.; vgl. auch Altvater NStZ 2005, 22, 23), allerdings auch gemeint,<br />

in Fällen des Unterlassens bestünden „generell keine psychologisch vergleichbaren Hemmschwellen vor einem Tötungsvorsatz“<br />

(BGH, Urteil vom 7. November 1991 – 4 StR 451/91, NJW 1992, 583, 584; dazu Puppe NStZ 1992,<br />

576, 577: „Anfang vom Ende der Hemmschwellentheorie“). Für Fälle des positiven Tuns hat er an das Postulat einer<br />

Hemmschwelle anknüpfend weiter ausgeführt, dass selbst die offen zutage tretende Lebensgefährlichkeit zugefügter<br />

Verletzungen ein zwar gewichtiges Indiz, nicht aber einen zwingenden Beweisgr<strong>und</strong> für einen (bedingten) Tötungsvorsatz<br />

des Täters bedeute, der Tatrichter vielmehr gehalten sei, in seine Beweiserwägungen alle Umstände einzubeziehen,<br />

welche die Überzeugung von einem Handeln mit (bedingtem) Tötungsvorsatz in Frage stellen könnten<br />

(BGH, Beschlüsse vom 3. Dezember 1997 – 3 StR 569/97, NStZ-RR 1998, 101, vom 8. Mai 2001 – 1 StR 137/01,<br />

NStZ 2001, 475, 476, <strong>und</strong> vom 2. Februar 2010 – 3 StR 558/09, NStZ 2010, 511, 512); sachlich vergleichbar fordern<br />

andere Entscheidungen vom Tatrichter, immer auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Täter die Gefahr<br />

der Tötung nicht erkannt oder jedenfalls darauf vertraut habe, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten (BGH, Beschlüsse<br />

vom 8. Mai 2008 – 3 StR 142/08, NStZ 2009, 91, <strong>und</strong> vom 22. April 2009 – 5 StR 88/09, NStZ 2009, 503;<br />

Urteil vom 25. März 2010 – 4 StR 594/09 m.w.N.). Wieder andere Entscheidungen verlangen „eine eingehende<br />

Prüfung anhand aller Umstände des Einzelfalles“ (BGH, Urteil vom 8. März 2001 – 4 StR 477/00, StV 2001, 572;<br />

ähnlich bereits BGH, Beschluss vom 27. November 1975 – 4 StR 637/75, VRS 50, 94, 95). An den rechtlichen Anforderungen<br />

ändert sich indessen nichts, wenn die zur Annahme oder Verneinung bedingten Tötungsvorsatzes führende<br />

Beweiswürdigung ohne Rückgriff auf das Postulat einer Hemmschwelle überprüft wird (BGH, Urteile vom 3.<br />

Juli 1986 – 4 StR 258/86, NStZ 1986, 549, 550, <strong>und</strong> vom 7. August 1986 – 4 StR 308/86, BGHR <strong>StGB</strong> § 212 Abs. 1<br />

Vorsatz, bedingter 3 [jeweils: sorgfältige Prüfung], sowie vom 11. Dezember 2001 – 1 StR 408/01, NStZ 2002, 541,<br />

542 [Ausführungen zu einer Hemmschwelle bei stark alkoholisiertem Täter ohne Motiv nicht geboten]; ebenso für<br />

Fälle affektiv erregter, alkoholisierter, ohne Motiv, spontan oder unüberlegt handelnder Täter BGH, Beschlüsse vom<br />

21. Oktober 1986 – 4 StR 563/86, StV 1987, 92, vom 7. Juli 1999 – 2 StR 177/99, NStZ 1999, 507, 508, <strong>und</strong> vom 7.<br />

November 2002 – 3 StR 216/02, NStZ 2004, 51; Urteil vom 14. November 2001 – 3 StR 276/01; Beschluss vom 2.<br />

Dezember 2003 – 4 StR 385/03, NStZ 2004, 329, 330; Urteil vom 14. Dezember 2004 - 4 StR 465/04; Beschluss<br />

vom 20. September 2005 – 3 StR 324/05, NStZ 2006, 169, 170; Urteile vom 30. August 2006 – 2 StR 198/06, NStZ-<br />

RR 2007, 43, 44 [zusätzlich gruppendynamischer Prozess], vom 18. Januar 2007 – 4 StR 489/06, NStZ-RR 2007,<br />

141, 142, <strong>und</strong> vom 23. Juni 2009 – 1 StR 191/09, NStZ 2009, 629, 630; Beschluss vom 6. Dezember 2011 – 3 StR<br />

398/11; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. Januar 2003 – 4 StR 526/02, NStZ 2003, 369). Im Verständnis des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

erschöpft sich die „Hemmschwellentheorie“ somit in einem Hinweis auf § 261 StPO (BGH, Urteil<br />

vom 11. Januar 1984 – 2 StR 615/83, StV 1984, 187, Beschluss vom 27. Juni 1986 – 2 StR 312/86, StV 1986, 421,<br />

Urteile vom 22. November 2001 – 1 StR 369/01, NStZ 2002, 314, 315, vom 23. April 2003 – 2 StR 52/03, NStZ<br />

2003, 603, 604, <strong>und</strong> vom 16. Oktober 2008 – 4 StR 369/08, NStZ 2009, 210, 211: jeweils sorgfältige Prüfung; vgl.<br />

weiter BGH, Urteil vom 25. November 1987 – 3 StR 449/87, NStZ 1988, 175; Beschlüsse vom 19. Juli 1994 – 4 StR<br />

348/94, NStZ 1994, 585, <strong>und</strong> vom 25. November 2010 – 3 StR 364/10, NStZ 2011, 338, 339; Urteil vom 15. De-<br />

134


zember 2010 – 2 StR 531/10, NStZ 2011, 210, 211; MünchKomm<strong>StGB</strong>/Schneider § 212 Rn. 48: „prozessuale<br />

Selbstverständlichkeit“). Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat demgemäß immer wieder hervorgehoben, dass durch sie die<br />

Wertung der hohen <strong>und</strong> offensichtlichen Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen als ein gewichtiges auf Tötungsvorsatz<br />

hinweisendes Beweisanzeichen (BGH, Urteil vom 24. April 1991 – 3 StR 493/90) in der praktischen<br />

Rechtsanwendung nicht in Frage gestellt oder auch nur relativiert werden solle (BGH, Urteile vom 24. März 1993 –<br />

3 StR 485/92, BGHR <strong>StGB</strong> § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 35, vom 12. Januar 1994 – 3 StR 636/93, NStE Nr. 33<br />

zu § 212 <strong>StGB</strong>, vom 11. Oktober 2000 – 3 StR 321/00, BGHR <strong>StGB</strong> § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 51, <strong>und</strong> vom<br />

27. August 2009 – 3 StR 246/09, NStZ-RR 2009, 372), auch nicht bei Taten zum Nachteil des eigenen Kindes<br />

(BGH, Urteil vom 17. Juli 2007 – 5 StR 92/07, NStZ-RR 2007, 304, 305). Zur Verneinung des voluntativen Vorsatzelements<br />

bedarf es vielmehr in jedem Einzelfall tragfähiger Anhaltspunkte dafür, dass der Täter ernsthaft darauf<br />

vertraut haben könnte, der Geschädigte werde nicht zu Tode kommen (BGH, Urteile vom 24. März 2005 – 3 StR<br />

402/04, vom 9. August 2005 – 5 StR 352/04, NStZ 2006, 98, 99, vom 25. Mai 2007 – 1 StR 126/07, NStZ 2007, 639,<br />

640, <strong>und</strong> vom 16. Oktober 2008 aaO; Trück aaO S. 239 f.). Daran fehlt es hier (vgl. vorstehend unter bb). Der Hinweis<br />

des Landgerichts auf eine „Hemmschwellentheorie“ entbehrt somit jedes argumentativen Gewichts. Im Übrigen<br />

hätte das Schwurgericht sich – von seinem Standpunkt aus – damit auseinander setzen müssen, dass schon der festgestellte<br />

Handlungsablauf, nämlich das wuchtige <strong>und</strong> zielgerichtete Stechen eines Messers aus schnellem Lauf in den<br />

Rücken eines ahnungslosen Opfers, das Überwinden einer etwa vorhandenen Hemmschwelle voraussetzt (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 16. April 2008 – 2 StR 95/08). Auch ist eine erhebliche Alkoholisierung (oder ein Handeln in affektiver<br />

Erregung <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> spontanen Entschlusses) nach sicherer Erfahrung gerade besonders geeignet, eine etwa vorhandene<br />

Hemmschwelle auch für äußerst gefährliche Gewalthandlungen herabzusetzen (BGH, Urteil vom 24. Februar<br />

2010 – 2 StR 577/09, NStZ-RR 2010, 214, 215; NK-<strong>StGB</strong>/Puppe, 3. Aufl., § 15 Rn. 93; Rissing-van Saan, aaO,<br />

S. 515; Roxin, aaO, Rn. 81; MünchKomm<strong>StGB</strong>/Schneider § 212 Rn. 50; Trück aaO S. 238; Verrel aaO S. 311).<br />

dd) Nach alledem kann der Senat offen lassen, ob die zusammenfassende Bemerkung des Landgerichts, es sehe „einen<br />

Tötungsvorsatz als nicht mit letzter Sicherheit erwiesen an“, nicht auf eine Überspannung der Anforderungen an<br />

die tatrichterliche Überzeugungsbildung hindeutet. Auch bedarf es keiner Entscheidung, ob hier nicht – etwa im<br />

Blick auf die den Messerstich begleitende Äußerung des Angeklagten – die Annahme direkten Tötungsvorsatzes<br />

näher liegt.<br />

3. Auf der fehlerhaften Beweiswürdigung beruht der Schuldspruch wegen der Tat zum Nachteil des Nebenklägers.<br />

Nach den bisherigen Feststellungen liegt die Annahme eines strafbefreienden Rücktritts vom Tötungsversuch nicht<br />

nahe (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 2010 – 2 StR 536/10, NStZ 2011, 209).<br />

III. Der aufgezeigte Mangel zwingt zur Aufhebung der für sich gesehen rechtlich nicht zu beanstandenden Verurteilung<br />

wegen gefährlicher Körperverletzung, weil ein versuchtes Tötungsdelikt hierzu in Tateinheit stünde (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 20. Februar 1997 – 4 StR 642/96, NStZ 1997, 276; Beschluss vom 27. Juni 2000 – 4 StR 211/00). Dies<br />

entzieht der hierwegen verhängten Einzelfreiheitsstrafe, der Gesamtfreiheitsstrafe <strong>und</strong> der Unterbringung des Angeklagten<br />

in einer Entziehungsanstalt nebst teilweisem Vorwegvollzug der Gesamtstrafe die Gr<strong>und</strong>lage.<br />

IV. Der Senat weicht mit seiner Entscheidung nicht von der Rechtsprechung anderer Senate des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

zum Tötungsvorsatz ab. Er legt ihr vielmehr die sog. Hemmschwellentheorie in dem in der bisherigen Rechtsprechung<br />

entwickelten Verständnis zu Gr<strong>und</strong>e (vgl. oben C. II. 2. b) cc).<br />

<strong>StGB</strong> § 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3; § 13 Abs. 2<br />

BGH, Beschl. v. 19.10.2011 - 1 StR 233/11 - NJW 2012, 546 = NStZ 2012, 210 Anm. Jäger JA 2012, 154<br />

LS: Aussetzung durch Im Stich lassen ist stets ein Unterlassungsdelikt; eine Strafrahmenmilderung<br />

gemäß § 13 Abs. 2 <strong>StGB</strong> ist nicht möglich, auch nicht, wenn der Täter durch die Tat den Tod des<br />

Opfers verursacht (§ 221 Abs. 3 <strong>StGB</strong>).<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 20. Dezember 2010 wird als<br />

unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren<br />

entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Die Strafkammer hat festgestellt: Der Angeklagte lebte mit einer sieben Jahre jüngeren Frau zusammen, für die er<br />

"Verantwortung übernommen hatte". So unterstützte er etwa ihr Bemühen, einen Schulabschluss nachzuholen. Als<br />

135


sie während eines Gaststättenbesuchs über Schwindelanfälle klagte, ging er mit ihr nach Hause. Dort gab es Streit,<br />

weil er einen ihrer Slips bei einem Mitbewohner gef<strong>und</strong>en hatte. Sie wollte den Streit beenden <strong>und</strong> ging ins Schlafzimmer.<br />

Aus nicht aufklärbaren Gründen kippte sie gegen 2.35 Uhr in der Nacht über ein 84 cm hohes Balkongeländer.<br />

Sie hing außen mit den Beinen zur gut 12 m tiefer liegenden Straße, konnte sich aber zunächst mit den Händen<br />

von außen festhalten. Sie schrie mehrfach laut um Hilfe, wie in den umliegenden Häusern gehört wurde, z.B. mit den<br />

Worten "A. , warum hilfst du mir nicht?" Wie ebenfalls gehört wurde, wurde auf diese<br />

Rufe hin gelacht. Der Angeklagte, der die Situation erkannt hatte, griff jedenfalls nicht ein, obwohl ihm dies ohne<br />

Weiteres möglich gewesen wäre, <strong>und</strong> verließ die Wohnung. Etwa zu diesem Zeitpunkt konnte sie sich nicht länger<br />

festhalten, stürzte ab <strong>und</strong> war sofort tot. Die Strafkammer geht davon aus, dass der Angeklagte erkannte, dass sie in<br />

Todesgefahr war, wobei er jedoch - was nicht näher begründet ist <strong>und</strong> sich nicht ohne Weiteres aufdrängt - darauf<br />

vertraute, dass am Ende nichts passieren würde, weshalb er hinsichtlich ihres Todes nur fahrlässig gehandelt habe.<br />

Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage hat sie ihn gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> (im Stich lassen) i.V.m. § 221 Abs. 3 <strong>StGB</strong> zu<br />

einer Freiheitsstrafe verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision, die in Erwiderung auf den Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

(§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) näher ausgeführt wurde, bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

1. Das im Wesentlichen gegen die Beweiswürdigung gerichtete Vorbringen, das dahin zusammengefasst ist, der<br />

Angeklagte wäre unter Verletzung des Zweifelssatzes verurteilt worden, ist unbehelflich. Anhaltspunkte für Zweifel<br />

der Strafkammer sind nicht ersichtlich; darauf, dass sie nach Auffassung der Revision Zweifel hätte haben müssen,<br />

bzw. auf die Zweifel der Revision kommt es nicht an (vgl. zusammenfassend Schoreit in KK, 6. Aufl., § 261 Rn. 59<br />

mwN).<br />

2. Auch im Übrigen hält das Urteil rechtlicher Überprüfung im Ergebnis stand. Der näheren Erörterung bedarf dabei<br />

nur Folgendes: Die Strafkammer ist letztlich davon ausgegangen, dass der Angeklagte "zumindest unmittelbar bevor<br />

sie … abstürzte" in der Wohnung war, nachdem sie (naheliegend) nicht auf die Sek<strong>und</strong>e genau klären konnte, ob der<br />

Angeklagte die Wohnung kurz vor dem Absturz, zum Zeitpunkt des Absturzes oder kurz danach verließ. Rechtliche<br />

Erwägungen dazu, ob hier der Angeklagte seine Fre<strong>und</strong>in dadurch i.S.d. § 221 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> "im Stich ließ",<br />

dass er ohne Ortswechsel passiv blieb, oder dadurch, dass er die Wohnung verließ - beide Möglichkeiten gehen hier<br />

ineinander über -, also ob er sich durch Tun oder durch Unterlassen strafbar gemacht hat, sind nicht angestellt.<br />

a) Der Schuldspruch bleibt hiervon allerdings von vorneherein unberührt.<br />

b) Der Strafausspruch könnte jedoch dann keinen Bestand haben, wenn trotz einer auch durch aktives Tun möglichen<br />

Strafbarkeit hier eine Strafbarkeit durch Unterlassen <strong>und</strong> dementsprechend nach tatrichterlichem Ermessen eine (hier<br />

nicht geprüfte) Milderung des Strafrahmens gemäß § 13 Abs. 2 <strong>StGB</strong> in Frage käme (vgl. BGH, Beschluss vom 17.<br />

August 1999 - 1 StR 390/99, NStZ 1999, 607).<br />

Der Senat hat dies jedoch verneint.<br />

(1) Seit der Neufassung von § 221 <strong>StGB</strong> durch Art. 1 Nr. 37 des 6. StrRG vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 164) hat die<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs (vgl. die Übersicht bei Wielant, Die Aussetzung nach § 221 <strong>StGB</strong>, S. 504)<br />

die Rechtsnatur von § 221 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> im Sinne einer Abgrenzung zwischen Begehungs- <strong>und</strong> Unterlassungsdelikt<br />

noch nicht behandelt. Die Fachliteratur vertritt unterschiedliche Standpunkte. Etliche Autoren sprechen sich<br />

für ein sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen begehbares Delikt aus (z.B. Eser in Schönke/Schröder, <strong>StGB</strong>,<br />

28. Aufl., § 221 Rn. 10; Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 221 Rn. 12; Lackner/Kühl, <strong>StGB</strong>, 27. Aufl., § 221 Rn. 4; Jähnke<br />

in LK, 11. Aufl., § 221 Rn. 22, 28, 29 mit ausdrücklichem Hinweis auf die Anwendbarkeit von § 13 Abs. 2, <strong>StGB</strong><br />

aaO, Rn. 43; zusammenfassend Wielant, aaO, S. 114 mwN in Fußn. 194; Lautner, Systematik des Aussetzungstatbestands<br />

S. 196 mwN in Fußn. 1039). Andere halten § 221 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> für ein (reines) Unterlassungsdelikt (z.B.<br />

Horn/Wolters in SK <strong>StGB</strong>, § 221 Rn. 6; Hardtung in MüKo-<strong>StGB</strong>, § 221 Rn. 2; Neumann in NK-<strong>StGB</strong>, 3. Aufl., §<br />

221 Rn. 19; zusammenfassend Wielant, aaO, S. 112 f. mwN in Fußn. 183; Lautner, aaO, mwN in Fußn. 1045 ff.). §<br />

221 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> wird auch als der (normierte) unechte Unterlassungstatbestand zu § 221 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong><br />

angesehen (vgl. z.B. Roxin, <strong>StGB</strong>, AT II § 31 Rn. 18; zusammenfassend Wielant, aaO, S. 400 f. mwN; Roxin, aaO,<br />

Rn. 250 weist ausdrücklich auf die Anwendbarkeit von § 13 Abs. 2 <strong>StGB</strong> hin). <strong>Teil</strong>weise wird noch weiter differenziert<br />

(z.B. Küper, ZStW 111, 30, 58 f.; Hohmann/Sander, <strong>StGB</strong>, BT II 2. Aufl., S. 48).<br />

(2) Der Senat hält § 221 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> für ein Unterlassungsdelikt. Das Verlassen des Opfers ist - anders als<br />

nach der früheren Gesetzeslage (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 30. September 1991 - 1 StR 339/91, BGHSt 38, 78 ff.)<br />

- nur noch ein faktischer Anwendungsfall, aber kein gesetzlicher Unterfall des Im-Stich-Lassens. Dass der Täter die<br />

gebotene Handlung deshalb nicht vornimmt, weil er den Ort, an dem er handeln müsste, verlässt, ändert nichts an<br />

dem gr<strong>und</strong>sätzlichen Rechtscharakter der Tat (vgl. Neumann, aaO). Letztlich ist bei der Bewertung von Verhaltensweisen<br />

unter dem Blickwinkel, ob strafbares Tun oder strafbares Unterlassen vorliegt, darauf abzustellen, worin der<br />

"Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" liegt (st. Rspr., vgl. BGH (GrSSt), Beschluss vom 17. Februar 1954 - GSSt 3/53,<br />

136


BGHSt 6, 46, 59; BGH, Urteil vom 1. Februar 2005 - 1 StR 422/04, BGH NStZ 2005, 446, 447; BGH, Urteil vom<br />

12. Juli 2005 - 1 StR 65/05, NStZ-RR 2006, 174, 175; w. Nachw., auch für die anderen Auffassungen, bei Wielant,<br />

aaO, S. 156 Fußn. 379). Dieser liegt darin, dass der Täter die gebotene Hilfeleistung unterlässt, ohne dass es darauf<br />

ankommt, ob er sich (zusätzlich) entfernt.<br />

c) Ob § 13 <strong>StGB</strong> anwendbar <strong>und</strong> damit auch (fakultativ) eine Strafrahmenmilderung gemäß § 13 Abs. 2 <strong>StGB</strong> möglich<br />

ist, richtet sich danach, ob ein "echtes" oder "unechtes" Unterlassungsdelikt vorliegt. Für "echte" Unterlassungsdelikte<br />

gilt § 13 <strong>StGB</strong> nicht (vgl. zusammenfassend Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 13 Rn. 3 mwN). "Echte" Unterlassungsdelikte<br />

müssen keinen Taterfolg aufweisen (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 1960 - 2 StR 65/60, BGHSt 14, 280,<br />

281; BayObLG, Beschluss vom 22. Januar 1990 - RReg 1 St/5/90, NJW 1990, 1861; Fischer, aaO, vor § 13 Rn. 16).<br />

So verhält es sich letztlich hier. Das pflichtwidrige Garantenverhalten führt im Rahmen von § 221 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong><br />

nicht zu einer Verantwortlichkeit für den daraus resultierenden Verletzungserfolg, sondern zur strafrechtlichen Haftung<br />

für die nicht abgewendete konkrete Gefahr (Küper, aaO, 58 f.). Ist aber aus diesen Gründen § 221 Abs. 1 Nr. 2<br />

<strong>StGB</strong> echtes Unterlassungsdelikt, sodass § 13 <strong>StGB</strong> nicht anwendbar ist (so auch die überwiegende Meinung in der<br />

Fachliteratur, vgl. zusammenfassend Wielant, aaO, S. 398 mwN in Fußn. 1459, auch für gegenteilige Auffassungen),<br />

kann für den hierauf aufbauenden Qualifikationstatbestand des § 221 Abs. 3 <strong>StGB</strong> nichts anderes gelten. Der Senat<br />

hat dabei erwogen, dass bei Vorsatz hinsichtlich der Todesfolge Totschlag (§ 212 <strong>StGB</strong>) vorläge <strong>und</strong> § 221 <strong>StGB</strong><br />

dahinter zurücktreten würde (Fischer, aaO, § 221, Rn. 28; zu § 221 <strong>StGB</strong> aF ebenso schon BGH, Urteil vom 27.<br />

März 1953 - 1 StR 689/52, BGHSt 4, 114, 116). Bei einer Strafbarkeit gemäß § 212 <strong>StGB</strong> ist § 13 Abs. 2 <strong>StGB</strong> jedoch<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich anwendbar, so dass gegebenenfalls die Mindeststrafe bei Fahrlässigkeit hinsichtlich der Todesfolge<br />

(drei Jahre Freiheitsstrafe gemäß § 221 <strong>StGB</strong>) höher sein könnte als bei Vorsatz (zwei Jahre Freiheitsstrafe<br />

gemäß § 212 Abs. 1 <strong>StGB</strong> i.V.m. § 13 Abs. 2 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> § 49 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong>). Ohne dass hier über einen solchen<br />

Fall zu entscheiden wäre, würde nach Auffassung des Senats zur Vermeidung des aufgezeigten Wertungswiderspruchs<br />

(vgl. hierzu auch Roxin, aaO, Rn. 250) der Gr<strong>und</strong>satz, dass die Mindeststrafe eines auf Konkurrenzebene<br />

hinter einem anderen Delikt zurücktretenden Delikts eine Sperrwirkung entfaltet (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom<br />

24. November 2005 - 4 StR 243/05, NStZ 2006, 288, 290 mwN; vgl. auch zusammenfassend Fischer, aaO, vor § 52<br />

Rn. 45 mwN) hier entsprechend gelten.<br />

<strong>StGB</strong> § 224 I 4 Gemeinschaftliches Handeln nicht schon bei mehreren Tätern<br />

BGH, Urt. v. 20.03.2012 - 1 StR 447/11 - BeckRS 2012, 11487<br />

Allein die Anwesenheit einer zweiten Person, die sich passiv verhält, reicht für die Annahme einer<br />

gemeinschaftlichen Begehung im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 4 <strong>StGB</strong> nicht aus. Denn gemeinschaftliches<br />

Handeln bedeutet ein einverständliches Zusammenwirken, bei dem sich die abstrakte Gefährlichkeit<br />

des Tuns dadurch erhöht, dass zwei Angreifer mehr bewerkstelligen können als nur einer.<br />

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 3. Mai 2011 mit den<br />

Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tatmehrheit mit acht Fällen der (gemeinschaftlichen)<br />

Nötigung schuldig gesprochen, den Angeklagten K. darüber hinaus in allen neun Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher<br />

Körperverletzung. Gegen den Angeklagten F. hat es wegen dieser neun Taten eine Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von einem Jahr <strong>und</strong> neun Monaten, gegen den Angeklagten K. eine solche von drei Jahren verhängt. Mit ihren zu<br />

Ungunsten der Angeklagten eingelegten <strong>und</strong> auf die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts gestützten Revisionen<br />

erstrebt die Staatsanwaltschaft die Aufhebung des Urteils. Die vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt weitgehend vertretenen<br />

Revisionen haben bereits mit der Sachrüge Erfolg. Auf die erhobenen Verfahrensrügen kommt es nicht mehr an.<br />

I.<br />

1. Zum Tatgeschehen hat das Landgericht Folgendes festgestellt: In der Zeit vom 28. September bis 7. Oktober 2010<br />

waren die Angeklagten <strong>und</strong> der Geschädigte als Strafgefangene in der Justizvollzugsanstalt Landshut in nebeneinander<br />

liegenden Zellen untergebracht. In diesem Zeitraum schlug der Angeklagte K. dem Geschädigten an neun verschiedenen<br />

Tagen während der mittäglichen „Aufschlusszeit“ entweder in der Zelle des Angeklagten F. oder der<br />

137


Zelle des Geschädigten W. jeweils mehrmals mit der flachen Hand kräftig auf Nacken bzw. Hinterkopf <strong>und</strong> fügte<br />

ihm dadurch bewusst <strong>und</strong> gewollt Schmerzen zu. Die Schläge gingen jeweils allein vom Angeklagten K. aus, der<br />

damit zugleich seiner Forderung Nachdruck verlieh, dass der Geschädigte sich an dem Geschlechtsteil des Angeklagten<br />

F. „zu schaffen machen“ sollte. Der hierdurch eingeschüchterte Geschädigte kam jeweils gegen seinen Willen<br />

dieser Forderung nach <strong>und</strong> fasste den Angeklagten F. im Genitalbereich an. In acht der Fälle berührte der Geschädigte<br />

dabei den Genitalbereich des Angeklagten F. über dessen Hose. Lediglich in einem Fall hatte der Angeklagte F.<br />

zuvor seine Hose heruntergelassen <strong>und</strong> stand mit entblößtem Geschlechtsteil vor dem Geschädigten, sodass dieser<br />

mit zwei Fingern das nackte, nicht erigierte Glied des Angeklagten F. anfassen musste. In keinem der Fälle konnte<br />

das Landgericht die Dauer <strong>und</strong> Intensität der Berührung aufklären. Es ging deshalb zugunsten der Angeklagten jeweils<br />

von einer sehr kurz andauernden <strong>und</strong> ohne große Intensität vorgenommenen Berührung aus. Der Angeklagte F.<br />

hatte die von dem Angeklagten K. ausgeführten Schläge zwar jeweils nicht veranlasst, war aber „ohne weiteres“<br />

damit einverstanden, dass ihm der Geschädigte, wie von K. verlangt, an das Geschlechtsteil fasste. Er stellte sich bei<br />

jedem dieser Fälle freiwillig zur Verfügung, weil er Spaß daran hatte <strong>und</strong> weil ihm diese Berührungen - auch wegen<br />

seiner homoerotischen Veranlagung - nicht unangenehm waren.<br />

2. Der Angeklagte K. hat die Tatvorwürfe bestritten, der Angeklagte F. wie festgestellt gestanden. Zwar hatte der<br />

Geschädigte die Angeklagten „in einem größeren Umfang“ belastet (UA S. 27). Im Hinblick auf den „ambivalenten<br />

Eindruck“ (UA S. 36) des Geschädigten in der Hauptverhandlung sowie eine auch zum Kerngeschehen „nicht völlig“<br />

konstante Aussage (UA S. 29), bei der der Geschädigte auch unterschiedliche Angaben dazu machte, wie oft er<br />

die Berührungen am nackten bzw. bekleideten Geschlechtsteil ausführen musste, hat das Landgericht die Tatvorwürfe<br />

lediglich in dem Umfang als erwiesen erachtet, in dem sie auch vom Geständnis des Angeklagten F. getragen<br />

wurden. Im Übrigen hat es die Angeklagten nach dem Zweifelssatz aus tatsächlichen Gründen nicht verurteilt.<br />

3. Das Landgericht hat die Schläge des Angeklagten K. dem Angeklagten F. nicht zugerechnet, weil er sich an diesen<br />

Schlägen nicht beteiligt habe. Es hat daher den Angeklagten F. nicht wegen Körperverletzung verurteilt. Demgegenüber<br />

hat das Landgericht dem Angeklagten F. die „willensbeugende Gewalt“ der Schläge zugerechnet, weil er sich<br />

an der Nötigungshandlung dadurch beteiligt habe, dass er sein Geschlechtsteil zu den Berührungen dargeboten habe.<br />

Sein Tatbeitrag sei auch erheblich gewesen, denn die von dem Geschädigten verlangte Handlung habe jeweils nur<br />

ausgeführt werden können, weil sich der Angeklagte F. hierfür zur Verfügung stellte (UA S. 46). Von einer sexuellen<br />

Handlung ist das Landgericht nur in dem Fall ausgegangen, in dem der Geschädigte an das nackte Geschlechtsteil<br />

des Angeklagten F. fassen musste. Bei den übrigen Fällen hat das Landgericht angesichts der „relativ kurzfristigen<br />

Berührungen“ am Geschlechtsteil über der Kleidung die für die Annahme einer sexuellen Handlung gemäß § 184g<br />

Nr. 1 <strong>StGB</strong> erforderliche Erheblichkeit verneint.<br />

II. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft haben mit der Sachrüge Erfolg. Die Wertung des Landgerichts, die Angeklagten<br />

hätten bei den Taten der Körperverletzung nicht gemeinschaftlich gehandelt <strong>und</strong> seien deshalb nicht wegen<br />

gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 <strong>StGB</strong>) strafbar, beruht auf lückenhaften Feststellungen <strong>und</strong> kann<br />

daher keinen Bestand haben. Es fehlt an ausreichenden Feststellungen zur Frage, ob ein gemeinsamer Tatentschluss<br />

der Angeklagten vorlag oder ob der Angeklagte F. bei Verabreichung der Schläge durch den Angeklagten K. zumindest<br />

Gehilfenvorsatz hatte.<br />

1. Allerdings ist das Landgericht im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass allein die Anwesenheit einer zweiten<br />

Person, die sich passiv verhält, für die Annahme einer gemeinschaftlichen Begehung im Sinne von § 224 Abs. 1<br />

Nr. 4 <strong>StGB</strong> nicht ausreicht. Denn gemeinschaftliches Handeln bedeutet ein einverständliches Zusammenwirken, bei<br />

dem sich die abstrakte Gefährlichkeit des Tuns dadurch erhöht, dass zwei Angreifer mehr bewerkstelligen können als<br />

nur einer (vgl. Hardtung in MüKo-<strong>StGB</strong>, 1. Aufl., § 224 Rn. 25 f. mwN). Andererseits kann auch derjenige diesen<br />

Qualifikationstatbestand verwirklichen, der weder eigenhändig Verletzungshandlungen vornimmt, noch überhaupt<br />

Mittäter ist. Ausreichend ist bereits das gemeinsame Wirken eines Täters <strong>und</strong> eines Gehilfen bei der Begehung einer<br />

Körperverletzung (vgl. BGH, Urteil vom 3. September 2002 - 5 StR 210/02, BGHSt 47, 384, 386; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59.<br />

Aufl., § 224 Rn. 11 mwN). Ein solches liegt schon dann vor, wenn die zweite Person - auch vom Opfer wahrgenommen<br />

- unterstützungsbereit am Tatort anwesend ist (vgl. Hardtung aaO Rn. 26).<br />

2. Diesen Gr<strong>und</strong>sätzen wird das landgerichtliche Urteil nicht gerecht. Denn das Landgericht stellt ausschließlich<br />

darauf ab, dass der Angeklagte K. die Schläge allein auf seine „eigene Veranlassung“ hin ausgeführt hat (UA S. 22)<br />

<strong>und</strong> der Angeklagte F. sich weder an diesen Schlägen beteiligt noch diese unterstützt hat (UA S. 46). Feststellungen<br />

dazu, ob der Angeklagte F. dabei rein passiv blieb oder Unterstützungsbereitschaft erkennen ließ, fehlen dagegen.<br />

Solcher Feststellungen hätte es aber bedurft, denn die am Geschädigten W. jeweils verübte Körperverletzung war<br />

keine vom weiteren Tatgeschehen losgelöste, eigenständige Tat, sondern das von beiden Angeklagten gewollte Nötigungsmittel<br />

für eine erzwungene sexualbezogene Handlung W. s an F. . Insoweit hat das Landgericht den Angeklag-<br />

138


ten in allen neun Fällen auch wegen „gemeinschaftlicher Nötigung“, also wegen Tatbegehung in Mittäterschaft,<br />

verurteilt. Nach den Feststellungen berührte W. jeweils nur deswegen das Geschlechtsteil F. s, weil K. seiner Forderung,<br />

dies zu tun, mit kräftigen Schlägen auf Nacken bzw. Hinterkopf W. s Nachdruck verliehen hatte. Dies war auch<br />

F. bewusst, der den Nötigungserfolg der Berührung seines Geschlechtsteils selbst wollte, „weil er Spaß daran hatte<br />

<strong>und</strong> ihm die Berührungen nicht unangenehm waren“. F. förderte aktiv die Tat, indem er sich als „Objekt“ der erzwungenen<br />

Handlung zur Verfügung stellte. Angesichts seines Interesses an den durch die Schläge abgenötigten<br />

sexualbezogenen Handlungen lag nahe, dass F. auch hinsichtlich der Schläge als Nötigungsmittel unterstützungsbereit<br />

war. Feststellungen hierzu waren daher unerlässlich. Dies gilt umso mehr, als es sich nicht um eine einzelne Tat<br />

handelte, sondern um ein sich innerhalb von zehn Tagen neunmal in gleicher Weise wiederholendes Tatgeschehen,<br />

bei dem es deshalb - jedenfalls bei den weiteren Taten - fernliegt, dass der Angeklagten F. vom Einschlagen des<br />

Angeklagten K. auf den Geschädigten W. überrascht wurde <strong>und</strong> nicht als „zweiter Angreifer“ wahrgenommen werden<br />

wollte. Nach alledem ist die Annahme, die Verletzungshandlungen seien dem Angeklagten F. nicht im Sinne des<br />

§ 224 Abs. 1 Nr. 4 <strong>StGB</strong>, wohl aber als gemeinschaftlich begangene Nötigungshandlungen zuzurechnen, auch in sich<br />

widersprüchlich. Der Senat hebt nicht nur den Schuld- <strong>und</strong> Strafausspruch, sondern zugleich alle Feststellungen auf,<br />

um dem neuen Tatgericht zu ermöglichen, insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zum gesamten Tatgeschehen<br />

zu treffen.<br />

III. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:<br />

1. Sollte auf der Gr<strong>und</strong>lage der neu zu treffenden Feststellungen zum Tatgeschehen das vom Geschädigten W. abgenötigte<br />

Verhalten als sexuelle Handlung im Sinne von § 184g Nr. 1 <strong>StGB</strong> einzustufen sein, kann auch eine Verurteilung<br />

der Angeklagten wegen sexueller Nötigung (§ 177 Abs. 1 <strong>StGB</strong>) oder wegen Nötigung in einem besonders<br />

schweren Fall gemäß § 240 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> (Nötigung zu einer sexuellen Handlung) in Betracht kommen.<br />

Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn das neue Tatgericht wiederum zu denselben Feststellungen zu Art <strong>und</strong> Intensität<br />

des abgenötigten Verhaltens gelangt. Denn solche Feststellungen legen - entgegen der Auffassung des Landgerichts<br />

- das Vorliegen sexueller Handlungen im Sinne von § 184g Nr. 1 <strong>StGB</strong> nahe. Das Landgericht hatte angenommen,<br />

dass kurze oder flüchtige Berührungen an einem Geschlechtsorgan für das Erreichen der Erheblichkeitsschwelle<br />

einer sexuellen Handlung gr<strong>und</strong>sätzlich nicht ausreichend sind, wenn diese Berührungen über der Kleidung<br />

erfolgen (UA S. 47). Dies trifft hier indes nicht zu. Zwar sind nach § 184g Nr. 1 <strong>StGB</strong> sexuelle Handlungen nur<br />

solche, die im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind. Auch kurze Berührungen über<br />

der Kleidung können aber diese Erheblichkeitsschwelle überschreiten. Die Beurteilung einer Handlung als erheblich<br />

im Sinne des § 184g Nr. 1 <strong>StGB</strong> hängt in erster Linie von Art, Intensität <strong>und</strong> Dauer ihres sexualbezogenen <strong>Teil</strong>s ab.<br />

Von wesentlicher Bedeutung sind aber auch der Handlungsrahmen, in dem der unmittelbar sexualbezogene Akt<br />

begangen wird, <strong>und</strong> die Beziehung der Beteiligten untereinander. Denn auch sie können dem sexuellen Zugriff im<br />

engeren Sinne mehr oder weniger Gewicht verschaffen. Ob die Erheblichkeitsschwelle überschritten wurde, bestimmt<br />

sich somit nach dem Grad der Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; lediglich<br />

unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (BGH, Urteil vom 3. April 1991 - 2 StR 582/90,<br />

BGHR <strong>StGB</strong> § 184c Nr. 1 Erheblichkeit 4 mwN; BGH, Urteil vom 6. Mai 1992 - 2 StR 490/91, NStZ 1992, 432;<br />

BGH, Beschluss vom 8. September 1999 - 3 StR 357/99, StV 2000, 197). Ausgehend von diesen Maßstäben ist zwar<br />

bei Berührungen des Täters am Opfer die Erheblichkeitsschwelle des § 184g Nr. 1 <strong>StGB</strong> nicht ohne weiteres erreicht,<br />

wenn es sich um kurze Griffe über der Kleidung an Brust oder Gesäß handelt (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli<br />

1983 - 3 StR 255/83, NStZ 1983, 553). Auch ist eine sexuell getönte Handlung gegenüber einem Kind eher erheblich<br />

als gegenüber einem Erwachsenen (BGH, Urteil vom 14. August 2007 - 1 StR 201/07, NStZ 2007, 700). In allen<br />

Fällen - auch solchen, in denen nicht eine am Opfer vorgenommene Handlung, sondern eine vom Opfer am Täter<br />

oder einem Dritten vorgenommene Handlung inmitten steht - kann aber nicht allein auf die Dauer <strong>und</strong> Stärke der<br />

sexualbezogenen Handlung abgestellt werden. Vielmehr bedarf es einer Gesamtbewertung der Umstände unter Berücksichtigung<br />

des Handlungsrahmens <strong>und</strong> der sonstigen Begleitumstände, in dem der unmittelbar sexualbezogene<br />

Akt begangen wird (vgl. dazu BGH, Urteil vom 3. April 1991 - 2 StR 582/90, BGHR <strong>StGB</strong> § 184c Nr. 1 <strong>StGB</strong> Erheblichkeit<br />

4 mwN). Dieser Handlungsrahmen ist hier nicht zuletzt durch eine über die vorangehende Gewaltanwendung<br />

<strong>und</strong> das dadurch geschaffene „Nötigungsszenario“ sogar hinausgehende Ausweglosigkeit für das Opfer geprägt.<br />

Jedenfalls bei einer derart erzwungenen Vornahme einer sexualbezogenen Handlung an einem anderen entfällt<br />

die Erheblichkeit der Handlung im Sinne von § 184g Nr. 1 <strong>StGB</strong> nicht schon deswegen, weil die Berührung nicht<br />

kräftig <strong>und</strong> nachhaltig war (vgl. auch BGH, Beschluss vom 30. Januar 2001 - 4 StR 569/00, BGH NStZ 2001, 370;<br />

Laufhütte/Roggenbuck in LK-<strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 184g Rn. 10 <strong>und</strong> Fn. 15 mwN).<br />

2. Der neue Tatrichter wird wiederum Gelegenheit haben, beim Angeklagten F. wegen eines Täter-Opfer-<br />

Ausgleiches mit dem Geschädigten W. eine Strafrahmenverschiebung gemäß § 46a Nr. 1 <strong>StGB</strong> zu prüfen.<br />

139


IV. Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten, die eine Aufhebung des Urteils zu deren Gunsten bedingen würden<br />

(§ 301 StPO), liegen nicht vor.<br />

<strong>StGB</strong> § 224 Pumpsprühflasche für Haushaltsreiniger kein gefährliches Werkzeug<br />

BGH, Beschl. v. 20.03.2012 - 4 StR 20/12 - BeckRS 2012, 08189<br />

Die bloße Eignung, nicht näher konkretisierte Reizreaktionen auszulösen, reicht bei einer Pumpsprühflasche<br />

mit Haushaltsreiniger für die Annahme eines gefährlichen Werkzeugs nach § 224 Abs.<br />

1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> nicht aus.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 7. November 2011<br />

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Körperverletzung schuldig ist;<br />

b) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an das Amtsgericht - Strafrichter - Aschersleben zurückverwiesen.<br />

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Mit Urteil vom 3. Mai 2010 hatte das Landgericht den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen versuchter<br />

sexueller Nötigung zu der Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt <strong>und</strong> die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung<br />

ausgesetzt. Auf die Revisionen des Angeklagten <strong>und</strong> der Staatsanwaltschaft hob der Senat dieses Urteil, soweit<br />

der Angeklagte verurteilt worden war, auf <strong>und</strong> verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück. Nunmehr hat<br />

das Landgericht den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von sechs Monaten<br />

verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Hiergegen richtet sich die mit der Rüge der Verletzung<br />

materiellen Rechts begründete Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel führt zur Änderung des Schuld-<br />

<strong>und</strong> Aufhebung des Strafausspruchs; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Die Verurteilung<br />

wegen gefährlicher Körperverletzung kann nicht bestehen bleiben, weil die Wertung der Strafkammer, die bei<br />

dem tätlichen Angriff des Angeklagten gegen das Tatopfer eingesetzte Pumpsprühflasche mit Haushaltsreiniger sei<br />

als gefährliches Werkzeug nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> zu qualifizieren, einer rechtlichen Prüfung nicht standhält.<br />

Ein gefährliches Werkzeug im Sinne dieser Vorschrift ist jeder Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit<br />

<strong>und</strong> nach der Art seiner Benutzung im Einzelfall geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen (st.<br />

Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 27. Januar 2011 - 4 StR 487/10, NStZ-RR 2011, 275, 276; vom 27. September 2001 -<br />

4 StR 245/01, NStZ 2002, 86). Nach den Feststellungen der Strafkammer nahm der Angeklagte die Pumpsprühflasche<br />

mit dem Haushaltsreiniger <strong>und</strong> sprühte aus kurzer Distanz einen Sprühstoß in Richtung des Gesichts des Tatopfers,<br />

das an der rechten Gesichtshälfte getroffen wurde. Der Sprühstoß aus der Flasche konnte "gegebenenfalls eine<br />

Reizreaktion" aufgr<strong>und</strong> der enthaltenen Chemikalien, nicht aber Defekte der Hornhaut des Auges oder der Haut zur<br />

Folge haben. Tatsächlich trug das Opfer eine vorübergehende Reizung des rechten Auges davon. Damit ist die für<br />

die Annahme eines gefährlichen Werkzeugs nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> erforderliche potentielle Gefährlichkeit<br />

der konkreten Benutzung des Werkzeugs (vgl. BGH, Beschluss vom 5. September 2006 - 4 StR 313/06, NStZ 2007,<br />

95) nicht belegt. Die bloße Eignung, nicht näher konkretisierte Reizreaktionen auszulösen, reicht hierfür nicht aus.<br />

Soweit die Strafkammer in ihrer rechtlichen Würdigung auf mögliche Entzündungen der Bindehäute <strong>und</strong> Reizungen<br />

der Haut verweist, wird dies durch die Urteilsausführungen zur Beweiswürdigung, insbesondere zu den wiedergegebenen<br />

Darlegungen des hierzu gehörten rechtsmedizinischen Sachverständigen, nicht getragen. Der Angeklagte hat<br />

sich daher lediglich der vorsätzlichen Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 <strong>StGB</strong> schuldig gemacht. Der erforderliche<br />

Strafantrag des Tatopfers ist form- <strong>und</strong> fristgerecht gestellt. Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend.<br />

Die Schuldspruchänderung führt zur Aufhebung der verhängten Freiheitsstrafe. Der Senat macht von der Möglichkeit<br />

des § 354 Abs. 3 StPO Gebrauch <strong>und</strong> verweist die Sache an das Amtsgericht - Strafrichter - Aschersleben zurück,<br />

dessen Strafgewalt ausreicht.<br />

140


<strong>StGB</strong> § 225 Abs. 1 Quälen<br />

BGH, Beschl. v. 20.03.2012 - 4 StR 561/11 - BeckRS 2012, 10713<br />

Der Begriff des Quälens in § 225 Abs. 1 <strong>StGB</strong> setzt zwar nicht notwendig voraus, dass zwischen den<br />

einzelnen <strong>Teil</strong>akten ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht. Intervalle von mehreren Tagen, bis<br />

hin zu einigen Wochen, können daher unschädlich sein, wenn das Gesamtgeschehen auf Gr<strong>und</strong> anderer<br />

Umstände innerlich <strong>und</strong> äußerlich geschlossen bleibt. Mehrere Monate oder sogar Jahre auseinander<br />

liegende Körperverletzungshandlungen werden in der Regel aber nicht mehr als eine einzige<br />

dem Opfer bereitete Qual verstanden werden können.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 8. Juli 2011 mit den zugehörigen<br />

Feststellungen aufgehoben,<br />

a) soweit der Angeklagte wegen sexueller Nötigung in zwei Fällen (II. 4 <strong>und</strong> II. 5 der Urteilsgründe) verurteilt worden<br />

ist,<br />

b) soweit der Angeklagte wegen Misshandlung eines Schutzbefohlenen tateinheitlich in acht Fällen, davon in zwei<br />

Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung (II. 1, II. 6 bis II. 12 der Urteilsgründe) verurteilt worden ist.<br />

Hiervon ausgenommen bleiben die Feststellungen zum äußeren Sachverhalt,<br />

c) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.<br />

3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „sexueller Nötigung (Vergewaltigung)“ in zwei Fällen, Bedrohung,<br />

gefährlicher Körperverletzung <strong>und</strong> wegen Misshandlung eines Schutzbefohlenen tateinheitlich in acht Fällen, davon<br />

in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong><br />

drei Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts.<br />

Sein Rechtsmittel hat in dem tenorierten Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es offensichtlich unbegründet im Sinne des<br />

§ 349 Abs. 2 StPO.<br />

I. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen nach § 177 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 1<br />

<strong>StGB</strong> in den Fällen II. 4 <strong>und</strong> II. 5 der Urteilsgründe hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.<br />

1. Nach den Feststellungen lebten der aus dem Iran stammende Angeklagte <strong>und</strong> seine deutsche Ehefrau, die Zeugin<br />

A. N. , anfänglich in einer harmonischen Beziehung. Dem Angeklagten gefiel, dass sich A. N. erfolgreich darum<br />

bemühte, die persische Sprache zu erlernen <strong>und</strong> von ihrem alten Bekanntenkreis lossagte. Nach der Geburt des zweiten<br />

Kindes änderte der Angeklagte sein Verhalten. Er zeigte sich leicht reizbar <strong>und</strong> nahm alltägliche Belanglosigkeiten<br />

zum Anlass, A. N. zu beschimpfen <strong>und</strong> zu beleidigen. Ab dem Jahr 2000 kam es auch zu tätlichen Übergriffen.<br />

Diese ereigneten sich insbesondere dann, wenn sich A. N. dem Willen des Angeklagten widersetzte oder eine abweichende<br />

Meinung äußerte. A. N. lebte seit dieser Zeit in ständiger Angst <strong>und</strong> in der Erwartung neuerlicher Übergriffe.<br />

a) An einem Abend im Sommer 2009 äußerte der Angeklagte gegenüber A. N. in der gemeinsamen Ehewohnung den<br />

Wunsch, mit ihr den Analverkehr auszuüben. Obwohl sie sein Ansinnen entschieden ablehnte, holte der Angeklagte<br />

eine Fettcreme aus dem Badezimmer <strong>und</strong> begab sich zu A. N. , die sich bereits auf einer Schlafcouch im Wohnzimmer<br />

zum Schlafen niedergelegt hatte. Als der Angeklagte erneut k<strong>und</strong>tat, jetzt den Analverkehr durchführen zu wollen,<br />

lehnte A. N. dies wiederum ab <strong>und</strong> fügte hinzu, dass eine Ausübung des Analverkehrs gegen ihren Willen eine<br />

Vergewaltigung sei. Der Angeklagte gab A. N. daraufhin zu verstehen, dass sie sich nicht so anstellen solle <strong>und</strong> zog<br />

ihr die Schlafanzughose herunter. A. N. sah in dieser Situation keine Möglichkeit mehr, sich dem Willen des Angeklagten<br />

zu widersetzen. Für den Fall einer Gegenwehr rechnete sie mit Schlägen. Außerdem befürchtete sie, dass<br />

dann die beiden gemeinsamen Kinder erwachen <strong>und</strong> ebenfalls Opfer von Tätlichkeiten des Angeklagten werden<br />

könnten. Der Angeklagte vollzog nun mit der weinenden <strong>und</strong> sich vor Schmerzen windenden A. N. den Analverkehr<br />

bis zum Samenerguss. Dabei drückte er sie so an eine Wand, dass sie sich aus ihrer Position nicht befreien konnte.<br />

Bei alldem ging der Angeklagte davon aus, dass A. N. den Analverkehr nur deshalb ohne Gegenwehr erduldete, weil<br />

sie unter dem Eindruck der regelmäßig stattfindenden Übergriffe keine Chance sah, sich seinem Willen zu widersetzen<br />

<strong>und</strong> Angst um ihre eigene körperliche Unversehrtheit <strong>und</strong> die ihrer Kinder hatte. Im Fall einer Gegenwehr wäre<br />

der Angeklagte auch gewillt gewesen, sein Vorhaben mit Gewalt durchzusetzen. A. N. hatte bis zum nächsten Tag<br />

Schmerzen beim Sitzen <strong>und</strong> erlitt eine Blutung im Analbereich (Fall II. 4 der Urteilsgründe). Wenige Monate nach<br />

141


diesem Vorfall kehrte der Angeklagte mit A. N. von einem gemeinsamen Restaurantbesuch in die Ehewohnung zu<br />

rück. Während des gesamten Tages herrschte eine harmonische <strong>und</strong> ausgelassene Stimmung. Nachdem sich A. N.<br />

bereits schlafen gelegt hatte, trat der Angeklagte zu ihr an die Schlafcouch <strong>und</strong> kündigte an, ein weiteres Mal den<br />

Analverkehr mit ihr ausüben zu wollen. A. N. begann zu weinen <strong>und</strong> lehnte die Durchführung des Analverkehrs<br />

unter Hinweis auf die damit für sie verb<strong>und</strong>enen Schmerzen ab. Der Angeklagte erwiderte, dass Sex wehtun müsse,<br />

zog A. N. die Schlafanzughose aus <strong>und</strong> vollzog mit ihr den Analverkehr. A. N. verzichtete auf eine Gegenwehr, weil<br />

sie auch diesmal - trotz des harmonischen Tages - mit Gewalttätigkeiten des Angeklagten rechnete. Dem Angeklagten<br />

war bewusst, dass er nur deshalb keinen Widerstand zu erwarten hatte, weil ihn A. N. als einen Menschen kennengelernt<br />

hatte, der seine Wünsche notfalls unter Zuhilfenahme von Gewalt durchsetzt. Da sich A. N. vor Schmerzen<br />

hin <strong>und</strong> her wandte, glitt der Angeklagte mit seinem Penis aus ihrem After heraus. Obgleich er hierüber sehr<br />

erzürnt war, ließ er entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten von ihr ab <strong>und</strong> sprach in der Folgezeit kein Wort mehr<br />

(Fall II. 5 der Urteilsgründe).<br />

b) Das Landgericht hat angenommen, dass sich A. N. in beiden Fällen in einer schutzlosen Lage im Sinne des § 177<br />

Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> befand, weil sie auf Gr<strong>und</strong> äußerer <strong>und</strong> in ihrer Person liegender Faktoren keine effektive Möglichkeit<br />

hatte, sich der Einwirkung des Angeklagten zu entziehen oder erfolgversprechend Widerstand zu leisten. In<br />

der ehelichen Wohnung hielten sich neben A. N. <strong>und</strong> dem Angeklagten jeweils nur die gemeinsamen neun <strong>und</strong> zehn<br />

Jahre alten Kinder auf. Der Angeklagte war ihr <strong>und</strong> den Kindern körperlich überlegen. Auf Gr<strong>und</strong> ihrer Gewalterfahrungen<br />

lebte A. N. in ständiger Furcht vor neuen Übergriffen <strong>und</strong> verfügte nur über ein geringes Selbstbewusstsein.<br />

Es fiel ihr deshalb schwer, dem Willen des Angeklagten etwas entgegen zu setzen. Diese Lage wurde von dem Angeklagten<br />

bewusst ausgenutzt. Eine Gewaltanwendung (§ 177 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong>) oder eine Drohung mit gegenwärtiger<br />

Gefahr für Leib oder Leben (§ 177 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong>) hat das Landgericht nicht feststellen können. Soweit A.<br />

N. von dem Angeklagten bei der Ausführung des Analverkehrs gegen eine Wand gedrückt wurde, ist das Landgericht<br />

davon ausgegangen, dass dadurch nicht der sexuelle Kontakt erzwungen werden sollte (UA S. 42).<br />

2. Die Feststellungen belegen in beiden Fällen nicht, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 177 Abs. 1 Nr.<br />

3 <strong>StGB</strong> gegeben sind.<br />

a) Der objektive Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> setzt voraus, dass sich das Opfer in einer Lage befindet, in<br />

der es über keine effektiven Schutz- oder Verteidigungsmöglichkeiten mehr verfügt <strong>und</strong> deshalb nötigender Gewalt<br />

des Täters ausgeliefert ist (vgl. BGH, Beschluss vom 4. April 2007 – 4 StR 345/06, NJW 2007, 2341, 2343; Urteil<br />

vom 3. November 1998 – 1 StR 521/98, BGHSt 44, 228, 231 f.; MüKo<strong>StGB</strong>/Renzikowski, 2. Aufl., § 177 Rn. 43;<br />

LK/Hörnle, 12. Aufl., § 177 Rn. 98; SSW-<strong>StGB</strong>/Wolters § 177 Rn. 18 mwN). Hiervon ist auszugehen, wenn das<br />

Opfer bei objektiver ex-ante-Betrachtung keine Aussicht hat, sich den als mögliche Nötigungsmittel in Betracht zu<br />

ziehenden Gewalthandlungen des Täters zu widersetzen, sich seinem Zugriff durch Flucht zu entziehen oder fremde<br />

Hilfe zu erlangen. Dazu ist eine Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände vorzunehmen, bei der neben den äußeren<br />

Gegebenheiten (Beschaffenheit des Tatortes, Vorhandensein von Fluchtmöglichkeiten, Erreichbarkeit fremder<br />

Hilfe etc.) auch das individuelle Vermögen des Tatopfers zu wirksamem Widerstand oder erfolgreicher Flucht <strong>und</strong><br />

die Fähigkeit des Täters zur Anwendung von nötigender Gewalt in den Blick zu nehmen sind (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 17. November 2011 – 3 StR 359/11 Rn. 5 <strong>und</strong> 7; Urteil vom 25. Januar 2006 – 2 StR 345/05, BGHSt 50, 359,<br />

362 f.; Urteil vom 10. Oktober 2002 – 2 StR 153/02, NStZ-RR 2003, 42, 44).<br />

b) Den sich hieraus ergebenden Anforderungen hat das Landgericht nicht hinreichend Rechnung getragen. Bei der<br />

von ihm vorgenommenen Gesamtbewertung sind wichtige Gesichtspunkte außer Ansatz geblieben. So hat sich das<br />

Landgericht in beiden Fällen nicht mit eventuell gegebenen Fluchtmöglichkeiten von A. N. auseinandergesetzt. Die<br />

Tatsache, dass sich A. N. jeweils allein mit dem Angeklagten im Wohnzimmer der Familienwohnung befand <strong>und</strong><br />

von den schlafenden Kindern keine Hilfe erwarten konnte, belegt für sich genommen noch nicht, dass es ihr nicht<br />

möglich war, sich dem Angeklagten durch Flucht zu entziehen (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Juli 2004 – 4 StR<br />

229/04, NStZ 2005, 267 Rn. 2; Urteil vom 10. Oktober 2002 – 2 StR 153/02, NStZ-RR 2003, 42, 44; MüKo<strong>StGB</strong>/<br />

Renzikowski, 2. Aufl., § 177 Rn. 44; Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder 28. Aufl., § 177 Rn. 9). Konkrete Feststellungen<br />

zu den räumlichen Gegebenheiten in der Wohnung <strong>und</strong> zum Schließzustand der Türen hat das Landgericht<br />

nicht getroffen. Die mitgeteilten Begleitumstände legen es in beiden Fällen nicht nahe, dass der Angeklagte vorab<br />

darauf bedacht gewesen sein könnte, eventuelle Fluchtwege durch entsprechende Vorkehrungen zu versperren. Im<br />

Fall II. 4 der Urteilsgründe ließ er A. N. zunächst allein im Wohnzimmer zurück, nachdem er bereits angekündigt<br />

hatte, den Analverkehr durchführen zu wollen <strong>und</strong> auch ihren entgegenstehenden Willen kannte (UA S. 10). Im Fall<br />

II. 5 der Urteilsgründe herrschte zwischen den Eheleuten bis zur Tatsituation eine ausgelassene <strong>und</strong> harmonische<br />

Stimmung, die A. N. an den Beginn ihrer Beziehung erinnerte (UA S. 11). Zudem hätte sich das Landgericht auch<br />

eingehend mit der Frage befassen müssen, ob es A. N. in zumutbarer Weise möglich war, durch Schreie oder andere<br />

142


Geräusche fremde Hilfe zu erlangen. Die Feststellung, dass sie bei einer Gegenwehr mit Schlägen des Angeklagten<br />

rechnete <strong>und</strong> alles unterließ, was ihre Kinder wecken konnte, damit nicht auch sie Opfer befürchteter Übergriffe des<br />

Angeklagten werden (UA S. 10), belegt nur, dass sich A. N. schutzlos fühlte, weil sie keinen Weg sah, Dritte ohne<br />

Risiko für sich selbst <strong>und</strong> ihre Kinder auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Ob <strong>und</strong> inwieweit ihre Befürchtungen<br />

tatsächlich berechtigt waren <strong>und</strong> sie deshalb – worauf es hier maßgeblich ankommt – auch bei objektiver Betrachtung<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 17. November 2011 – 3 StR 359/11, Rn. 7; Urteil vom 25. Januar 2006 – 2 StR<br />

345/05, BGHSt 50, 359, 362 f.; a.A. MüKo<strong>StGB</strong>/ Renzikowski, 2. Aufl., § 177 Rn. 44 mwN) keine Möglichkeit<br />

hatte, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen, hat das Landgericht nicht geprüft, obgleich hierzu Anlass bestand. Die<br />

Eheleute wohnten in einem Mehrfamilienhaus. Der Nachbarin Ar. war auf Gr<strong>und</strong> von Gesprächen schon seit<br />

2007/2008 bekannt, dass A. N. unter gewalttätigen Übergriffen des Angeklagten litt (UA S. 13). Auch die Nachbarin<br />

P. wusste um die bestehenden Eheschwierigkeiten (UA S. 13). Wie sich aus den zu Fall II. 11 getroffenen Feststellungen<br />

ergibt, haben beide bei anderer Gelegenheit sofort an der Wohnungstür geklingelt, als sie aus der Wohnung<br />

Schreie des von dem Angeklagten misshandelten Sohnes R. hörten. Anschließend verständigten sie die Polizei. Als<br />

der Angeklagte durch A. N. hiervon erfuhr, ließ er sofort von R. ab <strong>und</strong> bemühte sich stattdessen um eine Verheimlichung<br />

des Vorgefallenen (UA S. 16). Danach versteht es sich nicht von selbst, dass Hilferufe ohne Resonanz geblieben<br />

wären <strong>und</strong> der Angeklagte hierauf tatsächlich mit Schlägen reagiert hätte. Sein Verhalten im Fall II. 11 der Urteilsgründe<br />

lässt auch die Möglichkeit offen, dass er aus Angst vor einer durch die Rufe erzeugten Aufmerksamkeit<br />

der Nachbarn <strong>und</strong> einer möglichen Verständigung der Polizei von seinem Vorhaben Abstand genommen <strong>und</strong> ohne<br />

tätlich zu werden versucht hätte, den Vorfall nicht bekannt werden zu lassen. Schließlich findet sich auch für die<br />

Annahme, der Angeklagte könnte die durch Geräusche geweckten Kinder schlagen, im Urteil keine ausreichende<br />

Tatsachengr<strong>und</strong>lage. Nach den Feststellungen wurde von dem Angeklagten nur der gemeinsame Sohn R. vielfach<br />

misshandelt, wobei er dies für eine Form der Erziehung hielt <strong>und</strong> damit jeweils auf vorheriges Fehlverhalten reagierte.<br />

Übergriffe zum Nachteil der Tochter B. werden im Urteil an keiner Stelle geschildert. Stattdessen ist davon die<br />

Rede, dass B. N. von dem Angeklagten verwöhnt <strong>und</strong> bevorzugt wurde (UA S. 13).<br />

Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung.<br />

3. Für die neue Verhandlung weist der Senat auf das Folgende hin: Eine sexuelle Nötigung durch Drohung mit gegenwärtiger<br />

Gefahr für Leib oder Leben (§ 177 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong>) begeht auch, wer eine sexuelle Handlung erzwingt,<br />

indem er durch ein schlüssiges Verhalten auf frühere Gewaltanwendungen hinweist oder frühere Drohungen<br />

konkludent bekräftigt (Nachweise bei Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder 28. Aufl., § 177 Rn. 7). Dabei kann auch<br />

Gewalt, die der Täter zuvor aus anderen Gründen angewendet hat, als gegenwärtige Drohung mit nötigendem körperlichem<br />

Zwang fortwirken. Der objektive Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> ist deshalb auch dann verwirklicht,<br />

wenn eine Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände ergibt, dass der Täter gegenüber dem Opfer durch häufige<br />

Schläge ein Klima der Angst <strong>und</strong> Einschüchterung geschaffen hat (BGH, Beschluss vom 1. Juli 2004 – 4 StR<br />

229/04, NStZ 2005, 267, 268; Urteil vom 6. Juli 1999 – 1 StR 216/99, NStZ 1999, 505; Urteil vom 31. August 1993<br />

– 1 StR 418/93, BGHR <strong>StGB</strong> § 177 Abs. 1 Drohung 8; vgl. Beschluss vom 5. April 1989 – 2 StR 557/88, BGHR<br />

<strong>StGB</strong> § 177 Abs. 1 Drohung 5) <strong>und</strong> das Opfer die ihm abverlangten sexuellen Handlungen nur deshalb duldet, weil<br />

es auf Gr<strong>und</strong> seiner Gewalterfahrungen mit dem Täter befürchtet, von ihm erneut körperlich misshandelt zu werden,<br />

falls es sich seinem Willen nicht beugt (BGH, Urteil vom 10. Oktober 2002 – 2 StR 153/02, NStZ-RR 2003, 42, 43;<br />

Beschluss vom 5. April 1989 – 2 StR 557/88, BGHR <strong>StGB</strong> § 177 Abs. 1 Drohung 5; Beschluss vom 15. März 1984 –<br />

1 StR 72/84, StV 1984, 330, 331). In subjektiver Hinsicht setzt § 177 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> in diesen Fällen voraus,<br />

dass der Täter die von seinem Vorverhalten ausgehende latente Androhung weiterer Misshandlungen in ihrer aktuellen<br />

Bedeutung für das Opfer erkennt <strong>und</strong> als Mittel zur Erzwingung der sexuellen Handlungen einsetzt (BGH, Beschluss<br />

vom 1. Juli 2004 – 4 StR 229/04, NStZ 2005, 267, 268; Urteil vom 10. Oktober 2002 – 2 StR 153/02, NStZ-<br />

RR 2003, 42, 43; Beschluss vom 26. Februar 1986 – 2 StR 76/86, NStZ 1986, 409; Beschluss vom 15. März 1984 –<br />

1 StR 72/84, StV 1984, 330, 331).<br />

II. Auch die Verurteilung des Angeklagten wegen Misshandlung eines Schutzbefohlenen tateinheitlich in acht Fällen,<br />

davon in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung gemäß den § 223 Abs. 1, § 225 Abs. 1 Nr. 2<br />

Alt. 1, § 52 <strong>StGB</strong> begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.<br />

1. Nach den Feststellungen schlug der Angeklagte seinen am 18. Dezember 1998 geborenen Sohn R. schon im<br />

Kleinkindalter mit der flachen Hand. Nach der Einschulung im Jahr 2005 begann er damit, seinen Sohn auch mit<br />

einem Pantoffel oder einem Gürtel zu schlagen. Der Angeklagte verstand diese Misshandlungen als körperliche<br />

Züchtigung <strong>und</strong> glaubte auf diese Weise, seine Erziehungsziele (Gehorsam, Disziplin <strong>und</strong> schulischer Erfolg) durchsetzen<br />

zu können. Durchschnittlich kam es einmal in der Woche zu einem Übergriff. Außerdem belegte der Angeklagte<br />

seinen Sohn R. vielfach mit herabsetzenden Äußerungen, die sich insbesondere auf seine Leibesfülle <strong>und</strong><br />

143


seine schulischen Leistungen bezogen. R. N. litt unter den Misshandlungen <strong>und</strong> dem erniedrigenden Verhalten des<br />

Angeklagten so sehr, dass er Mitte des Jahres 2009 von seiner Mutter die Trennung von dem Angeklagten forderte<br />

<strong>und</strong> seine Selbsttötung androhte. Im Einzelnen hat das Landgericht der Verurteilung folgende Übergriffe zugr<strong>und</strong>e<br />

gelegt:<br />

(1) An einem nicht mehr näher bestimmbaren Tag zwischen Sommer 2005 <strong>und</strong> Sommer 2007 warf der Angeklagte<br />

seinen Sohn R. auf den Boden des Kinderzimmers, weil er sich über eine Belanglosigkeit im Zusammenhang mit<br />

dem Schulbesuch geärgert hatte. Anschließend schleifte er ihn an den Beinen durch den Raum, wobei das Gesicht<br />

von R. N. über den Teppich gezogen wurde. Dieser erlitt dadurch eine Schürfw<strong>und</strong>e am Auge (Fall II. 7 der Urteilsgründe).<br />

(2) An einem nicht mehr näher bestimmbaren Tag im Sommer 2005 stieß der Angeklagte seinen Sohn R. zu Boden<br />

<strong>und</strong> zog ihn anschließend an einem Ohr nach oben, weil er in der Schule sein Pausenbrot mit einem farbigen Mitschüler<br />

getauscht hatte (Fall II. 8 der Urteilsgründe).<br />

(3) Im Februar 2008 schlug der Angeklagte seinem Sohn R. mehrfach mit den bloßen Händen auf den Oberkörper,<br />

nachdem eine Mathematikarbeit mit „ungenügend“ bewertet worden war. Als sich A. N. zwischen den Angeklagten<br />

<strong>und</strong> den gemeinsamen Sohn stellte, verdrehte ihr der Angeklagte zur Strafe die linke Hand. A. N. erlitt dadurch eine<br />

Bänderdehnung, die ärztlich behandelt werden musste (Fall II. 1 der Urteilsgründe).<br />

(4) Am Morgen des 28. November 2009 würgte der Angeklagte seine Ehefrau A. N. aus Wut über den am Vortag<br />

nicht zu Ende geführten Analverkehr bis zur Luftnot. Als R. N. den Versuch unternahm, den Angeklagten von seiner<br />

Mutter wegzuziehen, verdrehte ihm der Angeklagte den Arm <strong>und</strong> stieß ihn in schmerzhafter Art <strong>und</strong> Weise weg (Fall<br />

II. 6 der Urteilsgründe).<br />

(5) Im Dezember 2009 drückte der Angeklagte seinem Sohn R. beim Schneiden der Haare die Spitze der Friseurschere<br />

in die Kopfhaut, weil sich R. zuvor über einen unabsichtlichen Schnitt in das Ohr beklagt hatte. R. N. erlitt<br />

starke Schmerzen <strong>und</strong> begann zu weinen (Fall II. 9 der Urteilsgründe).<br />

(6) Am 19. Januar 2010 stellte sich der Angeklagte mit einem Fuß auf den Brustkorb des am Boden liegenden R. <strong>und</strong><br />

trat ihm zweimal in das Gesicht. Der Angeklagte reagierte damit auf die Weigerung seines Sohnes, weiter Sport zu<br />

treiben. Bei den Tritten trug der Angeklagte Badeschuhe (Fall II. 10 der Urteilsgründe).<br />

(7) Am 25. Januar 2010 versetzte der Angeklagte seinem Sohn R. mindestens fünf Schläge mit einem Hosengürtel<br />

auf die Beine <strong>und</strong> den Oberkörper, weil er bei dem Fertigen der Hausaufgaben Strichmännchen mit Geschlechtsmerkmalen<br />

gezeichnet hatte. Als R. laut zu schreien begann, klingelten die Nachbarinnen Ar. <strong>und</strong> P. gemeinsam an<br />

der Wohnungstür der Familie N. <strong>und</strong> verständigten die Polizei. Als der Angeklagte hiervon durch A. N. erfuhr, ließ<br />

er von seinem Sohn R. ab <strong>und</strong> drohte ihm an, dass er in ein Heim komme, wenn er von den Schlägen berichte (Fall<br />

II. 11 der Urteilsgründe).<br />

(8) Am 30. Januar 2010 schlug der Angeklagte mehrfach mit der flachen Hand auf seinen Sohn ein, weil er aus seiner<br />

Sicht unnötige Telefonkosten verursacht hatte. Als A. N. intervenierte <strong>und</strong> den Angeklagten fragte, ob der vorangegangene<br />

Vorfall mit der Polizei nicht genug gewesen sei, ließ er von R. ab (Fall II. 12 der Urteilsgründe). Das<br />

Landgericht hat angenommen, dass der Angeklagte durch die in den Fällen II. 1 <strong>und</strong> II. 6 bis II. 12 der Urteilsgründe<br />

festgestellten Körperverletzungshandlungen zum Nachteil seines Sohnes R. das Tatbestandsmerkmal des Quälens im<br />

Sinne von § 225 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 <strong>StGB</strong> verwirklicht hat. Dabei ist das Landgericht zugunsten des Angeklagten<br />

von einer „deliktischen Einheit der Geschehnisse im Sinne einer tatbestandlichen Handlungseinheit“ (UA S. 45)<br />

ausgegangen. Zur Begründung hat es auf die Identität des Geschädigten, die Kontinuität der Tatsituationen <strong>und</strong> die<br />

ohne Zäsur vorhandene gefühllose, das Leiden von R. missachtende Erziehungsmotivation des Angeklagten abgestellt.<br />

Danach lag bei dem Angeklagten ein den gesamten Tatzeitraum überspannender Vorsatz vor, seinen Sohn R.<br />

bei gegebenem Anlass körperlich zu züchtigen, um das eigene Wertesystem durchzusetzen. Die in den Fällen II. 1<br />

<strong>und</strong> 6 der Urteilsgründe begangenen Körperverletzungen zum Nachteil von A. N. stünden hierzu in Tateinheit.<br />

2. Hiergegen bestehen durchgreifende rechtliche Bedenken.<br />

a) Quälen im Sinne des § 225 Abs. 1 <strong>StGB</strong> bedeutet das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender<br />

Schmerzen oder Leiden (BGH, Urteil vom 17. Juli 2007 – 5 StR 92/07, NStZ-RR 2007, 304, 306; Urteil vom 6.<br />

Dezember 1995 – 2 StR 465/95, NStZ-RR 1996, 197; Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 768/94, BGHSt 41, 113,<br />

115), die über die typischen Auswirkungen der festgestellten einzelnen Körperverletzungshandlungen hinausgehen<br />

(BGH, Beschluss vom 7. Dezember 2006 – 2 StR 470/06). Mehrere Körperverletzungshandlungen, die für sich genommen<br />

noch nicht den Tatbestand des § 225 Abs. 1 <strong>StGB</strong> erfüllen, können als ein Quälen im Sinne dieser Vorschrift<br />

zu beurteilen sein, wenn erst die ständige Wiederholung den gegenüber § 223 <strong>StGB</strong> gesteigerten Unrechtsgehalt<br />

ausmacht. In diesem Fall werden die jeweiligen Einzelakte zu einer tatbestandlichen Handlungseinheit <strong>und</strong><br />

damit einer den Tatbestand des § 225 Abs. 1 <strong>StGB</strong> verwirklichenden Tat zusammengefasst (BGH, Urteil vom 17.<br />

144


Juli 2007 – 5 StR 92/07, NStZ-RR 2007, 304, 306; vgl. Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 768/94, BGHSt 41, 113,<br />

115; Warda in Festschrift Hirsch, 1999, S. 391, 395 f., 400; Wolfslast/Schmeissner JR 1996, 338). Ob sich mehrere<br />

Körperverletzungen zu einer als Quälen zu bezeichnenden Tathandlung zusammenfügen, ist auf Gr<strong>und</strong> einer Gesamtbetrachtung<br />

zu entscheiden. Regelmäßig wird es dabei erforderlich sein, dass sich die festgestellten einzelnen<br />

Gewalthandlungen als ein äußerlich <strong>und</strong> innerlich geschlossenes Geschehen darstellen. Dabei sind räumliche <strong>und</strong><br />

situative Zusammenhänge, zeitliche Dichte oder eine sämtliche Einzelakte prägende Gesinnung mögliche Indikatoren<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 2007 – 5 StR 92/07, NStZ-RR 2007, 304, 306; Warda in Festschrift Hirsch, 1999,<br />

S. 391, 395 f., 406 ff.). In subjektiver Hinsicht ist es erforderlich, dass der Täter bei jeder Einzelhandlung den Vorsatz<br />

hat, dem Opfer sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zuzufügen, die über die typischen Verletzungsfolgen<br />

hinausgehen, die mit der aktuellen Körperverletzungshandlung verb<strong>und</strong>en sind (vgl. BGH, Urteil vom<br />

17. Juli 2007 – 5 StR 92/07, NStZ-RR 2007, 304, 306; MüKo<strong>StGB</strong>/Hardtung § 225 Rn. 14; Hirsch NStZ 1996, 37;<br />

Wolfslast/Schmeissner JR 1996, 338, 339).<br />

b) Ausgehend hiervon wird der Schuldspruch wegen acht Fällen der Misshandlung von Schutzbefohlenen im Sinne<br />

von § 225 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> von den Feststellungen nicht getragen. Keine der geschilderten Gewalthandlungen hat<br />

zu länger andauernden oder sich wiederholenden Schmerzen geführt, die über die typischen Auswirkungen der festgestellten<br />

Körperverletzung hinausgegangen sind. Soweit das Landgericht – wie seine Ausführungen in der rechtlichen<br />

Würdigung nahelegen – davon ausgegangen ist, dass erst durch die Vielzahl der körperlichen Übergriffe ein<br />

Quälen im Sinne von § 225 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> bewirkt worden ist, vermag dies nur eine Verurteilung wegen einer<br />

Misshandlung von Schutzbefohlenen, nicht aber einen Schuldspruch wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in<br />

acht – lediglich zu Gunsten des Angeklagten zu einer Tateinheit zusammengeführten (UA S. 45) – Fällen zu rechtfertigen.<br />

Dessen ungeachtet begegnet auch eine Zusammenfassung aller festgestellten acht Einzeltaten zu einer tatbestandlichen<br />

Handlungseinheit durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die unter II. 7 der Urteilsgründe dargestellte<br />

erste konkretisierte Körperverletzungshandlung wurde zwischen Sommer 2005 <strong>und</strong> Sommer 2007 begangen. Tatzeit<br />

der unter II. 8 der Urteilsgründe festgestellten Körperverletzung ist der Sommer 2005. Der unter II. 1 der Urteilsgründe<br />

geschilderte körperliche Übergriff fand im Februar 2008 statt. Ab dem 28. November 2009 schlossen sich<br />

dann bis zum 30. Januar 2010 die unter II. 6 <strong>und</strong> II. 9 bis II. 12 festgestellten Körperverletzungen an. Der Begriff des<br />

Quälens in § 225 Abs. 1 <strong>StGB</strong> setzt zwar nicht notwendig voraus, dass zwischen den einzelnen <strong>Teil</strong>akten ein enger<br />

zeitlicher Zusammenhang besteht. Intervalle von mehreren Tagen, bis hin zu einigen Wochen, können daher unschädlich<br />

sein, wenn das Gesamtgeschehen auf Gr<strong>und</strong> anderer Umstände innerlich <strong>und</strong> äußerlich geschlossen bleibt<br />

(vgl. MüKo<strong>StGB</strong>/Hardtung § 225 Rn. 14; Warda in Festschrift Hirsch, 1999, S. 391, 395 f., 406 f.). Mehrere Monate<br />

oder sogar Jahre auseinander liegende Körperverletzungshandlungen werden in der Regel aber nicht mehr als eine<br />

einzige dem Opfer bereitete Qual verstanden werden können. Die allgemein gehaltene Feststellung des Landgerichts<br />

(UA S. 14), wonach der Angeklagte ab dem Jahr 2005 durchschnittlich einmal in der Woche seinen Sohn geschlagen<br />

hat, ist nicht hinreichend bestimmt, um die Annahme einer sich über mehr als vier Jahre hinziehenden tatbestandlichen<br />

Handlungseinheit zu rechtfertigen. Schließlich sind auch die Erwägungen des Landgerichts zum inneren Tatbestand<br />

nicht tragfähig. Nach den Feststellungen ging es dem Angeklagten bei den einzelnen Taten stets darum, seinen<br />

Sohn R. für ein – aus seiner Sicht gegebenes – vorangegangenes Fehlverhalten körperlich zu züchtigen, um die von<br />

ihm angestrebten Erziehungsziele durchzusetzen (UA S. 7 <strong>und</strong> 13 f.). Dies spricht dafür, dass jeder Einzeltat ein<br />

anlassbezogener neuer Tatentschluss des Angeklagten zu Gr<strong>und</strong>e lag (vgl. Hirsch NStZ 1996, 37). Ein übergreifender<br />

Vorsatz, der auf die Zufügung sich wiederholender <strong>und</strong> über die konkreten Tatfolgen hinausgehender erheblicher<br />

Schmerzen oder Leiden gerichtet ist, wird dadurch nicht belegt.<br />

c) Die Aufhebung erfasst auch die an sich rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung (§<br />

223 Abs. 1 <strong>StGB</strong>) in zwei Fällen zum Nachteil von A. N. . Das Landgericht hat jeweils Tateinheit angenommen <strong>und</strong><br />

damit einen eine <strong>Teil</strong>aufhebung hindernden Zusammenhang hergestellt. Die Feststellungen zum äußeren Tageschehen<br />

bleiben aufrechterhalten, weil sie auf einer sorgfältigen <strong>und</strong> rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung beruhen <strong>und</strong><br />

von der Gesetzesverletzung nicht berührt werden (§ 353 Abs. 2 StPO). Soweit der Angeklagte eine Verletzung der<br />

Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO geltend macht, weil die Akten eines früheren, die Zeugin A. N. betreffenden<br />

Scheidungsverfahrens nicht beigezogen worden sind, entspricht sein Vorbringen nicht den Erfordernissen des<br />

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Eine zulässige Aufklärungsrüge setzt voraus, dass ein bestimmtes Beweismittel <strong>und</strong> ein<br />

bestimmtes zu erwartendes Beweisergebnis benannt werden (BGH, Beschluss vom 23. November 2004 – KRB<br />

23/04, NJW 2005, 1381, 1382; KK-StPO/Fischer, 6. Aufl., § 244 Rn. 216). Die bloße Bezeichnung einer Akte <strong>und</strong><br />

die Angabe, dass sich aus dieser Akte die Unwahrheit einzelner Angaben der Zeugin A. N. <strong>und</strong> das Vorliegen einer<br />

„tiefgreifenden psychischen Störung“ bei dieser Zeugin ergeben hätte, reicht dafür nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom<br />

145


29. August 1990 – 3 StR 184/90, NStZ 1990, 602). Durch die Aufhebungen wird auch dem Gesamtstrafenausspruch<br />

die Gr<strong>und</strong>lage entzogen.<br />

<strong>StGB</strong> § 227 Tötungsvorsatz Arzt Schönheitsoperation mit Komplikation<br />

BGH, Urt. v. 07.06.2011 – 5 StR 561/10 BGHSt 56, 277= NJW 2011, 2895 m. Anm. Kudlich 2856<br />

LS: Zur Strafbarkeit gemäß § 227 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> zum Tötungsvorsatz eines Schönheitschirurgen, der es<br />

vorübergehend unterlassen hat, seine wegen eines Aufklärungsmangels rechtswidrig operierte komatöse<br />

Patientin zur cerebralen Reanimation in ein Krankenhaus einzuweisen.<br />

Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 7. Juli 2011 für Recht erkannt:<br />

1. Auf die Revisionen des Angeklagten <strong>und</strong> des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 1. März<br />

2010 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Davon ausgenommen bleiben die Feststellungen zum objektiven<br />

<strong>und</strong> subjektiven Tathergang, die zur Begründung des Verbrechens der Körperverletzung mit Todesfolge getroffen<br />

worden sind, sowie die Feststellungen zu den objektiven Tatumständen im Übrigen <strong>und</strong> diejenigen zur Person<br />

des Angeklagten. All diese Feststellungen bleiben aufrechterhalten. Insoweit werden die Rechtsmittel verworfen.<br />

2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das genannte Urteil im Strafausspruch <strong>und</strong> in der zur konventionswidrigen<br />

Verfahrensverzögerung ergangenen Kompensationsentscheidung aufgehoben.<br />

3. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Totschlag<br />

zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt <strong>und</strong> auf ein vierjähriges Berufsverbot als<br />

niedergelassener Chirurg, Sportmediziner <strong>und</strong> Arzt im Rettungsdienst erkannt. Die Schwurgerichtskammer hat ferner<br />

ein Jahr der verhängten Strafe wegen überlanger Verfahrensdauer für vollstreckt erklärt. Die gegen dieses Urteil<br />

gerichteten Revisionen des Angeklagten <strong>und</strong> des Nebenklägers erzielen die aus der Urteilsformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolge.<br />

Die auf <strong>Teil</strong>e des Rechtsfolgenausspruchs beschränkte, vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertretene Revision der<br />

Staatsanwaltschaft ist umfassend begründet.<br />

1. Das Landgericht hat zur Person des Angeklagten <strong>und</strong> zum objektiven Tatgeschehen im Wesentlichen folgende<br />

Feststellungen getroffen:<br />

a) Der seit 1988 im Fach Unfallchirurgie habilitierte Angeklagte war nach früheren Tätigkeiten als Assistenzarzt in<br />

der plastischen Chirurgie <strong>und</strong> als Stationsarzt in der Unfallchirurgie von 1985 bis 1995 als Oberarzt in der Unfallchirurgie<br />

des Universitätsklinikums Marburg tätig. Zu seinen Aufgaben gehörten die Erstversorgung von Schwerverletzten<br />

<strong>und</strong> ihre weitere Betreuung bis hin zur Rehabilitation. Zudem führte er selbständig viele Lokal- <strong>und</strong> Regionalanästhesien<br />

durch. Ab 1994 betrieb der Angeklagte als ambulant praktizierender Chirurg eine Tagesklinik in<br />

Berlin. Er nahm zahlreiche plastische chirurgische Eingriffe vor, darunter auch viele Schönheitsoperationen.<br />

b) Am 30. März 2006 unterzog sich die 49 Jahre alte ges<strong>und</strong>e Sch. bei dem Angeklagten von 9.00 Uhr bis 12.30 Uhr<br />

einer Bauchdeckenstraffung, verb<strong>und</strong>en mit einer Fettabsaugung, Entfernung einer Blinddarmoperationsnarbe <strong>und</strong><br />

Versetzung des Bauchnabels. Für die Operation <strong>und</strong> das schmerzausschaltende Verfahren hatte sie am 22. März 2006<br />

schriftlich ihr Einverständnis erklärt. Der Angeklagte sicherte Frau Sch. der Wahrheit zuwider zu, dass am Tag der<br />

Operation ein Anästhesist zugegen sein werde. Auf ihre in Anwesenheit ihres Ehemanns vor Beginn des Eingriffs<br />

gestellte Frage, wo der Anästhesist sei, antwortete eine der Arzthelferinnen, „dass dies der Doktor gleich mache“<br />

(UA S. 7, 23). Gegen 8.00 Uhr erhielt die Patientin Beruhigungsmittel <strong>und</strong> wurde im Operationssaal an Überwachungsgeräte<br />

angeschlossen, mittels derer die Frequenz des Herzschlages, der Erregungsablauf des Herzens, der<br />

Blutdruck <strong>und</strong> die Sättigung des Blutes mit Sauerstoff gemessen wurden. Eine Blutgasmessung, mit der die Sauerstoffversorgung<br />

des Gehirns zu bestimmen ist, erfolgte dabei nicht. 20 Minuten vor Beginn der Operation wurde die<br />

Narkose eingeleitet <strong>und</strong> kurz darauf vom Angeklagten eine Periduralanästhesie gesetzt. Gegen 9.00 Uhr füllte der<br />

Angeklagte die Bauchareale der Patientin, aus denen Fett abgesaugt werden sollte, mit einer Tumeszenzlösung. Gegen<br />

Ende des Eingriffs (11.00 Uhr <strong>und</strong> 12.15 Uhr) wurden weitere Narkosemittel zugeführt. Beim Schließen der<br />

W<strong>und</strong>e gegen 12.30 Uhr kam es bei der Patientin zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand. Der Angeklagte reanimierte<br />

mittels einer Herzdruckmassage. Währenddessen erbrach die Patientin. Nach Säuberung des M<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Rachenraums<br />

fuhr der Angeklagte mit der Massage fort. Zum Offenhalten der Atemwege setzte er einen Guedel-Tubus ein,<br />

146


der nicht vor Aspiration schützt. Er verabreichte Sauerstoff mittels einer Maske <strong>und</strong> führte Adrenalin <strong>und</strong> andere<br />

Medikamente zu. Gegen 13.00 Uhr befand sich die Herzfrequenz wieder im Normbereich bei zwischen 12.20 Uhr<br />

bis noch 13.20 Uhr stark abgesenktem Blutdruck. Die Patientin atmete spontan <strong>und</strong> erhielt Infusionen <strong>und</strong> blutdrucksteigernde<br />

Medikamente in nicht dokumentierter Menge <strong>und</strong> zu nicht dokumentierten Zeitpunkten. Bei Dienstende<br />

der Arzthelferin R. gegen 14.30 Uhr waren die „Vitalwerte“ wieder im Normbereich, der äußere Zustand der Patientin<br />

war indes unverändert. Die Helferin fragte sich, ob nicht besser ein Notarzt zu alarmieren sei; sie traute sich aber<br />

nicht, dies anzusprechen, weil sich der cholerische Angeklagte nichts hätte sagen lassen. Die Patientin erlangte auch<br />

nach Abklingen der Wirkung der Narkosemittel ihr Bewusstsein nicht wieder.<br />

c) Der Angeklagte führte seine Sprechst<strong>und</strong>e weiter <strong>und</strong> sah in regelmäßigen Abständen nach der Patientin. Er ließ<br />

deren Ehemann gegen 15.00 Uhr der Wahrheit zuwider ausrichten, dass seine Frau aufgewacht <strong>und</strong> alles in Ordnung<br />

sei. Sie schlafe jedoch immer wieder ein, weshalb er nicht mit ihr sprechen könne. Gegen 18.00 Uhr erklärte der<br />

Angeklagte dem Nebenkläger erneut, mit seiner Frau sei alles in Ordnung, er wolle sie aber über Nacht in ein Krankenhaus<br />

bringen, da sie immer wieder einschlafe. Gleiches bek<strong>und</strong>ete er gegen 18.30 Uhr gegenüber einer Ärztin des<br />

Sankt Gertrauden Krankenhauses, als er anfragte, ob ein Bett auf der Intensivstation zur Verfügung stehe. Der Angeklagte<br />

bestellte gegen 19.10 Uhr einen Krankentransportwagen ohne intensivmedizinische Ausrüstung, der um 19.45<br />

Uhr eintraf. Die Transportsanitäter erkannten sofort den Ernst der Lage der bewusstlosen Patientin <strong>und</strong> bemerkten<br />

anhand ihrer lockeren Extremitäten, ihrer Hautfärbung <strong>und</strong> der Schweißbildung, dass sie Sauerstoff benötige. Der<br />

Angeklagte widersetzte sich zunächst der Absicht eines Rettungssanitäters, mit Blaulicht <strong>und</strong> Martinshorn zum<br />

Krankenhaus zu fahren. Letzterer bestand nach lautstark <strong>und</strong> erregt geführter Diskussion darauf <strong>und</strong> machte den<br />

Angeklagten verantwortlich für den Einsatz der Sonderrechte. Der Angeklagte verschwieg bei der Einlieferung der<br />

komatösen Patientin auf der Intensivstation gegen 20.00 Uhr den eingetretenen Herzstillstand mit nachfolgender<br />

Reanimation <strong>und</strong> die Aspiration der Patientin. Er übergab keine Krankenunterlagen <strong>und</strong> teilte die verabreichten Medikamente<br />

nicht mit. Er war später über die hinterlassene Mobilfunktelefonnummer für die Ärzte des Krankenhauses<br />

nicht erreichbar. Die Zusage, die Patientenunterlagen alsbald zu übergeben, erfüllte er nicht. Erst am 3. April 2006<br />

händigte er dem Nebenkläger, der mit der Einschaltung der Polizei gedroht hatte, eine Kopie des Operationsberichtes<br />

<strong>und</strong> des Narkoseprotokolls aus. Sch. verstarb am 12. April 2006 im Krankenhaus an den Folgen einer globalen Hirnsubstanzerweichung,<br />

ohne das Bewusstsein zuvor wiedererlangt zu haben.<br />

2. Zu den medizinisch relevanten Zusammenhängen hat das Landgericht mit Hilfe von mehreren medizinischen<br />

Sachverständigen folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

a) Die Vornahme der komplexen mehrstündigen Operation ohne Hinzuziehung eines Anästhesisten entsprach nicht<br />

dem ärztlichen Standard: Die Betäubung durch eine Periduralanästhesie in Verbindung mit der Verabreichung einer<br />

Tumeszenzlösung sowie zentral wirkender Opiate stelle sowohl in ihren Einzelkomponenten aber besonders in ihrer<br />

Kombination ein mit bekannten Risiken behaftetes Verfahren dar, das zu einer erheblichen Beeinträchtigung der<br />

Vitalfunktionen des Patienten führe. Eine gebotene Überwachung durch einen Anästhesisten hätte die Chancen einer<br />

früheren Diagnose des lebensbedrohlichen Zustands <strong>und</strong> einer folgenden adäquaten Therapie deutlich verbessert,<br />

wodurch sich die Überlebenschancen erhöht hätten.<br />

b) Der Angeklagte behandelte Sch. nach der Reanimation unter groben Verstößen gegen die ärztliche Kunst, indem<br />

er der spontan atmenden Patientin lediglich Infusionen <strong>und</strong> blutdrucksteigernde Medikamente verabreichte: Nachdem<br />

der Angeklagte mangels Blutgasanalyse nicht feststellen konnte, ob dem Gehirn der Patientin genügend Sauerstoff<br />

zugeführt würde, wäre eine endotrachiale Intubation mit zusätzlicher Sauerstoffbeatmung <strong>und</strong> – bei der unklar<br />

gebliebenen Ursache des Herz-Kreislauf-Stillstands – eine sofortige Verlegung der Patientin zur cerebralen Reanimation<br />

in eine Intensivstation vorzunehmen gewesen.<br />

c) Wann genau die irreversible, zum Tode führende Hirnschädigung durch Sauerstoffunterversorgung nach der Wiederbelebung<br />

in der Praxis des Angeklagten eingetreten war, konnte nicht sicher geklärt werden. Jedenfalls litt die<br />

Patientin zum Zeitpunkt ihrer Ankunft im Krankenhaus bereits an einer schweren posthypoxischen Hirnschädigung,<br />

die, wie eine Auswertung computertomographischer Aufnahmen vom 30. <strong>und</strong> 31. März 2006 in Zusammenschau mit<br />

den bekannten Tatsachen zur Entwicklung des Zustands der Patientin ergab, in den Nachmittagsst<strong>und</strong>en des 30.<br />

März 2006 entstanden war. Bei einer sofortigen Verlegung in ein Krankenhaus nach der Reanimation hätte die Patientin<br />

mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überlebt, zumindest eine nicht unerhebliche Zeit länger gelebt.<br />

d) Das Landgericht hat unterschiedliche Einwände des Angeklagten, mit denen er sein Verhalten als medizinisch<br />

begründet dargelegt hat, mit Hilfe von Sachverständigengutachten <strong>und</strong> Zeugenbek<strong>und</strong>ungen widerlegt. Danach war<br />

seine Patientin nach der Reanimation wie nahezu jeder schwer erkrankte Mensch transportfähig. Eine den Transport<br />

erschwerende Rechtsherzinsuffizienz lag nicht vor. Die vom Angeklagten nicht für möglich gehaltene weitergehende<br />

147


Intubation der Patientin ist im Krankenhaus als erste Maßnahme komplikationslos erfolgt. Der Zustand der Patientin<br />

in der Tagesklinik des Angeklagten hatte sich nicht gebessert. Eine fehlerhafte Behandlung durch Ärzte im Sankt<br />

Gertrauden Krankenhaus hat das Landgericht beweiswürdigend ausgeschlossen.<br />

3. Hinsichtlich des subjektiven Tatbestandes hat das Landgericht im Wesentlichen folgende Erwägungen zugr<strong>und</strong>e<br />

gelegt:<br />

a) Das sich aus den Umständen der komplexen Operation ergebende Erfordernis, einen Anästhesisten zumindest in<br />

Rufbereitschaft in der Praxis zur Verfügung zu haben, sei dem Angeklagten aufgr<strong>und</strong> seiner Ausbildung <strong>und</strong> Berufserfahrung<br />

bekannt gewesen.<br />

b) Die Kenntnis des Gebots, eine nach Wiedereintritt des Herzschlages noch bewusstlose Patientin in der Postreanimationsphase<br />

in Begleitung eines Notarztes in die nächstgelegene Intensivstation zu verbringen, erachtete die<br />

Schwurgerichtskammer als für das Wissen eines jeden Arztes derart gr<strong>und</strong>legend, dass der in der Rettungs- <strong>und</strong><br />

Intensivmedizin langjährig erfahrene Angeklagte hierüber jedenfalls verfügte. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> nach dem<br />

Hinweis des Angeklagten auf einen möglichen tödlichen Verlauf der Operation im Rahmen der Aufklärung hat das<br />

Landgericht angenommen, dass für den Angeklagten die Gefahr des Todeseintritts vorhersehbar war.<br />

c) Nachdem ab 15.00 Uhr der übliche Zeitraum für das Abklingen der Narkosemittel längst verstrichen war <strong>und</strong> sich<br />

der Zustand der Patientin nicht verbessert hatte, erkannte der Angeklagte sogar die Gefahr eines tödlichen Ausgangs<br />

als möglich <strong>und</strong> nicht ganz fernliegend. Aus dem Geschehensablauf <strong>und</strong> der Interessenlage hat das Landgericht gefolgert,<br />

„dass der Angeklagte zumindest unter anderem deswegen Sch. erst am Abend des 30. März 2006 in ein<br />

Krankenhaus verbringen ließ, weil er bei Bekanntwerden des Zwischenfalles einen drohenden Ansehensverlust sowie<br />

um seine wirtschaftliche <strong>und</strong> berufliche Existenz fürchtete. Darüber hinaus wusste er, dass die vorgenommene<br />

Operation ohne Anästhesist nicht dem ärztlichen Standard entsprach <strong>und</strong> er seine Patientin nach dem Herzstillstand<br />

nur unzureichend weiterbehandelt hatte“ (UA S. 49). Er habe das Geschehen fortan heruntergespielt <strong>und</strong> versucht,<br />

den Sachverhalt zu verschleiern. „Dabei ging er so weit, dass er selbst seinen Kollegen im Sankt Gertrauden Krankenhaus<br />

völlig unzureichende Informationen gab <strong>und</strong> keine aussagekräftigen Patientenunterlagen übergab“ (UA S.<br />

49). Die Schwurgerichtskammer nahm dabei systematische Vertuschungs- <strong>und</strong> Verharmlosungshandlungen an, die<br />

belegen, dass der Angeklagte aus sachfremden Motiven keinen Rettungswagen angefordert hatte. Solches führe zur<br />

Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes ab 15.00 Uhr, als der Angeklagte die für seine Patientin eingetretene<br />

Lebensgefahr erkannt hatte. Im Hinblick auf die zeitliche Unsicherheit des Eintritts der irreversiblen Gehirnschädigung<br />

begründet dies im Zweifel eine Strafbarkeit als untauglicher Totschlagsversuch.<br />

4. Die Revision des Angeklagten führt mit Sachrüge zur Aufhebung des Schuldspruchs. Hierdurch entfallen auch der<br />

Straf- <strong>und</strong> der Maßregelausspruch. Die Feststellungen zu den objektiven Tatumständen <strong>und</strong> zu deren Verwirklichung<br />

durch den Angeklagten als Körperverletzung mit Todesfolge (zusammengefasst sub 1 bis 3 b dieses Urteils) bleiben<br />

– wie auch die fehlerfrei getroffenen Feststellungen zur Person des Angeklagten – aufrecht erhalten. Sie sind von<br />

dem durchgreifenden Rechtsfehler nicht erfasst. Das neue Tatgericht kann zu diesem Bereich allenfalls weitergehende<br />

Feststellungen treffen, die zu den getroffenen nicht in Widerspruch stehen.<br />

a) Die Verfahrensrügen sind unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Sie greifen jedenfalls in der Sache aus<br />

den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom 9. Februar 2011 nicht durch. Verfahrensfehlerhafte<br />

Ermittlungsdefizite zu einer etwa todesursächlichen fehlerhaften Behandlung der Patientin im Sankt Gertrauden<br />

Krankenhaus <strong>und</strong> hinsichtlich der Notwendigkeit, einen Anästhesisten hinzuzuziehen, liegen nicht vor.<br />

b) Die sachlichrechtlichen Revisionsangriffe gegen die beweiswürdigenden Erwägungen des Landgerichts hinsichtlich<br />

des Umfangs der Aufklärung durch den Angeklagten bedürfen keiner vertiefenden Betrachtung. Schon nach<br />

dessen Einlassung durfte die Schwurgerichtskammer davon ausgehen, dass eine Aufklärung der Patientin darüber,<br />

dass die Hinzuziehung eines Anästhesisten medizinisch geboten war, nicht erfolgt ist. Dies berechtigte zur Annahme<br />

eines durchgreifenden Aufklärungsmangels (BGH, Urteil vom 19. November 1997 – 3 StR 271/97, BGHSt 43, 306,<br />

309). Fehlerfrei hat das Landgericht festgestellt, dass die Patientin unter dieser Prämisse die Vornahme der Operation<br />

abgelehnt hätte, deren Durchführung ohne Anästhesisten sie ersichtlich auch nicht etwa kurzfristig bei Kenntnis von<br />

der Situation zu Beginn des Eingriffs schlüssig gebilligt hat. Dies führt zu der Bewertung des Eingriffs als Körperverletzung<br />

(vgl. BGHSt aaO S. 309; BGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 – 3 StR 239/10, NJW 2011, 1088, 1089,<br />

zur Aufnahme in BGHSt bestimmt; BGH, Urteile vom 25. September 1990 – 5 StR 342/90 – <strong>und</strong> 5. Juli 2007 – 4<br />

StR 549/06, BGHR <strong>StGB</strong> § 223 Abs. 1 Heileingriff 2 <strong>und</strong> 8).<br />

c) Indes hält die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand. Das Landgericht<br />

hat das Willenselement des bedingten Tötungsvorsatzes nur mit lückenhaften, die Feststellungen zum Handlungsablauf<br />

<strong>und</strong> zur Interessenlage nicht erschöpfenden Erwägungen belegt.<br />

148


aa) Das Willenselement des bedingten Vorsatzes ist bei Tötungsdelikten nur gegeben, wenn der Täter den von ihm<br />

als möglich erkannten Eintritt des Todes billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen damit abfindet. Bewusste<br />

Fahrlässigkeit liegt hingegen dann vor, wenn er mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden<br />

ist <strong>und</strong> ernsthaft – nicht nur vage – darauf vertraut, der Tod werde nicht eintreten (st. Rspr.; vgl. BGH,<br />

Urteil vom 18. Oktober 2007 – 3 StR 226/07, NStZ 2008, 93 mwN; BGH, Urteil vom 27. Januar 2011 – 4 StR<br />

502/10). Da beide Schuldformen im Grenzbereich eng beieinander liegen, ist bei der Prüfung, ob der Täter vorsätzlich<br />

gehandelt hat, eine Gesamtschau aller objektiven <strong>und</strong> subjektiven Tatumstände geboten (st. Rspr.; vgl. BGH<br />

aaO). Diese hat das Landgericht nicht in dem gebotenen Umfang vorgenommen.<br />

bb) Zwar hat es – im Einklang mit einen ähnlichen Ausgangssachverhalt würdigenden Urteilen des 1. Strafsenats des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs (vom 26. Juni 2003 – 1 StR 269/02, NStZ 2004, 35, <strong>und</strong> vom 7. Dezember 2005 – 1 StR 391/05)<br />

– zutreffend angenommen, dass eine ausdrückliche Erörterung der Frage, ob ein Arzt einen Patienten vorsätzlich am<br />

Leben oder an der Ges<strong>und</strong>heit geschädigt hat, geboten ist, falls nach Eintritt von Komplikationen der Arzt aus sachfremden<br />

Motiven keinen Rettungswagen angefordert hat. Das Vorliegen solcher Motive beschreibt indes keinen<br />

Erfahrungssatz, aus dem auf das Willenselement des bedingten Tötungsvorsatzes zu schließen wäre, sondern diese<br />

bedürfen ihrerseits wertender Betrachtung im Rahmen der gebotenen Gesamtschau. Die Schwurgerichtskammer hat<br />

– im Gegensatz zu den argumentativ herangezogenen Umständen aus dem vom 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

gewürdigten Fall – nicht auf Äußerungen des Angeklagten selbst <strong>und</strong> offensichtliche, absehbar dramatisch verlaufende<br />

lebensbedrohende Verletzungen abstellen können, aus denen weitergehend auf sachfremde Beweggründe seines<br />

Handelns zu schließen war. Sie hat allein den Vertuschungshandlungen des Angeklagten das Motiv entnommen,<br />

zum Schutz seiner eigenen Interessen eine Aufdeckung seines ärztlichen Fehlverhaltens zu verhindern; dieserhalb<br />

habe er sich mit dem Tod der Patientin abgef<strong>und</strong>en. Diese Schlussfolgerung entbehrt indes der argumentativen Auseinandersetzung<br />

mit gegenläufigen, im Urteil festgestellten Umständen, die vielmehr die Annahme bewusster Fahrlässigkeit<br />

rechtfertigen könnten. Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass ein rational verankerter Zusammenhang<br />

zwischen dem angenommenen Handlungsmotiv – Vertuschung von Fehlern zur Schonung eigener Interessen –<br />

<strong>und</strong> dem Tod der Patientin wenigstens bei zu erwartendem Todeseintritt in der Tagesklinik des Angeklagten schwerlich<br />

bestehen kann: Dass die Operation ohne Anästhesist, aber mit Komplikationen vorgenommen worden war,<br />

konnte keinesfalls – schon gar nicht gegenüber dem ständig auf Aufklärung dringenden Ehemann der Patientin –<br />

längere Zeit verborgen werden. Ein Todeseintritt in der Tagesklinik hätte bei der zur Wahrung zivilrechtlicher Ansprüche<br />

des Nebenklägers sicher zu erwartenden Obduktion die Erkenntnis der wahren Todesursache, der ärztlichen<br />

Fehler des Angeklagten, ergeben. Zudem erwägt das Landgericht im Rahmen von Überlegungen zu einem Rücktritt<br />

vom Totschlagsversuch, dass der Angeklagte „es für möglich hielt, dass Sch. ohne Verlegung auf eine Intensivstation<br />

sterben würde“ (UA S. 58); hiernach hielt er sogar zu einem relativ späten Zeitpunkt noch eine Rettung der Patientin<br />

im Krankenhaus für möglich. Einer starken Skepsis am Überleben der Patientin <strong>und</strong> einer damit einhergehenden<br />

Billigung ihres Todes wenigstens bis zum Transport ins Krankenhaus widerstreiten namentlich die – erst im<br />

Rahmen der Erörterung des Mordmerkmals der anderen niedrigen Beweggründe erörterten – festgestellten Antriebe<br />

für das pflichtwidrige Handeln des Angeklagten, nämlich „Eigenüberschätzung <strong>und</strong> Verbohrtheit“ (UA S. 59). Die<br />

Annahme des Willenselements des Tötungsvorsatzes vor dem Entschluss des Angeklagten, die Patientin in ein Krankenhaus<br />

zu verlegen, hat demnach keinen Bestand.<br />

d) Der Angeklagte ist auch dadurch rechtsfehlerhaft beschwert, dass das Landgericht einen Versuch durch aktives<br />

Tun anstatt einen für den Angeklagten günstigeren (untauglichen) Versuch durch Unterlassen (vgl. § 13 Abs. 2<br />

<strong>StGB</strong>) angenommen hat. Die von der Schwurgerichtskammer als Beleg seiner Auffassung zur Begründung aktiven<br />

Tuns herangezogenen Entscheidungen des 1. Strafsenats des B<strong>und</strong>esgerichtshofs (Beschluss vom 21. März 2002 – 1<br />

StR 53/02; Urteil vom 26. Juni 2003 – 1 StR 269/02, NStZ 2004, 35) rechtfertigen solches nicht. Ihnen lagen mehrere<br />

Behandlungsfehler – <strong>und</strong> damit aktives Tun – zugr<strong>und</strong>e. Die Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs stellt zur<br />

Lösung der Abgrenzungsproblematik wertend auf den Schwerpunkt des Vorwurfs ab (vgl. BGH [GS], Beschluss<br />

vom 17. Februar 1954 – GSSt 3/53, BGHSt 6, 46, 59; BGH, Urteil vom 13. September 1994 – 1 StR 357/94, BGHSt<br />

40, 257, 265 f.; BGH, Urteil vom 12. Juli 2005 – 1 StR 65/05, NStZ-RR 2006, 174; vgl. auch BGH, Urteil vom 25.<br />

Juni 2010 – 2 StR 454/09, NJW 2010, 2963, 2966, zur Aufnahme in BGHSt bestimmt). Dieser liegt nach den fehlerfrei<br />

getroffenen Feststellungen hier im Unterlassen der Veranlassung der medizinisch gebotenen cerebralen Reanimation<br />

in einer Intensivstation eines Krankenhauses <strong>und</strong> nicht im bloßen Zuführen – zudem eher nutzloser – kreislaufstabilisierender<br />

Medikamente. Den Unterlassungsvorwurf hat das Landgericht selbst in seiner wertenden Betrachtung<br />

(UA S. 55) als zentral angesehen.<br />

e) Wegen der vom Landgericht angenommenen Tateinheit (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 2008 – 4 StR 438/08,<br />

StV 2009, 472; BGH, Urteil vom 7. Dezember 2005 – 1 StR 391/05) hat auch der Schuldspruch wegen Körperverlet-<br />

149


zung mit Todesfolge zu entfallen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 1997 – 4 StR 642/96, BGHR StPO § 353 Aufhebung<br />

1), der indes auf der Gr<strong>und</strong>lage der bisher getroffenen Feststellungen bedenkenfrei ist. Insbesondere wird das<br />

verwirklichte Risiko vom Schutzzweck der verletzten Aufklärungspflicht erfasst (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juni<br />

1995 – 4 StR 760/94, NStZ 1996, 34, 35; BGH, Urteil vom 23. Oktober 2007 – 1 StR 238/07, StV 2008, 464, 465;<br />

Eser/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 223 Rn. 40 f.; Widmaier in Festschrift für Roxin,<br />

2011, S. 439, 447). In der vom Angeklagten vorgenommenen – zur einwilligungslosen Operation gehörenden – todesursächlichen<br />

fehlerhaften Reanimationsanschlussbehandlung hat sich dessen Übernahmeverschulden realisiert<br />

(vgl. C Nr. 2 Berufsordnung der Ärztekammer Berlin vom 30. Mai 2005, Amtsblatt Nr. 26 vom 3. Juni 2005, S.<br />

1883, 1889; BGH, Urteil vom 29. April 2010 – 5 StR 18/10, BGHSt 55, 121, 133 ff. mwN). Solches durch den Einsatz<br />

eines weiteren Facharztes, des Anästhesisten, zu vermeiden <strong>und</strong> durch diesen alsbald eine Behandlung zur Lebensrettung<br />

erfolgreich durchführen zu lassen, war gerade der Gr<strong>und</strong> für die Notwendigkeit von dessen Mitwirkung,<br />

über deren Einhaltung der Angeklagte im Rahmen der Aufklärung getäuscht hatte. Bei dieser Sachlage haftet der<br />

Körperverletzung des Angeklagten ohne Weiteres die spezifische Gefahr an, zum Tode des Opfers zu führen (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 18. September 1985 – 2 StR 378/85, BGHSt 33, 322, 323 mwN).<br />

f) Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen einschließlich derjenigen, mit denen das Landgericht die Tat als<br />

Körperverletzung mit Todesfolge bewertet hat (hier zusammengefasst sub 1 bis 3 b), sind von dem Fehler in der<br />

Beweiswürdigung nicht betroffen; diese – wie auch die das weitere objektive Tatgeschehen <strong>und</strong> die persönlichen<br />

Verhältnisse betreffenden – Feststellungen können bestehen bleiben (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 353 Rn.<br />

12 <strong>und</strong> 15). Insoweit ist die Revision des Angeklagten unbegründet.<br />

5. Im selben begrenzten Umfang greift die Revision des Nebenklägers durch, der mit der Sachrüge namentlich eine<br />

Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Mordes erstrebt. Das Landgericht hat fehlerfrei festgestellte Umstände,<br />

die zu dem von der Anklage erfassten Lebenssachverhalt gehören, nicht in seine Kognition einbezogen (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 20. Mai 2009 – 2 StR 85/09, NStZ-RR 2009, 289). Diese hätten nicht sicher ausschließbar eine<br />

tatmehrheitliche Verurteilung wegen eines untauglichen Versuchs eines Mordes durch Unterlassen zur Verdeckung<br />

einer anderen Straftat oder auch einen tateinheitlichen untauglichen Mordversuch durch Unterlassen aus niedrigen<br />

Beweggründen rechtfertigen können.<br />

a) Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte den lebensbedrohlichen Zustand seiner Patientin<br />

erkannte, <strong>und</strong> hat angenommen, dass – freilich ohne Begründung im Einzelnen – er an eine noch mögliche Rettung<br />

im Krankenhaus geglaubt hat. Unter diesen Prämissen hat es das Landgericht unterlassen zu erwägen, ob ein untauglicher<br />

Unterlassungsversuch der Tötung zur Verdeckung der zuvor erfolgten Körperverletzung vorliegen kann (vgl.<br />

BGH, Urteile vom 1. Februar 2005 – 1 StR 327/04, BGHSt 50, 11, 14, <strong>und</strong> vom 17. Mai 2011 – 1 StR 50/11). Die<br />

Sach- <strong>und</strong> Rechtslage ähnelt den Fällen einer (unerkannt gebliebenen) Tötung im Straßenverkehr mit nachfolgender<br />

unterlassener Hilfeleistung <strong>und</strong> Flucht durch den Täter (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 1991 – 4 StR 451/91,<br />

NJW 1992, 583, 584 mwN). Solches anzunehmen kommt nunmehr für das neu berufene Tatgericht in Betracht, falls<br />

sich feststellen lassen sollte, dass der Angeklagte nach Erkennen der Todesgefahr geplant hat, mit der Einlieferung<br />

so lange zu warten, bis die Patientin im Krankenhaus sicher versterben würde. Hierdurch hätte möglicherweise ein<br />

Nachweis seiner eigenen Verursachung erschwert oder gar unmöglich gemacht werden können. Ein weiterer Anknüpfungspunkt<br />

der neu vorzunehmenden Beweiswürdigung <strong>und</strong> Bewertung unter diesem Aspekt könnte sein, dass<br />

der Angeklagte in Kenntnis der Gefahr eines tödlichen Verlaufs der Erkrankung seiner Patientin bei angenommener<br />

Rettungsmöglichkeit gegen 18.30 Uhr – gerade in der Intensivstation – ein Bett bestellt hat <strong>und</strong> dabei die nachfolgende<br />

sachwidrige Verzögerung dieser Rettungschance auf den Willen des Angeklagten zurückzuführen sein könnte<br />

um das Versterben der Patientin im Krankenhaus zur Schonung eigener Interessen zu fördern. Solches gilt insbesondere<br />

für den vom Angeklagten begleiteten Transport der Patientin in das Krankenhaus <strong>und</strong> die Umstände ihrer Übergabe<br />

durch den Angeklagten in die intensivmedizinische Abteilung. Hierbei hatten erstmalig Dritte, die Rettungssanitäter,<br />

den Angeklagten auf den lebensbedrohlichen Zustand der Patientin aufmerksam gemacht. Ausgangspunkt der<br />

heftig geführten Diskussion mit dem Angeklagten waren die sich aus § 35 Abs. 5a StVO ergebenden Erfordernisse<br />

der Rettung eines Menschenlebens oder der Abwendung schwerer ges<strong>und</strong>heitlicher Schäden, für welche die Sanitäter<br />

den Angeklagten verantwortlich machten. Dieser Vorgang wäre daraufhin zu bewerten gewesen, ob dem Angeklagten<br />

durch die Einschätzung Dritter der lebensgefährliche Zustand seiner Patientin zu Bewusstsein gebracht wurde<br />

<strong>und</strong> er anschließend in Kenntnis dieses Umstands die ihm gemäß C Nr. 2 der Berufsordnung der Ärztekammer Berlin<br />

(aaO) <strong>und</strong> des Behandlungsvertrages gegenüber den Krankenhausärzten obliegenden Informationspflichten über<br />

den bisherigen Behandlungsverlauf nicht erfüllt hat.<br />

b) Bei alledem würde freilich allein die – dann sogar nach dem Zweifelsgr<strong>und</strong>satz zugunsten des Angeklagten anzunehmende<br />

– Möglichkeit eines schon im Laufe der Reanimationsanschlussbehandlung alsbald gefassten bedingten<br />

150


Tötungsvorsatzes dem Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht die Gr<strong>und</strong>lage entziehen (vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 58.<br />

Aufl., § 211 Rn. 72 f.). Bei gleichwohl sicherer Feststellung entsprechender Unterlassungsmotive müssten diese<br />

einer erneuten eigenständigen tatgerichtlichen Bewertung unter dem Gesichtspunkt tateinheitlich verwirklichter<br />

niedriger Beweggründe zugeführt werden. Sollten solche nicht angenommen werden können, käme wiederum eine<br />

tateinheitliche Verurteilung wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen in Betracht.<br />

6. Sollte die neue Beweisaufnahme – was nicht fernliegt, aber vom Revisionsgericht nicht sicher zu prognostizieren<br />

ist – keinen Nachweis des Tötungsvorsatzes ergeben, wird zum Schuldspruch gemäß § 227 <strong>StGB</strong> allein auf Gr<strong>und</strong><br />

der aufrechterhaltenen Feststellungen entschieden werden können. Der nur vom Angeklagten mitangefochtene Maßregelausspruch,<br />

der ohne bestehenden Schuldspruch nicht aufrechtzuerhalten ist, wird jedenfalls ohne Einschränkung<br />

wieder zu verhängen sein.<br />

7. Die zulässigerweise auf den Strafausspruch <strong>und</strong> das Ausmaß der Kompensation für die vom Landgericht angenommene<br />

konventionswidrige Verfahrensverzögerung beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die<br />

Schwurgerichtskammer hat es unterlassen, die Anwendung von § 227 Abs. 2 <strong>StGB</strong> zu begründen. Es versteht sich<br />

nicht von selbst, dass die zur Begründung eines (sonstigen) minderschweren Falles gemäß § 213 <strong>StGB</strong> unter Verbrauch<br />

der Versuchsmilderung herangezogenen schuldmindernden, vor allem die Persönlichkeit des Angeklagten<br />

betreffenden Umstände (UA S. 60) auch die Annahme eines minderschweren Falles einer (vollendeten) Körperverletzung<br />

mit Todesfolge, bei der es an einem vertypten Strafmilderungsgr<strong>und</strong> fehlte, gerechtfertigt hätten. Auch die<br />

Kompensationsentscheidung hat keinen Bestand. Zwar stellt die Schwurgerichtskammer Zeitabläufe dar, in denen<br />

die Staatsanwaltschaft das Verfahren „nicht nennenswert gefördert“ hat (UA S. 61). Indes unterlässt sie die gebotene<br />

Bewertung der – angesichts der überaus komplexen Materie eher großzügig zu bemessenden – Zeiten näherer Erwägung<br />

der Fakten <strong>und</strong> Prüfung der jeweils nächsten Ermittlungsschritte. Zudem liegt nahe, dass auch das mitgeteilte<br />

Einlassungsverhalten des Angeklagten verzögerlichen Einfluss auf den Verfahrensgang genommen hat. Jedenfalls<br />

erscheint das festgesetzte Maß der Kompensation deutlich überhöht (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Februar 2011 – 1<br />

StR 19/11 mwN); es muss gegebenenfalls neu bestimmt werden.<br />

<strong>StGB</strong> § 239 Strafbar nur bei Erzwingung einer stabilen Bemächtigungslage<br />

BGH, Urt. v. 02.02.2012 - 3 StR 385/11 - StraFo 2012, 153<br />

Zur Auslegung des § 239a Abs. 1 <strong>StGB</strong>: Im Hinblick auf den Anwendungsbereich klassischer Delikte<br />

mit Nötigungselementen wie § 177, §§ 249 ff., §§ 253 ff. <strong>StGB</strong> ist der Tatbestand des § 239a Abs. 1<br />

<strong>StGB</strong> im Zwei-Personen-Verhältnis insbesondere für Fälle des Sichbemächtigens, einschränkend<br />

auszulegen. Der Täter muss durch eine Entführung oder in sonstiger Weise die physische Herrschaftsgewalt<br />

über das Opfer gewinnen, dadurch eine stabile Bemächtigungslage schaffen <strong>und</strong> entweder<br />

von vornherein beabsichtigen, diese Lage zu einer Erpressung auszunutzen, oder die zu anderen<br />

Zwecken hergestellte Verfügungsgewalt über das Opfer zu einer Erpressung auszunutzen.<br />

Dabei muss der stabilisierten Bemächtigungslage mit Blick auf die erstrebte Erpressung eine eigenständige<br />

Bedeutung zukommen.<br />

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 13.<br />

Mai 2011 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über<br />

die Kosten der Rechtsmittel <strong>und</strong> die den Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen "gemeinschaftlicher" gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit<br />

mit Freiheitsberaubung <strong>und</strong> räuberischer Erpressung schuldig gesprochen. Den Angeklagten F. hat es deswegen<br />

unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 27. November 2008 zur<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten, den Angeklagten T. unter Einbeziehung der Einzelstrafen<br />

aus dem Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 2. Juni 2009 zu einer solchen von drei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten<br />

verurteilt. Die zu Ungunsten der Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

nur teilweise vertreten wird, wendet sich mit der Sachbeschwerde gegen dieses Urteil <strong>und</strong> erstrebt die Verurteilung<br />

der Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubes gemäß § 239a Abs. 1 <strong>StGB</strong> sowie wegen besonders<br />

schwerer räuberischer Erpressung gemäß § 250 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a <strong>StGB</strong>. Des weiteren beanstandet die Be-<br />

151


schwerdeführerin die Strafzumessung. Die Revisionen der Angeklagten rügen allgemein die Verletzung materiellen<br />

Rechts. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> die Revisionen der Angeklagten sind begründet. Nach den wesentlichen<br />

Feststellungen des Landgerichts veranlasste der Angeklagte F. den Geschädigten A., der nach der Überzeugung<br />

des Angeklagten zuvor ihn <strong>und</strong> seinen Cousin bestohlen hatte, unter dem Vorwand, gemeinsam Drogen<br />

konsumieren zu wollen, ihn in der Nacht zum 4. September 2008 nach D. in die Wohnung des Angeklagten T. zu<br />

fahren. Diesem kündigte der Angeklagte F. sein Kommen telefonisch an <strong>und</strong> sagte hierbei, "er bringe jemanden mit,<br />

der zur Rede gestellt werden solle <strong>und</strong> zu bestrafen sei". In der Wohnung des Angeklagten T. , der auf die telefonische<br />

Nachricht des Mitangeklagten geäußert hatte, dieser könne kommen, versetzte F. dem Geschädigten einen<br />

Faustschlag, so dass dieser zu Boden ging, schlug weiter mit Händen <strong>und</strong> Fäusten auf dessen Kopf <strong>und</strong> Oberkörper<br />

ein <strong>und</strong> trat ihn mit Füßen. Der Angeklagte T. beteiligte sich "in nicht genau feststellbarer Weise" an den Gewalttätigkeiten<br />

<strong>und</strong> "unterstützte auch verbal die Misshandlungen" durch den Mitangeklagten. Der Geschädigte erlitt blutende<br />

W<strong>und</strong>en am Kopf <strong>und</strong> im Nackenbereich sowie am Oberkörper <strong>und</strong> hatte aufgr<strong>und</strong> der Schläge starke Kopfschmerzen.<br />

Während der Misshandlungen oder danach wurde A. von F. an Händen <strong>und</strong> Füßen gefesselt, wobei die<br />

Hände hinter dem Rücken zusammengeb<strong>und</strong>en wurden. Auf Vorhalt der Entwendung verschiedener Kleidungsstücke<br />

aus der Wohnung des Cousins des Angeklagten F. gab der Geschädigte aus Angst vor weiteren Misshandlungen<br />

- wahrheitsgemäß - die Mitnahme der Sachen zu. Daraufhin wurde der Zeuge A. gezwungen, in einem Telefonat -<br />

vermutlich mit dem Onkel des Angeklagten F. - den Diebstahl einzuräumen <strong>und</strong> um Verzeihung zu bitten, wobei F.<br />

damit drohte, den Zeugen "fertig zu machen" <strong>und</strong> ihn auf grausame Art zu töten, "falls der Vater ihm nicht verzeihe".<br />

Während des gesamten Geschehens in der Wohnung wurde der Geschädigte vielfach beschimpft, beleidigt <strong>und</strong> gedemütigt.<br />

Der Angeklagte T. fertigte von <strong>Teil</strong>en des Geschehens Bild- <strong>und</strong> Videoaufnahmen. Die Angeklagten fragten<br />

den Geschädigten sodann, "wie viel er ihnen schulde, um seine Missetat zu begleichen". Der stark eingeschüchterte<br />

Zeuge A. wies "schließlich" aus Angst vor weiteren Misshandlungen auf die Möglichkeit hin, Geld von seinem<br />

Konto abzuheben. Dies griffen die Angeklagten auf <strong>und</strong> fassten den Entschluss, den Geschädigten in O. Geld abheben<br />

<strong>und</strong> an sie "als Entschädigung für den Diebstahl <strong>und</strong> dessen Bestreiten auszahlen zu lassen". Weil der Geschädigte<br />

körperlich nicht in der Lage war, sein Fahrzeug selbst zu führen, veranlasste der Angeklagte T. eine Bekannte,<br />

der er lediglich sagte, er wolle einem Fre<strong>und</strong> ein paar Sachen ins Gefängnis bringen, den Pkw des Geschädigten zu<br />

steuern. Nachdem die Angeklagten die Spuren der Misshandlungen an dem Geschädigten <strong>und</strong> seiner Kleidung so gut<br />

es ging beseitigt sowie ihm an Stelle des ausgezogenen blutigen Hemdes eine Jacke übergezogen <strong>und</strong> eine Baseballkappe<br />

aufgesetzt hatten, fuhren die vier Personen - der Angeklagte F. <strong>und</strong> der Geschädigte hinten sitzend - zunächst<br />

zur Justizvollzugsanstalt O. . Dort wurde der Pkw in deren Nähe abgestellt <strong>und</strong> alle Insassen stiegen aus. Während<br />

sich die Angeklagten zur Justizvollzugsanstalt begaben <strong>und</strong> die Fahrerin an einem Kiosk Zigaretten holte, blieb der<br />

Geschädigte etwa zwanzig Minuten lang alleine in der Nähe seines Fahrzeugs zurück. Danach ging die Fahrt weiter<br />

in die Innenstadt von O. , wo der Geschädigte sowie der Angeklagte F. das Auto verließen <strong>und</strong> sich zur Filiale der<br />

Bank begaben, bei der A. sein Konto hatte. Dort sollte der Geschädigte, der nach wie vor unter dem Eindruck der<br />

massiven Körperverletzungen <strong>und</strong> Drohungen stand <strong>und</strong> vor den Angeklagten Angst hatte, nach deren Weisung<br />

einen größeren Geldbetrag von seinem Konto abheben. Nachdem der Versuch, sich am Automaten Geld auszahlen<br />

zu lassen, gescheitert war, <strong>und</strong> der Geschädigte auch am Bankschalter, den er zunächst alleine aufgesucht hatte, kein<br />

Geld bekommen hatte, ging er mit dem Angeklagten F. zusammen noch einmal dorthin <strong>und</strong> erhielt - nachdem F. mit<br />

dem Bankangestellten gesprochen hatte - 500 € ausbezahlt, die er weisungsgemäß an den Angeklagten F. übergab.<br />

I. Revision der Staatsanwaltschaft<br />

Das Landgericht hat die Tat nicht als erpresserischen Menschenraub gemäß § 239a Abs. 1 <strong>StGB</strong> bewertet. Dies hat<br />

es damit begründet, die Angeklagten hätten zum Zeitpunkt der Fesselung, des "Sichbemächtigens" des Zeugen A. ,<br />

(noch) nicht die Absicht gehabt, dessen Sorge um sein Wohl zu einer Erpressung auszunutzen (§ 239a Abs. 1 Halbsatz<br />

1 <strong>StGB</strong>); vielmehr hätten sie sich erst im Verlaufe des Geschehens dazu entschlossen, den Zeugen zur Herausgabe<br />

von Geld zu veranlassen. Auch der Tatbestand des § 239a Abs. 1 Halbsatz 2 <strong>StGB</strong> sei nicht erfüllt. Die Angeklagten<br />

hätten die von ihnen geschaffene Bemächtigungslage nicht zu einer Erpressung ausgenutzt. Zur Verwirklichung<br />

dieses Tatbestandes sei ein funktioneller Zusammenhang dergestalt erforderlich, dass nach der Vorstellung<br />

des Täters die Erpressung während der Dauer der Zwangslage realisiert werden soll. Zwar setze das Vorliegen einer<br />

Bemächtigungslage nicht voraus, dass eine Schutz- oder Fluchtmöglichkeit für das Tatopfer gänzlich ausgeschlossen<br />

sei. Vorliegend sei indes zu berücksichtigen, dass die Angeklagten während des 20 Minuten dauernden Aufenthalts<br />

bei der Justizvollzugsanstalt den Zeugen bei dem Fahrzeug zurückgelassen hätten, so dass für diesen durchaus die<br />

Möglichkeit zur Flucht bestanden habe.<br />

1. Die Begründung, mit der das Landgericht die Begehung eines erpresserischen Menschenraubes gemäß § 239a<br />

Abs. 1 <strong>StGB</strong> durch die Angeklagten verneint hat, hält der rechtlichen Prüfung nicht stand.<br />

152


a) Des erpresserischen Menschenraubes macht sich schuldig, wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen<br />

bemächtigt, um die Sorge des Opfers um sein Wohl oder die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer<br />

Erpressung gemäß § 253 <strong>StGB</strong> auszunutzen, oder wer die durch eine solche Handlung geschaffene Lage eines Menschen<br />

zu einer solchen Erpressung ausnutzt. Im Hinblick auf den Anwendungsbereich klassischer Delikte mit Nötigungselementen<br />

wie § 177, §§ 249 ff., §§ 253 ff. <strong>StGB</strong> ist der Tatbestand des § 239a Abs. 1 <strong>StGB</strong> im Zwei-<br />

Personen-Verhältnis allerdings, insbesondere für Fälle des Sichbemächtigens, einschränkend auszulegen. Der Täter<br />

muss durch eine Entführung oder in sonstiger Weise die physische Herrschaftsgewalt über das Opfer gewinnen,<br />

dadurch eine stabile Bemächtigungslage schaffen <strong>und</strong> entweder von vornherein beabsichtigen, diese Lage zu einer<br />

Erpressung auszunutzen, oder die zu anderen Zwecken hergestellte Verfügungsgewalt über das Opfer zu einer Erpressung<br />

ausnutzen. Dabei muss der stabilisierten Bemächtigungslage mit Blick auf die erstrebte Erpressung eine<br />

eigenständige Bedeutung zukommen. Damit ist - insbesondere in Abgrenzung zu den Raub-delikten - indes lediglich<br />

gemeint, dass sich über die in jeder mit Gewalt oder Drohungen verb<strong>und</strong>enen Nötigungshandlung liegende Beherrschungssituation<br />

hinaus eine weitergehende Drucksituation auf das Opfer gerade auch aus der stabilen Bemächtigungslage<br />

ergeben muss. Der erforderliche funktionale Zusammenhang liegt insbesondere dann nicht vor, wenn sich<br />

der Täter des Opfers durch Nötigungsmittel bemächtigt, die zugleich unmittelbar der beabsichtigten Erpressung<br />

dienen, wenn also Bemächtigungs- <strong>und</strong> Nötigungsmittel zusammenfallen (vgl. BGH, Urteil vom 31. August 2006 - 3<br />

StR 246/06, NStZ 2007, 32 mwN).<br />

b) Danach ist die Annahme des Landgerichts, die Angeklagten hätten sich des Geschädigten zunächst nicht in Erpressungsabsicht<br />

bemächtigt, indem sie ihn in die Wohnung des Mitangeklagten T. lockten, dort misshandelten <strong>und</strong><br />

fesselten, rechtlich nicht zu beanstanden; denn nach den Feststellungen hat dies der Angeklagte F. - mit Einverständnis<br />

seines Tatgenossen - getan, um den Geschädigten zur Rede zu stellen <strong>und</strong> zu bestrafen. Dass die Angeklagten<br />

von vornherein beabsichtigten, die geplante Bestrafung des Geschädigten über die körperlichen Misshandlungen <strong>und</strong><br />

Demütigungen hinaus auch mit einer Geldforderung zu bewirken, lässt sich den bisherigen Feststellungen nicht entnehmen.<br />

c) Indes kommt es entgegen der Ansicht des Landgerichts auf der Gr<strong>und</strong>lage des festgestellten Lebenssachverhaltes<br />

in Betracht, dass die Angeklagten die durch anhaltende physische Gewalt über das Opfer gekennzeichnete, über<br />

längere Zeit bestehende <strong>und</strong> auch infolge der Fesselung mit einer Stabilisierung verb<strong>und</strong>ene Bemächtigungslage zu<br />

einer Erpressung ausgenutzt haben, indem sie - ihrem nunmehr gefassten Entschluss, Geld von dem Geschädigten zu<br />

fordern, folgend - den Geschädigten nach dessen Misshandlung <strong>und</strong> Fesselung in der Wohnung fragten, "wie viel er<br />

ihnen schulde, um seine Missetat zu begleichen", damit von ihm (konkludent) die Herausgabe von Geld verlangten<br />

<strong>und</strong> dieses Verlangen durch die Aufrechterhaltung der Fesselung oder die mit dieser Forderung konkludent verb<strong>und</strong>enen<br />

Drohung weiterer Misshandlungen durchzusetzen suchten. Damit könnte der Tatbestand des erpresserischen<br />

Menschenraubes gemäß § 239a Abs. 1 Halbsatz 2 <strong>StGB</strong> (Ausnutzungsvariante) bereits zu diesem Zeitpunkt verwirklicht<br />

worden sein; denn diese Tatbestandsalternative ist bereits dann vollendet, wenn der Täter (während der Bemächtigungslage<br />

<strong>und</strong> unter Ausnutzung derselben) den Versuch einer Erpressung begeht (vgl. BGH, Urteil vom 31.<br />

August 2006 - 3 StR 246/06, NStZ 2007, 32, 33; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 239a Rn. 12, 14), also unmittelbar zur<br />

Nötigung einer Person ansetzt, durch welche dem Vermögen der genötigten (oder einer anderen) Person in (rechtswidriger)<br />

Bereicherungsabsicht noch während des Andauerns der Bemächtigungslage ein Vermögensnachteil zugefügt<br />

werden soll. Dies wäre etwa der Fall, wenn die Angeklagten davon ausgegangen wären, dass der Geschädigte<br />

Geld bei sich hatte <strong>und</strong> herausgeben könnte. Bereits dann wäre der erforderliche funktionale <strong>und</strong> zeitliche Zusammenhang<br />

zwischen der Bemächtigungslage <strong>und</strong> der beabsichtigten Erpressung gegeben, so dass es im Hinblick darauf<br />

nicht mehr von Bedeutung wäre, ob angesichts der fehlenden Bewachung des Geschädigten während des Zwischenhaltes<br />

in der Nähe der Justizvollzugsanstalt die zuvor bestehende Bemächtigungslage beendet war. Ob die<br />

Angeklagten davon ausgingen, dass A. Geld bei sich hatte, kann dem Urteil zwar nicht entnommen werden, liegt<br />

indes angesichts des Umstands, dass F. ihn unter dem Vorwand, gemeinsam Drogen konsumieren zu wollen, zu der<br />

Fahrt nach D. veranlasste, nicht fern. Dass in diesem Fall der Bemächtigungslage die im sogenannten Zwei-<br />

Personen-Verhältnis von der Rechtsprechung geforderte eigenständige Bedeutung zukam (BGH, Beschluss vom 22.<br />

November 1994 - GSSt 1/94, BGHSt 40, 350, 359; vgl. BGH aaO; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 239a Rn. 7 mwN), ist<br />

- entgegen der Ansicht des Generalb<strong>und</strong>esanwalts - nicht zweifelhaft. Die Feststellung, dass der Geschädigte auf die<br />

Möglichkeit der Geldabhebung "aus Angst vor weiteren Misshandlungen" hinwies, steht dem nicht entgegen.<br />

2. Die Nachprüfung des Urteils aufgr<strong>und</strong> der Revision der Staatsanwaltschaft hat auch Rechtsfehler zum Nachteil der<br />

Angeklagten erbracht (§ 301 StPO; dazu unten II. 1.).<br />

II. Revisionen der Angeklagten<br />

153


1. Das Urteil des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, soweit die Angeklagten jeweils<br />

wegen räuberischer Erpressung verurteilt worden sind. Das Landgericht hat insoweit angenommen, die Angeklagten<br />

hätten den Geschädigten gewaltsam <strong>und</strong> durch die konkludente Drohung mit weiteren Misshandlungen gegen seinen<br />

Willen dazu veranlasst, Geld von seinem Konto abzuheben <strong>und</strong> an den Angeklagten F. zu übergeben. A. sei zu diesem<br />

Zeitpunkt aufgr<strong>und</strong> der vorangegangenen Gewalttätigkeiten <strong>und</strong> Drohungen seitens der Angeklagten offenk<strong>und</strong>ig<br />

stark eingeschüchtert gewesen <strong>und</strong> habe Angst vor ihnen gehabt. Die Feststellungen des Landgerichts tragen den<br />

Schuldspruch wegen räuberischer Erpressung nicht, da insoweit offen bleibt, durch welche Gewalthandlungen oder<br />

Drohungen die Angeklagten ihr Opfer vorsätzlich zur Herausgabe des Geldes genötigt haben.<br />

a) Der Erpressung macht sich schuldig, wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem<br />

empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt <strong>und</strong> dadurch dem Vermögen des Genötigten<br />

oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern (§ 253 Abs. 1 <strong>StGB</strong>).<br />

Bei der räuberischen Erpressung muss der Vermögensnachteil Ergebnis einer das Opfer nötigenden Gewaltausübung<br />

oder einer Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben durch den Täter sein (§ 255 <strong>StGB</strong>; vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 26. Mai 2011 - 3 StR 318/10, NStZ 2012, 95, 96). Zwischen dem Einsatz des Nötigungsmittels <strong>und</strong><br />

dem erlangten Vorteil muss - wie beim Raub - ein finaler Zusammenhang bestehen (vgl. BGH, Beschluss vom 21.<br />

März 2006 - 3 StR 3/06, NStZ 2006, 508).<br />

b) Nach den bisherigen Feststellungen haben sich die Angeklagten erst nach den Misshandlungen <strong>und</strong> der Fesselung<br />

des Geschädigten entschlossen, von diesem Geld zu fordern. Als finale Nötigungsmittel könnten daher nur eine nach<br />

diesem Zeitpunkt erfolgte Gewaltanwendung oder eine (konkludente) Drohung mit der Anwendung weiterer, Leib<br />

oder Leben des Opfers gefährdende Handlungen in Betracht kommen. Dass die Angeklagten - über die fortdauernde<br />

Fesselung hinaus (vgl. insoweit beim Raub: Fischer, aaO, § 249 Rn. 10 ff.) - danach ihr Opfer weiter körperlich<br />

misshandelt hätten, kann den Feststellungen nicht entnommen werden. Weiterhin ergeben die Urteilsgründe nicht,<br />

welche konkrete Handlung der Angeklagten das Landgericht als deren konkludente Drohung mit weiteren Misshandlungen<br />

des Geschädigten ansieht. Nach den bisherigen Feststellungen käme dafür allenfalls - neben der Aufrechterhaltung<br />

der Fesselung - die Frage der Angeklagten an den Geschädigten in Betracht, "wie viel er ihnen schulde, um<br />

seine Missetat zu begleichen" (s. oben I. 1.c)). Solches lässt sich den bisherigen Feststellungen indes nicht hinreichend<br />

sicher entnehmen; weiterhin fehlen Feststellungen dazu, dass die Angeklagten mit dieser Frage bzw. der Aufrechterhaltung<br />

der Fesselung zugleich in diesem Sinne drohen wollten.<br />

2. Dies führt auf die Revisionen der Angeklagten zur Aufhebung des gesamten Urteils einschließlich der - für sich<br />

rechtsfehlerfreien - tateinheitlichen Verurteilungen der Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung <strong>und</strong> Freiheitsberaubung.<br />

III. Der neue Tatrichter wird zu prüfen haben, ob die Angeklagten sich des erpresserischen Menschenraubes gemäß §<br />

239a Abs. 1 <strong>StGB</strong> schuldig gemacht haben, indem sie nach ihrer Rückkehr von der Justizvollzugsanstalt den Geschädigten<br />

mit seinem Auto in die Innenstadt von O. <strong>und</strong> dort zur Filiale der Bank in der Absicht verschleppten, ihn<br />

im Beisein des Angeklagten F. Geld abheben <strong>und</strong> an sie auszahlen zu lassen (vgl. BGH, Urteil vom 23. November<br />

2006 - 3 StR 366/06, BGHR <strong>StGB</strong> § 239a Abs. 1 Sichbemächtigen 10). Im Übrigen geben die Verletzungen des<br />

Geschädigten, die ihm durch die Angeklagten beigebracht wurden, Anlass zu der Prüfung, ob sich die Angeklagten -<br />

wie die Beschwerdeführerin <strong>und</strong> der Generalb<strong>und</strong>esanwalt annehmen - einer besonders schweren räuberischen Erpressung<br />

gemäß § 250 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a <strong>StGB</strong> schuldig gemacht haben. Dabei wird zu beachten sein, dass dieser<br />

Qualifikationstatbestand voraussetzt, das Opfer werde bei der Tat körperlich schwer misshandelt. Das Vorliegen<br />

dieses Merkmals könnte im Hinblick darauf zweifelhaft sein, dass sich die Angeklagten auf der Gr<strong>und</strong>lage der bisherigen<br />

Feststellungen erst nach Abschluss der körperlichen Misshandlungen da-zu entschlossen haben, von ihrem<br />

Opfer Geld zu fordern (vgl. Fischer, aaO, § 250 Rn. 26 mwN).<br />

<strong>StGB</strong> § 242 Handydatenklau ohne Zueignungsabsicht<br />

BGH, Beschl. v. 14.02.2012 - 3 StR 392/11 - StraFo 2012, 155<br />

Wegnahme eines Handys, um darin gespeicherte Bilddateien zu erlangen, beinhaltet keine Zueignungsabsicht.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 28. April 2011, soweit es ihn<br />

betrifft,<br />

154


a) im Schuldspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit<br />

Nötigung verurteilt ist;<br />

b) aufgehoben<br />

- mit den zugehörigen Feststellungen im Ausspruch über die Einzelstrafe wegen Raubes; der Ausspruch entfällt,<br />

- im Rechtsfolgenausspruch im Übrigen unter Aufrechterhaltung der zugehörigen Feststellungen; insoweit wird die<br />

Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer<br />

des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Raubes <strong>und</strong> wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von drei Jahren sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte<br />

Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet<br />

im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Der Schuldspruch wegen Raubes (§ 249 Abs. 1 <strong>StGB</strong>) hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.<br />

a) Nach den insoweit rechtfehlerfrei getroffenen Feststellungen entwand der Angeklagte dem Geschädigten gegen<br />

dessen Widerstand ein Mobiltelefon, um im Speicher des Geräts nach Beweisen für die Art der Beziehung zwischen<br />

dem Geschädigten <strong>und</strong> der Schwester des Mitangeklagten zu suchen. Ob der Geschädigte das Gerät zurückerlangen<br />

würde, war ihm dabei gleichgültig. Später übertrug er darin gespeicherte Bilddateien auf sein eigenes Handy, um sie<br />

an Dritte zu verschicken.<br />

b) Danach hat sich der Angeklagte nicht eines Verbrechens des Raubes, sondern nur einer Nötigung (§ 240 Abs. 1<br />

<strong>StGB</strong>) schuldig gemacht, denn er handelte nicht, wie § 249 Abs. 1 <strong>StGB</strong> voraussetzt, in der Absicht, das Mobiltelefon<br />

sich oder einem Dritten zuzueignen. Weder wollte er sich den Substanz- oder Sachwert des Geräts aneignen noch<br />

hat er dessen Wert durch den vorübergehenden Gebrauch gemindert (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1968 - 4 StR<br />

398/68, GA 1969, 306, 307 zur fehlenden Aneignungskomponente bei der Wegnahme zwecks Inhaftierung; S/S-<br />

Eser/Bosch, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 242 Rn. 53, 55; NK-<strong>StGB</strong>-Kindhäuser, 3. Aufl., § 242 Rn. 82; LK/Vogel, <strong>StGB</strong>, 12.<br />

Aufl., § 242 Rn. 150). Es fehlt an dem für eine Aneignung erforderlichen Willen des Täters, den Bestand seines<br />

Vermögens oder den eines Dritten zu ändern, wenn er das Nötigungsmittel nur zur Erzwingung einer Gebrauchsanmaßung<br />

einsetzt (Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 249 Rn. 19a) oder wenn er die fremde Sache nur wegnimmt, um sie "zu<br />

zerstören", "zu vernichten", "preiszugeben", "wegzuwerfen", "beiseite zu schaffen", "zu beschädigen", sie als<br />

Druckmittel zur Durchsetzung einer Forderung zu benutzen oder um den Eigentümer durch bloßen Sachentzug zu<br />

ärgern (vgl. BGH, Urteile vom 27. Januar 2011 - 4 StR 502/10, NStZ 2011, 699, 701; vom 26. September 1984 - 3<br />

StR 367/84, NJW 1985, 812, 813 jeweils mwN; OLG Köln, Beschluss vom 6. Mai 1997 - Ss 226/97 - 93, NJW<br />

1997, 2611). Dass die vom Angeklagten beabsichtigte Durchsuchung des Speichers <strong>und</strong> das Kopieren der dabei<br />

aufgef<strong>und</strong>enen Bilddateien im Rahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs der Sache lag, ändert hieran nichts,<br />

denn dies führte nicht zu deren Verbrauch (vgl. BayObLG, Beschluss vom 12. Dezember 1991 - RReg 4 St 158/91,<br />

juris, zum Kopieren <strong>und</strong> Verwerten von auf Diskette gespeicherten Daten; Cramer, CR 1997, 693, 696; LK/Vogel,<br />

<strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 242 Rn. 154).<br />

c) Auch eine - bei fehlender Zueignungsabsicht mögliche (vgl. BGH, Urteil vom 5. Juli 1960 - 5 StR 80/60, BGHSt<br />

14, 386) - Strafbarkeit wegen räuberischer Erpressung (§ 253 Abs. 1, § 255 <strong>StGB</strong>) kommt vorliegend nicht in Betracht,<br />

denn der Angeklagte handelte nicht in der Absicht, sich oder einen Dritten zu bereichern. Bloßer Besitz einer<br />

Sache bildet einen Vermögensvorteil nur dann, wenn ihm ein eigenständiger wirtschaftlicher Wert zukommt, etwa<br />

weil er zu wirtschaftlich messbaren Gebrauchsvorteilen führt, die der Täter oder der Dritte für sich nutzen will. Daran<br />

fehlt es nicht nur in den Fällen, in denen der Täter die Sache unmittelbar nach Erlangung vernichten will, sondern<br />

auch dann, wenn er den mit seiner Tat verb<strong>und</strong>enen Vermögensvorteil nur als notwendige oder mögliche Folge seines<br />

ausschließlich auf einen anderen Zweck gerichteten Verhaltens hinnimmt (vgl. nur BGH, Urteil vom 27. Januar<br />

2011 - 4 StR 502/10 mwN, NStZ 2011, 699, 701; BGH, Beschluss vom 19. August 1987 - 2 StR 394/87, BGHR<br />

<strong>StGB</strong> § 253 Abs. 1 Bereicherungsabsicht 1 zu einem Fall der Wegnahme zwecks Beweisvereitelung).<br />

2. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet auch die Annahme des Landgerichts, das beschriebene Tatgeschehen<br />

stehe zu der vom Angeklagten weiter begangenen gefährlichen Körperverletzung in Tatmehrheit (§ 53<br />

<strong>StGB</strong>). Nach den auch insoweit rechtsfehlerfreien Feststellungen stürzten sich während des um das Mobiltelefon<br />

entstandenen "Gerangels" der Mitangeklagte <strong>und</strong> weitere Personen auf den Geschädigten <strong>und</strong> prügelten gemeinsam<br />

mit nicht identifizierbaren harten Gegenständen auf diesen ein; hieran beteiligte sich sodann auch der Angeklagte.<br />

Danach hängen die Nötigungshandlung <strong>und</strong> die weiteren gemeinsamen Angriffe auf die körperliche Integrität des<br />

Geschädigten räumlich <strong>und</strong> zeitlich so eng zusammen, dass sich das Geschehen insgesamt als natürliche Handlungs-<br />

155


einheit darstellt (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2000 - 4 StR 313/00, juris, bei Taten mit dem sie gemeinsam<br />

verbindenden Moment, das Opfer zur "Rede zu stellen"; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., Vor § 52 Rn. 4 mwN).<br />

3. Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend ab. § 265 StPO steht dem nicht entgegen, da der Angeklagte sich<br />

bei zutreffender rechtlicher Bewertung des Geschehens nicht wirksamer hätte verteidigen können. Die Änderung des<br />

Schuldspruchs führt zum Wegfall der Einzelstrafe wegen Raubes <strong>und</strong> zur Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe.<br />

4. Auch die wegen gefährlicher Körperverletzung ausgesprochene Einzelstrafe hat keinen Bestand. Zwar hätte das<br />

Landgericht diese Strafe nicht milder bemessen, hätte es, statt vom Hinzutreten eines rechtlich selbständigen Verbrechens<br />

des Raubes auszugehen, zutreffend die gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung gesehen.<br />

Indes wurde der Angeklagte ausweislich der Urteilsgründe am 2. September 2010 - nach der verfahrensgegenständlichen<br />

Tat - wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt. Zum<br />

Stand der Vollstreckung dieser Strafe, die nach § 55 Abs. 1 <strong>StGB</strong> mit der hier ausgesprochenen gr<strong>und</strong>sätzlich gesamtstrafenfähig<br />

ist, hat das Landgericht nichts mitgeteilt. Der Senat kann deshalb nicht ausschließen, dass ein allein<br />

dem Tatrichter vorbehaltener Härteausgleich in Betracht kommt (BGH, Beschlüsse vom 3. Mai 2011 - 3 StR 110/11,<br />

juris; vom 2. März 2010 - 3 StR 496/09, NStZ-RR 2010, 202, 203; vom 20. Oktober 2009 - 3 StR 386/09, StraFo<br />

2010, 74). Die bisherigen, der Bemessung dieser Einzelstrafe zugr<strong>und</strong>eliegenden Feststellungen sind von dem<br />

Rechtsfehler nicht berührt <strong>und</strong> können deshalb bestehen bleiben. Der neue Tatrichter kann insoweit ergänzende Feststellungen<br />

treffen, die hierzu nicht in Widerspruch stehen.<br />

<strong>StGB</strong> § 242 I, § 244a I Bandendiebstahl<br />

BGH, Urt. v. 26.04.2012 - 4 StR 665/11 - BeckRS 2012, 10714<br />

Der Annahme bandenmäßiger Tatbegehung steht es nicht entgegen, dass nicht alle an der betreffenden<br />

Abrede beteiligten Personen an sämtlichen Bandentaten teilnehmen sollten <strong>und</strong> dass nicht<br />

alle Bandenmitglieder am Erlös sämtlicher Taten beteiligt waren.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 10. Juni 2011 im Schuldspruch<br />

dahin geändert, dass der Angeklagte des schweren Bandendiebstahls <strong>und</strong> der Beihilfe zum schweren Bandendiebstahl<br />

in jeweils vier Fällen sowie des Diebstahls schuldig ist.<br />

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.<br />

3. Von der Auferlegung der Kosten <strong>und</strong> Auslagen des Revisionsverfahrens wird abgesehen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Einbeziehung von weiteren zwei Urteilen wegen schweren Bandendiebstahls<br />

in neun Fällen sowie wegen Diebstahls zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt.<br />

Ferner hat es eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte,<br />

wirksam auf die Verurteilung wegen schweren Bandendiebstahls beschränkte Revision des Angeklagten hat lediglich<br />

den aus der Urteilsformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349<br />

Abs. 2 StPO.<br />

I.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts schloss sich der Angeklagte spätestens im Sommer 2009 mit einer Reihe<br />

anderer, gesondert abgeurteilter Personen zusammen, um in wechselnder Beteiligung bei geeigneten Gelegenheiten<br />

Fahrräder, Metall, Werkzeuge aus Baucontainern sowie Wertgegenstände aus Wohnungen im Raum H. zu entwenden.<br />

Die Beteiligten trafen sich vor Begehung ihrer Taten zufällig <strong>und</strong> immer in Gruppen von drei bis fünf Personen.<br />

Diese fassten auf der Gr<strong>und</strong>lage der ursprünglichen Verabredung ohne Rücksprache mit den anderen, nicht an<br />

der betreffenden Tat beteiligten Mitgliedern der Gruppe jeweils spontan den konkreten Tatentschluss. Alle Täter<br />

beabsichtigten, sich durch die Straftaten eine auf Dauer angelegte Einnahmequelle von erheblichem Umfang zu<br />

verschaffen, <strong>und</strong> bestritten aus den Taten einen Großteil ihres Lebensunterhaltes sowie ihren Drogenkonsum.<br />

2. In Ausführung dieser Abrede verübten die Täter, jeweils unter Beteiligung des Angeklagten, folgende, im Einzelnen<br />

festgestellte Straftaten:<br />

a) In der Absicht, sich Zutritt zur Wohnung der damals 86 Jahre alten Geschädigten M. zu verschaffen, halfen ihr die<br />

gesondert verfolgten T. <strong>und</strong> S. am 23. Dezember 2009 auf ihrem Rückweg vom Einkauf beim Tragen der Einkaufstaschen.<br />

Sie gelangten so in die Wohnung <strong>und</strong> entwendeten Bargeld in Höhe von 250 Euro. Der Angeklagte stand<br />

156


währenddessen vor dem Haus, um zu verhindern, dass jemand die Wohnung betrat <strong>und</strong> T. <strong>und</strong> S. bei der Tatausführung<br />

störte. Der Angeklagte erhielt zumindest eine Belohnung in Form von kostenlosen Lebensmitteln (Fall III. 1 der<br />

Urteilsgründe).<br />

b) Am 20. Januar 2010 verschafften sich S. <strong>und</strong> T. Zugang zur Wohnung der abwesenden Geschädigten F. , um Bargeld<br />

<strong>und</strong> wertvolle Gegenstände zu entwenden. Der Angeklagte hielt im Hausflur Wache, während T. <strong>und</strong> S. zwei<br />

Armbanduhren aus der Wohnung mitnahmen. Der Angeklagte erhielt seinen Lohn erneut in Form von kostenlosen<br />

Lebensmitteln (Fall III. 2 der Urteilsgründe).<br />

c) Am 28. Januar 2010 begab sich der Angeklagte unter einem Vorwand zum Haus der Geschädigten P. , nachdem er<br />

<strong>und</strong> T. sowie S. die erkennbar gebrechliche Frau zuvor beim Abheben von Geld in einer Sparkassenfiliale beobachtet<br />

hatten. Da die Geschädigte dem Angeklagten den Zutritt zu ihrer Wohnung verweigerte, so dass dieser eine mögliche<br />

Anwesenheit Dritter <strong>und</strong> das Vorhandensein von Wertgegenständen nicht feststellen konnte, brachen T. <strong>und</strong> S. die<br />

Kelleraußentür des Hauses der Geschädigten auf, nachdem diese sich zum Schlafen gelegt hatte. Absprachegemäß<br />

passte der Angeklagte vor dem Haus auf; er sollte die beiden anderen gegebenenfalls mit Hilfe seines Mobiltelefons<br />

warnen. Die Täter brachten eine Geldkassette mit einer Armbanduhr, Münzen, einem Sparbuch <strong>und</strong> persönlichen<br />

Papieren der Geschädigten an sich. Von dem Erlös aus dem Verkauf der Beute erhielt der Angeklagte einen Geldbetrag<br />

in Höhe von 20 bis 30 Euro (Fall III. 3 der Urteilsgründe).<br />

d) In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 2010 hebelten T. , S. <strong>und</strong> der Angeklagte absprachegemäß das Tor zum<br />

Gartengelände des Geschädigten Po. aus den Angeln. S. entwendete anschließend aus dem unverschlossenen Gartenhaus<br />

eine Kettensäge sowie mindestens vier Werkzeugkoffer im Gesamtwert von 1.200 Euro. Der Angeklagte<br />

blieb an der Gartenumzäunung zurück <strong>und</strong> hielt während der Tatausführung Wache. Seine Entlohnung bestand erneut<br />

im Erhalt kostenloser Lebensmittel (Fall III. 4 der Urteilsgründe).<br />

e) In der Nacht des 8. Juni 2010 versuchten T. , S. <strong>und</strong> der weitere gesondert verfolgte St. von einer Baustelle in der<br />

Nähe des Busbahnhofs von H. Stromkabel im Gesamtwert von 4.400 Euro zu entwenden, wobei der Angeklagte den<br />

Tatort absicherte. Der Abtransport der schweren Beutegegenstände gelang jedoch erst unter Zuhilfenahme eines von<br />

S. <strong>und</strong> St. herbeigeschafften Kraftfahrzeugs. Mit diesem Fahrzeug transportierten der Angeklagte sowie die gesondert<br />

verfolgten St. , T. <strong>und</strong> S. die Stromkabel zu dem Keller eines „Mu. “. Daraufhin besorgte der Angeklagte ein<br />

Teppichmesser, mit dessen Hilfe die übrigen Beteiligten die Ummantelung der Kabel aufschlitzten <strong>und</strong> entfernten,<br />

um an die innenliegenden Kupferdrähte zu gelangen, die im Anschluss gewinnbringend verkauft wurden. Der Angeklagte<br />

erhielt aus dem Verkaufserlös mindestens 70 Euro (Fall III. 5 der Urteilsgründe).<br />

f) Zu nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkten zwischen dem 17. <strong>und</strong> dem 23. Juni 2010 entwendeten der Angeklagte<br />

sowie S. , T. <strong>und</strong> St. insgesamt vier teilweise hochwertige Fahrräder, indem sie die Sicherheits-Spiralschlösser<br />

der abgestellten Räder durchtrennten; in einem Fall verschafften sie sich zuvor Zugang zu dem Fahrradkeller eines<br />

Mehrfamilienhauses. Eines der Fahrräder verbrachte der Angeklagte in den Keller der Wohnung des T. <strong>und</strong> später<br />

auf einen Flohmarkt, wo sämtliche entwendeten Fahrräder für mindestens 300 Euro verkauft wurden. Aus dieser<br />

Summe erhielt der Angeklagte eine Entlohnung in Höhe von 50 Euro (Fall III. 6 der Urteilsgründe).<br />

g) Am 21. Juni 2010 entwendeten der Angeklagte sowie die gesondert verfolgten T. <strong>und</strong> St. weitere zwei Fahrräder<br />

nach Durchtrennung der Sicherheitsschlösser, wobei der Angeklagte in beiden Fällen die Aufgabe hatte, Wache zu<br />

halten. Auch hier wurde er durch kostenlose Lebensmittel entlohnt (Fälle III. 7 <strong>und</strong> 8 der Urteilsgründe).<br />

h) In der Nacht des 6. Juli 2010 entwendeten die gesondert verfolgten S. , St. <strong>und</strong> T. mehrere in Koffern verpackte<br />

Elektrowerkzeuge aus einem Schuppen, wobei der Angeklagte mit dem gesondert verfolgten D. während der Tat in<br />

einem Fahrzeug Wache hielt, das zum Abtransport der Beute bestimmt war. Auch in diesem Fall erhielt der Angeklagte<br />

als Lohn für seinen Tatbeitrag kostenlose Lebensmittel (Fall III. 9 der Urteilsgründe).<br />

II. Die Verurteilung des Angeklagten wegen mittäterschaftlich begangenen schweren Bandendiebstahls ist in den<br />

Fällen III. 3, 4, 5 <strong>und</strong> 6 der Urteilsgründe aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.<br />

1. Das Landgericht hat die Voraussetzungen einer Bande im Sinne der Strafvorschriften über den (schweren) Bandendiebstahl<br />

rechtsfehlerfrei dargelegt. Der Annahme bandenmäßiger Tatbegehung steht es insbesondere nicht entgegen,<br />

dass, wie im vorliegenden Fall, nicht alle an der betreffenden Abrede beteiligten Personen an sämtlichen<br />

Bandentaten teilnehmen sollten <strong>und</strong> dass nicht alle Bandenmitglieder am Erlös sämtlicher Taten beteiligt waren (vgl.<br />

Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 244 Rn. 36a m.w.N.). Im Hinblick auf die im angefochtenen Urteil festgestellte gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Übereinkunft, zukünftig bei günstiger Gelegenheit Bandentaten zu begehen, wird die Bandenmitgliedschaft<br />

des Angeklagten auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass er die einzelnen Straftaten spontan in wechselnder Beteiligung<br />

mit den anderen Tätern durchführte (vgl. dazu BGH, Urteil vom 21. Dezember 2007 – 2 StR 372/07, NStZ<br />

2009, 35, 36).<br />

157


2. Entgegen der Auffassung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts war der Angeklagte in den Fällen III. 3, 4, 5 <strong>und</strong> 6 an den<br />

Taten auch jeweils als Mittäter <strong>und</strong> nicht lediglich als Gehilfe beteiligt.<br />

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs sind die Bandenmitgliedschaft einerseits <strong>und</strong> die<br />

Beteiligung an einer Bandentat andererseits unabhängig voneinander zu beurteilen. Ebenso wie nicht jeder Beteiligte<br />

an einer von einer Bande ausgeführten Tat hierdurch schon zum Bandenmitglied wird, ist umgekehrt nicht jeder<br />

Beteiligte an einer Bandentat schon deshalb als deren Mittäter anzusehen (Senatsbeschluss vom 15. Januar 2002 – 4<br />

StR 499/01, BGHSt 47, 214, 216; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 244 Rn. 39 m.w.N.). Schließen sich mehrere Täter zu<br />

einer Bande zusammen, um fortgesetzt Diebstähle im Sinne der § 242 Abs. 1, § 244a Abs. 1 <strong>StGB</strong> zu begehen, hat<br />

dies nicht zur Folge, dass jede von einem der Bandenmitglieder auf Gr<strong>und</strong> der Bandenabrede begangene Tat den<br />

anderen Bandenmitgliedern ohne weiteres als gemeinschaftlich begangene Straftat im Sinne des § 25 Abs. 2 <strong>StGB</strong><br />

zugerechnet werden kann. Vielmehr ist für jede einzelne Tat nach den allgemeinen Kriterien festzustellen, ob sich<br />

die anderen Bandenmitglieder hieran als Mittäter, Anstifter oder Gehilfen beteiligt <strong>und</strong> ob sie gegebenenfalls überhaupt<br />

keinen strafbaren Beitrag geleistet haben (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 24. Juli 2008 – 3 StR<br />

243/08, StV 2009, 130). Die Abgrenzung zwischen Mittäterschaft an bzw. Beihilfe zu der jeweiligen Einzeltat ist in<br />

wertender Betrachtung unter Berücksichtigung aller Umstände vorzunehmen, die von der Vorstellung des jeweiligen<br />

Bandenmitglieds umfasst sind. Maßgeblich sind dabei insbesondere sein Interesse an der Durchführung der Tat sowie<br />

der Umfang seiner Tatherrschaft oder jedenfalls sein Wille, Tatherrschaft auszuüben, was sich danach beurteilt,<br />

ob objektiv oder jedenfalls aus der Sicht des Täters die Ausführung der Tat wesentlich von seiner Mitwirkung abhängt<br />

(BGH, Beschluss vom 24. Juli 2008 aaO; BGH, Beschluss vom 13. Mai 2003 – 3 StR 128/03, NStZ-RR 2003,<br />

265, 267).<br />

b) Gemessen daran rechtfertigen die vom Landgericht zu Art <strong>und</strong> Umfang der Tatbeteiligung des Angeklagten getroffenen<br />

Feststellungen in den Fällen III. 3, 4, 5 <strong>und</strong> 6 der Urteilsgründe den Schuldspruch wegen (mittäterschaftlich<br />

begangenen) schweren Bandendiebstahls. Denn in diesen Fällen beschränkten sich die Aktivitäten des Angeklagten<br />

nicht lediglich darauf, die Durchführung der jeweiligen Diebstahlstat durch „Schmierestehen“ abzusichern. Im Fall<br />

III. 3 der Urteilsgründe ergriff der Angeklagte vielmehr die Initiative zur Ausk<strong>und</strong>schaftung der Wohnung der Geschädigten,<br />

indem er unter einem Vorwand an ihrer Wohnungstür klingelte, um sich Zutritt zu verschaffen. Im Fall<br />

III. 4 der Urteilsgründe wirkte er mit den gesondert verfolgten S. <strong>und</strong> T. zunächst daran mit, das Gartentor aus den<br />

Angeln zu heben, <strong>und</strong> ermöglichte somit den anderen Tatbeteiligten den Zugang zum unverschlossenen Gartenhaus<br />

des Geschädigten Po. . Auch im Fall III. 5 der Urteilsgründe ging der Tatbeitrag des Angeklagten über die bloße<br />

Absicherung der Tatdurchführung hinaus. Zur Sicherung der Beute transportierte der Angeklagte mit den gesondert<br />

verfolgten St. , T. <strong>und</strong> S. die erbeuteten Stromkabel zu einem Versteck <strong>und</strong> besorgte dann ein Teppichmesser, mit<br />

dessen Hilfe man die wertvollen Kupferdrähte freilegte. Im Fall III. 6 der Urteilsgründe wirkte der Angeklagte an der<br />

Entwendung der Fahrräder unmittelbar mit, fuhr nach Durchführung der Tat mit einem der entwendeten Fahrräder<br />

weg <strong>und</strong> verbrachte es in den Keller des gesondert verfolgten T. . Nach Einbruch der Dunkelheit sorgte er für den<br />

Transport dieses Fahrrads zu einem Flohmarkt, wo sämtliche Fahrräder gewinnbringend verkauft wurden. Angesichts<br />

dieser vom Landgericht festgestellten gewichtigen Tatbeiträge des Angeklagten fällt der vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

zur Begründung seiner abweichenden Rechtsauffassung hervorgehobene Umstand, dass die Beuteanteile des<br />

Angeklagten jeweils vergleichsweise gering waren, nicht entscheidend ins Gewicht.<br />

III. Hingegen kann der Schuldspruch in den Fällen III. 1, 2, 7, 8 <strong>und</strong> 9 der Urteilsgründe nicht bestehen bleiben.<br />

1. Nach den Feststellungen beschränkte sich der vom Angeklagten jeweils geleistete Tatbeitrag in diesen Fällen auf<br />

die Absicherung der Tatausführung, also auf eine Tathandlung von untergeordneter Bedeutung. In diesen Fällen ist<br />

der Angeklagte – auch unter Berücksichtigung seiner durch diese Taten erlangten, nur geringen materiellen Vorteile<br />

– jeweils nur als Gehilfe eines schweren Bandendiebstahls anzusehen.<br />

2. Auch die Annahme der Strafkammer, die Diebstahlstaten in den Fällen III. 7 <strong>und</strong> 8 der Urteilsgründe stünden<br />

zueinander im Verhältnis der Tatmehrheit (§ 53 <strong>StGB</strong>), begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

weist zutreffend darauf hin, dass die Fahrräder der Geschädigten E. <strong>und</strong> G. nach den Feststellungen<br />

von den gesondert verfolgten St. <strong>und</strong> T. im Zuge einer Tatausführung im unmittelbaren örtlichen <strong>und</strong> zeitlichen Zusammenhang<br />

unter Einsatz eines mitgeführten Bolzenschneiders entwendet wurden. In einem solchen Fall liegt regelmäßig<br />

nur eine Diebstahlstat vor, so dass der Angeklagte sich insoweit auch nur einer Beihilfe – durch Absicherung<br />

der Tatausführung von einem Fahrzeug aus – schuldig gemacht hat (vgl. BGH, Beschluss vom 14. März 1969 –<br />

2 StR 64/69, BGHSt 22, 350, 351; Beschluss vom 10. Februar 2009 – 3 StR 3/09, NStZ-RR 2009, 278; SSW-<br />

<strong>StGB</strong>/Kudlich, § 242 Rn. 61).<br />

IV. Entgegen der von der Revision in der Hauptverhandlung dargelegten Auffassung gefährdet die danach erforderliche<br />

Änderung des Schuldspruchs den Bestand der vom Landgericht verhängten Einheitsjugendstrafe nicht. Zwar hat<br />

158


die Strafkammer bei der nach der ständigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs gebotenen Parallelwertung nach<br />

Erwachsenenstrafrecht (vgl. nur BGH, Beschluss vom 4. November 1987 – 3 StR 482/87, BGHR JGG § 18 Abs. 1<br />

Satz 3 m.w.N.) zu Lasten des Angeklagten darauf abgestellt, dass alle Taten des schweren Bandendiebstahls nicht als<br />

minder schwere Fälle im Sinne des § 244a Abs. 2 <strong>StGB</strong> zu werten gewesen wären. Den ausführlichen Strafzumessungserwägungen<br />

entnimmt der Senat jedoch, dass der Tatrichter die Verhängung der Strafe in der erkannten Höhe<br />

insbesondere aus erzieherischen Gründen für geboten erachtet hat. In den Urteilsgründen wird ferner die insgesamt<br />

untergeordnete Stellung des Angeklagten innerhalb der Bande <strong>und</strong> das vergleichsweise geringe Gewicht seiner Tatbeiträge<br />

zu seinen Gunsten ebenso hervorgehoben wie der Umstand, dass die ihm aus den Taten zugeflossenen Vorteile<br />

ebenfalls von eher untergeordneter Bedeutung waren. Der Senat kann deshalb ausschließen, dass das Landgericht<br />

auf eine geringere Jugendstrafe erkannt hätte, wenn es den Angeklagten in den genannten Fällen lediglich der<br />

Beihilfe zum schweren Bandendiebstahl schuldig gesprochen <strong>und</strong> in den Fällen III. 7 <strong>und</strong> 8 das Konkurrenzverhältnis<br />

zutreffend beurteilt hätte.<br />

<strong>StGB</strong> § 247 Voraussetzungen müssen nicht bei allen (Kommanditisten) vorliegen<br />

BGH, Beschl. v. 23.02.2012 - 1 StR 586/11 - BeckRS 2012, 06322<br />

Die Anwendbarkeit des § 247 <strong>StGB</strong> entfällt nicht dadurch, dass hinsichtlich eines oder mehrerer<br />

der gesamthänderisch verb<strong>und</strong>enen Kommanditisten die Voraussetzungen des § 247 <strong>StGB</strong> nicht<br />

gegeben sind.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Tübingen vom 10. Mai 2011 im Strafausspruch<br />

mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen 567 Fällen der Untreue zu vier Jahren <strong>und</strong> drei Monaten Gesamtfreiheitsstrafe<br />

verurteilt, von denen es sechs Monate (wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen) für vollstreckt<br />

erklärt hat. Dem Urteil lag eine Verständigung i.S.v. § 257c StPO zugr<strong>und</strong>e. Die gegen die Verurteilung gerichtete,<br />

auf die näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen<br />

Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

I. Das Landgericht hat folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

1. Der Angeklagte war im Tatzeitraum (2002 bis 2005) Geschäftsführer der G. GmbH, die - ohne selbst am Kommanditkapital<br />

beteiligt zu sein - Komplementärin der G. GmbH & Co. KG ist. Am Kommanditkapital der G. GmbH<br />

& Co. KG waren der Angeklagte zu 4 %, sein Vater <strong>und</strong> seine Kinder mit insgesamt 31 %, seine Schwestern mit<br />

zusammen 17 %, deren Kinder zu insgesamt 6 % sowie sein Onkel <strong>und</strong> dessen Kinder zu insgesamt 42 % beteiligt.<br />

An insgesamt 567 Tagen übertrug der Angeklagte satzungswidrig Firmengelder von Konten der G. GmbH & Co. KG<br />

auf Privatkonten, um damit im eigenen Namen <strong>und</strong> auf eigene Rechnung Wertpapiergeschäfte (insbesondere mit<br />

hochspekulativen Optionsscheinen) zu finanzieren, <strong>und</strong> setzte zur Zahlung seiner privaten <strong>Teil</strong>nahme an Glücksspielen<br />

im Internet Firmenkreditkarten ein, wodurch die Firmenkonten der G. GmbH & Co. KG entsprechend belastet<br />

wurden. Insgesamt „entnahm“ der Angeklagte so r<strong>und</strong> 5,4 Mio. €. Obwohl der Angeklagte erzielte Gewinne Firmenkonten<br />

wieder gutbrachte, entstand insgesamt ein „Fehlbetrag“ von mindestens 2 Mio. €. Eine Zahlungsunfähigkeit<br />

der G. GmbH & Co. KG drohte gleichwohl nicht. Der Angeklagte offenbarte sich Weihnachten 2005 gegenüber den<br />

Familienangehörigen <strong>und</strong> gab am 24. März 2006 gegenüber den anderen Kommanditisten ein Schuldanerkenntnis ab.<br />

Dieses führte nicht zu der geplanten familieninternen Befriedung. Im Juni 2006 stellte der Onkel des Angeklagten,<br />

im Dezember 2006/Januar 2007 auch noch dessen Sohn, die Schwestern des Angeklagten <strong>und</strong> deren Kinder Strafantrag.<br />

Der Vater <strong>und</strong> die Kinder des Angeklagten haben keinen Strafantrag gestellt.<br />

2. Die Strafkammer hat die Taten des Angeklagten als Untreue in 567 Fällen gewertet; taggleiche „Entnahmen“ seien<br />

tateinheitlich begangen. Geschädigt seien entgegen bisheriger Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofes nicht die<br />

Kommanditisten, sondern jeweils das Vermögen der G. GmbH & Co. KG „in Höhe des Nominalwertes der durch<br />

jede Einzeltat abgeflossenen Liquidität“ (UA S. 31). Dies führe allerdings nicht zu einer Schlechterstellung des Angeklagten,<br />

weil bei der Strafzumessung auch zu berücksichtigen sei, „ob <strong>und</strong> wie viele Gesellschafter, einschließlich<br />

159


dem Täter, mit der Schädigung einverstanden waren bzw. kein Interesse an der Strafverfolgung haben, sondern auch,<br />

in welchem Umfang sie am geschädigten Gesellschaftsvermögen rechnerisch beteiligt sind“ (UA S. 33). Die Strafe<br />

entnimmt die Strafkammer dem erhöhten Strafrahmen des § 266 Abs. 2 <strong>StGB</strong> i.V.m. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong><br />

(Gewerbsmäßigkeit). Bei Untreuehandlungen, bei denen das Vermögen der KG durch eine Tat um mehr als 50.000 €<br />

geschädigt wurde, „hat die Strafkammer zudem die zusätzliche Verwirklichung des Regelbeispiels gemäß §§ 266<br />

Abs. 2, 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> [Vermögensverlust großen Ausmaßes] strafschärfend gewertet“ (UA S. 35).<br />

II. Die Revision wendet sich gegen den Schuldspruch mit dem Vorbringen, geschädigt sei nicht das Vermögen der<br />

KG, sondern der Gesellschafter, die indes keinen oder keinen fristgerechten Strafantrag gestellt hätten.<br />

Der dadurch aufgezeigte Rechtsfehler (1.) begründet hier kein Verfahrenshindernis (2.). Er nötigt vorliegend auch<br />

nicht zur Aufhebung des Schuldspruchs (3.), jedoch kann der Strafausspruch keinen Bestand haben (4.).<br />

1. Zutreffend weist die Revision darauf hin, dass im Rahmen des § 266 <strong>StGB</strong> eine Schädigung des Gesamthandsvermögens<br />

einer Kommanditgesellschaft nur insoweit bedeutsam sein kann, als sie gleichzeitig das Vermögen der<br />

Gesellschafter berührt. Der Senat sieht vorliegend keine Veranlassung, von dieser gefestigten Rechtsprechung des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs (z.B. BGH, Beschluss vom 30. August 2011 - 2 StR 652/10; Urteil vom 18. Juni 2003 - 5 StR<br />

489/02; Urteil vom 20. Januar 2000 - 4 StR 342/99; Beschluss vom 22. Februar 1991 - 3 StR 348/90; Urteil vom 17.<br />

März 1987 - 5 StR 272/86; Urteil vom 29. November 1983 - 5 StR 616/83 jew. mwN; ebenso: BGH, Urteil vom 17.<br />

März 1987 - VI ZR 282/85, BGHZ 100, 190, 192), die auch vom Schrifttum geteilt wird (z.B. Perron in Schönke/Schröder,<br />

<strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 266 Rn. 21; Kühl in Lackner/Kühl, <strong>StGB</strong>, 27. Aufl., § 266 Rn. 3; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59.<br />

Aufl., § 266 Rn. 113; Wittig in BeckOK-<strong>StGB</strong>, § 266 Rn. 11; Saliger in Satzer/Schmitt/Widmaier, <strong>StGB</strong>, § 266 Rn.<br />

19; Maurer/Odörfer, GmbHR 2008, 413, 414; Schulte, NJW 1984, 1671; a.A. Schäfer, NJW 1983, 2850; Richter,<br />

GmbHR 1984, 146), abzuweichen. Geschädigter i.S.d. § 266 <strong>StGB</strong> kann nur ein mit dem Täter nicht identischer<br />

Träger fremden Vermögens sein, sei es eine natürliche Person, sei es eine juristische Person, der eigene Rechtspersönlichkeit<br />

zukommt (BGH, Urteil vom 20. Januar 2000 - 4 StR 342/99; BGH, Urteil vom 24. Juli 1991 - 4 StR<br />

258/91; BGH, Urteil vom 29. November 1983 - 5 StR 616/83). Eine in diesem Sinn eigene Rechtspersönlichkeit<br />

wird der Kommanditgesellschaft - kommt sie als verselbständigtes Gesamthandsvermögen einer juristischen Person<br />

auch sehr nahe - nicht zuerkannt (vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 1990 - IV ZR 270/88, BGHZ 110, 127; BGH,<br />

Urteil vom 16. Februar 1961 - III ZR 71/60, BGHZ 34, 293, 296).<br />

2. Ein Verfahrenshindernis besteht nicht.<br />

Das Fehlen fristgerechter Strafanträge (§§ 77b, 247, 266 Abs. 3 <strong>StGB</strong>) führt nur dann zu einem Strafverfolgungshindernis,<br />

wenn der Angeklagte zu allen Gesellschaftern in einer privilegierten Beziehung im Sinne des § 247 <strong>StGB</strong><br />

steht (BGH, Beschluss vom 6. Juli 1999 - 4 StR 57/99; Eser/Bosch in Schönke/Schröder, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 247 Rn.<br />

10; Hohmann in MüKomm-<strong>StGB</strong>, 3. Aufl., § 247 Rn. 9). Dies ist hier nicht der Fall. Weder der Onkel des Angeklagten,<br />

noch dessen Kinder, noch die Kinder der Schwestern sind Angehörige i.S.d. § 11 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> (BayObLG,<br />

Urteil vom 28. Oktober 1997 - 4 St RR 221/97, NJW 1998, 3580; Eser/Hecker in Schönke/Schröder, <strong>StGB</strong>, 28.<br />

Aufl., § 263 Rn. 5).<br />

3. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Untreue in 567 Fällen ist rechtlich nicht zu beanstanden.<br />

a) Der Angeklagte hatte als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH gegenüber dieser <strong>und</strong> - einzig hier relevant -<br />

gegenüber den Kommanditisten eine Vermögensbetreuungspflicht (vgl. Perron in Schönke/Schröder, <strong>StGB</strong>, 28.<br />

Aufl., § 263 Rn. 25; Waßmer in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- <strong>und</strong> Steuerstrafrecht, § 266 <strong>StGB</strong> Rn. 49). Diese hat<br />

er durch den in der Verwendung der Firmengelder für eigene Spekulationsgeschäfte <strong>und</strong> für die <strong>Teil</strong>nahme an<br />

Glücksspielen liegenden Missbrauch seiner Verfügungsmacht („Griff in die Kasse“) jeweils verletzt.<br />

b) Hierdurch entstand - wie die rechtsfehlerfrei getroffenen Urteilsfeststellungen belegen - (jedenfalls) den nicht in<br />

einer durch § 247 <strong>StGB</strong> privilegierten Beziehung zum Angeklagten stehenden Kommanditisten ein Nachteil i.S.v. §<br />

266 <strong>StGB</strong> in Höhe der jeweiligen „Entnahmen“. Die Strafkammer musste hierbei nicht in jedem Fall berücksichtigen,<br />

dass der Angeklagte aus den Spekulationsgeschäften erzielte Gewinne den Firmenkonten gutbrachte. Eine derart<br />

ungewisse Aussicht auf Rückzahlung ist wirtschaftlich ohne Wert (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2011 - 1 StR<br />

336/11 mwN). Maßgeblich für den zur Bestimmung des tatbestandlichen Nachteils i.S.v. § 266 <strong>StGB</strong> erforderlichen<br />

Vermögensvergleich ist - gleichermaßen wie bei § 263 <strong>StGB</strong> - der Zeitpunkt der vermögensschädigenden Handlung,<br />

hier also der Vergleich des Vermögenswerts unmittelbar vor <strong>und</strong> nach den Verfügungen zu Lasten der Firmenkonten<br />

(Überweisung, Einsatz der Kreditkarten). Spätere Entwicklungen, wie Schadensvertiefung oder Schadensausgleich,<br />

berühren den tatbestandlichen Schaden nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2011 - 2 StR 616/10; BGH, Beschluss<br />

vom 18. Februar 2009 - 1 StR 731/08; BGH, Urteil vom 4. März 1999 - 5 StR 355/98 jew. mwN).<br />

c) Auch die Annahme von Tateinheit bei taggleich verwirklichten - zumal nach den Feststellungen zur Verschleierung<br />

bewusst „gestückelten“ Zahlungen - begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Soweit im Urteil, worauf der Gene-<br />

160


alb<strong>und</strong>esanwalt hinweist, einzelne in der Anklageschrift aufgeführte (<strong>und</strong> bislang nicht nach § 154 StPO eingestellte)<br />

Fälle nicht enthalten sind, stehen diese nicht zur Kognition des Revisionsgerichts. Soweit es sich rechtlich um<br />

<strong>Teil</strong>e von Taten handelt, die durch das Landgericht abgeurteilt wurden, ist der Angeklagte durch den geringeren<br />

Schuldumfang nicht beschwert.<br />

4. Der Strafausspruch - obgleich insgesamt milde - hat jedoch keinen Bestand. Rechtsfehlerfrei legt die Strafkammer<br />

der Strafzumessung zwar den sich aus dem gewerbsmäßigen Handeln des Angeklagten ergebenden erhöhten Strafrahmen<br />

des § 266 Abs. 2, § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> zugr<strong>und</strong>e (vgl. BGH, Beschluss vom 7. September 2011 -<br />

1 StR 343/11 mwN). Für die konkrete Strafzumessung hat das Landgericht jedoch - allerdings folgerichtig zu seiner<br />

Rechtsauffassung - nicht beachtet, dass die Untreue nur auf Antrag verfolgt werden kann, wenn <strong>und</strong> soweit durch sie<br />

ein Angehöriger verletzt wird (§ 266 Abs. 2, § 247 <strong>StGB</strong>; vgl. schon BGH, Urteil vom 26. Februar 1987 - 1 StR<br />

5/87). Die Strafkammer geht daher rechtsfehlerhaft in Einzelfällen von einem besonders schweren Fall i.S.v. § 266<br />

Abs. 2, § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> (Vermögensverlust großen Ausmaßes) aus, was auch im Übrigen besorgen<br />

lässt, sie habe der Strafzumessung insgesamt einen unzutreffenden Schuldumfang zugr<strong>und</strong>e gelegt.<br />

a) Für die Frage des Nachteilseintritts ist bei einer Kommanditgesellschaft - wie aufgezeigt - nicht allein auf die<br />

Gesellschaft, sondern auf das Vermögen der einzelnen Gesellschafter abzustellen (BGH, Beschluss vom 30. August<br />

2011 - 2 StR 652/10; BGH, Urteil vom 3. Mai 1991 - 2 StR 613/90). Bei einer personalisiert strukturierten Gesellschaft<br />

- wie etwa OHG oder KG - sind daher als Verletzte deren Gesellschafter anzusehen (BGH, Beschluss vom 6.<br />

Juli 1999 - 4 StR 57/99). Deren Einverständnis schließt die Annahme von Untreue aus, soweit sie selbst betroffen<br />

sind (BGH, Beschluss vom 22. Februar 1991 - 3 StR 348/90). In gleicher Weise kann bei einer Kommanditgesellschaft<br />

der Angeklagte selbst, soweit sein Gesellschaftsanteil betroffen ist, nicht Geschädigter einer von ihm begangenen<br />

Untreue sein (BGH, Beschluss vom 30. August 2011 - 2 StR 652/10). Auch hinsichtlich eines Kommanditisten,<br />

der in einer gemäß § 247 <strong>StGB</strong> privilegierten Beziehung zum Angeklagten stand bzw. steht, scheidet eine Untreue<br />

zu dessen Nachteil bei Fehlen eines form- <strong>und</strong> fristgerechten Strafantrags aus (vgl. BGH, Urteil vom 3. Mai<br />

1991 - 2 StR 613/90; BGH, Urteil vom 26. Februar 1987 - 1 StR 5/87). Die Anwendbarkeit des § 247 <strong>StGB</strong> entfällt<br />

nicht etwa dadurch, dass hinsichtlich eines oder mehrerer der gesamthänderisch verb<strong>und</strong>enen Kommanditisten die<br />

Voraussetzungen des § 247 <strong>StGB</strong> nicht gegeben sind (vgl. hierzu aber auch Vogel in LK-<strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 247 Rn.<br />

6). Der Haus- <strong>und</strong> Familienfrieden, den zu schützen Normzweck des § 247 <strong>StGB</strong> ist (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juli<br />

1979 - 4 StR 204/79, BGHSt 29, 54, 56), besteht nur in dem Umfang nicht, in dem ein durch die Untreue verletzter<br />

Gesellschafter nicht in einer im Sinne des § 247 <strong>StGB</strong> privilegierten Beziehung zum Täter steht (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 6. Juli 1999 - 4 StR 57/99). Fallen Taten zu Lasten mehrerer Geschädigter wie hier tateinheitlich zusammen,<br />

ergibt sich der Umfang der Verfolgbarkeit - wie stets - nach Maßgabe des § 247 <strong>StGB</strong>. Demzufolge bestimmt<br />

sich auch die Höhe des dem Angeklagten anzulastenden Nachteils <strong>und</strong> damit des großen Ausmaßes i.S.v. §<br />

266 Abs. 2, § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> - wenn wie hier eine Untreue zum Nachteil der Komplementär-GmbH<br />

nicht festgestellt ist (dazu vgl. auch BGH, Urteil vom 17. März 1987 - 5 StR 272/86) - nach der Summe der zugefügten<br />

Nachteile hinsichtlich der Kommanditisten, die entweder form- <strong>und</strong> fristgerecht Strafantrag gestellt haben oder<br />

die nicht in einer durch § 247 <strong>StGB</strong> privilegierten Beziehung zum Angeklagten standen bzw. stehen.<br />

b) Dies zugr<strong>und</strong>e gelegt ist die Erwägung der Strafkammer, bei einem in Höhe der „Entnahmen“ angenommenen<br />

„Schaden von 50.000 € <strong>und</strong> mehr“ könne die „zusätzliche Verwirklichung des Regelbeispiels gem. § 266 Abs. 2, §<br />

263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> strafschärfend gewertet“ werden (UA S. 35), rechtsfehlerhaft. Vielmehr durfte die<br />

Strafkammer das Vorliegen eines „großen Ausmaßes“ im Sinne von § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> allenfalls bei<br />

einem insgesamt 104.166,67 € übersteigenden Betrag annehmen, da nur 48 % des jeweils von der Strafkammer angenommenen<br />

Schadens dem Schuldumfang zugr<strong>und</strong>e gelegt werden konnten. Denn der Angeklagte selbst war nach<br />

den Urteilsfeststellungen mit 4 %, sein Vater <strong>und</strong> seine Kinder, die keinen Strafantrag gestellt haben, mit insgesamt<br />

31 % <strong>und</strong> seine Schwestern (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong>), die nach den Urteilsfeststellungen nicht innerhalb der<br />

Frist des § 77b <strong>StGB</strong> binnen drei Monaten ab Kenntniserlangung Strafantrag gestellt haben, mit 17 % am Kommanditkapital<br />

beteiligt (also zusammen mit 52 %).<br />

c) Die Urteilsgründe lassen überdies besorgen, die Strafkammer habe auch sonst auf den Nominalbetrag der jeweiligen<br />

„Entnahmen“ abgestellt <strong>und</strong> daher der Verurteilung insgesamt einen unzutreffenden Schuldumfang zugr<strong>und</strong>e<br />

gelegt. Die insoweit unklare - <strong>und</strong> zur ausführlich begründeten Rechtsauffassung der Kammer im Widerspruch stehende<br />

- Anmerkung, bei der Strafzumessung sei auch zu berücksichtigen, „ob <strong>und</strong> wie viele Gesellschafter, einschließlich<br />

dem Täter, mit der Schädigung einverstanden waren bzw. kein Interesse an der Strafverfolgung haben,<br />

sondern auch, in welchem Umfang sie am geschädigten Gesellschaftsvermögen rechnerisch beteiligt sind“ (UA S.<br />

33), lässt nicht hinreichend erkennen, dass die Strafkammer in den Blick genommen hätte, dass dem Angeklagten die<br />

161


jeweiligen Abbuchungen <strong>und</strong> Belastungen des Firmenkontos nicht in voller Höhe als „Nachteil“ i.S.v. § 266 Abs. 1<br />

<strong>StGB</strong> strafrechtlich angelastet werden können.<br />

5. Die Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen wird vom aufgezeigten Rechtsfehler<br />

nicht berührt <strong>und</strong> kann daher bestehen bleiben.<br />

<strong>StGB</strong> § 250 Konkurrenzen mehrfaches Ansetzen<br />

BGH, Beschl. v. 22.11.2011 - 4 StR 480/11 - StV 2012, 283<br />

Zum Begriff der 'rechtlichen Bewertungseinheit': Eine sukzessive Tatausführung kann auch dann<br />

gegeben sein, wenn der Täter zunächst davon ausgeht, den angestrebten Taterfolg durch eine Handlung<br />

erreichen zu können, sich dann aber umgehend zu weiteren Tathandlungen entschließt, nachdem<br />

die ins Auge gefasste Handlung keinen oder nur einen <strong>Teil</strong>erfolg erbracht hat.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten W. wird das Urteil des Landgerichts Strals<strong>und</strong> vom 25. Mai 2011<br />

a) im Schuldspruch dahingehend geändert, dass<br />

aa) der Angeklagte W. des besonders schweren Raubes <strong>und</strong> der räuberischen Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlicher<br />

Körperverletzung,<br />

bb) der Mitangeklagte S. der besonders schweren räuberischen Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung, des<br />

besonders schweren Raubes, der räuberischen Erpressung <strong>und</strong> des Betrugs schuldig ist,<br />

b) hinsichtlich des Angeklagten W. in den Fällen II. 1 bis II. 4 <strong>und</strong> II. 7 der Urteilsgründe im Ausspruch über die<br />

Einzelstrafen <strong>und</strong> im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den Feststellungen aufgehoben.<br />

c) hinsichtlich des Mitangeklagten S. in den Fällen II. 1 bis II. 4 der Urteilsgründe im Ausspruch über die Einzelstrafen<br />

<strong>und</strong> im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten W. wegen räuberischer Erpressung in drei Fällen, versuchter räuberischer<br />

Erpressung, besonders schweren Raubes <strong>und</strong> vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter räuberischer<br />

Erpressung unter Einbeziehung einer rechtskräftigen Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong><br />

neun Monaten verurteilt. Den nicht revidierenden Mitangeklagten S. hat das Landgericht der besonders schweren<br />

räuberischen Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung, der räuberischen Erpressung in drei Fällen, der versuchten<br />

räuberischen Erpressung, des besonders schweren Raubes <strong>und</strong> des Betrugs schuldig gesprochen <strong>und</strong> gegen ihn<br />

eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> neun Monaten verhängt. Außerdem hat es seine Unterbringung in<br />

einer Entziehungsanstalt angeordnet <strong>und</strong> bestimmt, dass die Maßregel vor der Strafe zu vollziehen ist. Die auf die<br />

Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten W. hat den aus dem Tenor ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist sie<br />

nach § 349 Abs. 2 StPO offensichtlich unbegründet.<br />

1. Nach den Feststellungen verlangte der Angeklagte W. am 31. März 2010 zusammen mit dem nicht revidierenden<br />

Mitangeklagten S. von dem Zeugen Sch. die Zahlung von 180 Euro, wobei er bewusst wahrheitswidrig behauptete,<br />

einen Anspruch in dieser Höhe aus einem Betäubungsmittelgeschäft zu haben. Als der Zeuge erklärte, kein Bargeld<br />

mit sich zu führen, forderte ihn S. auf, dann eben Geld zu besorgen <strong>und</strong> drohte für den Weigerungsfall Schläge an.<br />

Der Zeuge Sch. hob daraufhin 50 Euro von seinem Girokonto ab <strong>und</strong> händigte sie dem Angeklagten W. aus (Fall II.<br />

1). In der Zeit bis zum 14. April 2010 erschienen der Angeklagte <strong>und</strong> S. noch mehrmals bei dem Zeugen Sch., um<br />

die vermeintlich noch offene Restforderung von 130 Euro beizutreiben. Dabei wiederholten sie ihre Drohung, Sch.<br />

zu schlagen, falls er nicht zahle. Aus Angst vor körperlichen Übergriffen übergab der Zeuge Sch. dem Angeklagten<br />

<strong>und</strong> S. deshalb einmal 30 <strong>und</strong> einmal 20 Euro (Fälle II. 2 <strong>und</strong> II. 3). Am 14. April 2010 suchten der Angeklagte <strong>und</strong><br />

S. den Zeugen Sch. an seiner Arbeitsstelle im Lagerbereich eines Baumarktes auf. Dabei fuhr der Angeklagte mit<br />

seinem Pkw zur Ladezone an der Rückseite des Gebäudes. Dort rief der auf dem Beifahrersitz sitzende S. dem Zeugen<br />

Sch. durch das geöffnete Seitenfenster zu, dass er zusehen solle, dass er das Geld besorge. Andernfalls würde<br />

man ihn „aus dem Laden rausziehen“ <strong>und</strong> es gäbe „tierisch auf die Fresse“. Da der Zeuge Sch., der kein Geld bei<br />

sich hatte, der Aufforderung zur Herausgabe von Geld nicht nachkam <strong>und</strong> auch sonst nicht auf die Drohung reagierte,<br />

verließen der Angeklagte <strong>und</strong> S. mit dem Pkw das Gelände des Baumarktes (Fall II. 4). Am 17. Mai 2010 schlug<br />

162


der Angeklagte dem Zeugen Sch. bei einem zufälligen Zusammentreffen auf der Straße mit der Faust ins Gesicht <strong>und</strong><br />

warf ihm vor, ihn bei der Polizei angezeigt zu haben. Anschließend fragte er den Zeugen, was mit „seinem Geld“ sei<br />

<strong>und</strong> versetzte ihm zwei weitere Faustschläge, wobei er seine Forderung nach Geld wiederholte. Als der Zeuge Sch.<br />

erklärte, kein Geld zu haben, erwiderte der Angeklagte, dass er dann Geld besorgen <strong>und</strong> am nächsten Tag in den<br />

Briefkasten der Wohnung des S. werfen solle. Der Zeuge Sch. erstattete am 18. Mai 2010 Strafanzeige gegen den<br />

Angeklagten. Zu weiteren Geldzahlungen kam es nicht mehr (Fall II. 7). Das Landgericht hat den Angeklagten <strong>und</strong><br />

den nicht revidierenden Mitangeklagten S. insoweit wegen räuberischer Erpressung in drei Fällen (Fälle II. 1 bis II.<br />

3), sowie versuchter räuberischer Erpressung (Fall II. 4) <strong>und</strong> den Angeklagten zusätzlich wegen versuchter räuberischer<br />

Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung (Fall II. 7) schuldig gesprochen.<br />

2. Die Bewertung des Landgerichts, wonach sich der Angeklagte <strong>und</strong> der nicht revidierende Mitangeklagte S. der<br />

(versuchten) räuberischen Erpressung in mehreren Fällen schuldig gemacht haben, begegnet durchgreifenden rechtlichen<br />

Bedenken.<br />

a) Mehrere natürliche Handlungen können als eine Tat im Rechtssinne anzusehen sein (sog. rechtliche Bewertungseinheit),<br />

wenn sie sich als <strong>Teil</strong>akte einer sukzessiven Tatausführung zur Erreichung eines einheitlichen Erfolges<br />

darstellen (BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 467/06, NStZ 2007, 578; SSW-<strong>StGB</strong>/Eschelbach § 52 Rn.<br />

36; Rissing-van Saan in: LK 12. Aufl., vor § 52 Rn. 36; Puppe in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, <strong>StGB</strong>, 3. Aufl., §<br />

52 Rn. 18). Eine sukzessive Tatausführung kann auch dann gegeben sein, wenn der Täter zunächst davon ausgeht,<br />

den angestrebten Taterfolg durch eine Handlung erreichen zu können, sich dann aber umgehend zu weiteren Tathandlungen<br />

entschließt, nachdem die ins Auge gefasste Handlung keinen oder nur einen <strong>Teil</strong>erfolg erbracht hat (vgl.<br />

Jakobs, Strafrecht <strong>Allgemeiner</strong> <strong>Teil</strong>, 2. Aufl., 32. Abschn. Rn. 8). Dabei ist es jedoch erforderlich, dass die weiteren<br />

Tathandlungen auf die vorhergehende Handlung aufsetzen (vgl. BGH, Urteil vom 24. Mai 2000 – 3 StR 551/99,<br />

BGHR <strong>StGB</strong> § 253 Abs. 1 Konkurrenzen 5) <strong>und</strong> sich nicht als neuer Anlauf zur (vollständigen) Erreichung des ursprünglich<br />

angestrebten Taterfolges darstellen. Ein Wechsel des Angriffsmittels, räumliche Trennungen oder längere<br />

zeitliche Intervalle zwischen den jeweiligen Einzelakten stellen die Annahme einer Bewertungseinheit nicht gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

in Frage (BGH, Urteil vom 24. Mai 2000 – 3 StR 551/99, BGHR <strong>StGB</strong> § 253 Abs. 1 Konkurrenzen 5; SSW-<br />

<strong>StGB</strong>/Eschelbach § 52 Rn. 36; Puppe JR 1996, 513, 514), können aber ein Indiz für einen neuerlichen Tatbeginn<br />

sein. Für die Erpressung ist anerkannt, dass mehrere Angriffe auf die Willensentschließung des Opfers als eine Tat<br />

im Rechtsinne zu werten sind, wenn dabei die anfängliche Drohung lediglich den Umständen angepasst <strong>und</strong> aktualisiert<br />

(BGH, Urteil vom 1. März 1994 – 1 StR 33/94, BGHSt 40, 75, 77; Beschluss vom 3. April 2008 – 4 StR 81/08,<br />

NStZ-RR 2008, 239; vgl. Beschluss vom 22. Oktober 1997 – 3 StR 415/97, BGHR <strong>StGB</strong> § 253 Abs. 1 Konkurrenzen<br />

4), im Übrigen aber nach wie vor dieselbe Leistung gefordert wird (vgl. Puppe JR 1996, 513, 514). Die rechtliche<br />

Bewertungseinheit endet in diesen Fällen erst dann, wenn der Täter sein Ziel vollständig erreicht hat oder nach<br />

den insoweit entsprechend heranzuziehenden Wertungen des Rücktrittsrechts von einem fehlgeschlagenen Versuch<br />

auszugehen ist (vgl. BGH, Urteil vom 30. November 1995 – 5 StR 465/95, BGHSt 41, 368, 369; Urteil vom 24. Mai<br />

2000 – 3 StR 551/99, BGHR <strong>StGB</strong> § 253 Abs. 1 Konkurrenzen 5; Beschluss vom 3. April 2008 – 4 StR 81/08, NStZ<br />

RR 2008, 239; SSW-<strong>StGB</strong>/Eschelbach § 52 Rn. 37; Beulke/Satzger NStZ 1996, 432, 433).<br />

b) Danach ist der Angeklagte in den Fällen II. 1 bis II. 4 <strong>und</strong> II. 7 nur einer räuberischen Erpressung in Tateinheit mit<br />

vorsätzlicher Körperverletzung schuldig. Wie sich aus den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen ergibt, haben<br />

der Angeklagte <strong>und</strong> der nicht revidierende Mitangeklagte S. in den Fällen II. 1 bis II. 4 jeweils die von Anfang an<br />

geltend gemachte Forderung von 180 Euro weiterverfolgt <strong>und</strong> dabei ihre ursprüngliche Drohung, den Zeugen Sch. zu<br />

schlagen, jeweils erneuert <strong>und</strong> bekräftigt. Dabei lagen zwischen der ersten Einwirkung auf die Willensfreiheit des<br />

Zeugen Sch. am 31. März 2010 (Fall II. 1) <strong>und</strong> dem Vorfall vom 14. Mai 2010 (Fall II. 4) neben den beiden zu weiteren<br />

<strong>Teil</strong>zahlungen führenden Treffen (Fälle II. 2 <strong>und</strong> II. 3) noch weitere Drohungen, die ersichtlich einer Aufrechterhaltung<br />

des Drucks auf den Zeugen dienen sollten. Auch der allein von dem Angeklagten begangene Erpressungsversuch<br />

vom 17. Mai 2010 (Fall II. 7) stellt eine Weiterführung des Vorhabens dar, den Zeugen zu einer Zahlung<br />

von insgesamt 180 Euro zu zwingen. Der Umstand, dass es sich hierbei nur um ein zufälliges Zusammentreffen<br />

gehandelt hat, steht der Annahme einer rechtlichen Bewertungseinheit nicht entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 18.<br />

Januar 2000 – 4 StR 599/99; NStZ-RR 2000, 234, 235). Das Urteil war nach § 357 Satz 1 StPO in den Fällen II. 1 bis<br />

II. 4 im Umfang der Aufhebung auf den nicht revidierenden Mitangeklagten S. zu erstrecken, weil ihn der in Rede<br />

stehende Rechtsfehler in gleicher Weise betrifft. Der Senat ändert jeweils den Schuldspruch entsprechend ab. § 265<br />

StPO steht dem nicht entgegen.<br />

3. Die Änderung des Schuldspruchs hat bei dem Angeklagten W. die Aufhebung der in den Fällen II. 1 bis II. 4,<br />

sowie II. 7 verhängten Einzelfreiheitsstrafen zur Folge. Bei dem nicht revidierenden Angeklagten S. sind die in den<br />

163


Fällen II. 1 bis II. 4 verhängten Einzelfreiheitsstrafen aufzuheben. Dies entzieht jeweils auch dem Gesamtstrafenausspruch<br />

die Gr<strong>und</strong>lage.<br />

<strong>StGB</strong> § 250, § 24 Abs. 2 Mittäterschaft trotz Fehlvorstellung über Raubvollendung<br />

BGH, Beschl. v. 08.05.2012 - 5 StR 88/12 - BeckRS 2012, 11286<br />

Der Fall, dass sich ein Mittäter eines Raubes in Abkehr vom gemeinsamen Tatplan das vorgef<strong>und</strong>ene<br />

Geld alleine zueignen will, kann im Ergebnis nicht anders beurteilt werden als derjenige, dass<br />

sich der Angeklagte selbst vom gemeinsamen Tatplan distanziert <strong>und</strong> daher die weitere Tatvollendung<br />

nicht beobachten <strong>und</strong> beeinflussen kann: Selbst wenn der Angeklagte in dem Moment, als sein<br />

Mittäter das Geld wegnahm, die Tatbegehung abgebrochen hätte, wäre er in Anbetracht seiner<br />

fortwirkenden Tatbeiträge gleichwohl wegen vollendeten (mittäterschaftlichen) Raubes strafbar<br />

gewesen. Die spätere Fehlvorstellung des Angeklagten über die Tatvollendung ändert an deren Zurechnung<br />

erst recht nichts.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kiel vom 26. Oktober 2011 wird nach § 349 Abs. 2<br />

StPO als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren<br />

verurteilt. Seine auf eine Verfahrens- <strong>und</strong> die Sachrüge gestützte Revision bleibt entsprechend der Stellungnahme<br />

des Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom 28. Februar 2012 ohne Erfolg.<br />

1. Einer näheren Erörterung bedarf lediglich der Einwand der Revision, nach dem Vorstellungsbild des Angeklagten<br />

sei eine Vollendung der gemeinsam begangenen Raubtat beim Verlassen des Tatorts nicht gegeben gewesen. Sein<br />

gesondert verfolgter Mittäter J. hatte ihm nämlich verschwiegen, dass er das Geld, welches er in der Wohnung des<br />

derweil von dem Angeklagten körperlich in Schach gehaltenen Geschädigten entdeckt <strong>und</strong> an sich genommen hatte,<br />

für sich behalten wollte; dem Angeklagten spiegelte er vor, kein Geld gef<strong>und</strong>en zu haben. Zwar war die Erwartung<br />

eines „fünfstelligen Betrags“ aus der Tatbeute nach den Feststellungen wesentlich dafür, dass sich der Angeklagte<br />

zur Mitwirkung an der Tat bereiterklärte. Seine Beuteerwartung war damit bestimmend für die Erbringung seines<br />

Tatbeitrages <strong>und</strong> sein eigenes Interesse an der Tat. Dies ändert aber nichts daran, belegt indes, dass das gesamte<br />

objektive Tatgeschehen im gemeinsamen Tatplan lag <strong>und</strong> mithin vom Vorsatz des Angeklagten gedeckt war. Im<br />

Zeitpunkt der Wegnahme des Geldes durch J. hatte er auch die für den Mittäter eines Raubes erforderliche Zueignungsabsicht<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2011 – 4 StR 204/11, StraFo 2011, 408). Der Angeklagte hat auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage gemeinsamen Wollens <strong>und</strong> in der Erwartung, einen <strong>Teil</strong> der Beute zu erhalten, vor <strong>und</strong> während des tatbestandsmäßigen<br />

Geschehens im arbeitsteiligen Zusammenwirken mit J. Tatbeiträge erbracht, welche die Tatbestandsverwirklichung<br />

maßgeblich förderten.<br />

Der vorliegende Fall, dass sich ein Mittäter in Abkehr vom gemeinsamen Tatplan das vorgef<strong>und</strong>ene Geld alleine<br />

zueignen will, kann im Ergebnis nicht anders beurteilt werden als derjenige, dass sich der Angeklagte selbst vom<br />

gemeinsamen Tatplan distanziert <strong>und</strong> daher die weitere Tatvollendung nicht beobachten <strong>und</strong> beeinflussen kann:<br />

Selbst wenn der Angeklagte in dem Moment, als sein Mittäter das Geld wegnahm, die Tatbegehung abgebrochen<br />

hätte, wäre er in Anbetracht seiner fortwirkenden Tatbeiträge gleichwohl wegen vollendeten (mittäterschaftlichen)<br />

Raubes strafbar gewesen (vgl. § 24 Abs. 2 <strong>StGB</strong>). Die spätere Fehlvorstellung des Angeklagten über die Tatvollendung<br />

ändert an deren Zurechnung erst recht nichts.<br />

2. Die Strafzumessung ist nicht zu beanstanden. Dass der Angeklagte nicht zugleich wegen gefährlicher Körperverletzung<br />

(§ 224 Nr. 2 <strong>und</strong> 5 <strong>StGB</strong>) verurteilt wurde, beschwert ihn nicht.<br />

<strong>StGB</strong> § 250, § 24 Schwerer räuberische Erpressung, subj. Voraussetzungen<br />

BGH, Beschl. v. 22.03.2012 - 4 StR 541/11 - NStZ-RR 2012, 239<br />

Zum Subjektiven Tatbestand des Raubes: Während für die Ausschließung des Berechtigten – Enteignung<br />

– bedingter Vorsatz ausreicht, verlangt die Zueignungsabsicht in Bezug auf die Aneignung<br />

164


der Sache oder des in ihr verkörperten Sachwertes einen zielgerichteten Willen (Senatsbeschluss<br />

vom 11. Oktober 2006 – 4 StR 400/06, NStZ-RR 2007, 15). Dass die Aneignung vom Täter nur als<br />

mögliche Folge seines Verhaltens in Kauf genommen wird, reicht nicht aus, vielmehr muss er sie für<br />

sich oder einen Dritten mit unbedingtem Willen erstreben.<br />

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 29. Juli 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben.<br />

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere<br />

Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung unter Einbeziehung<br />

zweier jugendgerichtlicher Verurteilungen zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten,<br />

die Angeklagte W. wegen Raubes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Zudem hat<br />

es die Angeklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Adhäsionsantragstellerin H. 1.000 € zu zahlen. Die Revisionen<br />

der Angeklagten, mit denen sie jeweils die Verletzung sachlichen Rechts rügen, haben Erfolg.<br />

I.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts beschlossen die Angeklagten am 7. Februar 2011 gegen 1.30 Uhr mit<br />

einem Pkw durch die Gegend zu fahren, nachdem sie den Abend mit weiteren Personen, unter anderem mit der Zeugin<br />

H. , in einer Wohnung in H. verbracht <strong>und</strong> gemeinsam verschiedene Drogen konsumiert hatten. Sie forderten die<br />

später geschädigte Zeugin H. , eine ehemalige Fre<strong>und</strong>in des Angeklagten S. , auf, sie zu begleiten. Gemeinsam mit<br />

zwei weiteren Zeugen fuhren sie zunächst nach G. . Während der Angeklagte S. den Pkw lenkte, saß die Angeklagte<br />

W. auf dem Beifahrersitz, die drei Zeugen nahmen im Fond Platz. Während der Fahrt wurde die Zeugin H. von beiden<br />

Angeklagten massiv beleidigt. Nach der Rückkehr in H. stiegen die zwei Zeugen aus, <strong>und</strong> die Angeklagten fuhren<br />

allein mit der zu diesem Zeitpunkt bereits eingeschüchterten Zeugin H. weiter nach W. . Dort wurde diese für<br />

etwa eine halbe St<strong>und</strong>e an einem Kiosk abgesetzt, da beide Angeklagten eine Zeitlang ungestört sein wollten. Die<br />

Geschädigte, die – noch immer unter Drogeneinfluss – allein im Dunkeln stand <strong>und</strong> Angst hatte, bat die Angeklagten<br />

telefonisch darum, sie wieder abzuholen, was auch geschah. Nachdem die Zeugin H. im Fond hinter dem Beifahrersitz<br />

Platz genommen hatte, begannen die Angeklagten erneut, mit ihr zu streiten <strong>und</strong> sie zu beleidigen. Während der<br />

Fahrt holte der Angeklagte S. plötzlich ein im Pkw befindliches Messer hervor, schaltete das Licht im Fahrzeuginneren<br />

ein <strong>und</strong> hielt das Messer mit den Worten „Ich bin D. . Ich bringe dich um!“ mit der rechten Hand hoch, wobei er<br />

über den Rückspiegel mit der Zeugin H. kommunizierte. Das Messer hatte eine etwa 25 cm lange Klinge. Mit seinem<br />

Ausspruch spielte der Angeklagte S. auf einen gemeinsamen Bekannten an, der stets ein Messer bei sich führt. Die<br />

Angeklagte W. <strong>und</strong> die Zeugin H. hielten dies zunächst für einen Scherz <strong>und</strong> lachten darüber. S. fuhr jedoch in aggressiver<br />

Weise mit seinen Drohungen fort <strong>und</strong> richtete das Messer mehrmals mit der Spitze in kurzen Bewegungen<br />

auf die schräg hinter ihm sitzende Geschädigte, die sein Verhalten nunmehr als bedrohlich wahrnahm. Zugleich<br />

forderte er sie wiederholt mit den Worten „Gib deinen Kram her!“ auf, ihm ihre Handys <strong>und</strong> Schlüssel auszuhändigen,<br />

um diese Gegenstände zu einem späteren Zeitpunkt gewinnbringend nutzen zu können. Die Zeugin H. , deren<br />

Gr<strong>und</strong>stimmung infolge der vorherigen Demütigungen, des langen Wartens im Dunkeln <strong>und</strong> der konsumierten Drogen<br />

ängstlich war, begann hysterisch zu weinen, kam dieser Aufforderung jedoch nicht nach. Die Angeklagte W.<br />

hatte ebenfalls den Wechsel in der Stimmung des Angeklagten S. bemerkt <strong>und</strong> sagte daraufhin zu der Geschädigten:<br />

„Mach’s lieber, der macht sonst ernst!“ Inzwischen fuhr der Angeklagte S. einen 400 m langen, ansteigenden Weg<br />

hinauf. Dabei musste er mit der rechten Hand schalten <strong>und</strong> warf das Messer in den Fußraum vor dem Beifahrersitz.<br />

Das Landgericht hat zu seinen Gunsten angenommen, dass er zum Zeitpunkt des Wegwerfens des Messers bereits<br />

den Entschluss aufgegeben hatte, die Zeugin H. zur Herausgabe ihrer Wertgegenstände zu bewegen. Am Ende der<br />

Steigung hielt er an. Die Angeklagte W. stieg aus, öffnete die hintere Fahrzeugtür <strong>und</strong> gab der noch hysterisch weinenden<br />

Geschädigten eine Ohrfeige, um sie weiter einzuschüchtern. Daraufhin entnahm sie aus deren Jackentaschen<br />

Wohnungs- <strong>und</strong> Autoschlüssel sowie zwei Handys. Es handelte sich um sämtliche Gegenstände, die diese mit sich<br />

führte <strong>und</strong> die der Angeklagte S. zuvor herausverlangt hatte. Die Geschädigte war von dem vorangegangenen Verhalten<br />

insbesondere des Angeklagten S. derart aufgelöst, dass sie W. gewähren ließ. Dieser kam es in diesem Moment<br />

darauf an, der Geschädigten „die Gegenstände zu entziehen <strong>und</strong> an sich zu nehmen, um mit diesen nach eigenem<br />

Belieben verfahren zu können <strong>und</strong> das vom Angeklagten S. angestoßene Geschehen auch in ihrem eigenen<br />

Interesse abzuschließen“. Ferner wollte sie erreichen, dass sich S. beruhigt <strong>und</strong> nicht weiter „austickt“; sie hatte<br />

keine konkreten Vorstellungen, wie sie, S. oder Dritte möglicherweise im Nachhinein mit den Gegenständen verfahren<br />

würden. Sie billigte aber, dass die Geschädigte die Gegenstände nicht zurückerhalten würde. Anschließend zog<br />

165


die Angeklagte W. die Zeugin H. aus dem Pkw, setzte sich wieder auf den Beifahrersitz <strong>und</strong> warf die Gegenstände in<br />

den Fußraum. Der Angeklagte, der das Geschehen vom Fahrersitz aus verfolgt hatte, ohne sich aktiv oder verbal<br />

daran zu beteiligen, fuhr mit der Angeklagten W. zur Wohnung in H. zurück. Einer telefonischen Aufforderung der<br />

Geschädigten, sie abzuholen, kamen sie nicht nach, sondern legten sich alsbald schlafen. Zuvor hatten sie die Gegenstände<br />

der Zeugin mit Ausnahme eines Handys der in der Wohnung in H. anwesenden Zeugin L. übergeben, die sie<br />

am nächsten Morgen an die Mutter der Geschädigten übergab. Lediglich ein Handy hatte die Angeklagte W. an sich<br />

genommen, nachdem ihr auf dem Rückweg nach H. eingefallen war, dass die Zeugin H. ihr noch 20 € schuldete.<br />

2. Einen strafbefreienden Rücktritt des Angeklagten S. vom Versuch der besonders schweren räuberischen Erpressung<br />

hat das Landgericht mit der Erwägung verneint, zum Zeitpunkt der Aufgabe des Tatentschlusses, nämlich in<br />

dem Moment des Wegwerfens des Messers in den Fußraum, habe aus dessen Sicht ein sogenannter „fehlgeschlagener<br />

Versuch“ vorgelegen. Hiervon habe S. nicht mehr mit strafbefreiender Wirkung zurücktreten können, weil seine<br />

vorherigen Drohungen mit dem Messer erfolglos geblieben seien <strong>und</strong> keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass er<br />

seinen Tatplan dahin geändert habe, über den Ausspruch von Drohungen hinaus Gewalt gegen die Zeugin H. anzuwenden,<br />

um in den Besitz ihrer Wertgegenstände zu gelangen, zumal er sich trotz entsprechender Möglichkeit an den<br />

Handlungen der Angeklagten W. nicht beteiligt habe.<br />

II. Die Verurteilung beider Angeklagten begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.<br />

1. Die Feststellungen des Landgerichts tragen die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchter besonders schwerer<br />

räuberischer Erpressung nicht. Die Verneinung eines strafbefreienden Rücktritts vom Versuch hält der rechtlichen<br />

Nachprüfung nicht stand.<br />

a) Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt des Landgerichts, wonach bei einem fehlgeschlagenen<br />

Versuch ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24 <strong>StGB</strong> von vorneherein ausscheidet (st. Rspr., vgl. nur Senatsurteil<br />

vom 10. April 1986 – 4 StR 89/86, BGHSt 34, 53, 56; Urteil vom 30. November 1995 – 5 StR 465/95, BGHSt 41,<br />

368, 369). Fehlgeschlagen ist der Versuch jedoch erst, wenn die Tat nach Misslingen des zunächst vorgestellten<br />

Tatablaufs mit den bereits eingesetzten oder anderen nahe liegenden Mitteln objektiv nicht mehr vollendet werden<br />

kann <strong>und</strong> der Täter dies erkennt oder wenn er subjektiv – sei es auch nur wegen aufkommender innerer Hemmungen<br />

(Senatsbeschluss vom 26. September 2006 – 4 StR 347/06, NStZ 2007, 91) – die Vollendung nicht mehr für möglich<br />

hält. Maßgeblich dafür ist nicht der ursprüngliche Tatplan, dem je nach Fallgestaltung allenfalls Indizwirkung für<br />

den Erkenntnishorizont des Täters zukommen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 2. November 2007 – 2 StR 336/07,<br />

NStZ 2008, 393), sondern dessen Vorstellung nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung (BGH, Beschluss<br />

vom 2. November 2007 – 2 StR 336/07, aaO). Ein Fehlschlag liegt nicht bereits darin, dass der Täter die Vorstellung<br />

hat, er müsse von seinem Tatplan abweichen, um den Erfolg herbeizuführen. Hält er die Vollendung der Tat im unmittelbaren<br />

Handlungsfortgang noch für möglich, wenn auch mit anderen Mitteln, so ist der Verzicht auf ein Weiterhandeln<br />

als freiwilliger Rücktritt vom unbeendeten Versuch zu bewerten (Senatsbeschluss vom 26. September 2006<br />

– 4 StR 347/06, aaO). Fehlgeschlagen ist der Versuch erst, wenn der Täter erkennt oder die subjektive Vorstellung<br />

hat, dass es zur Herbeiführung des Erfolgs eines erneuten Ansetzens bedürfte, etwa mit der Folge einer zeitlichen<br />

Zäsur <strong>und</strong> einer Unterbrechung des unmittelbaren Handlungsfortgangs (BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 – GSSt<br />

1/93, BGHSt 39, 221, 232; Urteil vom 30. November 1995 – 5 StR 465/95, aaO).<br />

b) Zu der Vorstellung des Angeklagten nach Misslingen des zunächst ins Auge gefassten Tatablaufs – nach der Weigerung<br />

der Geschädigten ihre Wertgegenstände herauszugeben – teilt das Urteil nichts mit. Selbst wenn die Feststellungen<br />

des Landgerichts dahin zu verstehen sein sollten, dass der Angeklagte S. unüberwindliche Hemmungen hatte,<br />

das nach wie vor im Pkw befindliche <strong>und</strong> ihm jederzeit zugängliche Messer über ein bloßes Mittel der Bedrohung<br />

hinaus einzusetzen, <strong>und</strong> insoweit nicht Herr seiner Entschlüsse war, verstünde es sich nicht von selbst, dass er keine<br />

weitere Handlungsalternative mehr sah, mit der er im unmittelbaren Fortgang noch hätte zur Tatvollendung gelangen<br />

können. Insbesondere lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, dass es ihm verwehrt war, ohne zeitliche Zäsur die<br />

Bedrohung mit dem Messer fortzusetzen oder Gewalt gegen die Zeugin H. anzuwenden. Insoweit ist lediglich festgestellt,<br />

dass sich das völlig verängstigte Tatopfer nach wie vor in dem vom Angeklagten geführten Pkw befand <strong>und</strong><br />

infolge des vorherigen Geschehens derart aufgelöst war, dass es die Angeklagte W. gewähren ließ. Ein fehlgeschlagener<br />

Versuch ist damit nicht belegt.<br />

2. Die Verurteilung der Angeklagten W. wegen Raubes begegnet ebenfalls durchgreifenden rechtlichen Bedenken,<br />

weil die Annahme des Landgerichts, die Angeklagte habe zur Zeit der Wegnahme mit Zueignungsabsicht gehandelt,<br />

von den Feststellungen nicht hinreichend getragen wird.<br />

a) Täter kann beim Raub nur sein, wer bei der Wegnahme die Absicht hat, sich oder einem Dritten die fremde Sache<br />

rechtswidrig zuzueignen. Hierfür genügt, dass der Täter die fremde Sache unter Ausschließung des Eigentümers oder<br />

bisherigen Gewahrsamsinhabers körperlich oder wirtschaftlich für sich oder den Dritten haben <strong>und</strong> sie der Substanz<br />

166


oder dem Sachwert nach seinem Vermögen oder dem des Dritten „einverleiben“ oder zuführen will. Dagegen ist<br />

nicht erforderlich, dass der Täter oder der Dritte die Sache auf Dauer behalten soll oder will (Senatsurteil vom 27.<br />

Januar 2011 – 4 StR 502/10, NStZ 2011, 699, 701). Während für die Ausschließung des Berechtigten – Enteignung –<br />

bedingter Vorsatz ausreicht (vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 242 Rn. 41), verlangt die Zueignungsabsicht in Bezug<br />

auf die Aneignung der Sache oder des in ihr verkörperten Sachwertes einen zielgerichteten Willen (Senatsbeschluss<br />

vom 11. Oktober 2006 – 4 StR 400/06, NStZ-RR 2007, 15). Dass die Aneignung vom Täter nur als mögliche Folge<br />

seines Verhaltens in Kauf genommen wird, reicht nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 30. Januar 1962 – 1 StR 540/61,<br />

VRS 22, 206), vielmehr muss er sie für sich oder einen Dritten mit unbedingtem Willen erstreben (vgl. Münch-<br />

Komm<strong>StGB</strong>/Schmitz § 242 Rn. 134; Eser/Bosch, in: Schönke-Schröder, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 242 Rn. 61).<br />

b) Nach den Feststellungen kam es der Angeklagten darauf an, der Zeugin die Gegenstände zu entziehen <strong>und</strong> sie an<br />

sich zu nehmen, um damit nach eigenem Belieben verfahren zu können, wobei sie bei der Wegnahme keine konkreten<br />

Vorstellungen davon hatte, wie sie, der Angeklagte S. oder Dritte möglicherweise im Nachhinein mit den Gegenständen<br />

verfahren würden. Sie billigte aber, dass die Zeugin H. die Gegenstände nicht zurückerhalten würde. Diese<br />

Feststellungen vermögen aber nicht hinreichend zu belegen, dass die Angeklagte W. die Gegenstände der Substanz<br />

oder dem Sachwert nach mit unbedingtem Willen ihrem Vermögen oder dem des Angeklagten S. „einverleiben“<br />

oder zuführen wollte. Abgesehen davon, dass sie an einem inneren Widerspruch leiden, schließen sie die Möglichkeit<br />

nicht hinreichend aus, dass sich die Absicht der Angeklagten – unter Fehlen des Aneignungsmoments – darauf<br />

beschränkte, die Geschädigte ihrer tatsächlichen Verfügungsgewalt über die Sache zu entkleiden, mithin eine bloße<br />

Sachentziehung zu begehen (vgl. Eser/Bosch aaO Rn. 55). Dafür könnte auch der Umstand sprechen, dass die Angeklagten<br />

– von einem Handy abgesehen – alle Gegenstände noch im Laufe des Abends an die Zeugin L. weiterreichten,<br />

die sie ihrerseits an die Mutter der Geschädigten weiterreichte. Soweit das Landgericht im Rahmen der rechtlichen<br />

Würdigung ohne nähere Begründung ausführt (UA S. 27), die Angeklagte habe zum Zeitpunkt der Wegnahme<br />

in der Absicht gehandelt, sich die Gegenstände wenigstens vorübergehend anzueignen, fehlt es gleichermaßen an<br />

einer ausreichenden, eine bloße Sachentziehung ausschließenden Tatsachengr<strong>und</strong>lage.<br />

c) Auch im Hinblick auf das von der Angeklagten W. einbehaltene Mobiltelefon ist eine Zueignungsabsicht nicht<br />

hinreichend belegt. Nimmt ein Täter, wie hier die Angeklagte, die davon ausging, die Geschädigte schulde ihr Geld,<br />

eine Sache weg, um dies als Druckmittel zur Durchsetzung einer solchen Forderung zu benutzen, handelt er nicht mit<br />

Zueignungsabsicht, weil er weder die Sache noch den in ihr verkörperten Sachwert seinem Vermögen dauerhaft<br />

einverleiben will (Senatsbeschluss vom 26. Februar 1998 – 4 StR 54/98, StV 1999, 315, 316).<br />

III. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung.<br />

1. Der neue Tatrichter wird dabei zu bedenken haben, dass das Wegwerfen eines Tatwerkzeuges den Schluss auf die<br />

Aufgabe des Tatentschlusses nur dann tragfähig zu begründen vermag, wenn nahe liegende, einer entsprechenden<br />

Wertung entgegenstehende Gründe für das Verhalten in die Beweiswürdigung einbezogen <strong>und</strong> nachvollziehbar ausgeschlossen<br />

werden können. So hätte es hier näherer Erörterung bedurft, dass der Angeklagte das in der rechten<br />

Hand befindliche Messer möglicherweise lediglich deshalb in den Fußraum warf, um eine konkrete Fahr- bzw. Verkehrssituation<br />

zu bewältigen. Das liegt hier deshalb nahe, weil er im selben Augenblick, in dem er das Messer hielt,<br />

mit der rechten Hand auch schalten musste. Seine Untätigkeit während der sich anschließenden Handlung der Angeklagten<br />

W. stünde dieser Auslegung nicht notwendigerweise entgegen, weil sein Verhalten je nach den Umständen<br />

auch als Billigung des Vorgehens seiner Fre<strong>und</strong>in bewertet werden könnte. Dafür könnte auch der Umstand sprechen,<br />

dass er das Geschehen später gegenüber der Zeugin H. in Abrede stellte.<br />

2. Sollte der neue Tatrichter wiederum zu der Feststellung gelangen, dass der Angeklagte S. seinen Tatentschluss<br />

aufgab, wird er – sofern ein fehlgeschlagener Versuch ausgeschlossen werden kann – beachten müssen, dass bei<br />

Tatbeteiligung mehrerer gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 <strong>StGB</strong> diejenigen Beteiligten nicht wegen Versuchs bestraft werden,<br />

die freiwillig die Tatvollendung verhindern. Dabei muss das die Tatvollendung verhindernde Verhalten nicht<br />

notwendig in einem auf die Erfolgsabwendung gerichteten aktiven Tun bestehen. Kann einer von mehreren Beteiligten<br />

den noch möglichen Eintritt des Taterfolgs allein dadurch vereiteln, dass er seinen vorgesehenen Tatbeitrag nicht<br />

erbringt oder nicht weiter fortführt, so verhindert bereits seine Untätigkeit oder sein Nichtweiterhandeln die Tatvollendung.<br />

Ist dem Beteiligten dies im Zeitpunkt der Verweigerung oder des Abbruchs seiner Tatbeteiligung bekannt<br />

<strong>und</strong> handelt er dabei freiwillig, liegen damit die Voraussetzungen für einen strafbefreienden Rücktritt nach § 24 Abs.<br />

2 Satz 1 <strong>StGB</strong> vor (vgl. BGH, Urteil vom 7. Oktober 1983 – 1 StR 615/83, NJW 1984, 2169; Urteil vom 21. Oktober<br />

1983 – 2 StR 485/83, BGHSt 32, 133, 134 f.; Senatsbeschluss vom 26. Juli 2011 – 4 StR 268/11; Fischer aa0 § 24<br />

Rn. 40). Hat sich hingegen jemand zu diesem Zeitpunkt nicht nur als Gehilfe oder Anstifter, sondern – gegebenenfalls<br />

sukzessiv – als Mittäter an der Tat beteiligt <strong>und</strong> bestand aufgr<strong>und</strong> von dessen Beteiligung im Vorfeld der Untätigkeit<br />

oder des Nichtweiterhandelns bereits die Gefahr der Tatvollendung durch den Mittäter, bedarf der strafbefrei-<br />

167


ende Rücktritt eines auf die Erfolgsabwendung gerichteten aktiven Tuns (vgl. SSW-<strong>StGB</strong>/Kudlich/Schuhr § 24 Rn.<br />

51 ff.).<br />

<strong>StGB</strong> § 257 I Begünstigung, Tatlohn als Vorteil<br />

BGH, Beschl. v. 03.11.2011 - 2 StR 302/11 - StraFo 2012, 156<br />

LS: Vorteil im Sinne des § 257 Abs. 1 <strong>StGB</strong> ist auch der an einen Tatbeteiligten gezahlte, nicht aber<br />

der ihm versprochene Tatlohn.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 22. Dezember 2009<br />

dahin ergänzt, dass von der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten zwei Monate Freiheitstrafe als<br />

Entschädigung für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Begünstigung in zwei Fällen <strong>und</strong> wegen Anstiftung zur Verletzung des<br />

Dienstgeheimnisses <strong>und</strong> einer besonderen Geheimhaltungspflicht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten<br />

verurteilt <strong>und</strong> im Übrigen freigesprochen. Zudem hat es dem Angeklagten für die Dauer von vier Jahren verboten,<br />

den Beruf des Rechtsanwalts auszuüben sowie als angestellter oder selbständiger Rechtsassessor oder in sonstiger<br />

Weise rechtsberatend tätig zu sein, soweit diese Tätigkeit mit einem persönlichen Kontakt mit Mandanten verb<strong>und</strong>en<br />

ist. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten bleibt im Wesentlichen ohne Erfolg; das Urteil war lediglich<br />

um eine Kompensation für einen Konventionsverstoß zu ergänzen.<br />

I. Zu den Begünstigungstaten in den Fällen II. 1 <strong>und</strong> 3 hat das Landgericht Folgendes festgestellt: Der gesondert<br />

verfolgte P. fasste im Frühjahr 2008 den Entschluss, in betrügerischer Absicht über eine GmbH nicht existierende<br />

Solarmodule gegen Vorkasse zu verkaufen <strong>und</strong> die so erzielten Beträge für sich zu vereinnahmen. Er zahlte vorab<br />

50.000 € an den gesondert verfolgten Pu., der hierfür einen Scheingeschäftsführer <strong>und</strong> einen Firmenmantel beschaffen<br />

sollte. Pu. gewann zu diesem Zweck den arbeitslosen O. <strong>und</strong> sorgte dafür, dass dieser als Geschäftsführer der M.<br />

Haustechnik GmbH, einer reinen Briefkastenfirma, eingetragen wurde. Als Entgelt stellte Pu. O. einen Betrag von<br />

30.000 bis 50.000 € in Aussicht <strong>und</strong> zahlte vorab 15.000 € an diesen. In der Zeit von Ende Juni bis 11. August 2008<br />

nahm die M. Haustechnik GmbH Vorkassengelder in Höhe von über 1,5 Mio. € ein, ohne die bestellten Solarmodule<br />

zu liefern. Ende Juli/Anfang August 2008 wandte sich Pu. an den als Rechtsanwalt tätigen Angeklagten, da er Bargeld<br />

von über 65.000 € in der Schweiz "verstecken" wollte. Darunter befand sich u.a. der von P. erhaltene Tatlohn in<br />

Höhe von 35.000 € (50.000 € abzüglich der an O. gezahlten 15.000 €) aus den Betrugsgeschäften im Kontext der M.<br />

Haustechnik GmbH, den Pu. bei sich zu Hause aufbewahrt hatte. Der Angeklagte, dem die Herkunft der 35.000 €<br />

bekannt war, begab sich am 19. August 2008 mit Pu. in die Schweiz <strong>und</strong> bereitete mit Unterstützung eines ihm bekannten<br />

Wirtschaftsprüfers die Gründung der N. Holding AG vor. Auf Anraten des Angeklagten eröffnete Pu. in der<br />

Schweiz ein Konto, zahlte das bei sich geführte Bargeld ein <strong>und</strong> überwies das Geld auf ein Konto der N. Holding AG<br />

als Stammkapital (Fall II. 1). Im November 2008 ließ O. dem gesondert verfolgten Pu. über den Angeklagten ausrichten,<br />

dieser schulde ihm für seine Tätigkeit als "Strohmann" der Firma M. Haustechnik GmbH noch 35.000 €. Pu.<br />

übergab dem Angeklagten daraufhin 1.000 € als Anzahlung für O.. Hiervon händigte der Angeklagte O. 500 € aus<br />

<strong>und</strong> behielt den Rest mit Wissen des O. als Entlohnung für seine anwaltliche Tätigkeit für sich. Zudem stellte er O.<br />

im Auftrag des Pu. als Tatentlohnung eine lebenslange monatliche Zahlung von 1.000 € in Aussicht, um diesen so in<br />

Abhängigkeit von Pu. zu halten <strong>und</strong> von der Preisgabe der Straftaten des Pu. gegenüber den Ermittlungsbehörden<br />

abzuhalten. O. lehnte dies jedoch ab (Fall II. 3). Das Landgericht hat das Handeln des Angeklagten in den Fällen II. 1<br />

<strong>und</strong> 3 als Begünstigung in zwei Fällen gewertet, wobei es im Fall II. 3 zwei tateinheitlich begangene Fälle angenommen<br />

hat.<br />

II. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist hinsichtlich der Begünstigung des O. im<br />

Fall II. 3 begründet; einer Änderung des Schuldspruchs bedarf es insoweit nicht, da das Landgericht die tateinheitliche<br />

Verwirklichung zweier Begünstigungstaten im Tenor nicht zum Ausdruck gebracht hatte. Im Übrigen ist sie<br />

unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Zutreffend hat das Landgericht das Handeln des Angeklagten in den Fällen II. 1 <strong>und</strong> 3 als Begünstigung in zwei<br />

Fällen, jeweils begangen zugunsten des Pu., gewertet.<br />

168


a) Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht im Fall II. 1 den Tatlohn in Höhe von 35.000 €,<br />

den Pu. für seine Beteiligung an dem Betrug erhielt, als "Vorteil der Tat" im Sinne des § 257 Abs. 1 <strong>StGB</strong> angesehen<br />

hat. Die Begünstigung (§ 257 <strong>StGB</strong>) verlangt, dass der Täter einem anderen, der eine rechtswidrige Tat begangen<br />

hat, in der Absicht Hilfe leistet, diesem die Vorteile der Tat zu sichern. Nach dem Wortlaut der Strafnorm sind umfassend<br />

"Vorteile der Tat" erfasst. Er unterscheidet nicht zwischen Vorteilen "für" <strong>und</strong> "aus" der Tat, sondern beinhaltet<br />

jeglichen Vorteil, der sich im Zusammenhang mit der Tatbegehung ergibt. Nicht erforderlich ist danach, dass<br />

dieser "aus" der Tat resultiert. Gemessen hieran sind "Vorteile der Tat" nicht nur die Früchte der Vortat, hier also die<br />

von den K<strong>und</strong>en der M. Haustechnik GmbH betrügerisch erlangten Gelder. Einen Vorteil im Sinne des § 257 <strong>StGB</strong><br />

stellt vielmehr auch der (vorab) an einen Tatbeteiligten - wie vorliegend von P. an Pu. - gezahlte Tatlohn dar. Dem<br />

steht nicht entgegen, dass nach ständiger Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs einschränkend verlangt wird, dass<br />

der Vorteil unmittelbar durch die Vortat erlangt ist (BGH, Urteil vom 16. Juni 1971 - 2 StR 191/71, BGHSt 24, 166,<br />

168; BGH, Urteil vom 1. August 2000 - 5 StR 624/99, BGHSt 46, 107, 117; BGH, Urteil vom 27. August 1986 - 3<br />

StR 256/86, NStZ 1987, 22). Das Unmittelbarkeitserfordernis dient dazu, Ersatzvorteile (Vorteilssurrogate) auszuklammern<br />

(Walter in LK 12. Aufl. § 257 Rn. 31). Bei der Entlohnung für die Tatbeteiligung handelt es sich jedoch<br />

nicht um einen derartigen Ersatzvorteil; vielmehr ist auch der Tatlohn ein unmittelbarer "Vorteil der Tat" (vgl. auch<br />

BGH, Beschluss vom 15. Dezember 1999 - 3 StR 448/99, NStZ 2000, 259). Dieses Ergebnis steht auch mit der Bestimmung<br />

des Rechtsguts der Begünstigung durch den B<strong>und</strong>esgerichtshof in Einklang. Danach liegt das Wesen der<br />

Begünstigung in der Hemmung der Rechtspflege, die dadurch bewirkt wird, dass der Täter die Wiederherstellung des<br />

gesetzmäßigen Zustandes verhindert, der sonst durch ein Eingreifen des Verletzten oder von Organen des Staates<br />

gegen den Vortäter wiederhergestellt werden könnte. Der Täter der Begünstigung beseitigt oder mindert die Möglichkeit,<br />

die Wiedergutmachung des dem Verletzten zugefügten Schadens durch ein Einschreiten gegen den Vortäter<br />

zu erreichen, das diesem den durch die Vortat erlangtem Vorteil wieder entziehen würde (st. Rspr., vgl. u.a. BGH,<br />

Beschluss vom 16. November 1993 - 3 StR 458/93, NStZ 1994, 187, 188). Dieses trifft auch auf die vorliegende<br />

Sachverhaltskonstellation zu. Der Täter der Begünstigung, der - wie hier - dem Vortäter den Tatlohn sichert, mindert<br />

die Möglichkeiten des durch die Vortat Geschädigten, im Wege des zivilrechtlichen Schadensersatzes - etwa gemäß<br />

§§ 823 ff. BGB - oder der strafrechtlichen Gewinnabschöpfung gemäß § 73 <strong>StGB</strong> Schadenswiedergutmachung zu<br />

erlangen. Die Vortat war auch - wie § 257 dies verlangt - zum Zeitpunkt des Hilfeleistens bereits begangen (vgl.<br />

Fischer <strong>StGB</strong> 58. Aufl. § 257 Rn. 4; Cramer in MünchKomm-<strong>StGB</strong> § 257 Rn. 7) <strong>und</strong> hatte dem Vortäter Vorteile<br />

erbracht. Der Angeklagte hat Pu. im Fall II. 1 die Vorteile der Tat in Höhe von 35.000 € gesichert, indem er ihm am<br />

19. August 2008 die Möglichkeit eröffnet hat, in der Schweiz die N. Holding AG zu gründen <strong>und</strong> die Summe dort als<br />

Stammeinlage einzubringen. Zum Zeitpunkt des Hilfeleistens des Angeklagten am 19. August 2008 waren die Betrugsstraftaten<br />

im Zusammenhang mit der M. Haustechnik GmbH, die in der Zeit von Ende Juni bis 11. August 2008<br />

erfolgten, bereits begangen.<br />

b) Im Fall II. 3 hat das Landgericht rechtlich bedenkenfrei eine Begünstigung des Pu. angenommen. Für diesen lag<br />

der Vorteil im Sinne des § 257 <strong>StGB</strong> ebenso wie im Fall II. 1 in dem vorab gezahlten Tatlohn von 35.000 €. Diese<br />

hat der Angeklagte - worauf die Strafkammer zutreffend abstellt - gesichert, indem er O. im Auftrag des Pu. 500 €<br />

als erste Anzahlung auf den O. versprochenen (weiteren) Tatlohn übergeben hat. Durch die (zusätzliche) Verweisung<br />

des O. auf eine ratenweise Zahlung des Tatlohns sollte dieser in Abhängigkeit von Pu. gehalten <strong>und</strong> daran gehindert<br />

werden, die Straftaten des Pu. sowie den Verbleib der 35.000 € gegenüber den Ermittlungsbehörden zu offenbaren.<br />

2. Dagegen begegnet die - lediglich aus den Urteilsgründen, nicht jedoch aus dem Tenor ersichtliche - Annahme<br />

einer tateinheitlich verwirklichten Begünstigung zugunsten des O. im Fall II. 3 rechtlichen Bedenken. Soweit das<br />

Landgericht als Vorteil der Tat im Sinne des § 257 <strong>StGB</strong> das Versprechen des Pu. gegenüber O. angesehen hat, diesem<br />

für die Beteiligung an den Betrügereien im Kontext der M. Haustechnik GmbH einen Tatlohn von insgesamt<br />

30.000 bis 50.000 € zu zahlen, ist dies rechtlich unzutreffend. Zwar ist ein Vorteil im Sinne des § 257 Abs. 1 <strong>StGB</strong><br />

nicht nur ein Vermögensvorteil, sondern kann jede wirtschaftliche, rechtliche oder tatsächliche Besserstellung für<br />

den Täter sein (vgl. Fischer <strong>StGB</strong> 58. Aufl. § 257 Rn. 6; Walter in LK 12. Aufl. § 257 Rn. 25; Cramer in Münch-<br />

Komm-<strong>StGB</strong> § 257 Rn. 10; Altenhain in NK-<strong>StGB</strong> 3. Aufl. § 257 Rn. 16). Nach der ständigen Rechtsprechung des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist jedoch - wie unter II. 1 a) ausgeführt - Voraussetzung der Begünstigung, dass der Täter der<br />

Begünstigung gegenüber dem Verletzten der Vortat die Möglichkeit der Schadenswiedergutmachung beseitigt oder<br />

mindert, die durch die Entziehung der erlangten Vorteile möglich wäre. Eine solche Möglichkeit der Schadenswiedergutmachung<br />

ist bei der bloßen Aussicht auf Erlangung eines versprochenen Tatlohns jedoch nicht gegeben, da es<br />

sich nicht um einen entziehbaren Vorteil handelt. Ein solches Zahlungsversprechen ist gemäß § 134 BGB nichtig,<br />

führt zu keiner - auch nur wirtschaftlichen - Besserstellung <strong>und</strong> stellt daher keinen relevanten Tatvorteil im Sinne des<br />

§ 257 <strong>StGB</strong> dar.<br />

169


3. Der Senat schließt aus, dass das Landgericht ohne die Annahme einer tateinheitlich verwirklichten Begünstigung<br />

zugunsten des O. im Fall II. 3 eine niedrigere Einzelstrafe als die verhängte Freiheitsstrafe von sechs Monaten festgesetzt<br />

hätte. Das Landgericht hat im Fall II. 3 die tateinheitlich angenommene Begünstigung zugunsten des O. nur<br />

eingeschränkt strafmildernd gewertet (UA S. 88) <strong>und</strong> die gleiche - moderate - Einzelstrafe verhängt wie im Fall II. 1.<br />

4. Das Urteil war um eine Kompensation für einen Konventionsverstoß zu ergänzen. Nach Übersendung der Akten<br />

an die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main am 28. Juni 2010 ist es zu einer Verletzung des Gebots zügiger<br />

Verfahrenserledigung (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) gekommen. Bis zur Rücknahme der von der Staatsanwaltschaft<br />

eingelegten Revision am 19. Mai 2011 ist das Verfahren ohne sachlichen Gr<strong>und</strong> nicht gefördert worden. Durch das<br />

Versäumnis ist eine der Justiz anzulastende, unangemessene Verfahrensverzögerung von etwa elf Monaten eingetreten.<br />

Diesen Umstand hat der Senat von Amts wegen zu berücksichtigen. Der Erhebung einer Verfahrensrüge bedarf<br />

es im vorliegenden Fall nicht, da die Verfahrensverzögerung nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingetreten<br />

ist <strong>und</strong> der Angeklagte diese Gesetzesverletzung nicht form- <strong>und</strong> fristgerecht rügen konnte (st. Rspr., vgl. u.a. BGH,<br />

Beschluss vom 18. November 2008 - 1 StR 568/08, NStZ-RR 2009, 92). Über die Kompensation kann der Senat in<br />

entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1a Satz 2 StPO selbst entscheiden (vgl. BGH, Urteil vom 6. März 2008 -<br />

3 StR 376/07, NStZ-RR 2008, 208, 209). Auf der Gr<strong>und</strong>lage der Vollstreckungslösung (BGH, Beschluss vom 17.<br />

Januar 2008 - GSSt 1/07, NJW 2008, 860) stellt der Senat fest, dass von der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von<br />

sieben Monaten zwei Monate Freiheitsstrafe als Entschädigung für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung<br />

als vollstreckt gelten.<br />

<strong>StGB</strong> § 259 Abgrenzung Beihilfe zur Vortat vs. Hehlerei<br />

BGH, Beschl. v. 17.11.2011 - 3 StR 203/11 - BeckRS 2012, 04724<br />

1. Die gegen fremdes Vermögen gerichtete Vortat muss bei § 259 I <strong>StGB</strong> abgeschlossen sein, bevor<br />

die Hehlerei begangen wird. Ist dies nicht der Fall, so liegt nur Beihilfe zu der Vortat vor.<br />

2. Der Ausdruck einer Datei ist keine Urk<strong>und</strong>e. Das Vorlegen eines solchen Ausdrucks kann nur<br />

dann das Gebrauchmachen von einer gefälschten Urk<strong>und</strong>e darstellen, wenn überhaupt jemals eine<br />

solche (falsche oder verfälschte) Urk<strong>und</strong>e vorgelegen hat.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 28. Januar 2011<br />

a) in den Fällen II. 1, 7, 8, 12 <strong>und</strong> 14 der Urteilsgründe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben - in den<br />

Fällen II. 12 <strong>und</strong> 14 auch hinsichtlich des Nichtrevidenten A., in den Fällen II. 1, 7 <strong>und</strong> 8 auch hinsichtlich des<br />

Nichtrevidenten J. ;<br />

b) im Fall II. 4 der Urteilsgründe im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Beihilfe zur Unterschlagung<br />

schuldig ist, <strong>und</strong> im Ausspruch über die Einzelstrafe aufgehoben;<br />

c) im Ausspruch über die Gesamtstrafe - auch hinsichtlich der Nichtrevidenten A. <strong>und</strong> J. - aufgehoben;<br />

d) in den Fällen II. 16 <strong>und</strong> 21 der Urteilsgründe im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte jeweils der<br />

gewerbsmäßigen Bandenurk<strong>und</strong>enfälschung in Tateinheit mit gewerbsmäßigem Bandenbetrug schuldig ist;<br />

e) im Fall II. 3 der Urteilsgründe im Schuldspruch dahin neu gefasst, dass die Bezeichnung als "gewerbsmäßig"<br />

entfällt. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten<br />

des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen einer Serie von 18 Taten der Hehlerei, der Urk<strong>und</strong>enfälschung <strong>und</strong> des<br />

Betrugs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> neun Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf<br />

zwei Verfahrensrügen <strong>und</strong> die allgemeine Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Während die Verfahrensbeanstandungen<br />

aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts keinen Rechtsfehler zum<br />

Nachteil des Angeklagten aufzeigen, führt die sachlichrechtliche Überprüfung des Urteils zu dem aus der Entscheidungsformel<br />

ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg des Rechtsmittels <strong>und</strong> zu einer teilweisen Erstreckung der Urteilsaufhebung auf<br />

die Mitangeklagten, die keine Revision eingelegt haben.<br />

1. In einer Reihe von Fällen wird der gegen den Angeklagten ergangene Schuldspruch von den in den Urteilsgründen<br />

mitgeteilten Feststellungen nicht getragen. Dies führt insoweit zur Aufhebung des Urteils. Hierzu im Einzelnen:<br />

170


a) Nach den Feststellungen zu Fall II. 1 wurde ein Pkw Range Rover, der im Eigentum der W. GmbH stand, "unter<br />

nicht geklärten Umständen an einen I. vermietet", der allerdings, weil zum Zeitpunkt der Vermietung im Strafvollzug<br />

einsitzend, nicht als Mieter in Frage kam. Vielmehr "verschaffte" sich der gesondert verfolgte H. den Wagen. Später<br />

"übernahmen" der Angeklagte sowie der Nichtrevident J. das Fahrzeug von H., nutzten es <strong>und</strong> beabsichtigten, es im<br />

Auftrag des H. zu verkaufen, "wobei ihnen bekannt war, dass" dieser "kein Recht zum Besitz oder Weitergabe des<br />

PKW innehatte". Damit ist die für die Verurteilung wegen Hehlerei erforderliche Vortat - ein Diebstahl oder ein<br />

anderes Vermögensdelikt - nicht festgestellt. Die Art <strong>und</strong> Weise, in der H. in den Besitz des Fahrzeugs gelangte, ist<br />

offen geblieben. Es ist damit denkbar, dass die von § 259 Abs. 1 <strong>StGB</strong> vorausgesetzte rechtswidrige Besitzlage zum<br />

Zeitpunkt der Übernahme des Wagens durch den Angeklagten <strong>und</strong> den Nichtrevidenten J. noch nicht vorlag, H. erst<br />

durch die Weitergabe des Fahrzeugs mit dem Auftrag, dieses zu veräußern, eine Unterschlagung beging <strong>und</strong> dieses<br />

erst damit im Sinne des § 259 Abs. 1 <strong>StGB</strong> erlangte. Die gegen fremdes Vermögen gerichtete Vortat muss jedoch<br />

abgeschlossen sein, bevor die Hehlerei begangen wird. Ist dies nicht der Fall, so liegt nur Beihilfe zu der Vortat vor<br />

(Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 259 Rn. 8 mwN).<br />

b) Im Fall II. 7 belegen die Feststellungen ebenfalls nicht die ausgeurteilte Hehlerei. Danach "verschaffte sich der<br />

gesondert verfolgte M. … auf ungeklärte Weise" einen Pkw Mercedes Benz, der zuvor von einem Dritten in Düsseldorf<br />

gemietet <strong>und</strong> später als gestohlen gemeldet worden war. M. ließ das Fahrzeug zu dem gesondert verfolgten S.<br />

verbringen, der den Wagen nutzte <strong>und</strong> mit dem Angeklagten dessen weiteren Absatz besprach. Der Angeklagte sagte<br />

zu, den Wagen zu fotografieren. Er verlangte von einem Dritten eine Kopie des Kraftfahrzeugbriefs <strong>und</strong> wies den<br />

Mitangeklagten J. an, das Fahrzeug im Internet zu inserieren. Vor einem Verkauf des dem Angeklagten "nicht gehörenden<br />

<strong>und</strong> unterschlagenen PKW" wurde das Fahrzeug polizeilich sichergestellt. Danach ist es möglich, dass M.<br />

den Wagen ohne Kenntnis der Unterschlagung gutgläubig erworben hatte <strong>und</strong> die Weitergabe an S. daher ohne Einverständnis<br />

eines Vortäters geschah (vgl. Fischer aaO Rn. 13).<br />

c) Nach den Feststellungen zum Fall II. 8 "verschaffte sich" der gesondert verfolgte G. den Pkw BMW X6, der "aus<br />

einem Versicherungsbetrug" stammte. In Kenntnis dieses Betruges übernahm der Angeklagte das Fahrzeug, nutzte es<br />

<strong>und</strong> versuchte es zu verkaufen. Auch hier fehlt es an der hinreichenden Feststellung einer Vortat. Es besteht die<br />

Möglichkeit, dass der Versicherungsbetrug vom Eigentümer des Wagens begangen worden ist. In diesem Fall wäre<br />

der Wagen weder durch Diebstahl noch durch ein sonstiges Vermögensdelikt erlangt worden. Die betrügerische<br />

Geltendmachung eines Versicherungsschadens durch den Eigentümer als Versicherungsnehmer führt ebenso wenig<br />

wie ein Versicherungsmissbrauch zu einer Änderung der bestehenden Eigentumslage bzw. zu einer rechtswidrigen<br />

Besitzlage am Fahrzeug. Vielmehr kann der Versicherungsnehmer trotz Begehung einer der vorgenannten Straftaten<br />

weiterhin als Berechtigter über die versicherte Sache verfügen (BGH, Beschluss vom 22. Februar 2005 - 4 StR<br />

453/04, NStZ 2005, 447 mwN).<br />

d) Im Fall II. 12 belegen die Feststellungen nicht die ausgeurteilte Urk<strong>und</strong>enfälschung. Danach wollten der Angeklagte<br />

<strong>und</strong> der Nichtrevident A. unter Vorspiegelung von Zahlungsbereitschaft <strong>und</strong> -fähigkeit einen Pkw VW Tiguan<br />

erwerben. Als Käufer trat der gesondert verfolgte Gr. auf. Dieser erhielt im Auftrag des Angeklagten vom Nichtrevidenten<br />

"in Dateiform das Abbild des gefälschten Personalausweises von ' N. ' <strong>und</strong> drei gefälschte Gehaltsabrechnungen<br />

der 'Wo. AG', welche der Angeklagte im November 2009 besorgt hatte. Gr. übersandte die Unterlagen an den<br />

Autohändler per E-Mail für die Finanzierung." Danach bleibt offen, was dem Autohändler zur Vorbereitung des<br />

Vertragsschlusses vorgelegt <strong>und</strong> wovon somit zur Täuschung im Rechtsverkehr Gebrauch gemacht worden ist (§ 267<br />

Abs. 1 Alt. 3 <strong>StGB</strong>). Ein Ausdruck der Datei wäre keine Urk<strong>und</strong>e. Das Vorlegen eines solchen Ausdrucks kann nur<br />

dann das Gebrauchmachen von einer gefälschten Urk<strong>und</strong>e darstellen, wenn überhaupt jemals eine solche (falsche<br />

oder verfälschte) Urk<strong>und</strong>e vorgelegen hat (vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 267 Rn. 19). Hierzu fehlt es an einer Feststellung.<br />

Es bleibt unklar, ob sich der Angeklagte unechte oder verfälschte Urk<strong>und</strong>en oder nur eine Datei von ihnen<br />

beschafft hatte. Die Aufhebung des Schuldspruchs wegen Urk<strong>und</strong>enfälschung ergreift auch die Verurteilung wegen<br />

tateinheitlich begangenen Betrugsversuchs.<br />

e) Nach den Feststellungen im Fall II. 14 veranlasste der Angeklagte den gesondert verfolgten Mü., sich bei einem<br />

Verkaufsgespräch über einen Pkw BMW X5 gegenüber den Mitarbeitern eines Autohauses als "Dr. E." auszugeben<br />

<strong>und</strong> die Kauf- <strong>und</strong> Finanzierungsverträge mit diesem Namen zu unterschreiben. Damit ist der Schuldspruch wegen<br />

Missbrauchs von Titeln in Form des unbefugten Führens akademischer Grade (§ 132a Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong>) nicht belegt.<br />

Den Tatbestand des § 132a <strong>StGB</strong> erfüllt nicht jede unbefugte Inanspruchnahme eines Titels oder einer Berufsbezeichnung.<br />

Der Täter muss vielmehr Titel oder Berufsbezeichnung unter solchen Umständen verwenden, dass das<br />

durch § 132a <strong>StGB</strong> geschützte Rechtsgut gefährdet wird (BGH, Beschluss vom 13. Mai 1982 - 3 StR 118/82, BGHSt<br />

31, 61). Geschützt wird die Allgemeinheit davor, dass einzelne im Vertrauen darauf, dass eine bestimmte Person eine<br />

bestimmte Stellung hat, Handlungen vornehmen könnten, die für sie oder andere schädlich sein können. Der Schutz-<br />

171


zweck der Vorschrift erfasst also nicht schon "den rein äußerlichen Missbrauch, durch den sich der Täter einen falschen<br />

Schein gibt" (BGH aaO). Es ist nicht festgestellt, dass die Titelführung zu dem Zweck geschah, dadurch eine<br />

erhöhte Seriosität des Kaufinteressenten vorzutäuschen. Naheliegend wurde der Titel geführt, weil die bei der Tat<br />

verwendeten gefälschten Gehaltsnachweise sowie der Personalausweis auf diesen Namen <strong>und</strong> diesen akademischen<br />

Grad lauteten <strong>und</strong> es deshalb notwendig erschien, sich bei der Vorstellung auch dessen zu bedienen. Die Aufhebung<br />

des Schuldspruchs wegen Titelmissbrauchs zieht die Aufhebung der tateinheitlich abgeurteilten Straftaten mit sich.<br />

2. Auch im Fall II. 4 hält die Verurteilung wegen gewerbsmäßiger Hehlerei rechtlicher Nachprüfung nicht stand.<br />

Nach den Feststellungen übergab der gesondert verfolgte Ne. den von ihm geleasten BMW X5 unberechtigt an den<br />

Angeklagten weiter, der den Wagen verkaufen <strong>und</strong> von seinem Erlösanteil einen überwiegenden <strong>Teil</strong> seines Lebensunterhalts<br />

finanzieren wollte. Da die Unterschlagung des Fahrzeugs mit der Erlangung des Wagens durch den Angeklagten<br />

zusammenfiel, die Vortat aber der Hehlerei vorangehen muss, hat sich der Angeklagte nur wegen Beihilfe<br />

zur Unterschlagung strafbar gemacht. Der Senat ändert den Schuldspruch. Dies führt wegen des gegenüber § 260<br />

Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> deutlich geringeren Strafrahmens des § 246 Abs. 1, §§ 27, 49 Abs. 1 <strong>StGB</strong> zur Aufhebung der<br />

Einzelstrafe.<br />

3. Der Wegfall von sechs Einzelstrafen zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.<br />

4. In den Fällen II. 16 <strong>und</strong> 21 hat das Landgericht, wie es in den Urteilsgründen selbst mitteilt, den Angeklagten<br />

jeweils irrtümlich wegen gewerbsmäßiger Bandenurk<strong>und</strong>enfälschung in Tateinheit mit (nur) versuchtem gewerbsmäßigem<br />

Bandenbetrug verurteilt. Der Senat ändert deshalb die Schuldsprüche. Dies hat keine Auswirkung auf die<br />

beiden Einzelstrafen.<br />

5. Im Fall II. 3 hat der Senat die Bezeichnung der in Tateinheit stehenden Urk<strong>und</strong>enfälschung <strong>und</strong> des versuchten<br />

Betrugs als "gewerbsmäßig" begangen jeweils gestrichen. Bei § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> § 267 Abs. 3 Satz<br />

2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> handelt es sich jeweils um benannte Regelbeispiele für die Annahme eines besonders schweren Falles.<br />

Diese finden - anders als z.B. die Qualifikation der gewerbsmäßigen Hehlerei (§ 260 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong>) - keine<br />

Erwähnung im Schuldspruch (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 260 Rn. 25 mwN).<br />

6. Im Übrigen hat die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Durch<br />

die Annahme nur einer Tat der Urk<strong>und</strong>enfälschung im Fall II. 17 ist der Angeklagte nicht beschwert. Gleiches gilt,<br />

soweit er in den Fällen II. 22 <strong>und</strong> 23 nicht auch wegen Betrugs verurteilt worden ist.<br />

7. Gemäß § 357 StPO war die Aufhebung des Urteils in den Fällen II. 12 <strong>und</strong> 14 auf den Nichtrevidenten A. <strong>und</strong> in<br />

den Fällen II. 1, 7 <strong>und</strong> 8 auf den Nichtrevidenten J. zu erstrecken. Dies führt auch bei diesen zur Aufhebung des<br />

Ausspruchs über die Gesamtfreiheitsstrafe. Eine Schuldspruchänderung bezüglich der Nichtrevidenten in den Fällen<br />

II. 16 <strong>und</strong> 21 kam nicht in Betracht, da insoweit das Urteil nicht zugunsten des Revidenten aufgehoben worden ist.<br />

8. Die angefochtene Entscheidung veranlasst den Senat zu dem Hinweis, dass im Fall der Verurteilung die Urteilsgründe<br />

die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben müssen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gef<strong>und</strong>en<br />

werden (§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO). Von der Beachtung dieser Anforderungen ist das Gericht auch dann nicht<br />

entb<strong>und</strong>en, wenn dem Urteil - wie hier - eine Verständigung vorausgegangen ist; auch in diesen Fällen ist ein Mindestmaß<br />

an Sorgfalt bei der Feststellung des Sachverhalts erforderlich (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. August 2010 -<br />

3 StR 226/10, NStZ-RR 2011, 52 (LS); vom 10. Februar 2011 - 5 StR 594/10, juris; vom 9. März 2011 - 2 StR<br />

428/10, StV 2011, 608; vom 13. Juli 2011 - 1 StR 154/11, juris).<br />

<strong>StGB</strong> § 261 II, 2 Verwahrung durch Vortäter betrügerisch erlangter Gegenstände<br />

BGH, Beschl. v. 26.01.2012 - 5 StR 461/11 - StraFo 2012, 144<br />

Zum Anwendungsbereich des § 261 <strong>StGB</strong>: Allein die Tatsache, dass die vom Haupttäter betrügerisch<br />

erworbenen Gegenstände in den auch vom Angeklagten bewohnten Haushalt gelangt <strong>und</strong> dort<br />

verblieben sind, vermag noch nicht die Annahme rechtfertigen, der Angeklagte habe die Gegenstände<br />

im Sinne des § 261 Abs. 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> verwahrt.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 30. Juni 2011 nach § 349<br />

Abs. 4 StPO aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

172


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Geldwäsche in 29 Fällen unter Auflösung der Gesamtstrafe aus dem<br />

Urteil des Amtsgerichts Schwedt (Oder) vom 3. März 2009 <strong>und</strong> unter Einbeziehung der darin verhängten Einzelstrafen<br />

zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> zwei Monaten (Einsatzstrafe: acht Monate Freiheitsstrafe)<br />

verurteilt. Des Weiteren hat es den Angeklagten wegen Geldwäsche in 112 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von<br />

drei Jahren <strong>und</strong> zwei Monaten verurteilt (Einzelstrafen: jeweils ein Jahr Freiheitsstrafe). Das hiergegen gerichtete<br />

Rechtsmittel des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts lebte der Angeklagte mit dem gesondert Verfolgten L. in einer Lebensgemeinschaft.<br />

Beide bewohnten eine im Elternhaus L. s befindliche Wohnung <strong>und</strong> bezogen im gesamten Tatzeitraum<br />

staatliche Unterstützung. Einnahmen L. s aus der teilweisen Vermietung des ihm <strong>und</strong> seiner Schwester gehörenden,<br />

letztlich jedoch zwangsversteigerten Hauses reichten nicht aus, um die für das Haus anfallenden Verbrauchs- <strong>und</strong><br />

Kreditkosten zu begleichen. Der Angeklagte gab am 4. April 2007 die eidesstattliche Versicherung ab <strong>und</strong> stellte am<br />

15. November 2007 einen Verbraucherinsolvenzantrag. Sein Lebensgefährte, der seinerseits am 7. Mai 2009 die<br />

eidesstattliche Versicherung leistete, „fasste den Entschluss, über das Internet eine Vielzahl von Bestellungen bei<br />

verschiedenen Firmen aufzugeben, um dadurch Waren zu erlangen, deren Bezahlung er aufgr<strong>und</strong> seiner finanziellen<br />

Situation nicht vornehmen konnte, die er aber dennoch besitzen <strong>und</strong> ge- bzw. verbrauchen wollte, um sich <strong>und</strong> dem<br />

Angeklagten so einen höheren Lebensstandard ermöglichen zu können“. Bei dem überwiegenden <strong>Teil</strong> der unter<br />

Vortäuschung seiner tatsächlich nicht bestehenden Zahlungsfähigkeit durchgeführten Bestellungen gab er als Rechnungsanschriften<br />

fiktive Namen <strong>und</strong> Adressen an, so dass die Rechnungen nicht zugestellt werden konnten. Als<br />

Lieferadresse benutzte er seine eigene Anschrift oder die des Angeklagten, wobei er die Anschrift <strong>und</strong> die Schreibweise<br />

des Namens zum <strong>Teil</strong> leicht veränderte. Die bestellten Waren wurden entweder an L. oder den Angeklagten<br />

ausgeliefert oder an einem vereinbarten Ort hinterlegt. Insgesamt hat das Landgericht 141 derartige Warenbestellungen<br />

unterschiedlichen Umfangs durch den hierfür inzwischen rechtskräftig verurteilten L. festgestellt, die zu einem<br />

Gesamtschaden von knapp unter 30.000 € geführt haben. Von der dem Angeklagten mit den Anklagen vom 7. Mai<br />

<strong>und</strong> 8. Juni 2010 zur Last gelegten (täterschaftlichen) Beteiligung an den betrügerischen Bestellungen hat sich die<br />

Strafkammer nicht zu überzeugen vermocht. Sie hat jedoch weiter festgestellt, der Angeklagte habe aufgr<strong>und</strong> seines<br />

Zusammenlebens mit L. gewusst, dass dieser im Internet betrügerische, auf Dauer angelegte <strong>und</strong> zur Erzielung regelmäßiger<br />

Einsparungen erfolgende Bestellungen aufgab. Auch sei ihm bekannt gewesen, dass sein Lebensgefährte<br />

aufgr<strong>und</strong> seiner finanziellen Verhältnisse nicht in der Lage sein werde, die erhaltenen Waren zu bezahlen. In Kenntnis<br />

dieser Umstände habe er die Waren – gemeinsam mit seinem Lebensgefährten – „verwahrt, genutzt bzw. verbraucht“<br />

(UA S. 16, 88, 166). Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als Geldwäsche gemäß § 261 Abs.<br />

2 Nr. 2, Abs. 1 Nr. 4a <strong>StGB</strong> in 141 Fällen gewertet.<br />

2. Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zum Erfolg.<br />

a) Entgegen der Ansicht des Generalb<strong>und</strong>esanwalts fehlt es allerdings nicht an einer Tatidentität (§ 264 StPO) zwischen<br />

den angeklagten Betrugs- <strong>und</strong> den ausgeurteilten Geldwäschetaten. Die zu diesem Fragenkreis ergangene<br />

Rechtsprechung ist uneinheitlich (vgl. einerseits: BGH, Beschluss vom 16. Oktober 1987 – 2 StR 258/87, BGHSt 35,<br />

80, 81 f.; andererseits: BGH, Urteil vom 22. Dezember 1987 – 1 StR 423/87, BGHSt 35, 172, 174 mwN; vgl. auch<br />

BGH, Urteil vom 11. September 2007 – 5 StR 213/07, BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 43; BGH, Beschluss<br />

vom 7. Juli 1999 – 1 StR 262/99, NStZ 1999, 523, Urteil vom 29. September 1987 – 4 StR 376/87, BGHSt 35, 60).<br />

Der vorliegende Fall nötigt nicht zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit den einzelnen Auffassungen, zumal<br />

da sich die Anklageschriften ausdrücklich mit der Verwendung der ertrogenen Güter befassen. Darüber hinaus<br />

kann angesichts des gegebenen engen zeitlichen <strong>und</strong> räumlichen Zusammenhangs zwischen Vortat <strong>und</strong> Geldwäsche<br />

(vgl. hierzu etwa BGH, Urteil vom 11. März 1999 – 4 StR 526/98, BGHR StPO § 260 Abs. 3 Verfahrenshindernis 2;<br />

Urteil vom 23. Februar 1989 – 4 StR 628/88, BGHR StPO 264 Abs. 1 Tatidentität 15; Beschluss vom 11. November<br />

1987 – 2 StR 506/87, BGHSt 35, 86, 89) die Tatidentität hier nicht zweifelhaft sein. Die Betrugshandlungen <strong>und</strong> die<br />

als Auffangtatbestand angenommenen Geldwäschehandlungen gehen nahezu ineinander über. Zudem liegt es in der<br />

Natur entsprechender Postpendenzfeststellungen, dass die in sie einfließenden möglichen Begehungsvarianten hierdurch<br />

auch zu einer einheitlichen Tat verknüpft werden, um den Gesamtkomplex insgesamt rechtskräftig <strong>und</strong> unter<br />

Strafklageverbrauch für alle sonstigen Varianten endgültig abschließen zu können.<br />

b) Die angefochtene Entscheidung kann aber dennoch keinen Bestand haben.<br />

aa) Ausreichende Feststellungen, die eine Verurteilung nach § 261 <strong>StGB</strong> tragen könnten, sind dem Urteil nicht zu<br />

entnehmen. Das Landgericht sieht die den Tatbestand des § 261 Abs. 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> ausfüllende Handlung bezogen<br />

auf alle Einzelfälle pauschal darin, dass der Angeklagte die Waren – gemeinsam mit seinem Lebensgefährten –<br />

„verwahrt, genutzt bzw. verbraucht“ (UA S. 16, 88, 166) bzw. „verwahrt <strong>und</strong> teilweise für sich verwendet“ (UA S.<br />

173) habe. Dies stellt indessen lediglich eine (sinngemäße) Wiedergabe der Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes<br />

173


des § 261 Abs. 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> dar. Die Ausführungen im Urteil lassen keine konkrete Handlung erkennen, die geeignet<br />

wäre, den Tatbestand auszufüllen. Es bleibt mithin unklar, welchen Sachverhalt das Landgericht in den einzelnen<br />

Fällen der Verurteilung zu Gr<strong>und</strong>e gelegt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 27. September 1983 – 4 StR 550/83, DRiZ<br />

1989, 422). Ein Verwenden ist nicht belegt. Entsprechendes gilt für ein Verwahren. Allein die Tatsache, dass die<br />

vom Lebensgefährten des Angeklagten betrügerisch erworbenen Gegenstände in den auch vom Angeklagten bewohnten<br />

Haushalt gelangt <strong>und</strong> dort verblieben sind, vermag noch nicht die Annahme zu rechtfertigen, der Angeklagte<br />

habe die Gegenstände im Sinne des § 261 Abs. 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> verwahrt. Zwar ist unter Verwahren bereits die bewusste<br />

Ausübung des Gewahrsams zu verstehen (Stree/Hecker in: Schönke/Schröder, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 261 Rn.<br />

16); gelangt der in § 261 Abs. 1 <strong>StGB</strong> bezeichnete Gegenstand jedoch ohne Zutun des Täters in seinen Herrschaftsbereich<br />

<strong>und</strong> ist eine wie auch immer geartete Übernahmehandlung, durch die sein Wille zur Sachherrschaft zum<br />

Ausdruck käme, nicht erkennbar, kann allein das Vorhandensein des inkriminierten Gegenstandes im Zugriffsbereich<br />

des Täters schon in Ermangelung einer die Gr<strong>und</strong>lage der Strafbarkeit bildenden Handlung kein tatbestandsmäßiges<br />

Verhalten darstellen.<br />

bb) Auch für die Annahme gewerbsmäßig begangener Vortaten fehlt es – ungeachtet der Vielzahl festgestellter Betrugstaten<br />

– im Urteil an hinreichend tatsachengestützten Feststellungen. Für einen großen <strong>Teil</strong> der vom <strong>Partner</strong> des<br />

Angeklagten betrügerisch erworbenen Gegenstände ist nämlich nicht belegt, dass sie auf die Schaffung einer fortlaufenden<br />

Einnahmequelle in Form einer dauerhaften Ersparnis von Aufwendungen abzielten (vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59.<br />

Aufl., Vor § 52 Rn. 62; LK/Vogel, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 243 Rn. 36); teilweise sind sie gänzlich ungebraucht geblieben,<br />

so dass nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, der Vortäter habe hierdurch dauerhaft Aufwendungen<br />

ersparen wollen.<br />

3. Eine erneute Verhandlung der Anklagevorwürfe ist schon deshalb geboten, weil im Blick auf die vom Angeklagten<br />

eingeräumten Tatumstände bei kritischer Auswertung der einschlägigen Vorverurteilung eine abweichende Beurteilung<br />

seiner Betrugsbeteiligung denkbar bleibt. Zudem kann eine <strong>Teil</strong>nahme möglicherweise auch allein in einer<br />

fortlaufend geübten, für beide Lebenspartner verlässlichen <strong>und</strong> eindeutigen Bereitschaft zur Entgegennahme betrügerischer<br />

Bestellungen gef<strong>und</strong>en werden. Das neue Tatgericht wird zudem zu prüfen haben, ob die Fälle B.3 <strong>und</strong> B.4<br />

der Urteilsgründe bereits der Verurteilung des Angeklagten durch das Amtsgericht Schwedt (Oder) vom 3. März<br />

2009 zu Gr<strong>und</strong>e lagen, mit der Folge, dass einer erneuten Aburteilung das Verbot der Doppelbestrafung als Verfahrenshindernis<br />

entgegenstünde. Der Senat weist ferner darauf hin, dass die strafschärfend gewertete Erwägung, der<br />

Angeklagte habe „den geschädigten Firmen – zusammen mit L. – bedenkenlos einen erheblichen Schaden zur Befriedigung<br />

seiner eigenen Bedürfnisse zugefügt“ in dieser pauschalen Form – ungeachtet der Tatsache, dass bei weitem<br />

nicht in allen abgeurteilten Einzelfällen erhebliche Schäden entstanden sind – jedenfalls im Hinblick auf § 46<br />

Abs. 3 <strong>StGB</strong> durchgreifend bedenklich ist. Auch ist die im angefochtenen Urteil angenommene, die Bildung zweier<br />

Gesamtstrafen rechtfertigende Zäsur nicht frei von Rechtsfehlern. Denn die in der betroffenen Entscheidung abgeurteilten<br />

Taten wurden sämtlich vor einer <strong>und</strong> überwiegend vor zwei weiteren vorangegangenen Verurteilungen zu<br />

Geldstrafen begangen (UA S. 5 bis 11) <strong>und</strong> waren somit bereits mit den dort verhängten Strafen gesamtstrafenfähig<br />

(vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. April 1991 – 5 StR 156/91 – <strong>und</strong> 15. September 2010 – 5 StR 325/10, BGHR <strong>StGB</strong><br />

§ 55 Abs. 1 Satz 1 Zäsurwirkung 9 <strong>und</strong> 19). Davon unabhängig erscheint das aus dem angefochtenen Urteil folgende<br />

Gesamtstrafübel namentlich angesichts des begrenzten Umfangs des Gesamtschadens übersetzt (vgl. weiter BGH,<br />

Beschluss vom 9. November 1995 – 4 StR 650/95, BGHSt 41, 310, 313).<br />

<strong>StGB</strong> § 263 Abrechnungsbetrug eines privatliquidierenden Arztes<br />

BGH, Beschl. v. 25.01.2012 - 1 StR 45/11 - NJW 2012, 1377<br />

LS: Zum Abrechnungsbetrug eines privatliquidierenden Arztes für nicht persönlich erbrachte Leistungen.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 27. August 2010 wird<br />

a) die Verurteilung im Fall Nr. 71 der Urteilsgründe aufgehoben <strong>und</strong> das Verfahren insoweit eingestellt;<br />

b) der Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte wegen Betruges in 128 Fällen verurteilt ist.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

3. Im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens <strong>und</strong> die notwendigen Auslagen des Angeklagten der<br />

Staatskasse zur Last. Die verbleibenden Kosten seines Rechtsmittels hat der Beschwerdeführer zu tragen.<br />

174


Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in 129 Fällen (jeweils in einer unterschiedlichen Anzahl tateinheitlich<br />

begangener Einzeltaten, insgesamt 2.339) zu drei Jahren <strong>und</strong> drei Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt<br />

<strong>und</strong> ihm verboten, für die Dauer von drei Jahren als liquidationsberechtigter Arzt oder als angestellter Arzt mit<br />

eigenem Abrechnungsrecht tätig zu werden. Das Landgericht hat ferner festgestellt, dass der Angeklagte aus den<br />

Taten insgesamt Vermögen im Wert von 748.244,87 € erlangt hat, wobei auf die Taten vor dem 1. Januar 2007 ein<br />

Betrag in Höhe von 630.581,99 € <strong>und</strong> auf die Taten nach dem 1. Januar 2007 in Höhe von 117.662,88 € entfällt. Die<br />

„Festsetzung von Wertersatz oder des Verfalls von Wertersatz“ unterbleibt, da Ansprüche geschädigter Dritter gemäß<br />

§ 73 Abs. 1 Satz 2 <strong>StGB</strong> entgegenstehen. Die hiergegen gerichtete, mit der Verletzung formellen <strong>und</strong> sachlichen<br />

Rechts begründete Revision hat den aus dem Tenor ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO, nachfolgend B.), im<br />

Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Revision zeigt weder einen durchgreifenden Verfahrensfehler<br />

auf (C.) noch hat die umfassende sachrechtliche Nachprüfung des Urteils im Schuldspruch (D.) oder im Rechtsfolgenausspruch<br />

(E.) einen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben.<br />

A. Das Landgericht hat folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

I. Der Angeklagte betrieb als Arzt für Allgemeinmedizin im Tatzeitraum (Oktober 2002 bis September 2007) eine<br />

mit der Erbringung von Naturheilverfahren, Homöopathie- <strong>und</strong> Osteopathieleistungen sowie Traditioneller Chinesischer<br />

Medizin beworbene Praxis, in der er gr<strong>und</strong>sätzlich Privatpatienten behandelte; eine Zulassung zur vertragsärztlichen<br />

Versorgung hatte er nicht. Zur Abrechnung gegenüber den Patienten bediente er sich der (gutgläubigen) M.<br />

GmbH, der er die - für die von ihm gewünschte Abrechnung erforderlichen - Daten übermittelte. Um sich neben<br />

Honoraransprüchen „eine auf Dauer gerichtete Einnahmemöglichkeit zu verschaffen“ (UA S. 19) ließ der Angeklagte<br />

an 129 Tagen mehr als 2.300 „inhaltlich unrichtige Abrechnungen“ an seine Patienten schicken, um „unter Täuschung<br />

seiner Patienten über die Richtigkeit dieser Abrechnungen bei diesen Honorare für tatsächlich nicht erbrachte,<br />

tatsächlich nicht von ihm erbrachte <strong>und</strong> tatsächlich nicht so erbrachte Leistungen zu berechnen <strong>und</strong> entsprechende<br />

Erlöse einzunehmen“ (UA S.14). Der Angeklagte ging dabei wie folgt vor:<br />

1. Der Angeklagte hat in Absprache mit sechs seiner Patienten Rechnungen, die angeblich erbrachte <strong>und</strong> erstattungsfähige<br />

Leistungen auswiesen, erstellen lassen, obwohl er keine Leistungen oder nicht erstattungsfähige Leistungen<br />

erbracht hat (Lieferung nicht erstattungsfähiger Medikamente bzw. Injektionen; Behandlung einer nicht privat versicherten<br />

Tochter einer privatversicherten Patientin; fingierte Hausbesuche zur „Ersparung“ eines Selbstbehalts; fingierte<br />

Leistungen zur hälftigen <strong>Teil</strong>ung des Erstattungsbetrags mit dem Patienten). Die Patienten reichten diese<br />

Rechnungen - wovon der Angeklagte sicher ausging (UA S.112) - bei ihren jeweiligen Versicherungen, in einem Fall<br />

zusätzlich bei einer Beihilfestelle ein <strong>und</strong> erhielten so die in Rechnung gestellten Kosten des Angeklagten erstattet.<br />

Wäre den Sachbearbeitern bei den Versicherungen bzw. der Beihilfestelle der wahre Sachverhalt bekannt gewesen,<br />

wäre eine Erstattung unterblieben.<br />

2. Ferner hat der Angeklagte, der Mitglied einer Laborgemeinschaft war, von dieser Laborleistungen der Klasse M II<br />

bezogen, welche er gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) selbst abrechnen konnte, wobei<br />

hierfür gemäß § 5 Abs. 4 Satz 2 GOÄ ein Standard-Steigerungsfaktor von 1,15 vorgesehen ist. Mit dem Hinweis auf<br />

eine „sehr umfangreiche <strong>und</strong> zeitintensive Leistung aufgr<strong>und</strong> persönlicher Bef<strong>und</strong>ung“ ließ der Angeklagte demgegenüber<br />

Laborleistungen der Klasse M II mit dem Höchst-Steigerungsfaktor (§ 5 Abs. 4 Satz 1 GOÄ) von 1,3 abrechnen.<br />

Der Angeklagte wusste jedoch, „dass er keine einzige Bef<strong>und</strong>ung im Bereich M II selbst je durchgeführt<br />

hatte, sondern sämtliche Parameter bei der Laborgemeinschaft“ bezogen hatte (UA S. 109). Die Patienten „irrten<br />

entsprechend <strong>und</strong> bezahlten“ die um die Differenz zwischen dem 1,15- <strong>und</strong> dem 1,3-fachen „überhöhten Beträge“<br />

(UA S. 24). Zudem rechnete der Angeklagte die von der Laborgemeinschaft bezogenen Untersuchungen der Klasse<br />

M II als angeblich im eigenen Labor erbrachte Leistungen der Klasse M I ab, dies wiederum teilweise mit dem -<br />

unzutreffenden - Höchststeigerungsfaktor von 1,3. „Hätten die Patienten gewusst, dass es sich in Wirklichkeit um<br />

niedriger bewertete M II Leistungen gehandelt hat, hätten sie lediglich den Preis für M II Leistungen bezahlt“ (UA S.<br />

27).<br />

3. Darüber hinaus (<strong>und</strong> vor allem) hat der Angeklagte nicht persönlich erbrachte Leistungen abrechnen lassen.<br />

a) Laborleistungen der Klassen M III <strong>und</strong> M IV (Speziallaborleistungen) konnte der Angeklagte nur von einem hierzu<br />

befähigten <strong>und</strong> einzig gegenüber dem Patienten liquidationsberechtigten Laborarzt (Speziallabor) erbringen lassen.<br />

Um dennoch Gewinne aus der Erbringung von Speziallaborleistungen zu erzielen, profitierte der Angeklagte<br />

von einer von der Laborgruppe des Dr. Sch. (Augsburg) „seit vielen Jahren vielen tausend interessierten Ärzten im<br />

B<strong>und</strong>esgebiet“ (UA S. 21) angebotenen Kooperation (Rahmenvereinbarung), die sich in gleicher Weise auch bei<br />

zwei weiteren Laboren wie folgt gestaltete: Der Angeklagte sandte, wenn er Untersuchungen der Klassen M III oder<br />

M IV benötigte, die dafür erforderlichen Proben an die im Urteil näher feststellten Labore/Laborgruppen (im Fol-<br />

175


genden: Laborarzt), wo die Proben seinen Wünschen entsprechend fachlich <strong>und</strong> medizinisch korrekt untersucht (beprobt)<br />

wurden (UA S. 21). Die Ergebnisse wurden ihm per Datenfernübertragung übermittelt. Die erbrachten Leistungen<br />

des Laborarztes wurden von diesem „gegenüber dem Patienten nicht geltend gemacht“ (UA S. 22). Vielmehr<br />

wurden den jeweiligen Einsendeärzten - so auch dem Angeklagten - die Laborleistungen zu einem niedrigen, der<br />

Höhe nach vom Gesamtbeauftragungsumfang abhängigen Betrag in Rechnung gestellt. Der Angeklagte zahlte je<br />

nach Labor zwischen 0,32 (Rabattstufe für „gute K<strong>und</strong>en“) <strong>und</strong> 1,0 des für die Leistung maßgeblichen jeweiligen<br />

GOÄ-Satzes. Der Angeklagte rechnete sodann gegenüber Privatpatienten die durchgeführten Untersuchungen als<br />

eigene ab, „regelmäßig unter Geltendmachung des Standard-Erhöhungsfaktors nach § 5 Abs. 4 GOÄ, d.h. mit einem<br />

Faktor von 1,15“ (UA S. 22). In allen der Verurteilung zugr<strong>und</strong>e liegenden Fällen waren die Laborleistungen „tatsächlich<br />

benötigt“ <strong>und</strong> wurden „fachlich <strong>und</strong> medizinisch korrekt“ erbracht (UA S. 21). Nach den Feststellungen des<br />

Landgerichts wusste der Angeklagte, „dass er zur eigenen Liquidation dieser Laborleistungen nicht berechtigt war.<br />

Hätten die Privatpatienten gewusst, dass der Angeklagte die Leistungen nicht selbst erbracht hat, zur Liquidation<br />

nicht berechtigt war, weil er nicht Inhaber der Forderung war <strong>und</strong> damit die Rechnung auch nicht erstattungsfähig<br />

war, hätten sie diese Leistung nicht auf die durch die M. GmbH erstellten Rechnungen hin auf das dort angegebene<br />

Konto bezahlt“ (UA S. 24).<br />

b) Ferner ließ der Angeklagte Behandlungen als eigene abrechnen, die in seinen Praxisräumen tätige Therapeuten<br />

(ein Osteopath <strong>und</strong> ein aus China stammender Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin) erbrachten, die im Tatzeitraum<br />

weder approbiert noch niedergelassen waren <strong>und</strong> „daher keine Berechtigung hatten, selbständig Leistungen<br />

an Patienten zu erbringen <strong>und</strong> abzurechnen“ (UA S. 27 f.). Tatsächlich erbrachten diese an Patienten des Angeklagten<br />

„in eigener Verantwortung, ohne Aufsicht oder Kontrolle durch den Angeklagten“ (UA S. 28), aber fehlerfrei,<br />

osteopathische Leistungen <strong>und</strong> Akupunkturleistungen. Der Angeklagte führte jeweils ein „Eingangsgespräch“ <strong>und</strong><br />

ein „Abschlussgespräch“ mit den Patienten, er hatte aber nicht die fachlichen Kenntnisse, die Tätigkeit der Therapeuten<br />

zu überwachen. Diese erhielten vom Angeklagten zwischen 40 <strong>und</strong> 55 € für jede Behandlung. Der Angeklagte<br />

ließ diese („eingekauften“) Leistungen den Patienten sodann als selbst erbrachte ärztliche Leistung in Rechnung<br />

stellen: Leistungen des Osteopathen wurden meist mit 125,60 € berechnet, Leistungen des Akupunkteurs mit 71,17 €<br />

oder 83,76 €. Der Angeklagte verwendete zur Abrechnung jeweils eine „Kette“ verschiedener GOÄ-Ziffern, von<br />

denen einige Leistungen betreffen (Bsp: Injektionen gem. GOÄ-Ziffern 255 <strong>und</strong> 256), die tatsächlich nicht durchgeführt<br />

worden waren.<br />

c) Des Weiteren ließ der Angeklagte bestimmte Untersuchungen der Klasse M III, die in einem Speziallabor hätten<br />

erbracht werden müssen, in der oben 2. genannten Laborgemeinschaft durchführen. Diese Laborleistungen ließ der<br />

Angeklagte sodann wie eigene Untersuchungen der Klasse M II gegenüber den Patienten abrechnen.<br />

II. Die Strafkammer hat die Fälle oben 1. als mittäterschaftlich begangenen Betrug zum Nachteil der jeweiligen Versicherungen/Beihilfestellen<br />

gewertet, alle anderen Fälle als Betrugstaten zum Nachteil der jeweiligen Patienten. In<br />

den Fällen oben 3.a. (Abrechnung von Speziallaborleistungen) sieht die Strafkammer einen Schaden beim Patienten<br />

darin, dass der Rechnung des Angeklagten keine durch die Zahlung erlöschende Forderung zugr<strong>und</strong>e liege. Der<br />

Angeklagte selbst habe keine Leistung erbracht <strong>und</strong> könne auch keine Forderung des Laborarztes geltend machen.<br />

Eine im Verfahren vom Angeklagten behauptete Abtretung einer solchen Forderung im Rahmen eines Factoring-<br />

Geschäfts sei mangels ausdrücklicher Einwilligung des Patienten nichtig, im Übrigen „ersichtlich vorgeschoben“<br />

(UA S. 107); in Wahrheit handele es sich um eine gegen Art. 31 Musterberufsordnung für Ärzte verstoßende Zuwendung.<br />

Auch eine Forderung des Laborarztes werde nicht erfüllt, so dass die Gefahr einer weiteren Inanspruchnahme<br />

des Patienten durch diesen bestehe. Das Erbringen der Laborleistungen stelle keine vollständige, unmittelbar<br />

mit der Verfügung des Patienten verb<strong>und</strong>ene Kompensation dar. Überdies sei (1.) der Patient hinsichtlich einer<br />

Rückforderung bezahlter Beträge mit einem bereits konkretisierten Insolvenzrisiko des Angeklagten belastet, (2.) der<br />

tatsächliche Leistungserbringer, obgleich für den Patienten von besonderer Bedeutung, nicht erkennbar, was „ein<br />

zusätzliches Risiko bzw. eine Minderleistung, welches nicht kompensiert werden kann“ (UA S. 102) unter dem Gesichtspunkt<br />

des persönlichen Schadenseinschlages für den Patienten begründe <strong>und</strong> (3.) der Patient bei Bekanntwerden<br />

der wahren Verhältnisse dem Risiko einer von Versicherungen oder Beihilfestellen versagten Kostenerstattung<br />

oder einer Rückforderung gezahlter Beträge durch diese ausgesetzt.<br />

III. Die vom Angeklagten geltend gemachte Spielsucht hat die Strafkammer - gestützt auf ein Sachverständigengutachten<br />

- als nicht krankheitswertiges Verhalten bewertet, das sich im normalpsychologischen Spektrum wie bei jedem<br />

Menschen mit einem ausgeprägten Hobby bewege, <strong>und</strong> daher uneingeschränkte Schuldfähigkeit bejaht.<br />

B. Hinsichtlich des Falles Nr. 71 der Urteilsgründe besteht ein zur Einstellung des Verfahrens führendes Verfahrenshindernis.<br />

Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat hierzu ausgeführt: „Fall Nr. 71 der Urteilsgründe betrifft eine Rechnung<br />

vom 19. Juli 2005 (…). Hinsichtlich dieser Tat ist das Verfahren mit Beschluss vom 25. Juni 2010 (…) gemäß § 154<br />

176


Abs. 1 Nr.1, Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt worden; eine Wiedereinbeziehung dieses Tatvorwurfs ist nicht erfolgt.<br />

Die Verurteilung wegen Betruges wegen dieser Tat muss daher entfallen.“ Diesen zutreffenden Ausführungen<br />

schließt sich der Senat an. Mit der Einstellung durch einen Gerichtsbeschluss gemäß § 154 Abs. 2 StPO entsteht ein<br />

von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis, zu dessen Beseitigung ein förmlicher Wiederaufnahmebeschluss<br />

erforderlich ist (BGH, Beschluss vom 18. April 2007 - 2 StR 144/07; BGH, Beschluss vom 7. März 2006 - 2<br />

StR 534/05 mwN). Einen solchen Beschluss hat das Landgericht nicht erlassen.<br />

C. Die Revision zeigt - auch soweit sie den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt - keinen durchgreifenden<br />

Verfahrensfehler auf.<br />

I. Mit zulässig erhobener Verfahrensrüge macht die Revision einen Verstoß gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO geltend,<br />

den sie darin sieht, dass eine die einzelnen Taten auflistende (mehrere Ordner umfassende) Tabelle nicht im Anklagesatz<br />

aufgenommen <strong>und</strong> dementsprechend nicht verlesen worden war. Der Rüge bleibt aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

zutreffend dargelegten Gründen der Erfolg versagt. Der vom Großen Senat für Strafsachen (vgl. Beschluss<br />

vom 12. Januar 2011 - GSSt 1/10) für unerlässlich erachtete <strong>Teil</strong> des Anklagesatzes wurde in der Hauptverhandlung<br />

verlesen. Trotz der gerügten Lückenhaftigkeit des Anklagesatzes erfüllt die Anklage ihre Umgrenzungsfunktion<br />

hinreichend, wenn der Angeklagte - wie hier - die einzelnen Tatvorwürfe dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen<br />

entnehmen kann. Die Informationsfunktion, die der Verlesung des Anklagesatzes in der Hauptverhandlung zukommt,<br />

wird durch die unvollständige Fassung des Anklagesatzes ebenfalls nicht berührt; die die Einzeltaten näher<br />

individualisierenden tatsächlichen Umstände müssen nicht in der Hauptverhandlung verlesen werden. Daher stellt<br />

der Umstand, dass die näheren individualisierenden tatsächlichen Umstände der Einzeltaten oder der Einzelakte in<br />

Tabellen enthalten waren, die zwar <strong>Teil</strong> der Anklageschrift, aber nicht <strong>Teil</strong> des Anklagesatzes i.S.v. § 243 Abs. 3<br />

Satz 1 i.V.m. § 200 Abs. 1 StPO waren, keinen Verfahrensfehler dar, auf dem das Urteil beruht (BGH, Beschluss<br />

vom 15. März 2011 - 1 StR 260/09).<br />

II. Die Rüge eines Verstoßes gegen § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO hat keinen Erfolg. Ihr liegt folgendes prozessuales<br />

Geschehen zugr<strong>und</strong>e: In der Hauptverhandlung stellte der Angeklagte einen Antrag auf Zeugenvernehmung mit den<br />

Behauptungen, dass die Patienten wegen der vom Angeklagten abgerechneten Laborleistungen der Klassen M I, M<br />

III oder M IV keinem „latenten Rückforderungsanspruch einer Beihilfestelle oder eines privaten Versicherungsunternehmens<br />

ausgesetzt“ seien, weil sie entweder die Leistungen nicht bezahlt hätten, oder sie im Zeitpunkt der jeweiligen<br />

Behandlung weder beihilfeberechtigt noch privat versichert gewesen seien, oder die Laborleistungen nicht vom<br />

Versicherungstarif umfasst seien, oder die Rechnungen nicht zur Erstattung bei Versicherung oder Beihilfestelle<br />

geltend gemacht worden seien oder weil die Erstattung der Laborleistungen abgelehnt worden sei. Ferner sollte bewiesen<br />

werden, dass keiner der Patienten tatsächlich auf Rückzahlung in Anspruch genommen worden sei. Dem<br />

Antrag war eine Tabelle beigefügt, in der der jeweilige Zeuge mit ladungsfähiger Anschrift sowie zugehöriger Rechnungsnummer<br />

<strong>und</strong> die jeweils ihn betreffenden GOÄ-Ziffern der Leistungsgruppen M I, M III <strong>und</strong> M IV aufgeführt<br />

waren. Nach Hinweis auf die Fehlerhaftigkeit dieser Anlage, legte die Verteidigung zwei Leitzordner vor, die nunmehr<br />

als Anlage zum Beweisantrag genommen wurden. Hinsichtlich dieser wurde, ebenso wie zu einer vom nach<br />

Antragstellung gehörten Zeugen S. übergebenen Ausbuchungsliste der M. GmbH vom 2. August 2010 das Selbstleseverfahren<br />

angeordnet. Der Staatsanwalt gab eine Erklärung zum Beweisantrag ab <strong>und</strong> übergab sodann die Stellungnahme<br />

in schriftlicher Form zu den Akten (HV-Protokoll S. 58). Unter Bezugnahme auf die Aussagen des Zeugen<br />

S. erklärte der Verteidiger, eine Zeugeneinvernahme dazu „welche Rechnungen nicht bzw. nicht in voller Höhe<br />

bezahlt wurden“ werde nicht beantragt bzw. zurückgenommen (HV-Protokoll S. 59). Im Folgenden wurde mit Zustimmung<br />

der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> unter Bezugnahme auf vorerwähnte Ausbuchungsliste das Verfahren durch<br />

Beschluss der Strafkammer gemäß § 154a StPO beschränkt (HV-Protokoll S. 60). Ferner wurde ein „Schriftsatz des<br />

Verteidigers vom 20.08.2010 über die bisher geltend gemachten Rückforderungsansprüche der Krankenkassen <strong>und</strong><br />

Beihilfestellen besprochen“ (HV-Protokoll S. 62). Die Strafkammer hat den Antrag sodann durch Beschluss vom 26.<br />

August 2010 „gemäß § 244 Abs. 3 Satz 2 2. Alt. StPO abgelehnt, soweit er sich nicht durch die (teilweise) Rücknahme<br />

vom 12.08.2010“ erledigt hat. Es komme nicht darauf an, ob ein Geschädigter seinen Schaden von einer Versicherung<br />

ersetzt erhalten hat. Rechtlich entscheidend für die Annahme eines vollendeten Betruges sei, ob der Patient<br />

auf eine tatsächlich nicht oder nicht in dieser Höhe bestehende Forderung des Arztes gezahlt habe; ein Ausgleich<br />

durch eine Versicherung führe nur zu einer Schadensverlagerung nach Schadenseintritt.<br />

1. Die Rüge ist bereits unzulässig. Gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO sind bei Erhebung einer Verfahrensrüge die auf<br />

die jeweilige Angriffsrichtung bezogenen Verfahrenstatsachen vollständig <strong>und</strong> zutreffend so vorzutragen, dass das<br />

Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung die einzelnen Rügen darauf überprüfen kann, ob ein Verfahrensfehler<br />

vorliegen würde, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (vgl. BGH, Beschluss vom 2. No-<br />

177


vember 2010 - 1 StR 544/09 mwN; BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2005 - 2 BvR 656/99; Kuckein in KK-StPO,<br />

6. Aufl., § 344 Rn. 38 mwN). Dem genügt der Revisionsvortrag nicht.<br />

a) Der Revisionsvortrag ist unvollständig. Die Revision legt schon nicht die im mitgeteilten Beweisantrag in Bezug<br />

genommenen Anlagen in ihrer jeweiligen Fassung vor. Auch werden weder der Inhalt der staatsanwaltschaftlichen<br />

Stellungnahme zum Beweisantrag, noch der Schriftsatz der Verteidigung vom 20. August 2010 mitgeteilt, auf die<br />

das Revisionsvorbringen Bezug nimmt. Ebenso wenig trägt die Revision die für die Beurteilung des Beweisbegehrens<br />

erforderliche, auch im <strong>Teil</strong>einstellungsbeschluss in Bezug genommene „Ausbuchungsliste der M.“ vor, <strong>und</strong><br />

auch nicht den sich „durch die heutige Einvernahme des Zeugen S.“ ergebenden Umfang, in dem die Beweisaufnahme<br />

„nicht beantragt bzw. zurückgenommen“ worden war. Dem Senat wird so insbesondere nicht die Überprüfung<br />

ermöglicht, in welchem Umfang <strong>und</strong> auf welcher Gr<strong>und</strong>lage über den Beweisantrag nach dessen teilweiser<br />

Rücknahme <strong>und</strong> einer erfolgten <strong>Teil</strong>einstellung des Verfahrens noch zu entscheiden war.<br />

b) Die Revision bleibt durch widersprüchliches Vorbringen auch die erforderliche klare Bezeichnung der Angriffsrichtung<br />

schuldig, mithin werden die den Mangel begründenden Tatsachen nicht in einer § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO<br />

genügenden Weise dargetan (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2010 - 1 StR 620/09; BGH, Beschluss vom 29.<br />

Juni 2010 - 1 StR 157/10). Zum einen beruft sich die Revision darauf, die von der Strafkammer erörterte Gefahr der<br />

Inanspruchnahme der Patienten auf Rückzahlung von Versicherungen geleisteter Beträge könne nicht gegeben sein,<br />

wenn - wie im Antrag behauptet - ein Versicherungsschutz nicht bestehe, so dass diese Behauptung nicht bedeutungslos<br />

sei. Zum anderen macht die Revision geltend, bei der Strafzumessung hätte berücksichtigt werden müssen,<br />

dass kein einziger Patient auf Rückzahlung in Anspruch genommen worden sei, <strong>und</strong> insinuiert damit (anderes wäre<br />

offenk<strong>und</strong>ig bedeutungslos), eine Rückforderung sei trotz bestehenden Versicherungsschutzes unterblieben. Damit<br />

aber macht die Revision zum einen geltend, der Beweisantrag sei von Bedeutung, weil kein Versicherungsschutz<br />

bestehe, zum anderen sei er deswegen nicht bedeutungslos, weil trotz bestehenden Versicherungsschutzes <strong>und</strong> erfolgter<br />

Erstattungen Rückforderungsansprüche nicht geltend gemacht worden waren. Nach dem Revisionsvortrag<br />

bleiben also mehrere Möglichkeiten, warum der Beweisantrag fehlerhaft abgelehnt worden sein könnte.<br />

2. Die Rüge wäre überdies auch unbegründet. Die Strafkammer hat - wie auch der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend<br />

ausführt - den Antrag ohne durchgreifenden Rechtsfehler als bedeutungslos abgelehnt. Das Bestehen eines Versicherungsschutzes<br />

ist für den Schuldspruch (was auch nachfolgend noch aufgezeigt wird) ohne Bedeutung. Die nachträglichen<br />

Leistungen eines Versicherers sind für die Feststellung eines strafrechtlich relevanten Schadens bedeutungslos<br />

(vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 263 Rn. 155; Gercke/Leimenstoll, MedR 2010, 695 Fn. 9). Gleiches gilt für den<br />

Strafausspruch. Eine Erstattung des vom Patienten bereits an den Angeklagten bezahlten Betrages durch Versicherung<br />

<strong>und</strong>/oder Beihilfe führt lediglich zu einer Schadensverlagerung; sie entlastet den Angeklagten ebenso wenig,<br />

wie es einen Autodieb entlasten könnte, dass die Versicherung des Bestohlenen diesem den Schaden ersetzt (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2010 - 1 StR 400/10 mwN). Es bedarf danach keiner Entscheidung, ob der rügegenständliche<br />

Antrag nicht ohnedies lediglich als Beweisermittlungsantrag zu qualifizieren wäre. Soll eine begehrte<br />

Beweisaufnahme erst ergeben, welche der als möglich hingestellten, sich gegenseitig aber ausschließenden Tatsachen<br />

vorliegen, fehlt es an einer für einen Beweisantrag erforderlichen bestimmten Beweisbehauptung, mögen auch<br />

beide Behauptungen nach dem Willen des Antragstellers auf das gleiche Ziel gerichtet sein (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 13. November 1997 - 1 StR 627/97). Auch die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) nötigte das Gericht nicht<br />

zur Einvernahme der mehr als 2.300 Zeugen zu der unklaren Fragestellung. Schon gar nicht drängte die Aufklärungspflicht<br />

zur Beweisaufnahme über im Ergebnis bedeutungslose Tatsachen.<br />

III. Der Rüge eines Verstoßes „gegen § 265 Abs. 1 StPO analog“, den die Revision darin sieht, dass die Kammer den<br />

Schuldspruch ohne vorherigen Hinweis auf eine im Vergleich zur Anklage (dort „Gefährdungsschaden“) andere<br />

tatsächliche Gr<strong>und</strong>lage („auch Realschaden“) gestützt habe - die Revision vermisst einen Hinweis dahingehend, dass<br />

auch in der Nichterkennbarkeit des Leistungserbringers ein Schaden liegen könne - bleibt der Erfolg versagt. Es<br />

bedarf keiner abschließenden Entscheidung, ob es hier überhaupt eines ausdrücklichen Hinweises entsprechend §<br />

265 StPO bedurft hätte (mit beachtlichen Argumenten verneinend der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift).<br />

Denn der Angeklagte konnte aus dem Gang der Hauptverhandlung die von der Kammer in den Blick genommene<br />

tatsächliche <strong>und</strong> rechtliche Bewertung in einem für sein Verteidigungsverhalten ausreichenden Umfang erkennen.<br />

Nach dem unwidersprochenen Vortrag (vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 12. Januar 2011 - 1 StR 582/10, Rn.<br />

16 mwN) in der vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt in Bezug genommenen Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft (inhaltsgleich<br />

zu einer dienstlichen Stellungnahme des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft) wurde „die Frage des<br />

Schadensbegriffs, insbesondere die Frage des möglichen Vorliegens eines Schadens in der Form eines Gefährdungs-<br />

oder Realschadens“ von Beginn der Sitzung an „vielfach vom Gericht mit der Verteidigung <strong>und</strong> der Staatsanwaltschaft<br />

erörtert <strong>und</strong> diskutiert“. Die Strafkammer hat (auch) in der Begründung des von der Revision im Rahmen<br />

178


vorstehender Rüge angeführten Beschlusses zur Ablehnung eines Beweisantrags unmissverständlich zu erkennen<br />

gegeben, dass sie der Sache nach auf einen „Realschaden“ abstellt (Patient zahlt auf tatsächlich nicht oder nicht in<br />

dieser Höhe bestehende Forderung). Bei dieser Sachlage kann der Senat - worauf der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend<br />

hingewiesen hat - jedenfalls ausschließen, dass sich der Angeklagte, wäre der von der Revision vermisste Hinweis<br />

ausdrücklich erteilt worden, anders, insbesondere erfolgreicher hätte verteidigen können (vgl. Meyer-Goßner,<br />

StPO, 54. Aufl., § 265 Rn. 48 mwN). Es kommt überdies - wie nachfolgend dargelegt wird - zur Schadensbestimmung<br />

nicht, worauf sich aber nach dem Revisionsvorbringen der Hinweis beziehen sollte, auf die Erkennbarkeit des<br />

Leistungserbringers an.<br />

D. In dem nach <strong>Teil</strong>einstellung verbleibenden Umfang hält der Schuldspruch revisionsrechtlicher Nachprüfung<br />

stand. Die unter anderem auf dem Geständnis <strong>und</strong> einer früheren Einlassung des Angeklagten beruhenden, rechtsfehlerfrei<br />

getroffenen Feststellungen belegen in allen Fällen sowohl einen täuschungsbedingten Irrtum (I.) <strong>und</strong> den Eintritt<br />

eines dadurch verursachten, mit dem Vorteil des Angeklagten stoffgleichen Schadens i.S.v. § 263 <strong>StGB</strong> (II.) als<br />

auch die betrugsrelevante subjektive Tatseite (III.). Die konkurrenzrechtliche Bewertung durch das Landgericht ist<br />

ebenfalls rechtsfehlerfrei (IV.).<br />

I. Der Angeklagte täuschte - vermittels der nach den Feststellungen gutgläubigen Mitarbeiter der M. GmbH <strong>und</strong> teils<br />

im Zusammenwirken mit den Patienten - über Tatsachen <strong>und</strong> erregte dadurch einen entsprechenden Irrtum.<br />

1. In den Fällen kollusiven Zusammenwirkens mit den Patienten unterlagen die zuständigen Sachbearbeiter der Versicherungen<br />

/ der Beihilfestelle im vorliegenden Fall einem mit Wissen <strong>und</strong> Wollen des Angeklagten herbeigeführten<br />

Irrtum über das tatsächliche Vorliegen eines zur Kostenerstattung verpflichtenden Versicherungsfalles. Bei Betrugsvorwürfen<br />

im Zusammenhang mit standardisierten, auf Massenerledigung angelegten Abrechnungsverfahren ist<br />

nicht erforderlich, dass der jeweilige Mitarbeiter hinsichtlich jeder einzelnen geltend gemachten Position die positive<br />

Vorstellung hatte, sie sei der Höhe nach berechtigt; vielmehr genügt die stillschweigende Annahme, die ihm vorliegende<br />

Abrechnung sei insgesamt „in Ordnung”. Daher setzt ein Irrtum nicht voraus, dass tatsächlich eine Überprüfung<br />

der Abrechnungen im Einzelfall durchgeführt wurde (BGH, Urteil vom 22. August 2006 - 1 StR 547/05).<br />

2. In allen anderen Fällen täuschte der Angeklagte die Patienten über das Vorliegen der den geltend gemachten Zahlungsanspruch<br />

begründenden Tatsachen (a.). Eine damit zugleich behauptete Zahlungspflicht bestand indes nicht<br />

(b.). Die Patienten irrten entsprechend (c.).<br />

a) Bei der hier in Rede stehenden privatärztlichen Liquidation wird dem Patienten eine gemäß § 12 GOÄ zu spezifizierende<br />

Rechnung übersandt, in der - neben dem Steigerungsfaktor, § 12 Abs. 2 Nr. 2 GOÄ - die erbrachte Leistung<br />

mit einer kurzen Bezeichnung anzugeben ist. Hierüber täuscht der Angeklagte ausdrücklich, wenn er - wie etwa im<br />

Fall nicht erbrachter Laborleistungen der Klasse M I oder im Fall der Abrechnung von Osteopathie- <strong>und</strong> Akupunkturleistungen<br />

durch tatsächliche nicht durchgeführte ärztliche Leistungen - in Rechnung gestellte Leistungen tatsächlich<br />

nicht erbracht hat. Gleiches gilt, soweit der Angeklagte zu der gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 GOÄ erforderlichen<br />

Begründung eines erhöhten Steigerungsfaktors eine in Wahrheit nie durchgeführte eigene Bef<strong>und</strong>ung angeben lässt<br />

(vgl. auch Freitag, Ärztlicher <strong>und</strong> zahnärztlicher Abrechnungsbetrug im deutschen Ges<strong>und</strong>heitswesen, 2008, S. 154;<br />

Hellmann/Herffs, Der ärztliche Abrechnungsbetrug, Rn. 348 - 351). Auch soweit der Angeklagte - wie in den Fällen<br />

der Speziallaborleistungen sowie der Abrechnung von Osteopathie- <strong>und</strong> Akupunkturleistungen - nicht selbst erbrachte<br />

ärztliche Leistungen als eigene hat abrechnen lassen, behauptete er nicht lediglich, zu deren Abrechnung berechtigt<br />

zu sein, sondern auch (zumindest konkludent, was vom möglichen Wortsinn des § 263 Abs. 1 <strong>StGB</strong> umfasst ist,<br />

vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09, 2 BvR 1857/10 Rn. 168), dass die Voraussetzungen<br />

der der Abrechnung zugr<strong>und</strong>eliegenden Rechtsvorschriften eingehalten worden seien. Dies entspricht gefestigter<br />

Rechtsprechung zum Abrechnungsbetrug bei Vertragsärzten (vgl. BGH, Urteil vom 1. September 1993 - 2 StR<br />

258/93; BGH, Urteil vom 10. März 1993 - 3 StR 461/92; BGH, Urteil vom 21. Mai 1992 - 4 StR 577/91; BGH, Urteil<br />

vom 15. Oktober 1991 - 4 StR 420/91), für privatliquidierende Ärzte gilt nichts anderes. Wer eine Leistung einfordert,<br />

bringt damit zugleich das Bestehen des zugr<strong>und</strong>e liegenden Anspruchs (vgl. OLG <strong>Hamm</strong>, Beschluss vom 11.<br />

Juli 1996 - 3 Ws 164/96, NStZ 1997, 130 mwN), hier also die Abrechnungsfähigkeit der in Rechnung gestellten<br />

ärztlichen Leistung zum Ausdruck (vgl. auch Schuhr in Spickhoff, Medizinrecht, § 263 <strong>StGB</strong> Rn. 16; Schubert, ZRP<br />

2001, 154, 155; Dannecker in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- <strong>und</strong> Steuerstrafrecht, § 263 <strong>StGB</strong> Rn. 182 ff.). Zutreffend<br />

wird in dem von der Revision vorgelegten Rechtsgutachten darauf hingewiesen, dass der wertende Rückgriff<br />

auf die in der Abrechnung in Bezug genommene GOÄ die für den Rechnungsempfänger maßgebende Verkehrsauffassung<br />

vom Inhalt der mit der Rechnung abgegebenen Erklärung prägt (schon Tiedemann in LK-<strong>StGB</strong>, 11. Aufl., §<br />

263 Rn. 30 mwN).<br />

179


) Die tatsächlichen Voraussetzungen zur Geltendmachung der behaupteten Zahlungsansprüche lagen auch in Fällen<br />

nicht persönlich erbrachter Leistungen nicht vor. Unbeschadet des jeweiligen Erklärungsgehalts der Rechnungen<br />

ergibt sich dies vorliegend schon daraus, dass ein Zahlungsanspruch unter keinem denkbaren Gesichtspunkt bestand.<br />

aa) Der Angeklagte konnte für die in Rechnung gestellten Laborleistungen der Klassen M III <strong>und</strong> M IV (Speziallaborleistungen)<br />

einen Zahlungsanspruch gegenüber dem Patienten weder aus eigenem noch aus abgetretenem Recht<br />

geltend machen.<br />

(1.) Der Angeklagte hat mit jedem seiner Patienten einen wirksamen, als Dienstleistungsvertrag zu qualifizierenden<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 25. März 1986 - VI ZR 90/85; BGH, Urteil vom 18. März 1980 - VI ZR 247/78; Müller-<br />

Glöge in MüKomm-BGB, 5. Aufl., § 611 Rn. 79; OLG Stuttgart, VersR 2003, 992; Gercke/Leimenstoll, MedR<br />

2010, 695 jew. mwN) Behandlungsvertrag geschlossen. Dieser begründet selbst noch keine Zahlungspflicht für den<br />

Patienten; der genaue Vertragsinhalt wird nicht im Vorhinein festgelegt, weil erst die Untersuchungen den Umfang<br />

der zu erbringenden Leistungen bestimmen (Kern, in Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., § 42 Rn. 1).<br />

Der Angeklagte wird aber berechtigt (vgl. § 612 Abs. 1, Abs. 2 BGB), die sodann erbrachten ärztlichen Leistungen<br />

gegenüber dem Patienten unabhängig vom etwaigen Bestehen eines Versicherungsschutzes abzurechnen. Gr<strong>und</strong>lage<br />

hierfür ist - von hier nicht gegebenen Sonderfällen (z.B. § 85 Abs. 1 SGB V, § 18c IV BVG u.a.) abgesehen - ausschließlich<br />

<strong>und</strong> abschließend die den Honoraranspruch inhaltlich ausfüllende Gebührenordnung. Nach dieser ist dem<br />

Angeklagten die Abrechnung delegierter Laborleistungen nach den Abschnitten M III <strong>und</strong> M IV versagt, die er - wie<br />

hier - nicht selbst erbracht hat (§ 4 Abs. 2 GOÄ i.V.m. Nr. 3 der Allgemeinen Bestimmungen zur Anlage M, die als<br />

Bestandteil der GOÄ an deren normativen Charakter teilnehmen; vgl. Griebau in Ratzel/Luxenburger, Handbuch<br />

Medizinrecht,<br />

2. Aufl., § 11 Rn. 81 mwN; Uleer/Miebach/Patt, Abrechnung von Arzt- <strong>und</strong> Krankenhausleistungen, 3. Aufl., § 4<br />

GOÄ Rn. 3). Mit der durch die 4. Änderungsverordnung zur GOÄ vom 18. Dezember 1995 (BGBl. I, 1861) eingeführten<br />

Regelung des § 4 Abs. 2 Satz 2 GOÄ sollte zielgerichtet verhindert werden, dass Ärzte Laborleistungen von<br />

darauf spezialisierten (<strong>und</strong> entsprechend preisgünstiger arbeitenden) Laborärzten beziehen <strong>und</strong> aus der Differenz<br />

zwischen dem Preis der „eingekauften“ Laborleistungen <strong>und</strong> den dafür nach GOÄ in Rechnung gestellten Gebühren<br />

erhebliche Gewinne erzielen. Um der damit verb<strong>und</strong>enen Ausweitung medizinisch nicht indizierter Laborleistungen<br />

entgegen zu wirken, sollte dem (Einsende)Arzt jeglicher finanzieller Anreiz im Zusammenhang mit nicht selbst<br />

erbrachten Speziallaborleistungen genommen sein (vgl. BR-Drucks. 211/94 S. 88f, 91 f, 94; BR-Drucks. 688/95;<br />

Uleer/ Miebach/Patt, aaO, GOÄ § 4 Rn. 7; Spickhoff, aaO, § 4 GOÄ Rn. 20 f.).<br />

(2.) Der Angeklagte kann auch - unabhängig von der Regelung des § 12 Abs. 2 Nr. 5 GOÄ - nicht die nach den Feststellungen<br />

an die Laborärzte gezahlten Beträge als Aufwendungen geltend machen. Gemäß § 10 GOÄ abrechenbare<br />

Versand- <strong>und</strong> Portokosten sind dem Angeklagten (wie Einsendeärzten regelmäßig, vgl. Uleer/Miebach/Patt, aaO, §<br />

10 GOÄ Rn. 24) nach den Urteilsfeststellungen nicht entstanden, vielmehr wurden die „Proben mittels des Fahrdienstes<br />

der Laborgruppe“ (UA S. 21) zum Laborarzt gebracht <strong>und</strong> die Bef<strong>und</strong>e „oft per Datenfernübertragung an<br />

den Arzt übermittelt“ (UA S. 22). Ein darüber hinausgehender Aufwendungsersatz besteht nicht. § 10 GOÄ regelt<br />

den Ersatz von Auslagen im Zusammenhang mit der Erbringung ärztlicher Leistungen abschließend. Die GOÄ stellt<br />

- verfassungsrechtlich unbedenklich - ein für alle Ärzte verbindliches zwingendes Preisrecht dar (BGH, Urteil vom<br />

23. März 2006 - III ZR 223/05, Rn. 10; BGH, Urteil vom 12. November 2009 - III ZR 110/09 Rn. 7 jew. mwN; vgl.<br />

auch Griebau, aaO, § 11 Rn. 10, 14), <strong>und</strong> regelt abschließend die berechenbaren Leistungen, die Höhe des zu entrichtenden<br />

Entgelts <strong>und</strong> die Art <strong>und</strong> Weise der Abrechnung (Griebau, aaO, § 11 Rn. 15, 41 mwN). Ein Aufwendungsersatz<br />

gemäß § 670 BGB, der ohnehin nur einen Ersatz erforderlicher Aufwendungen ermöglichte (vgl. auch BGH,<br />

Beschluss vom 26. Februar 2003 - 2 StR 411/02), kommt lediglich für andere als ärztliche Leistungen in Betracht<br />

(vgl. Uleer/Miebach/Patt, aaO, § 3 GOÄ Rn. 1, § 10 GOÄ Rn. 4; Spickhoff, aaO, § 10 GOÄ Rn. 2; Brück u.a.,<br />

Kommentar zur GOÄ, 3. Aufl., § 10 Rn. 1; Kiesecker in Prütting, Medizinrecht, § 10 GOÄ Rn. 4;<br />

Schmatz/Goetz/Matzke, GOÄ, 2. Aufl., § 10 Vorbem.). Das ist nach dem Willen des Gesetzgebers etwa der Fall,<br />

wenn „Laborleistungen von Nichtärzten“ bezogen oder Aufwendungen geltend gemacht werden, „die durch nichtärztliche<br />

Leistungen bedingt sind“ (vgl. BR-Drucks. 295/82, S. 15). Daher ist für die im Rahmen des Behandlungsvertrages<br />

vom Angeklagten beauftragten <strong>und</strong> - wie hier - von einem Laborarzt erbrachten Laborleistungen kein<br />

Raum für eine Anwendung des § 670 BGB neben der GOÄ (vgl. auch Brück u.a., aaO, § 10 Rn. 1).<br />

(3.) Vertragliche Ansprüche des Laborarztes gegenüber den Patienten, die der Angeklagte aus abgetretenem Recht<br />

hätte geltend machen können, bestanden hier nicht. Die von der Strafkammer vertretene Auffassung, aus den Laborleistungen<br />

könne vorliegend „eine Forderung der Gemeinschaftspraxis Dr. Sch. gegen den Patienten“ (UA S. 22)<br />

resultieren, teilt der Senat nicht. Für einen zu einer solchen Forderung führenden Vertrag zwischen Laborarzt <strong>und</strong><br />

Patient wäre jedenfalls erforderlich gewesen, dass der Angeklagte - wie dies bei regelkonform verlaufenden Fällen<br />

180


vermutet werden kann (vgl. dazu BGH, Urteil vom 14. Januar 2010 - III ZR 173/09; BGH, Urteil vom 14. Januar<br />

2010 - III ZR 188/09; BGH, Urteil vom 29. Juni 1999 - VI ZR 24/98 jew. mwN) - bei Beauftragung des Laborarztes<br />

als Stellvertreter des Patienten im Rahmen seiner Vertretungsmacht <strong>und</strong> mit dem Willen handelte, hierbei den Patienten<br />

zu vertreten; dies ist hier jedoch nicht der Fall. Ob darüber hinaus der Annahme eines Vertrages zwischen<br />

Patient <strong>und</strong> Laborarzt bereits das Fehlen eines Hinweises nach § 4 Abs. 5 GOÄ (Unterrichtung des Patienten über<br />

das Hinzuziehen eines seinerseits liquidationsberechtigten Dritten) entgegen steht (so die h.M., z.B. LG Düsseldorf,<br />

Urteil vom 3. November 1995 - 20 S 58/95; Uleer/Miebach/Patt, aaO, § 4 GOÄ Rn. 115 mwN;<br />

Schmatz/Goetz/Matzke, aaO, § 4 Anm. 11; Brück u.a., aaO, § 4 Rn. 21; in diesem Sinn auch BGH, Urteil vom 19.<br />

Dezember 1995 - III ZR 233/94, NJW 1996, 781; a.A. Spickhoff, aaO, § 4 GOÄ Rn. 47; Griebaum, aaO, § 11 Rn.<br />

95), bedarf vorliegend keiner abschließenden Entscheidung. Der Angeklagte wollte hier jedenfalls nicht als Stellvertreter<br />

des jeweiligen Patienten mit dem Laborarzt kontrahieren; es fehlt nach dem festgestellten Sachverhalt schon -<br />

wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend ausgeführt hat - an einem Vertretungswillen. Nach den Feststellungen der<br />

Strafkammer beruht die Beauftragung des Laborarztes nämlich in jedem Einzelfall auf einer „zur Förderung einer<br />

dauerhaften Kooperation“ (UA S. 22) geschlossenen besonderen „Rahmenvereinbarung“, deren wesentliches Element<br />

darin bestand, dass - wie die Revision in anderem Zusammenhang konzediert - der Laborarzt keinen eigenen<br />

Anspruch gegenüber dem Patienten soll geltend machen können (UA S. 105). Die Abrechnung der Laborleistung<br />

sollte ausschließlich im Verhältnis zwischen Laborarzt <strong>und</strong> Angeklagtem erfolgen. Gegenüber dem Patienten soll<br />

ausschließlich der vereinbarungsgemäß nach außen als Leistungserbringer in Erscheinung tretende Angeklagte abrechnen.<br />

Schon dies belegt, dass nach übereinstimmendem Willen von Angeklagtem <strong>und</strong> Laborarzt nicht der Patient<br />

berechtigt <strong>und</strong> verpflichtet werden sollte (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 18. März 1998 - 13 U 75/97). Dementsprechend<br />

wäre hier sogar (wie sonst üblich, vgl. Gercke/Leimenstoll, MedR 2010, 695) eine „förmliche“ Überweisung<br />

der Patienten entbehrlich; auch liegt der von der Revision in anderem Zusammenhang gezogene Schluss nahe,<br />

Auskunfts- <strong>und</strong> Herausgabeansprüche betreffend die Laborleistungen richteten sich allenfalls gegen den Angeklagten.<br />

Der Angeklagte handelte - anders als in regelkonform verlaufenden Fällen - auch nicht im ausschließlichen Interesse<br />

der Patienten, sondern in erster Linie um sich aus dem „Weiterverkauf“ von Laborleistungen „eine auf Dauer<br />

gerichtete Einnahmemöglichkeit“ (UA S. 19) zu verschaffen. In der Behauptung des Angeklagten, es sei ein „Factoring“<br />

vereinbart, hat die Strafkammer rechtsfehlerfrei ein lediglich „vorgeschobenes“ Argument gesehen, um eine in<br />

Wahrheit gewollte Zuwendung zu verdecken (UA S. 22, 107 f.). Daher hat der Angeklagte nach den Feststellungen<br />

die Leistungen vom Labor selbst bezogen, hierfür „Einkaufskosten“ gehabt <strong>und</strong> dann „weiterverrechnet“ (vgl. UA S.<br />

23). Der Annahme fehlenden Vertretungswillens steht nicht entgegen, dass sowohl die „Rahmenvereinbarung“ als<br />

auch jede darauf fußende Einzelbeauftragung, mit der sich der Angeklagte in Abhängigkeit zur Zuweisung von Patienten<br />

stehende Vorteile vom Laborarzt hat versprechen lassen, als Koppelungsgeschäft gegen § 31 BayBOÄ verstößt<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 22. Juni 1989 - I ZR 120/87, MedR 1990, 77; OLG Koblenz, MedR 2003, 580; Wigge in<br />

Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, 2. Auf., § 2 Rn. 44; Scholz in Spickhoff, Medizinrecht, § 31<br />

MBO Rn. 4 mwN; Taupitz, MedR 1993, 365, 372) <strong>und</strong> deswegen (§ 31 BayBOÄ ist ein Verbotsgesetz im Sinne des<br />

§ 134 BGB, vgl. BGH, Urteil vom 22. Januar 1986 - VIII ZR 10/85; BayObLG, Urteil vom 6. November 2000 - 1Z<br />

RR 612/98; OLG <strong>Hamm</strong>, Urteil vom 22. Oktober 1984 - 2 U 172/83; a.A. Taupitz, MedR 1992, 272) ihrem gesamten<br />

Umfang nach nichtig sind <strong>und</strong> Angeklagter <strong>und</strong> Laborarzt dies erkannten. Wirtschaftlich stellt die Vereinbarung<br />

zwischen dem Angeklagten <strong>und</strong> dem Laborarzt nichts anderes dar als die Vereinbarung einer umsatzabhängigen<br />

„kick-back“ Zahlung. Ob die Beauftragung des Laborarztes (deswegen) sogar als nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig<br />

anzusehen ist (vgl. OLG Köln, Urteil vom 3. Juni 2002 - 11 W 13/02, MedR 2003, 460), bedarf keiner Entscheidung.<br />

Die Hypothese der Revision, Laborarzt <strong>und</strong> Angeklagter hätten im Zweifel einen wirksamen Honoraranspruch<br />

gewollt (§ 140 BGB), ist urteilsfremd <strong>und</strong> übersieht, dass nach den Feststellungen Zweifel am tatsächlichen Willen<br />

des Angeklagten nicht verbleiben. Für die Anwendung einer Auslegungsregel, Vertragsparteien wollen sich gesetzeskonform<br />

verhalten <strong>und</strong> nichts Unredliches anstreben (dazu BGH, Urteil vom 3. Dezember 2003 - VIII ZR 86/03,<br />

NJW 2004, 1240; BGH, Urteil vom 16. Dezember 1999 - IX ZR 117/99, NJW 2000, 1333), ist kein Raum, wenn -<br />

wie hier festgestellt - Angeklagter <strong>und</strong> Laborarzt übereinkamen, unter „Verzicht auf die rechtlich gebotene Direktabrechnung“<br />

gegenüber dem Patienten dem Laborarzt „eine stetige <strong>und</strong> möglichst umfangreiche Weiterbeauftragung<br />

durch die Einsendeärzte, die ihrerseits an Honoraren beteiligt werden, auf die sie keinen Anspruch haben“, zu sichern<br />

(UA S. 22 f.). Einer von der Revision erstrebten Umdeutung steht - abgesehen von der beiderseitigen Kenntnis der<br />

Nichtigkeit (vgl. Ellenberger in Palandt, BGB, 71. Aufl., § 140 Rn. 8) - überdies entgegen, dass jedes andere Rechtsgeschäft,<br />

das auf die Erreichung des von § 31 BayBOÄ untersagten wirtschaftlichen Ziels gerichtet ist (sei es als<br />

Forderungsabtretung im Rahmen des behaupteten „Factoring“, sei es als Erfüllung der Patientenschuld durch Zahlung<br />

des Angeklagten mit notwendigerweise gleichzeitigem Erlassvertrag i.S.v. § 397 BGB), ebenfalls nichtig wäre.<br />

181


§ 31 BayBOÄ missbilligt den vom Angeklagten <strong>und</strong> dem Laborarzt erstrebten Erfolg, nicht lediglich das hier gewählte<br />

Mittel zu dessen Erreichen. Das Rechtsgeschäft kann nicht in ein solches mit einem anderen, nach den Urteilsfeststellungen<br />

tatsächlich aber nicht gewollten wirtschaftlichen Ziel (etwa dahingehend, der Angeklagte wolle<br />

eine Schuld des Patienten nur teilweise tilgen) umgedeutet werden.<br />

(4.) Ebenso wenig sind sonstige Ansprüche des Laborarztes gegen die Patienten gegeben, die der Angeklagte aus<br />

abgetretenem Recht hätte geltend machen können. Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 683, 677, 670<br />

BGB) bestehen nicht. Der Laborarzt erbrachte die Laborunterleistungen - wenngleich aufgr<strong>und</strong> eines nichtigen, als<br />

solches erkannten aber gleichwohl in seiner Durchführung gewollten Rechtsgeschäfts - ausschließlich an den Angeklagten<br />

<strong>und</strong> handelte nach den Urteilsfeststellungen - unbeschadet einer naheliegender Weise anonymisierten Übersendung<br />

des Untersuchungsmaterials - nicht mit dem Willen, ein auch dem Patienten zugutekommendes Geschäft zu<br />

besorgen (vgl. §§ 687, 684 BGB). Vielmehr sollte allein der Angeklagte als vermeintlicher Leistungserbringer auftreten<br />

können. Auch auf § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative BGB gestützte Ansprüche - eine Nichtleistungskondiktion<br />

findet wegen deren Subsidiarität nicht statt (Schwab in MüKomm-BGB, 5. Aufl., § 812 Rn. 57 mwN) - kann der<br />

Laborarzt allenfalls (vgl. § 817 Satz 2 BGB) im Leistungsverhältnis gegenüber dem Angeklagten geltend machen;<br />

auch ein Anspruch nach § 822 BGB besteht nicht.<br />

(5.) Der Verstoß gegen das Verbot aus § 31 BayBOÄ, das sich - wie auch das von der Revision vorgelegte Gutachten<br />

ausführt - nach Inhalt <strong>und</strong> Zweck gleichermaßen gegen Verpflichtungs- wie Verfügungsgeschäft richtet, würde überdies<br />

zu einem Abtretungsverbot (vgl. Ellenberger in Palandt, BGB, 71. Aufl., § 134 Rn. 13; Wendtland in BeckOK-<br />

BGB, § 134 Rn. 22) <strong>und</strong> zur Unwirksamkeit der von der Revision geltend gemachten Einziehungsermächtigung<br />

führen (vgl. BGH, Urteil vom 27. Februar 1992 - IX ZR 57/91; Bayreuther in MüKomm-BGB, 6. Aufl., § 185 Rn.<br />

36; Grüneberg in Palandt, BGB, 71. Aufl., § 398 Rn. 37).<br />

(6.) Der Angeklagte kann gegen die Patienten auch keine (eigenen) Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag<br />

(§§ 683, 677, 670 BGB) geltend machen. Für die im Rahmen <strong>und</strong> nicht nur gelegentlich des mit dem Patienten geschlossenen<br />

Behandlungsvertrages erbrachten Leistungen bestimmen die Regelungen der GOÄ mögliche Aufwendungsersatzansprüche<br />

wie aufgezeigt abschließend. Überdies resultieren die zur „Beschaffung“ der Laborleistungen<br />

getätigten „Aufwendungen“ allein aus einer vom Gesetz verbotenen Tätigkeit. Der Angeklagte durfte sie also nicht<br />

für erforderlich i.S.v. § 670 BGB halten (gefestigte Rechtsprechung, vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 2010 - IX<br />

ZR 48/10 mwN). Wegen gr<strong>und</strong>sätzlicher Vorrangigkeit der vertraglichen Ansprüche scheiden auch bereicherungsrechtliche<br />

Ansprüche aus (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juni 1992 - XII ZR 253/90 mwN; Sprau in Palandt, BGB, 71.<br />

Aufl., vor § 812 Rn. 6 mwN). Überdies ist es, wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend ausführt <strong>und</strong> was auch für<br />

den - hier nicht gegebenen - Fall des von der Verteidigung geltend gemachten aber unwirksamen „Factoringgeschäfts“<br />

gilt, „nicht Aufgabe des Bereicherungsrechts, Vermögensnachteile auszugleichen, die sich Ärzte durch eine<br />

bewusst den Vorschriften der GOÄ zuwiderlaufende Abrechnungsweise selbst einhandeln.“ Die von § 4 Abs. 2 Satz<br />

2 GOÄ <strong>und</strong> § 31 BayBOÄ dem Angeklagten untersagte Vermögensmehrung kann diesem nicht auf dem Umweg des<br />

Bereicherungsrechts zufließen (vgl. §§ 814, 817 BGB).<br />

bb) Dem Angeklagten steht gegen den Patienten auch kein Zahlungsanspruch hinsichtlich der in seinen Praxisräumen<br />

erbrachten Akupunktur- <strong>und</strong> Osteopathieleistungen zu.<br />

(1.) Nach den Urteilsfeststellungen haben die Patienten allein mit dem Angeklagten einen Behandlungsvertrag geschlossen.<br />

Danach ist ihm die Abrechnung der nicht selbst erbrachten Leistungen verwehrt.<br />

(a.) Die Therapeuten haben ihre Leistungen „aufgr<strong>und</strong> vorheriger Verschreibung entsprechender Leistungen durch<br />

den Angeklagten“ erbracht (UA S. 28), teilweise habe es auch „eine Art ‚Abschlussgespräch‘ mit dem Angeklagten<br />

nach Durchführung der empfohlenen Behandlung durch B. /D. gegeben“ (UA S. 74). Der Angeklagte hat die „eingekauften<br />

Leistungen“ als eigene den Patienten verkaufen wollen (UA S. 50). Schon daraus ergibt sich, dass die Patienten,<br />

die sich „über die arbeitsrechtliche Einordnung der Herren B. <strong>und</strong> D. innerhalb der Praxis des Angeklagten keine<br />

näheren Gedanken gemacht“ haben (UA S. 74), nicht mit dem Willen handelten, mit den Therapeuten einen Vertrag<br />

abzuschließen; in der schlichten (widerspruchslosen) Hinnahme der Vertreterleistung kann ein dahingehender<br />

Rechtsgeschäftswille nicht erblickt werden (vgl. OLG Karlsruhe NJW 1987, 1489; Spickhoff, aaO, § 4 GOÄ Rn. 18<br />

mwN; Kuhla, NJW 2000, 841, 846 mwN). Auch der Angeklagte handelte nach diesen Feststellungen nicht mit dem<br />

Willen, die Patienten bei einem solchen Vertragsschluss zu vertreten. Hinzu kommt, dass nach den Urteilsfeststellungen<br />

die Therapeuten nicht über eine Approbation oder Erlaubnis zur Ausübung der Heilk<strong>und</strong>e verfügten (UA S.<br />

27 f.). Ohne eine solche sowohl für die Erbringung von Akupunkturleistungen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom<br />

15. März 2011 - 8 ME 8/11; VG Trier, Urteil vom 18. August 2010 - 5 K 221/10.TR, 5 K 221/10 ) als auch für osteopathische<br />

Behandlungen (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 8. Dezember 2008 - 7 K 967/07) erforderliche Erlaubnis<br />

nach § 1 HeilPrG, würde im Übrigen auch die Wirksamkeit eines mit den Therapeuten geschlossenen Behandlungs-<br />

182


vertrages durchgreifenden Bedenken begegnen (vgl. OLG Düsseldorf NJW 1988, 2308; OLG München NJW 1984,<br />

1826; Armbrüster in MüKomm-BGB, 6. Aufl. 2012, § 134 Rn. 89 mwN).<br />

(b.) Umfang <strong>und</strong> Höhe des für die Akupunktur- <strong>und</strong> der Osteopathieleistungen Abrechenbaren werden - wiederum<br />

ausschließlich <strong>und</strong> abschließend - durch die Regelungen der GOÄ bestimmt. Diese finden für alle „beruflichen Leistungen<br />

der Ärzte“ i.S.v. § 1 Abs. 1 GOÄ Anwendung, also alle Tätigkeiten, die sich auf die Ausübung der Heilk<strong>und</strong>e<br />

beziehen (Diagnose <strong>und</strong> Therapie) oder die damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Maßnahmen<br />

(Lang/Schäfer/Stiel/Vogt, GOÄ-Kommentar, 2. Aufl., § 1 Rn. 4), wozu auch Sonderleistungen der Alternativmedizin<br />

rechnen (vgl. § 6 Abs. 2 GOÄ <strong>und</strong> Lang/Schäfer/Stiel/Vogt, aaO, § 1 Rn. 16; Hoffmann, GOÄ, 3. Aufl., § 6 GOÄ<br />

Rn. 7). Die Hypothese der Revision, die Geltung der GOÄ sei hier - wenn auch nicht wirksam (§§ 125, 126 BGB) -<br />

abbedungen worden, wird von den Feststellungen nicht getragen. Vielmehr belegt das Fehlen einer sich auf konkret<br />

bestimmte einzelne Leistungen beziehenden (vgl. Lang/Schäfer/Stiel/Vogt, aaO, § 2 Rn. 8), schriftlichen Honorarvereinbarung<br />

(vgl. § 2 Abs. 2 GOÄ) <strong>und</strong> die nachfolgende Abrechnung unter Bezugnahme auf die GOÄ, dass ein<br />

Rechtsgeschäftswille zum Abschluss einer gesonderten Honorarvereinbarung nicht bestand. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1<br />

GOÄ, der als Einschränkung der Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung eng auszulegen ist (AG München,<br />

Urteil vom 9. Juni 1993 - 232 C 4391/93; Hübner in Prütting, Medizinrecht, § 4 GOÄ Rn. 4), kann der Angeklagte<br />

Gebühren (also Vergütungen für die im Gebührenverzeichnis genannten ärztlichen Leistungen) für die nicht selbst<br />

erbrachten Therapieleistungen nur abrechnen, wenn sie unter seiner Aufsicht <strong>und</strong> nach fachlicher Weisung erbracht<br />

worden wären (vgl. auch Uleer/Miebach/Patt, aaO, § 4 Rn. 6, 39 ff.). Nach den Feststellungen haben die Therapeuten<br />

indes ihre Leistungen „in eigener Verantwortung, ohne Aufsicht <strong>und</strong> Kontrolle durch den Angeklagten“ (UA S. 28)<br />

erbracht. Der Angeklagte hat die Therapeuten nicht „persönlich überwacht“, teils war er ortsabwesend <strong>und</strong> auch<br />

wenn er zeitgleich mit den Therapeuten in den Praxisräumen anwesend war, hat er diesen keine Weisungen erteilt.<br />

Hierzu fehlte ihm auch „die fachliche Qualifikation“ (UA S. 51). Damit liegen die Voraussetzungen für eine Abrechenbarkeit<br />

der Therapieleistungen durch den Angeklagten nicht vor. Als nach „fachlicher“ Weisung erbracht können<br />

Leistungen schon nicht angesehen werden, die der Arzt selbst mangels entsprechender Ausbildung nicht fachgerecht<br />

durchführen kann (vgl. Brück u.a., aaO, Einl. u § 4; Lang/Schäfer/Stiel/Vogt, aaO, § 4 Rn. 6; Uleer/ Miebach/Patt,<br />

aaO, § 4 Rn. 40; Cramer/Henkel, MedR 2004, 593, 596). Der Hinweis der Revision auf § 5 Abs. 2 GOÄ<br />

verfängt nicht. Der Angeklagte hätte die Therapieleistungen - abgesehen davon, dass er nach den Urteilsfeststellungen<br />

auch nicht delegationsfähige, vom Arzt selbst zu erbringende Kernleistungen (Untersuchung, Beratung, Entscheidung<br />

über therapeutische Maßnahmen) den Therapeuten übertragen hat - auch nicht an die dadurch gegen § 5<br />

HeilPrG verstoßenden Therapeuten delegieren dürfen.<br />

(2.) Im Hinblick auf den wirksamen Behandlungsvertrag mit den Patienten kann der Angeklagte - in gleicher Weise<br />

wie im Zusammenhang mit den „eingekauften“ Speziallaborleistungen - auch keine anderen als vertragliche Ansprüche<br />

(aus Geschäftsführung ohne Auftrag oder Bereicherungsrecht) geltend machen. Einem Aufwendungsersatz hinsichtlich<br />

der an die Therapeuten gezahlten Beträge steht die auch solche Ansprüche hier abschließend regelnde GOÄ<br />

entgegen. Für eine Anwendung des § 670 BGB besteht für die hier im Rahmen des Behandlungsvertrages erbrachten<br />

Osteopathie- <strong>und</strong> Akupunkturleistungen kein Raum. Die Zahlungen des Angeklagten an die mangels Approbation<br />

oder Erlaubnis nach HeilPrG nicht zu Therapieleistungen befugten Therapeuten waren überdies wiederum nicht<br />

erforderlich i.S.v. § 670 BGB.<br />

(3.) Der Angeklagte konnte auch keine von den Therapeuten abgetretenen Ansprüche, die diesen gegenüber den<br />

Patienten zustünden, geltend machen. Vertragliche Ansprüche der Therapeuten bestehen - wie aufgezeigt - nicht.<br />

Sonstige Ansprüche könnten sie - unbeschadet der Frage der Wirksamkeit der zugr<strong>und</strong>e liegenden Vereinbarung -<br />

allenfalls im Verhältnis zum Angeklagten geltend machen.<br />

cc) Ein Zahlungsanspruch des Angeklagten - sei es aus eigenem oder abgetretenem Recht - besteht auch nicht hinsichtlich<br />

der als Leistungen der Klasse M II abgerechneten Laborleistungen der Klasse M III, die weder vom Angeklagten<br />

selbst noch unter seiner Aufsicht (§ 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 GOÄ) noch von einem einzig zur Leistungserbringung<br />

<strong>und</strong> -abrechnung ermächtigten Speziallabor erbracht wurden (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Anlage M zur<br />

GOÄ). Aufgr<strong>und</strong> der Gesetzwidrigkeit der Vereinbarung zwischen Laborarzt <strong>und</strong> der die Leistung tatsächlich erbringenden<br />

Laborgemeinschaft (vgl. auch LG Duisburg, Urteil vom 18. Juni 1996 - 1 O 139/96), konnte der Angeklagte<br />

in diesem Zusammenhang erbrachte Aufwendungen wiederum auch nicht für erforderlich i.S.d. § 670 BGB<br />

erachten.<br />

c) Das Vorliegen eines durch die dargestellte Täuschung bei den Patienten hervorgerufenen Irrtums i.S.d. § 263<br />

<strong>StGB</strong> - was Tatfrage ist (vgl. BGH, Urteil vom 22. August 2006 - 1 StR 547/05 mwN) - hat die Strafkammer (wie in<br />

Fällen kollusiven Zusammenwirkens mit den Patienten, siehe oben unter 1.) ohne Rechtsfehler bejaht. Nach den<br />

durch Zeugenaussagen gestützten, rechtsfehlerfreien Feststellungen unterlagen die Patienten, wie der Generalbun-<br />

183


desanwalt zutreffend ausführt, einer mit der Täuschung korrelierenden, der Wirklichkeit nicht entsprechenden Fehlvorstellung.<br />

Ein Irrtum i.S.d. § 263 Abs. 1 <strong>StGB</strong> setzt gr<strong>und</strong>sätzlich nicht voraus (zu Einschränkungen vgl. Dannecker<br />

in Graf/Jäger/Wittig, aaO, § 263 <strong>StGB</strong> Rn. 61), dass sich der Adressat einer auf einer Gebührenordnung basierenden<br />

(Ab)Rechnung eine konkrete Vorstellung über die Berechnung <strong>und</strong> die in Ansatz gebrachten Bemessungsgr<strong>und</strong>lagen<br />

macht. Entscheidend - aber auch ausreichend - ist das gedankliche Mitbewusstsein über die Ordnungsgemäßheit<br />

der Rechnungsstellung <strong>und</strong> sei es nur - wie es die Strafkammer hier feststellt - als „allgemein gehaltene<br />

Vorstellung, die Abrechnung sei in Ordnung“ (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2009 - 5 StR 394/08 mwN; Tiedemann<br />

in LK-<strong>StGB</strong>, 11. Aufl., § 263 Rn. 79, 91 mwN; Cramer/Perron in Schönke/Schröder, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 263<br />

Rn. 37 ff.; Beukelmann in BeckOK-<strong>StGB</strong>, § 263 Rn. 25). Nach den Urteilsfeststellungen mussten die Patienten -<br />

soweit die Strafkammer nicht ohnehin ausdrücklich feststellt, dass „die Patienten irrten“ (UA S. 24) - in allen Fällen<br />

mangels hinreichender eigener Fachkenntnisse („Die gebührenrechtlichen Einzelheiten waren ihnen gänzlich unbekannt“,<br />

UA S. 103) auf die sachliche Richtigkeit der Rechnungen vertrauen <strong>und</strong> haben dies auch. Sie haben „darauf<br />

vertraut, dass die Rechnungen von dem Angeklagten korrekt erstellt werden“ (UA S. 103) <strong>und</strong> „an die Rechtmäßigkeit<br />

der Abrechnung geglaubt“ (UA S.109). Demzufolge trifft die Auffassung hier jedenfalls aus tatsächlichen Gründen<br />

nicht zu, in Fällen nicht oder nicht selbst erbrachter Leistungen fehle es „in aller Regel“ wegen der Erkennbarkeit<br />

des tatsächlichen Leistungsumfangs <strong>und</strong> des tatsächlichen Leistungserbringers sowie der gemäß § 12 GOÄ spezifizierten<br />

Rechnung an einem Irrtum (Dahm, MedR 2003, 268, 269; Dannecker in Graf/Jäger/Wittig, aaO, § 263<br />

<strong>StGB</strong> Rn. 185; Schuhr in Spickhoff, aaO, § 263 Rn. 25; Tsambikakis in Prütting, Medizinrecht, § 263 <strong>StGB</strong> Rn. 32).<br />

Ein Patient kann nicht wissen, ob in seiner Abwesenheit vom Angeklagten - wie behauptet - Laboruntersuchungen<br />

selbst durchgeführt oder eine eigene Bef<strong>und</strong>ung vorgenommen werden. Patienten, denen - wie hier - die „gebührenrechtlichen<br />

Einzelheiten gänzlich unbekannt“ sind, kennen weder die Differenzierung nach unterschiedlichen Laborleistungen,<br />

noch die Voraussetzungen, unter denen in der Praxis eines Arztes von Dritten erbrachte Leistungen (etwa<br />

bei der Blutentnahme) oder Osteopathieleistungen im Wege einer Analogbewertung gemäß § 6 Abs. 2 GOÄ vom<br />

Arzt abgerechnet werden können. Auch weiß ein solcher Patient nicht, ob der Angeklagte Labor- oder sonstige ärztliche<br />

oder heilk<strong>und</strong>liche Leistungen im gebührenrechtlichen Sinn selbst erbracht hat. Soweit die Patienten von anderen<br />

als dem Angeklagten, aber in dessen Praxis <strong>und</strong> nach einer Eingangsuntersuchung durch diesen behandelt wurden,<br />

haben sie „die Fehlerhaftigkeit der Abrechnungen“ nicht erkannt (UA S. 30), sie gingen vielmehr davon aus,<br />

dass die Rechnungen „inhaltlich richtig <strong>und</strong> den Abrechnungsvorschriften entsprechend erstellt worden waren“ (UA<br />

S. 74). Die Strafkammer hat nicht festgestellt, dass die Patienten Zweifel an der Richtigkeit der von der M. GmbH<br />

erstellten Rechnungen gehabt haben, die ohnedies einen Irrtum gr<strong>und</strong>sätzlich nicht entfallen ließen (vgl. BGH, Urteil<br />

vom 5. Dezember 2002 - 3 StR 161/02; BGH, Urteil vom 8. Mai 1990 - 1 StR 144/90; Satzger in SSW-<strong>StGB</strong>, § 263<br />

Rn. 78 jew. mwN). Eine etwaige Leichtgläubigkeit der Patienten stünde der Annahme eines Irrtums ebenso wenig<br />

entgegen, wie die Erkennbarkeit der Täuschung bei hinreichend sorgfältiger Prüfung (BGH, Beschluss vom 15. Oktober<br />

1991 - 4 StR 420/91 mwN). Weiter ist unerheblich, dass oder ob der Patient die Abrechnung bereits einer Versicherung<br />

oder Beihilfestelle vorgelegt hat (Schubert, ZRP 2001, 154, 155).<br />

II. Auch die Annahme eines Schadens i.S.v. § 263 <strong>StGB</strong> wird von den Feststellungen belegt.<br />

1. Nach ständiger Rechtsprechung ist unter Vermögensschaden i.S.d. § 263 <strong>StGB</strong> - gleichermaßen wie unter Nachteil<br />

i.S.d. § 266 <strong>StGB</strong> - jede durch die Tat verursachte Vermögensminderung zu verstehen, wobei diese nach dem Prinzip<br />

der Gesamtsaldierung auf Gr<strong>und</strong> eines Vergleichs des Vermögensstandes vor <strong>und</strong> nach der Tat bei wirtschaftlicher<br />

Betrachtungsweise festzustellen ist (vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 5. Juli 2011 - 3 StR 444/10; BGH, Beschluss<br />

vom 13. September 2010 - 1 StR 220/09; BGH, Urteil vom 4. März 1999 - 5 StR 355/98; BGH, Beschluss vom 30.<br />

Juli 1996 - 5 StR 168/96; Fischer, aaO, § 263 Rn. 110 ff. mwN). Normative Gesichtspunkte können bei der Bewertung<br />

von Schäden eine Rolle spielen; sie dürfen die wirtschaftliche Betrachtung allerdings nicht überlagern oder<br />

verdrängen (BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 1857/10 Rn. 176). Ein Schaden liegt nicht vor,<br />

wenn zugleich ein den Verlust aufwiegender Vermögenszuwachs begründet wird. Ein solcher Vermögenszuwachs<br />

tritt beispielsweise ein, soweit das Vermögen von einer Verbindlichkeit in Höhe des Verlustes befreit wird (BGH,<br />

Beschluss vom 5. Juli 2011 - 3 StR 444/10 mwN). Eine solche Kompensation scheidet hingegen regelmäßig dann<br />

aus, wenn sich die Vermögensmehrung nicht aus der Verfügung selbst ergibt, sondern durch eine andere, rechtlich<br />

selbständige Handlung hervorgebracht wird (vgl. BGH, Beschluss vom 13. September 2010 - 1 StR 220/09; BGH,<br />

Urteil vom 4. März 1999 - 5 StR 355/98). Maßgeblich für den Vermögensvergleich ist der Zeitpunkt der täuschungsbedingten<br />

Vermögensverfügung, also der Vergleich des Vermögenswerts unmittelbar vor <strong>und</strong> nach der hier in der<br />

Zahlung an den Angeklagten liegenden Vermögensverfügung; spätere Entwicklungen, wie Schadensvertiefung oder<br />

Schadensausgleich, berühren den tatbestandlichen Schaden nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2011 – 2 StR<br />

184


616/10; BGH, Beschluss vom 18. Februar 2009 - 1 StR 731/08; BGH, Urteil vom 4. März 1999 - 5 StR 355/98 jew.<br />

mwN).<br />

2. Gemessen hieran hält die Annahme eines Schadens i.S.v. § 263 Abs. 1 <strong>StGB</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage der getroffenen<br />

Feststellungen revisionsrechtlicher Prüfung stand.<br />

a) In Fällen kollusiven Zusammenwirkens mit den Patienten zahlten die Versicherungen / die Beihilfestelle, ohne zur<br />

Zahlung verpflichtet zu sein, ohne also durch die Zahlung eine gleichwertige Forderung des beihilfeberechtigten<br />

Versicherungsnehmers zum Erlöschen zu bringen. Das Entstehen eines Rückforderungs- oder Schadenersatzanspruchs<br />

gegenüber dem Arzt kann - wie auch sonst bei durch die Tat entstehenden Schadens- <strong>und</strong> Gewährleistungsansprüchen<br />

(vgl. Satzger in aaO, § 263 Rn. 152; Fischer, aaO, § 263 Rn. 155) - nicht zu einer schadensausschließenden<br />

Kompensation führen.<br />

b) In gleicher Weise stand in allen anderen Fällen den Zahlungen der Patienten kein äquivalenter Vermögensausgleich<br />

gegenüber. Dies gilt auch in den insoweit einzig näher zu erörternden (vgl. Schuhr, aaO, § 263 <strong>StGB</strong> Rn. 43)<br />

Fällen, in denen der Angeklagte nicht selbst erbrachte Leistungen abrechnete. Durch die irrtumsbedingte Zahlung der<br />

Patienten (nach den Feststellungen zahlten die Patienten in allen Fällen jeweils unmittelbar selbst nach Erhalt der<br />

Rechnung an die zum Einzug berechtigte M. GmbH vollständig „die jeweils in den Rechnungen ersichtlichen Beträge“;<br />

UA S. 15, auch S. 24, 25, 26) wird deren Vermögen gemindert, ohne dass dem ein äquivalenter Vermögenszufluss<br />

gegenübersteht. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Zahlung war das Vermögen der Patienten - unbeschadet der<br />

Frage der Fälligkeit, vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juli 2011 - 3 StR 444/10 - nicht mit einem Zahlungsanspruch belastet;<br />

ohne diesen hat die erbrachte ärztliche Leistung hier keinen eigenen, zur Bestimmung des tatbestandlichen<br />

Schadens i.S.v. § 263 Abs. 1 <strong>StGB</strong> maßgeblichen wirtschaftlichen Wert.<br />

aa) Die Bewertung des Vermögens bzw. Schadens erfolgt nach objektiven wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Auf die<br />

subjektive Einschätzung des Patienten, ob er sich wegen der von einem anderen als dem Angeklagten erbrachten<br />

Leistung nicht geschädigt fühlt, kommt es nicht an. Maßgebend für den Vergleich von Leistung <strong>und</strong> Gegenleistung<br />

ist regelmäßig der Verkehrswert (vgl. Cramer/ Perron in Schönke/Schröder, aaO, § 263 Rn. 109 ff. mwN) oder ein an<br />

Angebot <strong>und</strong> Nachfrage orientierter Marktpreis, der auch nach dem von den Vertragsparteien vereinbarten Preis<br />

unter Berücksichtigung der für die Parteien des fraglichen Geschäfts maßgeblichen preisbildenden Faktoren bestimmt<br />

werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2010 - 1 StR 245/09). Für privatärztliche Leistungen, für die<br />

es weder einen Verkehrswert noch einen (objektiven) Markt oder einen von den Vertragsparteien frei zu vereinbarenden<br />

Preis gibt, bestimmen die materiell-rechtlichen Normen zur Abrechenbarkeit der Leistung, namentlich der<br />

GOÄ, zugleich deren wirtschaftlichen Wert. Ist etwa eine Behandlungsleistung zwar erbracht, gilt sie aber als mit<br />

einer anderen Leistung abgegolten (vgl. z.B. § 4 Abs. 2a GOÄ), kommt ihr kein eigener wirtschaftlicher Wert zu,<br />

mag auch der Patient, hätte er die Leistung alleine bezogen, daraus resultierende Aufwendungen gehabt haben. In<br />

dem Umfang, in dem die Rechtsordnung einer privatärztlichen Leistung die Abrechenbarkeit versagt, weil etwa die<br />

für die Abrechenbarkeit vorgesehenen Qualifikations- <strong>und</strong> Leistungsmerkmale nicht eingehalten sind, kann ihr kein<br />

für den tatbestandlichen Schaden i.S.v. § 263 <strong>StGB</strong> maßgeblicher wirtschaftlicher Wert zugesprochen werden (vgl.<br />

Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316; für wahlärztliche Leistungen: Hellmann/Herffs, aaO, Rn. 391 ff.; Freitag,<br />

aaO, S. 175 f.). Führt die erbrachte ärztliche Leistung mangels Abrechenbarkeit nicht zum Entstehen eines Zahlungsanspruchs,<br />

findet eine saldierende Kompensation nicht statt. Zahlt der in Anspruch Genommene irrtumsbedingt ein<br />

nicht geschuldetes Honorar, ist er in Höhe des zu Unrecht Gezahlten geschädigt. Wer eine Leistung unter den jeweils<br />

gegebenen Umständen unentgeltlich erlangen oder bereits dafür Geleistetes zurückfordern kann, ohne hierfür Wertersatz<br />

leisten zu müssen, ist in Höhe desjenigen Betrages geschädigt, den er täuschungsbedingt gleichwohl hierfür<br />

aufgewandt hat. Dies entspricht gefestigter Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zum vertragsärztlichen Abrechnungsbetrug<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 - 3 StR 161/02; BGH, Beschluss vom 28. September 1994 - 4<br />

StR 280/94; BGH, Urteil vom 10. März 1993 - 3 StR 461/92; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 8. September 1997 -<br />

2 BvR 2414/97), deren zugr<strong>und</strong>e liegende Wertung - unbeschadet sozialrechtlicher Besonderheiten - auf den Bereich<br />

privatärztlicher Leistungserbringung <strong>und</strong> Abrechnung übertragbar ist (vgl. auch Peickert, MedR 2000, 352, 354; a.A.<br />

Gercke/Leimenstoll, MedR 2010, 695). Für privatärztliche Leistungen bestimmt die GOÄ den Inhalt der abrechnungsfähigen<br />

ärztlichen Leistungen <strong>und</strong> deren taxmäßige (standardisierte) Honorierbarkeit abschließend. Die Anspruchsvoraussetzungen<br />

sind jeweils - dort nach Sozialrecht, hier nach den materiell-rechtlichen Vorschriften der<br />

GOÄ - fest umschrieben, eine tatbestandliche Schadenskompensation allein mit erbrachter ärztlicher Leistung ist<br />

dadurch ausgeschlossen (zutreffend Tiedemann in LK-<strong>StGB</strong>, 11. Aufl., § 263 Rn. 267). Der Leistende wird nicht von<br />

einer Verpflichtung gegenüber dem Arzt befreit, eine wirtschaftliche Vermögenssaldierung ergibt daher ein Minus<br />

(Hellmann, NStZ 1995, 232; Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316). Dass der Arzt durch Leistungserbringung<br />

von einer Leistungspflicht befreit wird, eine erneute Behandlung „wirtschaftlich unsinnig“ wäre (Gaizik, wistra<br />

185


1998, 329, 332, ebenso Idler, JUS 2004, 1037, 1040; Stein, MedR 2001, 124, 127), ist für die Schadensbestimmung<br />

unbeachtlich. Auch eine von einem Laien durchgeführte <strong>und</strong> zufällig erfolgreiche Behandlung würde erneute Leistungserbringung<br />

„unsinnig“ machen (vgl. Grunst, NStZ 2004, 533, 535), ohne dass ihr ein wirtschaftlicher Wert<br />

zugesprochen werden könnte. Im Bereich privatärztlicher Liquidation, bei der der behauptete Honoraranspruch nicht<br />

schon aus dem Behandlungsvertrag, sondern erst aufgr<strong>und</strong> der erbrachten Leistungen entsteht, kann eine Zahlung für<br />

die Leistungserbringung nicht kausal werden; die Zahlung ist ohne eigenen Vermögenswert, wenn nicht die Rechtsordnung<br />

durch Ansprüche eine Korrespondenzbeziehung herstellt (Schuhr, aaO, § 263 <strong>StGB</strong>, Rn. 44). Lediglich<br />

formalrechtliche „Leistungsgewährungsvoraussetzungen“, wie sie als Einschränkungen der zum Vertragsarztrecht<br />

entwickelten „streng formalen Betrachtungsweise“ diskutiert werden (vgl. Volk, NJW 2000, 3385, 3386) oder wie<br />

sie im Bereich des Subventionsbetruges zum Tragen kommen können (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Januar 2006 - 5<br />

StR 334/05; Fischer, aaO, § 263 Rn. 142 mwN), sind der Abrechnung privatärztlicher Leistungen auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

der an die Person des Leistungserbringers (z.B. § 4 Abs. 2 Satz 2 GOÄ) oder an die Art <strong>und</strong> Weise der Leistungserbringung<br />

(z.B. § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ) anknüpfenden GOÄ fremd; auch wenn der zahlende Patient die Art der Leistungserbringung<br />

oder die Art der Abrechnung genehmigen wollte, bestünde dem Gr<strong>und</strong>e nach ein materieller Anspruch<br />

nicht. Auch sonst bestimmt sich der wirtschaftliche Wert einer Arbeitsleistung nach deren Abrechenbarkeit;<br />

die Möglichkeit, die eigene Arbeitskraft zur Erbringung von Dienstleistungen einzusetzen, hat Vermögenswert nur,<br />

soweit sie üblicher Weise gegen Entgelt erbracht wird (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 2001 - 4 StR 315/00 mwN<br />

zu durch Betrug erlangter Arbeitsleistung). Indes wird gesetzeswidrigen Handlungen (vgl. BGH, Beschluss vom 27.<br />

November 2008 - 2 StR 421/08; BGH, Beschluss vom 2. Mai 2001 - 2 StR 128/01) oder Leistungen, die verboten<br />

sind oder unsittlichen Zwecken dienen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. April 1987 - 5 StR 566/86; BGH, Beschluss<br />

vom 20. Dezember 1988 - 1 StR 654/88), mögen sie auch „üblicherweise“ nur gegen Entgelt (z.B. „Killerlohn“)<br />

erbracht werden, kein Vermögenswert zuerkannt, da sich das Strafrecht ansonsten in Widerspruch zur übrigen<br />

Rechtsordnung setzen würde, wenn es im Rahmen des Betrugstatbestandes nichtigen - weil gesetzeswidrigen - Ansprüchen<br />

Schutz gewährte (vgl. auch Eckstein JZ 2012, 101, 104). Es entspricht einem allgemeinen Rechtsgedanken,<br />

wirtschaftliche Vorteile aus rechtsmissbräuchlichen Gestaltungen zu versagen (vgl. z.B. §§ 814, 817 S. 2 BGB, §§<br />

41, 42 AO); in Verbotenes Investiertes soll unwiederbringlich verloren sein (vgl. BT-Drucks. 11/1134, S.12 zum<br />

Verfall). Ebenso wird einer Arbeitsleistung ein wirtschaftlicher Wert abgesprochen, wenn Gesetz oder Verwaltungsvorschriften<br />

einer zu deren Entlohnung führenden Anstellung entgegenstanden, selbst wenn fachlich nicht zu beanstandende<br />

Leistungen erbracht wurden (BGH, Beschluss vom 18. Februar 1999 - 5 StR 193/98 mwN). Im Übrigen<br />

ist auch zur Frage der Rechtswidrigkeit des erlangten Vermögensvorteils allein das materiell-rechtliche Bestehen<br />

eines Anspruchs maßgeblich (vgl. BGH, Beschluss vom 20. November 1981 - 2 StR 586/81; BayObLG, Beschluss<br />

vom 29. Juni 1994 - 2St RR 118/94). Es kann nicht eingewandt werden, der Patient habe sich durch den Erhalt der<br />

Leistungen ansonsten erforderliche Aufwendungen erspart, er hätte die Leistungen auch vom Laborarzt (direkt) beziehen<br />

können <strong>und</strong> müssen. Die gegenteilige Ansicht (vgl. Gaizik, wistra 1998, 329, 331 ff. mwN, der allerdings<br />

zutreffend darauf hinweist, dass diese ersparten Aufwendungen kein unmittelbar aus der Zahlung fließendes Äquivalent<br />

darstellen) bezieht in unzulässiger Weise einen zwar anspruchsbegründenden, tatsächlich aber nicht gegebenen<br />

(<strong>und</strong> überdies nicht vorhersehbaren, vgl. Freitag, aaO, S. 139) Sachverhalt <strong>und</strong> somit hypothetische Reserveursachen<br />

ein, <strong>und</strong> überspielt damit im Wege einer Gesamtbetrachtung das Fehlen eines Anspruchs auf die durch Täuschung<br />

erlangte Leistung (zutreffend Tiedemann in LK-<strong>StGB</strong>, 11. Aufl., § 263 Rn. 267; ebenso Schuhr, aaO, § 263 <strong>StGB</strong>,<br />

Rn. 44; Fischer, aaO, § 263 Rn. 155; Grunst, NStZ 2004, 533, 537 jew. mwN).<br />

bb) Dies zugr<strong>und</strong>e gelegt hat die Strafkammer im Ergebnis rechtsfehlerfrei die „lege artis“ (Laborleistungen) bzw.<br />

„fehlerfrei“ (Akupunktur- <strong>und</strong> Osteopathieleistungen) erbrachten Leistungen nicht zur Verneinung des tatbestandlichen<br />

Schadens i.S.v. § 263 <strong>StGB</strong> herangezogen. Die erbrachten Leistungen haben das Vermögen des Patienten zum<br />

Zeitpunkt der Zahlung nicht mit einem Zahlungsanspruch in Höhe des Rechnungsbetrages belastet. Wie bereits aufgezeigt,<br />

steht im Fall abgerechneter Speziallaborleistungen dem Angeklagten kein Zahlungsanspruch gegen den<br />

Patienten zu. Ebenso wenig ist das Vermögen des Patienten - wie auch die Revision in anderem Zusammenhang<br />

ausführt - mit einem Zahlungsanspruch des Laborarztes belastet. Der Laborarzt, wiewohl er seine Leistung üblicherweise<br />

nur gegen Entgelt erbringt, leistet hier nicht an den Patienten, sondern erbringt seine Leistung - die Bef<strong>und</strong>ung,<br />

die sich in einem dem Angeklagten direkt übermittelten Datenwerk niederschlägt - ausschließlich im Verhältnis zum<br />

Angeklagten. Von diesem erhält er auch (bei „Verzicht auf die Abrechnung gegenüber dem Patienten“) das hierfür<br />

geforderte, der Höhe nach umsatzabhängige Entgelt. Erst aus dem Tätigwerden des Angeklagten, nämlich dessen<br />

„Weiterverkauf“ dieser Laborleistungen, erlangt der Patient etwas. Nach den abschließenden Regelungen der GOÄ<br />

erwachsen hieraus aber keine Zahlungsansprüche gegen den Patienten; der Angeklagte wird so gestellt, als habe er<br />

eine mit anderen Gebührenziffern bereits abgegoltene Leistung erbracht. Durch die materiell-rechtlichen Vorschrif-<br />

186


ten der §§ 4 Abs. 2 <strong>und</strong> 10 GOÄ wird - der gesetzgeberischen Intention entsprechend - unterb<strong>und</strong>en, dass der Angeklagte<br />

aus dem Bezug erbrachter <strong>und</strong> sodann „weiterverkaufter“ Speziallaborleistungen einen wirtschaftlichen Wert<br />

schöpfen kann. In gleicher Weise stehen die den taxmäßigen Wert der Akupunktur- <strong>und</strong> Osteopathieleistungen bestimmenden<br />

Regelungen der GOÄ deren Abrechnung durch den Angeklagten oder die Therapeuten entgegen. Die<br />

Leistungserbringung kann nicht zu einem das Vermögen des Patienten belastenden Zahlungsanspruch führen. Der<br />

auch mangels Approbation oder Erlaubnis nach HeilPrG nicht abrechenbaren Leistung kann ein zur Bestimmung des<br />

tatbestandsmäßigen Schadens i.S.v. § 263 <strong>StGB</strong> maßgeblicher wirtschaftlicher Wert nicht beigemessen werden. Dies<br />

gilt auch für Leistungen der nicht zur Erbringung von Laborleistungen der Klasse M III qualifizierten Laborgemeinschaft.<br />

III. Die Feststellungen belegen, dass der Angeklagte auch vorsätzlich gehandelt hat. Nach ständiger Rechtsprechung<br />

genügt es für den Betrugsvorsatz, dass der Täter die schadensbegründenden Umstände kannte (BGH, Urteil vom 3.<br />

November 1987 - 1 StR 292/87 mwN). Entscheidend ist, ob er in der Annahme gehandelt hat, eine Zahlung in der<br />

geltend gemachten Höhe beanspruchen zu können (vgl. BGH, Urteil vom 15. Oktober 1991 - 4 StR 420/91 mwN).<br />

Nach den Urteilsfeststellungen war dem Angeklagten in allen Fällen - auch in den Fällen abgerechneter Speziallaborleistungen<br />

- bewusst, dass er zur Liquidation nicht berechtigt war <strong>und</strong> sich durch Vortäuschen eines in Wahrheit<br />

nicht bestehenden Zahlungsanspruchs zu Unrecht bereicherte. Er handelte gleichwohl. Der Einlassung des Angeklagten,<br />

er habe sein „Abrechnungsverhalten überwiegend als legal angesehen“ (UA S. 51), hat die Strafkammer auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung keinen Glauben geschenkt. Die Strafkammer konnte sich dabei<br />

auch auf eine frühere Einlassung des Angeklagten stützen, in der er einräumte, dass er die Abrechnungspraxis in<br />

Kenntnis ihrer Unrechtmäßigkeit beibehielt, „weil er das Geld benötigte“ (UA S. 69). „Er sei sich des wirtschaftlichen<br />

Vorteils durchaus bewusst gewesen <strong>und</strong> habe trotz zuletzt positiver Kenntnis von der Illegalität dieser Abrechnungen<br />

bis zuletzt daran festgehalten, da ihm ansonsten der Praxisumsatz zu abrupt eingebrochen wäre“ (UA S. 53).<br />

Dies korreliert mit den Angaben einer Außendienstmitarbeiterin eines involvierten Labors, wonach die „veränderten<br />

gesetzlichen Vorgaben in der GOÄ“ nicht nur in internen Schulungen erörtert, sondern auch „mit den Ärzten die<br />

Möglichkeiten der Gebührenordnung“ besprochen worden waren, <strong>und</strong> der Angeklagte „sehr daran interessiert gewesen“<br />

sei, „die wirtschaftlichen Vorteile der Direktabrechnung von Laborleistungen nicht zu verlieren“ (UA S. 66);<br />

seitens des Angeklagten habe „eine gewisse Erwartungshaltung bestanden“ (UA S. 68). Die Einlassung des Angeklagten,<br />

er habe in der Annahme gehandelt, den Patienten entstehe wegen der erbrachten Leistungen kein Schaden,<br />

steht der Annahme eines Vorsatzes nicht entgegen. Derjenige, der weiß, dass er sich auf Kosten eines anderen durch<br />

Vortäuschen eines in Wahrheit nicht gegebenen Zahlungsanspruchs bereichert, weiß oder nimmt zumindest billigend<br />

in Kauf, dass er trotz erbrachter Leistungen keinerlei Zahlungsanspruch hat, der Zahlende also rechtsgr<strong>und</strong>los leistet<br />

<strong>und</strong> dadurch in Höhe des Gezahlten geschädigt ist.<br />

IV. Rechtsfehlerfrei geht die Strafkammer bei Rechnungen gleichen Datums von Tateinheit aus, auch soweit dabei<br />

mittäterschaftliche Begehung - zum Nachteil der Versicherungen - <strong>und</strong> mittelbare Täterschaft - zum Nachteil der<br />

Patienten - zusammentreffen. Da der Angeklagte die zur Abrechnung erforderlichen Daten an den entsprechenden<br />

Tagen „einheitlich an die M. GmbH übermittelt“ hat (UA S.15), liegt eine zu Tateinheit führende <strong>Teil</strong>identität der<br />

Ausführungshandlung vor (vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 28. Juni 2011 - 3 StR 485/10; BGH, Beschluss vom 24.<br />

November 2010 - 2 StR 519/10; BGH, Beschluss vom 2. November 2010 - 1 StR 544/09; BGH, Urteil vom 16. Juli<br />

2009 - 3 StR 148/09; v. Heintschel-Heinegg in MüKomm-<strong>StGB</strong>, § 52 Rn. 86 ff. mwN).<br />

V. Eines Eingehens auf die von der Strafkammer zur Begründung des Schadens zusätzlich herangezogenen weiteren<br />

Gesichtspunkte bedarf es nicht. Hierauf hatte der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seinem Antrag, auf den die Revision mit<br />

einem Rechtsgutachten umfassend erwidert hat, bereits zutreffend hingewiesen. Es kann hier auch dahinstehen, ob<br />

vom Revisionsgericht analog § 265 StPO ein Hinweis auf die rechtlich etwas von der Auffassung des Landgerichts<br />

abweichende Begründung des Schadens zu erteilen wäre. Denn der Senat schließt im vorliegenden konkreten Einzelfall,<br />

in dem die maßgeblichen Rechtsfragen auch von der Verteidigung erörtert worden sind, aus, dass sich der Angeklagte<br />

anders, insbesondere erfolgreicher gegen den ihm gemachten Vorwurf hätte verteidigen können.<br />

E. Die Nachprüfung des Urteils hat auch hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruches keinen den Angeklagten beschwerenden<br />

Rechtsfehler ergeben.<br />

I. Der Strafausspruch hält revisionsrechtlicher Prüfung stand.<br />

1. Die Strafkammer legt der Strafzumessung einen jeweils zutreffenden Strafrahmen zugr<strong>und</strong>e.<br />

a) Das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 21, 20 <strong>StGB</strong> „bei Begehung der Tat“ hat die insoweit sachk<strong>und</strong>ig<br />

beratene Strafkammer rechtsfehlerfrei verneint (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juni 2011 - 1 StR 122/11).<br />

b) Die Strafkammer musste auch - worauf der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend hinweist - ungeachtet der Annahme<br />

eines „überschießenden Geständnisses“ (UA S. 115) in den Fällen kollusiven Zusammenwirkens mit den Patienten<br />

187


den - hier bereits anwendbaren - § 46b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> nicht ausdrücklich erörtern. Denn durch die Benennung<br />

der an den Taten beteiligten Patienten deckt der Angeklagte keine Katalogtat i.S.d. § 46b Abs. 1 <strong>StGB</strong> i.V.m. §<br />

100a Abs. 2 StPO auf. Die vom Angeklagten benannten Patienten handelten weder selbst gewerbsmäßig, noch kann<br />

ihnen die Gewerbsmäßigkeit im Handeln des Angeklagten, ein strafschärfendes persönliches Merkmal i.S.d. § 28<br />

Abs. 2 <strong>StGB</strong>, zugerechnet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juli 2008 - 3 StR 193/08 (zu § 260 <strong>StGB</strong>); BGH,<br />

Beschluss vom 11. Januar 2005 - 1 StR 547/04 (zu § 152a Abs. 2 <strong>StGB</strong>); BGH, Beschluss vom 21. September 1995 -<br />

1 StR 316/95 (zu § 243 Abs. 2 <strong>StGB</strong>); Kudlich in BeckOK-<strong>StGB</strong>, § 28 Rn. 24). Sie können also „nur“ wegen Betruges<br />

(§ 263 Abs. 1 <strong>StGB</strong>) bestraft werden. Für eine Anwendbarkeit des § 46b Abs. 1 <strong>StGB</strong> reicht indes nicht aus, dass<br />

lediglich eine Nichtkatalogtat aufgedeckt wird, mag diese auch - wie hier - mit einer Katalogtat im Zusammenhang<br />

stehen. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 46b Abs. 1 Satz 3 <strong>StGB</strong>. Der Täter einer Katalogtat soll nicht durch die<br />

Offenbarung einer Bagatelltat (nachgeordnete Beihilfehandlung zu einer vom Täter mitverwirklichten geringeren<br />

Tat) in den Genuss einer Strafrahmenverschiebung kommen können. Andernfalls würde sich überdies ein Wertungswiderspruch<br />

zu Fällen ergeben, in denen die offenbarte Tat als eigenständiges Delikt verfolgbar wäre, <strong>und</strong> in<br />

denen demzufolge eine Strafmilderung nur bei Aufdeckung einer als Katalogtat verfolgbaren Tat in Betracht kommt.<br />

c) Gr<strong>und</strong>sätzlich rechtsfehlerfrei hat die Strafkammer auf der Gr<strong>und</strong>lage der getroffenen Feststellungen, wonach der<br />

Angeklagte r<strong>und</strong> 30 % seines gesamten Praxisumsatzes mit den ihm zur Last liegenden (<strong>und</strong> nicht gemäß §§ 154,<br />

154a StPO ausgeschiedenen) manipulierten Abrechnungen erwirtschaftete, sowohl das Regelbeispiel des § 263 Abs.<br />

3 Satz 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> (Gewerbsmäßigkeit) als auch des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> (große Anzahl) bejaht (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 7. September 2011 - 1 StR 343/11). Ohne Erfolg rügt die Revision in diesem Zusammenhang,<br />

die Strafkammer habe in den Fällen mit festgestellten Schadenssummen unter 50 € (Fälle 16, 42, 66, 71, 108 <strong>und</strong> 117<br />

der Urteilsgründe) die Regelung des § 263 Abs. 4 i.V.m. § 243 Abs. 2 <strong>StGB</strong> verkannt. Denn die Strafkammer geht in<br />

diesen, wie in allen Fällen mit Schadensbeträgen bis 2.500 € vom Regelstrafrahmen des § 263 Abs. 1 <strong>StGB</strong> aus, so<br />

dass es auf die Verwirklichung der Regelbeispiele insoweit nicht ankommt. Dass sie in allen anderen Fällen die Anwendung<br />

des erhöhten Strafrahmens des § 263 Abs. 3 <strong>StGB</strong> unter anderem mit der Verwirklichung zweier Regelbeispiele<br />

bejaht, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. auch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung,<br />

4. Aufl. Rn. 401).<br />

2. Die Bemessung der Strafe innerhalb des rechtsfehlerfrei bestimmten Strafrahmens ist ebenfalls frei von den Angeklagten<br />

belastenden Rechtsfehlern. In den unter Verstoß gegen § 5 HeilPrG erbrachten Osteopathie- <strong>und</strong> Akupunkturleistungen,<br />

zu denen der Angeklagte angestiftet hat, musste die Strafkammer ebenso wenig einen bestimmenden<br />

Milderungsgr<strong>und</strong> sehen, wie in dem Umstand, dass die Laborleistungen bei einem anderen als dem tatsächlichen -<br />

also hypothetischen - Sachverhalt anders hätten abgerechnet werden können. Ob darüber hinaus bei der Strafzumessung<br />

in Fällen zu Unrecht abgerechneter ärztlicher Leistungen der Umstand tatsächlich erbrachter Leistungen <strong>und</strong><br />

hierzu entstandener Aufwendungen strafmildernd berücksichtigt werden muss (vgl. für vertragsärztliche Abrechnungen<br />

BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 - 3 StR 161/02; BGH, Beschluss vom 28. September 1994 - 4 StR 280/94),<br />

oder ob - wozu der Senat neigt - sich dies im Bereich privatärztlicher Liquidation schon deswegen verbietet, weil<br />

hier die “Bereicherung” des Opfers dessen Schaden gerade nicht kompensiert <strong>und</strong> der Täter eigenmächtig <strong>und</strong> auf<br />

strafbare Weise den Ausgleich, den er materiell-rechtlich nicht beanspruchen kann, herbeiführt (vgl. Hellmann NStZ<br />

1995, 232, 233), bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Nach der ausdrücklichen Hervorhebung in den Urteilsgründen<br />

ist nicht zu besorgen, die Strafkammer könnte bei der Strafzumessung nicht auch im Blick gehabt haben,<br />

dass die Speziallaborleistungen - nach der allgemeinen Handhabe <strong>und</strong> ohne dass dies für jeden Einzelfall festgestellt<br />

wurde - „tatsächlich benötigt“ <strong>und</strong> von einem dazu befähigten Laborarzt „fachlich <strong>und</strong> medizinisch korrekt“ erbracht<br />

wurden (UA S. 21). Auf UA S. 110 werden die Untersuchungsergebnisse erneut als „medizinisch korrekt“ bezeichnet<br />

<strong>und</strong> auf UA S. 122 wird generell festgestellt, dass die „Patienten mit der ärztlichen Leistung des Angeklagten<br />

ganz überwiegend sehr zufrieden waren“. Dass in den Strafzumessungsgründen eine Erwägung nicht ausdrücklich<br />

wiederholt wird, lässt nicht ohne weiteres den Schluss zu, das Tatgericht habe sie bei der Zumessung der Strafe übersehen<br />

(BGH, Urteil vom 19. Januar 2012 - 3 StR 413/11 mwN). Dies gilt gleichermaßen für den Umstand, dass eine<br />

fehlerhafte Behandlung durch die nicht abrechnungsbefugten Leistungserbringer nicht bekannt geworden sind (UA<br />

S. 28) <strong>und</strong> dass der Angeklagte zu deren „Beschaffung“ jeweils eigene, von der Strafkammer zu den jeweiligen Fallgruppen<br />

spezifizierte Aufwendungen hatte. Beleg für eine entsprechende Berücksichtigung sind auch die Annahme<br />

eines besonders schweren Falles erst ab Rechnungsbeträgen über 2.500 € <strong>und</strong> die gemessen an der von der Strafkammer<br />

festgestellten kriminellen Energie des Angeklagten <strong>und</strong> dem gesamten Tatbild geringen Einzelstrafen sowie<br />

die ebenfalls milde Gesamtfreiheitsstrafe.<br />

3. Die Gesamtstrafe hat ebenfalls Bestand. Soweit die <strong>Teil</strong>einstellung des Verfahrens (oben B.) zum Wegfall der<br />

bezüglich Fall Nr. 71 der Urteilsgründe verhängten Einzelgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 30 € führt, schließt der<br />

188


Senat in Übereinstimmung mit dem Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts angesichts der Vielzahl der verbleibenden<br />

Fälle <strong>und</strong> der dafür verhängten Einzelstrafen bis zu einem Jahr <strong>und</strong> neun Monaten Freiheitsstrafe aus, dass die Strafkammer<br />

auf eine noch mildere als die verhängte Gesamtfreiheitstrafe erkannt hätte.<br />

II. Rechtsfehlerfrei hat die Strafkammer auf der Gr<strong>und</strong>lage der getroffenen Feststellungen das auf die Ausübung als<br />

selbständig liquidierender oder liquidationsberechtigter Arzt beschränkte Berufsverbot (§ 70 Abs. 1 <strong>StGB</strong>) auf eine<br />

Gesamtwürdigung des Angeklagten <strong>und</strong> der Taten gestützt (vgl. BGH, Urteil vom 9. März 2011 - 2 StR 609/10;<br />

BGH, Urteil vom 2. Mai 1990 - 3 StR 59/89) <strong>und</strong> ebenso ohne Rechtsfehler im Rahmen ihres Ermessens (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 7. November 2007 - 1 StR 164/07) die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten <strong>und</strong> die Verhältnismäßigkeit<br />

der Maßnahme bejaht. Es kann dahinstehen, ob das Verhalten eines Angeklagten nach der Tat stets im Rahmen<br />

der für § 70 Abs. 1 <strong>StGB</strong> erforderlichen Gefahrprognose zu berücksichtigen ist (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 5.<br />

August 2009 - 5 StR 248/09). Denn hier hätte sich dabei ungeachtet der festgestellten <strong>Teil</strong>schadenswiedergutmachung<br />

Günstiges für den Angeklagten deswegen nicht ergeben können, da er - wie das Landgericht ebenfalls feststellt<br />

- nach der Durchsuchung seiner Praxisräume in diesem Verfahren weiterhin gegen § 31 BayBOÄ verstoßen<br />

hat, indem er nunmehr mit einem anderen Labor Beraterverträge abschloss, die ihm zukünftig umsatzabhängige<br />

(Rück)Vergütungen sichern sollten (UA S. 108).<br />

III. Der vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt angeregten Berichtigung des Ausspruchs nach § 111i Abs. 2 StPO bedarf es<br />

nicht. Zwar hat für vor dem 1. Januar 2007 beendete Taten ein Ausspruch nach § 111i Abs. 2 StPO zu unterbleiben.<br />

Einer Anwendung der am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Regelung des § 111i Abs. 2 StPO auf bereits zuvor<br />

beendete Taten steht § 2 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 <strong>StGB</strong> entgegen (vgl. auch BGH, Urteil vom 7. Februar 2008 - 4 StR<br />

502/07 mwN). Letzteres hat die Strafkammer indes gesehen <strong>und</strong> auch ausgeführt (UA S. 114), so dass nicht zu besorgen<br />

ist, ein Auffangrechtserwerb nach § 111i Abs. 5 StPO sollte oder könnte auf den im Tenor für Taten vor dem<br />

1. Januar 2007 festgestellten Betrag erstreckt werden. Durch die vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend aufgezeigte,<br />

rechtsfehlerhafte Annahme eines vorzeitigen Beendigungszeitpunktes <strong>und</strong> daraus resultierend einer zu geringen<br />

Bemessung des nach dem 1. Januar 2007 Erlangten ist der Angeklagte gerade nicht beschwert.<br />

IV. Anhaltspunkte für eine - zu Kompensation nötigende, von der Verteidigung aber ohnehin nicht mit einer entsprechenden<br />

Verfahrensrüge geltend gemachte - rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung liegen nicht vor. Gemessen<br />

an Umfang, Bedeutung (vgl. Graf in BeckOK-StPO, § 198 GVG Rn. 8) <strong>und</strong> Schwierigkeit der Sache (Beleg hierfür<br />

ist u.a. das von der Revision in Erwiderung auf den Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts nachgereichte weitere Rechtsgutachten)<br />

wurde das Verfahren insgesamt innerhalb angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 EMRK) abgeschlossen; dies<br />

gilt auch für das Revisionsverfahren, in dem die Sache wegen ihrer gr<strong>und</strong>sätzlichen Bedeutung zur Veröffentlichung<br />

vorgesehen ist.<br />

<strong>StGB</strong> § 263 Betrug durch Mahnbescheid automatisiertes Verfahren<br />

BGH, Beschl. v. 20.12.2011 - 4 StR 491/11 - StraFo 2012, 102<br />

Zum Betrug bei der maschinellen Bearbeitung eines Antrags auf Erlass eines Mahnbescheids.<br />

1. Auf die Revision der Angeklagten B. wird das Urteil des Landgerichts Dortm<strong>und</strong> vom 29. März 2011 mit den<br />

zugehörigen Feststellungen aufgehoben,<br />

a) soweit die Angeklagte in den Fällen III. 2.a. aa. bis III. 2.a. cc. der Urteilsgründe verurteilt worden ist; insofern<br />

bleiben jedoch die Feststellungen zur Tatvorgeschichte (III. 1. III. 2. <strong>und</strong> III. 2.a. der Urteilsgründe), zum äußeren<br />

Tatgeschehen <strong>und</strong> zur Kenntnis der Angeklagten vom Nichtbestehen der geltend gemachten Forderungen bestehen;<br />

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.<br />

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht Dortm<strong>und</strong> hat die Angeklagte wegen Betruges sowie Beihilfe zur Untreue in vier Fällen, davon in<br />

zwei Fällen in Tateinheit mit Beihilfe zum Betrug zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> vier Monaten<br />

verurteilt <strong>und</strong> deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Mit ihrer Revision macht die Angeklagte Verstöße<br />

gegen das Verfahrensrecht <strong>und</strong> das materielle Strafrecht geltend. Ihr Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus dem<br />

Tenor ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg. Im Übrigen ist es offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

189


1. Nach den Feststellungen zum Fall III. 2.a. aa. der Urteilsgründe beantragte die Angeklagte bei dem zuständigen<br />

Amtsgericht den Erlass eines Mahnbescheides gegen die F. B. GBR mbH über eine Hauptforderung von 180.960<br />

Euro. Als Anspruchsgr<strong>und</strong> bezeichnete sie dabei einen „Dienstleistungsvertrag gemäß Rechnung vom 2.11.2006“.<br />

Sowohl die geltend gemachte Forderung, als auch der zu ihrer Begründung herangezogene Vertrag waren – wie die<br />

Angeklagte auch wusste – nicht existent. Die Geschäfte der F. B. GBR mbH wurden von der Mitangeklagten U. B.<br />

(der Mutter der Angeklagten) <strong>und</strong> der AG gemeinsam geführt. Beide waren nach dem Gesellschaftsvertrag nur gemeinschaftlich<br />

zur Vertretung berechtigt. Der Mahnbescheid wurde antragsgemäß erlassen <strong>und</strong> entsprechend den<br />

Angaben der Angeklagten im Mahnantrag der Mitangeklagten U. B. unter deren Wohnanschrift zugestellt. Diese<br />

benachrichtigte absprachegemäß die AG nicht von der erfolgten Zustellung <strong>und</strong> ließ die Widerspruchsfrist verstreichen.<br />

Die Angeklagte erwirkte daraufhin einen Vollstreckungsbescheid, der der F. B. GBR mbH wiederum unter der<br />

Wohnadresse der Mitangeklagten U. B. zugestellt wurde. Auch hiervon erlangte die AG keine Kenntnis. Nach dem<br />

Ablauf der Einspruchsfrist beantragte die Angeklagte einen Pfändungs- <strong>und</strong> Überweisungsbeschluss in Bezug auf ein<br />

Konto der F. GBR mbH bei der Deutschen Bank in W. <strong>und</strong> erhielt nach dessen Erlass von der Drittschuldnerin<br />

184.324,60 Euro überwiesen (Fall II. 2.a. aa.). In der Folgezeit erwirkte der anderweitig verfolgte K. B. (der Vater<br />

der Angeklagten) zwei weitere Vollstreckungsbescheide über 13.710 Euro <strong>und</strong> 83.520 Euro gegen die F. B. GBR<br />

mbH. Auch dabei wurden nicht bestehende Forderungen geltend gemacht <strong>und</strong> zu deren Rechtfertigung jeweils ein<br />

nicht existierender „Dienstleistungsvertrag“ gemäß einer im Einzelnen bezeichneten Rechnung behauptet. Die erforderlichen<br />

Zustellungen erfolgten in beiden Fällen wiederum an die Mitangeklagte U. B., die die in der Sache nicht<br />

berechtigten Bescheide wie zuvor unbeanstandet ließ <strong>und</strong> auch die AG hiervon nicht in Kenntnis setzte. Nachdem<br />

sich K. B. auf der Gr<strong>und</strong>lage der Vollstreckungsbescheide Pfändungs- <strong>und</strong> Überweisungsbeschlüsse gegen die F. B.<br />

GBR mbH verschafft hatte, wurden von der Deutschen Bank in W. von einem Konto der F. B. GBR mbH 13.998,14<br />

Euro <strong>und</strong> 84.824,29 Euro auf ein Konto der Angeklagten überwiesen, das diese ihren Eltern zu diesem Zweck zur<br />

Verfügung gestellt hatte (Fälle II. 2.a. bb. <strong>und</strong> II. 2.a. cc. der Urteilsgründe). Aus Sicht des Landgerichts hat sich die<br />

Angeklagte durch die Erwirkung der Mahn- <strong>und</strong> Vollstreckungsbescheide mittels falscher Angaben (Fall III. 2.a. aa.<br />

der Urteilsgründe) eines Betrugs <strong>und</strong> durch die zweimalige Bereitstellung eines Kontos (Fälle III. 2.a. bb. <strong>und</strong> III.<br />

2.a. cc. der Urteilsgründe) der Beihilfe zum Betrug (begangen durch den anderweitig verfolgten K. B.) in Tateinheit<br />

mit Beihilfe zur Untreue (begangen durch die Mitangeklagte U. B. ) schuldig gemacht.<br />

2. Die Verurteilung wegen Betrugs im Fall II. 2.a. aa. der Urteilsgründe <strong>und</strong> wegen Beihilfe zum Betrug in den Fällen<br />

II. 2.a. bb. <strong>und</strong> II. 2.a. cc. der Urteilsgründe begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil das Landgericht<br />

keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob die Mahnanträge der Angeklagten <strong>und</strong> des anderweitig verfolgten<br />

K. B. im automatisierten Mahnverfahren bearbeitet worden sind.<br />

a) Zutreffend geht das Landgericht davon aus, dass auch im Mahnverfahren durch falsche Tatsachenbehauptungen<br />

bei der Antragstellung ein Betrug gemäß § 263 Abs. 1 <strong>StGB</strong> begangen werden kann. Der Umstand, dass die Angaben<br />

des Antragstellers nicht auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden (§ 691 Abs. 1, § 692 Abs. 1 Nr. 2 ZPO), schließt<br />

die Annahme eines täuschungsbedingten Irrtums auf Seiten des bearbeitenden Rechtspflegers (§ 20 Nr. 1 RPflG)<br />

nicht aus. Das Mahnverfahren soll eine vereinfachte Durchsetzung gegebener Ansprüche ermöglichen, nicht aber der<br />

Durchsetzung unbegründeter Forderungen dienen (BGH, Urteil vom 24. September 1987 – III ZR 187/86, BGHZ<br />

101, 380, 388). Als unabhängiges Rechtspflegeorgan (§ 1 RPflG) ist der Rechtspfleger der materiellen Gerechtigkeit<br />

verpflichtet (Art. 20 Abs. 3 GG). Er darf daher nicht sehenden Auges einen unrichtigen Titel schaffen. Hat er – aus<br />

welchen Quellen auch immer – Kenntnis davon, dass der zur Rechtfertigung eines Mahnantrages angebrachte Tatsachenvortrag<br />

entgegen der sich auch insoweit aus § 138 Abs. 1 ZPO ergebenden Verpflichtung zu wahrheitsgemäßem<br />

Vorbringen (MünchKommZPO/Wagner, 3. Aufl., § 138 Rn. 1; Musielak/Stadler, ZPO 8. Aufl., § 138 Rn. 1) unwahr<br />

ist <strong>und</strong> der geltend gemachte Anspruch deshalb nicht besteht, muss er den Antrag zurückweisen. Erlässt er den beantragten<br />

Bescheid, geschieht dies daher regelmäßig in der allgemeinen – nicht notwendig fallbezogen aktualisierten –<br />

Vorstellung, dass die nach dem Verfahrensrecht ungeprüft zu übernehmenden tatsächlichen Behauptungen des Antragstellers<br />

pflichtgemäß aufgestellt wurden <strong>und</strong> wahr sind (BGH, Urteil vom 25. Oktober 1971 – 2 StR 238/71,<br />

BGHSt 24, 257, 260 f.; offengelassen in BGH, Beschluss vom 25. April 2001 – 1 StR 82/01, BGHR § 263 Abs. 1<br />

<strong>StGB</strong> Täuschung 19; OLG Celle, Beschluss vom 1. November 2011 – 31 Ss 29/11, BeckRS 2011, 25862; OLG Düsseldorf,<br />

Beschluss vom 30. August 1991 – 2 Ws 317/91, NStZ 1991, 586; mit abweichender Begründung aber im<br />

Ergebnis ebenso NK-<strong>StGB</strong>/Kindhäuser 3. Aufl., § 263 Rn. 192; Kindhäuser, Strafrecht BT II, 6. Aufl., § 27 Rn. 39;<br />

Braun, Rechtskraft <strong>und</strong> Rechtskraftdurchbrechung von Titeln über sittenwidrige Ratenkreditverträge S. 56 f.; Pawlik,<br />

Das unerlaubte Verhalten beim Betrug S. 227 ff., 230; a.A. LK/Tiedemann 11. Aufl. § 263 Rn. 90; Cramer/Perron in:<br />

Schönke/Schröder 28. Aufl. § 263 Rn. 52; Münch-Komm-<strong>StGB</strong>/Hefendehl § 263 Rn. 110 <strong>und</strong> 215; Kretschmer GA<br />

2004, 458, 470; Lackner/Kühl 27. Aufl., § 263 Rn. 17; Maurach/Schröder/Maiwald, Strafrecht BT <strong>Teil</strong>band 1, 10.<br />

190


Aufl., § 41 Rn. 66; Otto JZ 1993, 652, 654 f.). Ist dies nicht der Fall, hat sich der Rechtspfleger in einem Irrtum bef<strong>und</strong>en,<br />

der seine Entscheidung für den Erlass der nachfolgenden Bescheide <strong>und</strong> damit die für das Vermögen des<br />

Antragsgegners nachteiligen Verfügungen bestimmt hat.<br />

b) Die Schuldsprüche wegen vollendeten Betrugs <strong>und</strong> Beihilfe zum Betrug können jedoch nicht bestehen bleiben,<br />

weil das Landgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob die Mahnanträge der Angeklagten <strong>und</strong> ihres Vaters,<br />

des anderweitig verfolgten K. B., überhaupt von einem Rechtspfleger bearbeitet worden sind. Dies versteht sich hier<br />

nicht von selbst. Nach § 1 MBearbMahn – NRW vom 28. Januar 1999 (GV. NRW.1999 S.43) i.V.m. § 689 Abs. 1<br />

Satz 2, Abs. 3 ZPO werden Mahnanträge in Nordrhein-Westfalen zentral bei den Amtsgerichten Hagen <strong>und</strong> Euskirchen<br />

im automatisierten Verfahren bearbeitet. Zu einer Bearbeitung durch einen Rechtspfleger kann es bei dieser<br />

Sachlage nur noch ausnahmsweise – etwa bei einer deutlichen Überschreitung des Durchschnittswertes – kommen<br />

(vgl. Die maschinelle Bearbeitung der gerichtlichen Mahnverfahren, Informationsschrift der Justizverwaltungen der<br />

B<strong>und</strong>esländer, Stand 1/2011, S. 25). Wurden die Anträge nur maschinell bearbeitet, scheidet eine Strafbarkeit wegen<br />

vollendeten Betrugs aus, weil es an der erforderlichen Täuschung einer natürlichen Person fehlt (SSW-<strong>StGB</strong>/Satzger<br />

§ 263 Rn. 31; Maurach/Schröder/Maiwald, Strafrecht BT <strong>Teil</strong>band 1, 10. Aufl., § 41 Rn. 66; Kretschmer GA 2004,<br />

458, 470; Münker, Der Computerbetrug im automatischen Mahnverfahren, Dissertation Freiburg 2000, S. 41 ff., 48<br />

f.; Otto JZ 1993, 652, 654 Fn. 148). Insoweit wird der neue Tatrichter ergänzende Feststellungen zu treffen haben.<br />

Dabei wird auch aufzuklären sein, welches Vorstellungsbild insoweit bei der Angeklagten <strong>und</strong> in den Fällen II. 2a.<br />

bb. <strong>und</strong> II. 2a. cc. auch bei dem anderweitig verfolgten K. B. vorgeherrscht hat. Die Aufhebung muss sich in den<br />

Fällen II. 2.a. bb. <strong>und</strong> II. 2.a. cc. der Urteilsgründe auch auf die Schuldsprüche wegen Beihilfe zur Untreue beziehen,<br />

da diese jeweils in Tateinheit erfolgt sind <strong>und</strong> deshalb ein untrennbarer Zusammenhang besteht.<br />

c) Die Feststellungen zur Tatvorgeschichte unter III. 1. III. 2. <strong>und</strong> III. 2.a. der Urteilsgründe, zum äußeren Tatgeschehen<br />

<strong>und</strong> zum Wissen der Angeklagten um das Nichtbestehen der geltend gemachten Forderungen sind rechtsfehlerfrei<br />

getroffen <strong>und</strong> werden von der nicht aufgeklärten Frage, ob ein automatisiertes Mahnverfahren stattgef<strong>und</strong>en<br />

hat, nicht erfasst. Die von der Angeklagten hierzu erhobenen Verfahrensrügen haben aus den von dem Generalsb<strong>und</strong>esanwalt<br />

in seiner Antragsschrift vom 20. Oktober 2011 angeführten Gründen keinen Erfolg. Ergänzend bemerkt<br />

der Senat: Das Landgericht durfte die beantragte Verlesung der eidesstattlichen Versicherung der Mitangeklagten U.<br />

B. vom 19. Juni 2009 nicht nach § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO mit der Begründung ablehnen, dass eine Verlesung dieser<br />

Urk<strong>und</strong>e nur nach § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO möglich sei, die hierfür erforderlichen Einverständniserklärungen der<br />

Mitangeklagten U. B. <strong>und</strong> ihres Verteidigers aber nicht vorliegen. Der Urk<strong>und</strong>enbeweis ist immer zulässig, wenn ihn<br />

das Gesetz nicht ausdrücklich verbietet (BGH, Urteil vom 24. August 1993 – 1 StR 380/93, NStZ 1994, 184, 185<br />

mwN.). Schriftliche Erklärungen von Angeklagten, zu denen auch in anderen Verfahren abgegebene eidesstattliche<br />

Versicherungen zählen, dürfen daher regelmäßig auch ohne Einverständnis der Beteiligten nach § 249 Abs. 1 StPO<br />

verlesen werden (vgl. KK-StPO/Diemer 6. Aufl., § 249 Rn. 14; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 249 Rn. 13<br />

mwN.). Das vom Landgericht herangezogene Verbot der vernehmungsersetzenden Urk<strong>und</strong>enverlesung gemäß § 250<br />

Satz 2 StPO mit den in § 251 StPO geregelten Ausnahmen gilt nur für Aussagen von Zeugen, Sachverständigen <strong>und</strong><br />

Mitbeschuldigten, nicht aber für Aussagen von Mitangeklagten (SK-StPO/Velten 4. Aufl., § 250 Rn. 7 <strong>und</strong> § 251 Rn.<br />

10) <strong>und</strong> war daher schon aus diesem Gr<strong>und</strong> nicht einschlägig. Aus § 254 Abs. 1 StPO kann in Bezug auf Angeklagte<br />

lediglich ein Verbot der Verlesung polizeilicher Protokolle zum Beweis über deren Inhalt (BGH, Urteil vom 31. Mai<br />

1960 – 5 StR 168/60, BGHSt 14, 310, 312; OLG Köln, Beschluss vom 3. Juni 1982 – 1 Ss 323/82, StV 1983, 97),<br />

nicht aber ein Verbot der Verlesung anderweitiger schriftlicher Erklärungen hergeleitet werden, sodass auch insoweit<br />

kein Verlesungshindernis bestand. Der Senat vermag jedoch auszuschließen, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler<br />

beruht. Die nicht zur Verlesung gelangte eidesstattliche Versicherung der Mitangeklagten U. B. enthielt lediglich die<br />

pauschale Erklärung, dass die Angeklagte in den Jahren 2005 <strong>und</strong> 2006 keine Kenntnis von dem Gesellschaftsvertrag<br />

zwischen ihr <strong>und</strong> der AG hatte. Genau in dieser Weise hat sich die Mitangeklagte U. B. auch in der Hauptverhandlung<br />

eingelassen. Das Landgericht hat diese Einlassung nach eingehender Würdigung des übrigen Ergebnisses der<br />

Beweisaufnahme zurückgewiesen <strong>und</strong> in diesem Zusammenhang eine zur Verlesung gelangte eidesstattliche Versicherung<br />

des anderweitig verfolgten K. B. ausdrücklich als falsch bezeichnet, die den gleichen Inhalt wie die nicht<br />

verlesene eidesstattliche Versicherung der Mitangeklagten U. B. hatte <strong>und</strong> am selben Tag erstellt worden war. Unter<br />

diesen Umständen spricht nichts dafür, dass eine Verlesung der eidesstattlichen Versicherung der Mitangeklagten U.<br />

B. noch ein anderes Beweisergebnis erbracht hätte.<br />

3. Mit der Aufhebung der Verurteilung in den Fällen III. 2.a. aa.) bis III. 2.a. cc.) kann auch der die Angeklagte betreffende<br />

Ausspruch über die Gesamtstrafe keinen Bestand mehr haben.<br />

191


<strong>StGB</strong> § 263 Schadensberechnung bei ertrogenem Darlehen<br />

BGH, Beschl. v. 13.04.2012 – 5 StR 442/11 - NJW 2012, 2370 =<br />

LS: Schadensberechnung bei täuschungsbedingt gewährtem Darlehen.<br />

Auf die Revisionen der Angeklagten W. , Ü. , B. <strong>und</strong> G. wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 8. Juli 2010<br />

mit den zugehörigen Feststellungen nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben, soweit diese Angeklagten verurteilt worden<br />

sind; aufrecht erhalten bleiben jedoch die Feststellungen zu den äußeren Umständen der Kreditgewährungen, zu den<br />

Beziehungen der Beteiligten untereinander sowie zur inneren Tatseite beim Angeklagten G. ; insoweit werden die<br />

Revisionen als unbegründet gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu<br />

neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer<br />

des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten W. <strong>und</strong> Ü. wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges in 15 bzw. 14 Fällen zu<br />

Gesamtfreiheitsstrafen von drei Jahren bzw. zwei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten verurteilt. Den Angeklagten B. hat es<br />

wegen Betrugs in vier Fällen schuldig gesprochen <strong>und</strong> mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> drei Monaten<br />

belegt, wobei die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Gegen den Angeklagten<br />

G. hat das Landgericht wegen Beihilfe zum Betrug in elf Fällen eine – gleichfalls zur Bewährung ausgesetzte – Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von einem Jahr verhängt. Daneben hat es als Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung<br />

bei den Angeklagten zwei bis sechs Monate auf die ausgeurteilten Freiheitsstrafen als vollstreckt<br />

angerechnet. Die Revisionen der Angeklagten haben in dem sich aus dem Beschlusstenor ergebenden Umfang mit<br />

der Sachrüge Erfolg. Auf die Verfahrensrüge, mit der die ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens<br />

III beanstandet wird, kommt es mithin nicht mehr an. Im Übrigen sind die Verfahrensrügen im Sinne des § 349 Abs.<br />

2 StPO erfolglos.<br />

I. Das Landgericht hat folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

1. Die Angeklagten W. <strong>und</strong> Ü. entwickelten zusammen mit dem bereits verstorbenen O. den Plan, bei Immobilienverkäufen<br />

einen wesentlich höheren Betrag als tatsächlich vereinbart als Kaufpreis auszuweisen, der dann von der<br />

LBS als der kreditgewährenden Bank – gegebenenfalls mit Abschlägen bis zu 30 % – finanziert wurde, wobei Ausfallbürgschaften<br />

der Bremer Landesbank beigebracht wurden, soweit die Kreditsumme die Beleihungsgrenze überstieg.<br />

Den Plan setzten sie in den 15 Verurteilungsfällen auch um. Auf diese Art sollten auf dem stagnierenden Berliner<br />

Wohnungsmarkt Immobilien auch an Personen ohne Eigenkapital oder an Bezieher geringerer Einkommen<br />

veräußert werden. Zum <strong>Teil</strong> wurden aus der im Vergleich zum tatsächlich vereinbarten Kaufpreis überschießenden<br />

Kreditsumme auch Altschulden der K<strong>und</strong>en abgelöst. Der Angeklagte B. warb in vier Fällen als freiberuflich tätiger<br />

Kreditvermittler die K<strong>und</strong>en. Der Angeklagte G. nahm als Notar in elf Fällen die Beurk<strong>und</strong>ungen vor. Er teilte der<br />

finanzierenden LBS dann mit, dass ihm gegenüber das (tatsächlich nicht vorhandene) Eigenkapital nachgewiesen sei.<br />

Tatsächlich lag ihm zu diesem Zeitpunkt lediglich ein von der Verkäuferseite ausgestellter (gedeckter) Scheck vor,<br />

den er bei Auszahlungsreife des Kaufpreises an den Aussteller zurückgab. Die Darlehen zum Kauf der Immobilien,<br />

für die Gr<strong>und</strong>schulden zugunsten der LBS eingetragen wurden, konnten von den Erwerbern teilweise nicht zurückgeführt<br />

werden.<br />

2. Das Landgericht geht ersichtlich von einem Eingehungsbetrug aus, den Ü. , W. <strong>und</strong> O. als Bande begangen hätten.<br />

Täuschungsbedingt sei die LBS bei der Kreditgewährung ein höheres Wagnis eingegangen. Den Schaden berechnet<br />

das Landgericht aus der Differenz der Kreditsumme zum tatsächlichen Verkehrswert der Gr<strong>und</strong>stücke, wobei es –<br />

zugunsten der Angeklagten – den Verkehrswert mit dem tatsächlich bezahlten Kaufpreis gleichsetzt. Gestellte Bürgschaften<br />

hat es hiervon in Abzug gebracht. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage hat das Landgericht einen Gesamtschaden in Höhe<br />

von über 170.000 Euro festgestellt.<br />

II. Die Schadensberechnung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung der<br />

Schuldsprüche.<br />

1. Unter Beachtung des – nach Erlass der angefochtenen Entscheidung ergangenen – Beschlusses des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

vom 7. Dezember 2011 (NJW 2012, 907 ff.) bedarf es im Falle der Annahme eines Eingehungsbetrugs<br />

einer ausreichenden Beschreibung <strong>und</strong> Bezifferung der täuschungsbedingten Vermögensschäden. Da speziell beim<br />

Eingehungsbetrug die Schadenshöhe entscheidend von der Wahrscheinlichkeit <strong>und</strong> vom Risiko eines zukünftigen<br />

Verlusts abhängt, setzt die Bestimmung eines Mindestschadens voraus, dass die Verlustwahrscheinlichkeit tragfähig<br />

eingeschätzt wird (BVerfG aaO, 915 ff.). Hierbei können die banküblichen Bewertungsansätze für Wertberichtigun-<br />

192


gen Anwendung finden (vgl. § 253 Abs. 4; § 340f HGB). Denn ist aufgr<strong>und</strong> der fehlenden Bonität des Schuldners<br />

<strong>und</strong> nicht ausreichender Sicherheiten konkret erkennbar, dass mit einem teilweisen Forderungsausfall zu rechnen ist,<br />

müssen entsprechende bilanzielle Korrekturen vorgenommen werden, die ihrerseits – ungeachtet der praktischen<br />

Schwierigkeiten ihrer Ermittlung – auch im Rahmen der Schadensberechnung zugr<strong>und</strong>e gelegt werden können (vgl.<br />

auch BVerfGE 126, 170, 226 ff.).<br />

2. Diesen Maßstäben wird das landgerichtliche Urteil nicht gerecht, wenn es die Schadensbezifferung allein auf die<br />

Differenz zwischen Kredithöhe <strong>und</strong> tatsächlichem Kaufpreis (als von ihm angenommenen maximalen Verkehrswert)<br />

stützt. Wie die Strafkammer im Ansatz richtig erkannt hat, ist die Darlehensgewährung ein Risikogeschäft. Der im<br />

Sinne des § 263 <strong>StGB</strong> relevante Vermögensschaden liegt deshalb bei diesen Fallgestaltungen immer in der Bewertung<br />

des täuschungsbedingten Risikoungleichgewichts (BGH, Beschluss vom 27. März 2003 – 5 StR 508/02, StV<br />

2003, 446; vgl. auch BGH, Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165, 174 f.). Für dessen Berechnung<br />

ist maßgeblich, ob <strong>und</strong> in welchem Umfang die das Darlehen ausreichende Bank ein höheres Ausfallrisiko<br />

trifft, als es bestanden hätte, wenn die risikobestimmenden Faktoren zutreffend gewesen wären. Dann verschiebt sich<br />

zu ihren Lasten der synallagmatische Zusammenhang. So hätte die kreditgewährende Bank in Kenntnis dieser Umstände<br />

die von ihr verlangte Gegenleistung, die Zinshöhe des Darlehens, entsprechend angepasst oder weitergehende<br />

Sicherheiten verlangt. Nur in diesem Zusammenhang sind die bestellten Sicherheiten hier von Bedeutung. Deshalb<br />

hat die Rechtsprechung schon immer einen Vermögensschaden dann verneint, wenn der Rückzahlungsanspruch<br />

aufgr<strong>und</strong> der Vermögenslage des Darlehensnehmers oder sonstiger Umstände, die den Gläubiger vor einem Verlust<br />

seines Geldes schützen, wirtschaftlich gesichert ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Mai 2009 – 3 StR 475/08, wistra<br />

2009, 350; vom 12. Juni 2001 – 4 StR 402/00, StV 2002, 133). Die Schadensfeststellung hätte deshalb – naheliegend<br />

mit sachverständiger Beratung – bei einem solchen Sachverhalt in einem Vergleich <strong>und</strong> einer bilanziellen Bewertung<br />

der von der Bank zugr<strong>und</strong>e gelegten Vertragsgestaltung – im Gegensatz zu der tatsächlich durchgeführten – bestehen<br />

müssen. Die Verlustwahrscheinlichkeiten dürfen allerdings nicht so diffus sein oder sich in so geringen Bereichen<br />

bewegen, dass der Eintritt eines realen Schadens letztlich ungewiss bleibt (vgl. BVerfGE 126, 170, 229; BVerfG<br />

NJW 2012, 907, 916). Im Rahmen der wirtschaftlichen Bewertung des täuschungsbedingt veränderten Kreditrisikos<br />

kann auch dem Umstand Gewicht zukommen, dass die LBS als kreditgewährende Bank der Ermittlung der Verkehrswerte<br />

der einzelnen Gr<strong>und</strong>stücke wohl keinen wesentlichen Stellenwert beigemessen hat, weil sie die Beleihungsgrenze<br />

nur im Wege von prozentualen Abschlägen bestimmt hat, deren Höhe ersichtlich im Belieben des jeweiligen<br />

Kreditsachbearbeiters gestanden hat.<br />

III. Dieser Mangel führt zur Aufhebung des Schuldspruchs in sämtlichen Fällen, weil der Senat in keinem Fall mit<br />

letzter Sicherheit auszuschließen vermag, dass sich gar kein ansatzfähiger Vermögensschaden ergibt. Bestehen bleiben<br />

können jedoch – wobei insoweit ergänzende, den bisher getroffenen nicht widersprechende Feststellungen zulässig<br />

sind – die Feststellungen zu den äußeren Umständen der Kreditgewährungen wie auch zu den Beziehungen der<br />

Beteiligten untereinander, weil sie von dem zur Aufhebung führenden Rechtsfehler nicht berührt sind. Gleichfalls<br />

aufrechterhalten werden die Feststellungen zur subjektiven Tatseite beim Angeklagten G. . Entgegen der Auffassung<br />

der Revision hat das Landgericht aus dem Umstand, dass er von Verkäuferseite eingereichte Schecks entgegengenommen<br />

hat – die er später zurückgeschickt hat –, rechtsfehlerfrei auf den Gehilfenvorsatz dieses Angeklagten geschlossen.<br />

Die hierzu vorgebrachten Einwände der Revision sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Für<br />

das neue tatrichterliche Verfahren weist der Senat – sollte es erneut zu Schuldsprüchen kommen – im Hinblick auf<br />

die vom Landgericht festgestellte Verfahrensverzögerung auf Folgendes hin: Bei der Bemessung der Höhe der im<br />

Wege der Anrechnung auf die vollstreckte Strafe vorzunehmenden Kompensation sind in einer einzelfallbezogenen<br />

Abwägung der Umfang der staatlicherseits zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane<br />

sowie die konkreten Auswirkungen auf die Angeklagten zu würdigen. Auf die Höhe der verwirkten<br />

Strafe kommt es dabei gr<strong>und</strong>sätzlich nicht an (BGH, Beschluss vom 30. September 2010 – 5 StR 259/10, wistra<br />

2011, 22; Urteil vom 27. August 2009 – 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135, 138). Es ist deshalb gr<strong>und</strong>sätzlich bedenklich,<br />

die Kompensation mit einem Sechstel der verhängten Strafe zu begründen. Im neuen tatgerichtlichen Verfahren<br />

wird in diesem Zusammenhang zudem weiter aufzuklären sein, warum die Verfahrensakten erst knapp 15 Monate<br />

nach Urteilsverkündung beim Generalb<strong>und</strong>esanwalt eingegangen sind.<br />

193


<strong>StGB</strong> § 263 Täuschung muss Irrtum nicht alleine verursacht haben<br />

BGH, Beschl. v. 13.10.2011 - 1 StR 407/11 - NStZ 2012, 147<br />

Zur Täuschung i.S.d. § 263 <strong>StGB</strong>: Gr<strong>und</strong>sätzlich reicht es aus, wenn die Täuschung den Irrtum des<br />

Getäuschten mitverursacht hat.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 24. März 2011 wird verworfen.<br />

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

1. Der Angeklagte hatte als Angestellter eines Telefon-Shops eine zentrale Rolle in einem näher geschilderten System<br />

zur Erlangung von Mobiltelefonen <strong>und</strong> Notebooks auf Kosten der Telefongesellschaft. Ihr wurde unter Vorlage<br />

manipulierter Personalpapiere vorgespiegelt, (überwiegend) nicht existierende oder (in einigen Fällen) wegen falscher<br />

Angaben kaum ermittelbare Personen wollten Mobilfunkverträge abschließen. Nachdem eine - im Einzelfall<br />

nicht mehr feststellbar - automatisiert oder durch einen Mitarbeiter der Gesellschaft durch Abgleich mit Schuldnerdateien<br />

vorgenommene Bonitätsprüfung wie eingeplant wegen der erf<strong>und</strong>enen Angaben nichts Negatives ergeben<br />

hatte, wurden die Geräte in den Shop übersandt, die der Angeklagte <strong>und</strong> weitere Beteiligte für sich behielten <strong>und</strong><br />

verwerteten.<br />

2. Auf Gr<strong>und</strong>lage dieser Feststellungen wurde der Angeklagte wahlweise wegen (gewerbsmäßigen) Betrugs oder<br />

(gewerbsmäßigen) Computerbetrugs in 51 Fällen zu drei Jahren <strong>und</strong> drei Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt.<br />

3. Seine uneingeschränkt eingelegte, auf die Sachrüge gestützte Revision ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). In der<br />

Revisionsbegründung des gerichtlich bestellten Verteidigers heißt es, dass der „Tatbestand des gewerbsmäßigen<br />

Betrugs oder Computerbetrugs erfüllt“ sei; näher begründet ist beantragt (§ 344 Abs. 1 StPO), den Strafausspruch<br />

aufzuheben; im Übrigen, so heißt es abschließend, sei die Sachrüge allgemein erhoben. In einem späteren Schriftsatz<br />

legt eine Wahlverteidigerin dar, warum hier kein Betrug vorliege. Trotz des zum Revisionsumfang insgesamt nicht<br />

völlig klaren Vorbringens geht der Senat hier von einer umfassenden Urteilsanfechtung aus.<br />

4. Die Revision meint, der Schuldspruch könne schon deshalb keinen Bestand haben, weil der Angeklagte keinen<br />

Einfluss darauf gehabt habe, mit wem die Telefongesellschaft nach Durchführung einer Bonitätsprüfung einen Vertrag<br />

abschließe; da dies allein deren Risiko sei, liege keine Täuschung i.S.d. § 263 <strong>StGB</strong> vor. Dieses Vorbringen<br />

versagt. Gr<strong>und</strong>sätzlich reicht es aus, wenn die Täuschung (eine mit falschem Namen <strong>und</strong>/oder Anschrift bezeichnete<br />

Person will einen Vertrag abschließen), den Irrtum des Getäuschten (diese Person ist „zahlungsfähig“, da sie nicht in<br />

Schuldnerdateien eingetragen ist), mitverursacht hat (vgl. Satzger in SSW-<strong>StGB</strong>, § 263 Rn. 86; Cramer/Perron in<br />

Schönke/Schröder, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 263 Rn. 43; Tiedemann in LK, 11. Aufl., § 263 Rn. 93 jew. mwN). Dies gilt<br />

umso mehr, als der Irrtum über die „Zahlungsfähigkeit“ einer Person nur auf Gr<strong>und</strong>lage des vom Angeklagten durch<br />

Täuschung hervorgerufenen Irrtums über deren Existenz entstehen konnte. Es war in dem in Kenntnis der Abläufe<br />

bei der Telefongesellschaft geschaffenen System angelegt, dass der im Abgleich der Schuldnerdateien liegende<br />

Überprüfungsmechanismus ins Leere gehen musste. Unter diesen Umständen stellt sich daher die Frage nach einer<br />

Risikoverteilung nicht, ohne dass der Senat der Frage nachgehen müsste, ob dies in anderen Fallgestaltungen Bedeutung<br />

gewinnen kann. Die Auffassung der Revision, die gebotene Übertragung der Gr<strong>und</strong>sätze zur verfassungskonformen<br />

Auslegung des Untreuetatbestandes (vgl. BVerfG NJW 2010, 3209; BGH, Beschluss vom 13. September<br />

2010 - 1 StR 220/09 NJW 2011, 88; NJW 2011, 1747), ergebe (dennoch), dass hier mangels relevanter Täuschung<br />

kein Betrug vorliege, zeigt einen Rechtsirrtum des Landgerichts nicht auf.<br />

5. Entsprechendes gilt im Ergebnis für das sonstige Revisionsvorbringen. Ergänzend ist lediglich hinsichtlich des<br />

Strafausspruchs zu bemerken: Der Angeklagte ist türkischer Staatsbürger, der seit seiner Geburt (1985) in Deutschland<br />

lebt. Wegen der Höhe der Strafe, so führt die Revision aus, lägen beim Angeklagten gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1<br />

AufenthG i.V.m. § 56 Abs. 1 Nr. 2 <strong>und</strong> § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG die Voraussetzungen einer sog. „Regelausweisung“<br />

vor; da somit die zuständige Behörde kein Ermessen habe, könnten besondere Härten nicht hinlänglich berücksichtigt<br />

werden. Dies hätte bei der Strafzumessung erörtert werden müssen. Der Senat sieht keinen Rechtsfehler.<br />

Ausländerrechtliche Folgen einer Tat sind regelmäßig keine bestimmenden Strafzumessungsgründe (st. Rspr.; vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 29. Juli 2010 - 1 StR 349/10; BGH, Beschluss vom 31. August 2007 - 2 StR 304/07, StV 2008,<br />

298 mwN). Dies gilt auch bei einer zwingend vorgeschriebenen Ausweisung (BGH, Beschlüsse vom 31. August<br />

2007 - 2 StR 304/07, StV 2008, 298 <strong>und</strong> 5. Dezember 2001 - 2 StR 273/01, NStZ 2002, 196 mwN); anderes kann nur<br />

dann gelten, wenn zusätzliche Umstände hinzutreten, die die Ausweisung als besondere Härte erscheinen lassen<br />

(BGH, aaO). Der Senat braucht jedoch nicht der Frage nachzugehen, wie derartige Umstände, die sich jedenfalls von<br />

194


den notwendig oder erfahrungsgemäß häufig mit einer Ausweisung verb<strong>und</strong>enen Belastungen wegen einzelfallbedingter<br />

Besonderheiten in klar erkennbarer Weise nachhaltig unterscheiden müssen, konkret beschaffen sein könnten.<br />

Hier fehlt es nämlich schon an einer zwingend vorgeschriebenen Ausweisung. Auch bei einer Regelausweisung<br />

gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann nämlich die Ausländerbehörde bei bedeutsamen atypischen Umständen<br />

von einer Ausweisung absehen (vgl. Alexy in Hofmann/Hoffmann, AusländerR, § 56 AufenthG Rn. 25 ff. mwN). Es<br />

ist daher davon auszugehen, dass auch in derartigen Fällen die Ausländerbehörden ungewöhnliche Besonderheiten<br />

im Rahmen ihrer gerichtlich überprüfbaren Entscheidung zu bedenken haben (vgl. BGH, NStZ, aaO), eine Erörterung<br />

der Voraussetzungen einer Regelausweisung als wesentlicher Strafzumessungsgr<strong>und</strong> ist daher nicht geboten.<br />

6. Die Strafkammer hält es im Rahmen der Strafzumessung für „positiv“, dass gegen den Angeklagten - mehrere<br />

Monate lang auch vollzogene - Untersuchungshaft angeordnet werden musste. Dieser offenbar als stets strafmildernd<br />

angesehene Gesichtspunkt falle hier „umso stärker“ ins Gewicht, als es dem erstmals inhaftierten Angeklagten aus<br />

nicht konkret genannten Ges<strong>und</strong>heitsgründen dabei „nicht gut ging“. Untersuchungshaft ist jedoch, jedenfalls bei<br />

Verhängung einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe, kein Strafmilderungsgr<strong>und</strong> (vgl. BGH, Urteil vom 19. Mai 2010 -<br />

2 StR 102/10, NStZ 2011, 100; Urteil vom 19. Dezember 2002 - 3 StR 401/02, NStZ-RR 2003, 110; zusammenfassend<br />

Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl., Rn. 434 jew. mwN). Erstmaliger Vollzug<br />

von Untersuchungshaft (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 21. Dezember 1993 - 5 StR 683/93, NStZ 1994, 198; BGH,<br />

Urteil vom 14. Juni 2006 - 2 StR 34/06, NJW 2006, 2645) oder Krankheit während der Untersuchungshaft (vgl.<br />

hierzu BGH, Beschluss vom 25. November 1983 - 2 StR 717/83, StV 1984, 151 ) können allenfalls<br />

dann strafmildernd sein, wenn damit ungewöhnliche, über die üblichen deutlich hinausgehende Beschwernisse verb<strong>und</strong>en<br />

sind (zusammenfassend Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 46 Rn. 72, 73 mwN). Allein der Hinweis auf ein eingeschränktes<br />

Wohlbefinden belegt dies nicht. All dies hat sich aber nur zu Gunsten des Angeklagten ausgewirkt.<br />

<strong>StGB</strong> § 266 Abs. 1 - Vermögensbetreuungspflicht Zwangsverwalter <strong>und</strong> Rechtspfleger<br />

BGH, Urt. v. 28.07.2011 - 4 StR 156/11 - NJW 2011, 2819 = StV 2011, 734; Anm. Waßmer NZWiSt 2012, 36<br />

LS: Dem mit einem Zwangsverwaltungsverfahren befassten Rechtspfleger obliegt eine Vermögensbetreuungspflicht<br />

gegenüber Gläubigern <strong>und</strong> Schuldner.<br />

Der 4. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 28. Juli 2011 für Recht erkannt:<br />

1. Die Revisionen der Angeklagten <strong>und</strong> der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Halle vom 22.<br />

September 2010 werden verworfen.<br />

2. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. Die durch die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft<br />

bedingten notwendigen Auslagen der Angeklagten hat die Staatskasse zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten N. wegen Untreue in Tateinheit mit Vorteilsgewährung unter Einbeziehung<br />

einer Freiheitsstrafe von acht Monaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt <strong>und</strong> deren Vollstreckung<br />

zur Bewährung ausgesetzt. Gegen den Angeklagten Sch. hat es wegen Untreue in Tateinheit mit Vorteilsannahme<br />

eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 35 € verhängt. Gegen ihre Verurteilungen wenden sich die Angeklagten<br />

mit sachlich-rechtlichen Beanstandungen; der Angeklagte N. hat zudem Verfahrensrügen erhoben. Die<br />

Staatsanwaltschaft, deren Rechtsmittel vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt nicht vertreten wird, beanstandet mit Sachrügen<br />

(nunmehr) allein die Rechtsfolgenaussprüche. Keines der Rechtsmittel hat Erfolg.<br />

I. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen: Der Angeklagte N. ist Rechtsanwalt; er<br />

ist seit dem Jahr 2002 im Bereich der Zwangsverwaltung tätig. Der Angeklagte Sch. war von 1996 bis Ende 2007 als<br />

Rechtspfleger beim Amtsgericht N. beschäftigt; dort bearbeitete er vor allem Zwangsverwaltungs- <strong>und</strong> Zwangsversteigerungsverfahren.<br />

Am 4. Dezember 2002 beantragte eine Gläubigerin von Johann-Christian T. beim Amtsgericht<br />

N. unter anderem die Zwangsverwaltung über dessen Gr<strong>und</strong>stück in L., str. . Mit Beschluss vom 14. Januar 2003<br />

ordnete der Angeklagte Sch. , in dessen Zuständigkeit die Bearbeitung dieses Antrags fiel, die Zwangsverwaltung an<br />

<strong>und</strong> bestellte den Angeklagten N. zum Zwangsverwalter, obwohl ihm in diesem Anwesen bereits zuvor vom Eigentümer<br />

unentgeltlich eine Dachgeschoßwohnung zur Nutzung überlassen worden war, die er auch in der Folgezeit -<br />

bis mindestens Ende 2007 - nutzte, ohne hierfür Miete bzw. eine sonstige Nutzungsentschädigung <strong>und</strong> Betriebskosten<br />

an den Zwangsverwalter zu bezahlen. Der Angeklagte N. nahm das Gr<strong>und</strong>stück am 21. Januar 2003 in Besitz <strong>und</strong><br />

übte seine Verwaltertätigkeit aus. Dabei war ihm bekannt, dass der Angeklagte Sch., der in dem Haus "nach dem<br />

195


Rechten sah", die Dachgeschosswohnung unentgeltlich nutzte. Dies gestattete er im Einvernehmen mit dem Angeklagten<br />

Sch. auch weiterhin, obwohl beide Angeklagte wussten, dass der Angeklagte Sch. auch unter Berücksichtigung<br />

seiner Dienste Miete bzw. eine Nutzungsentschädigung zu entrichten <strong>und</strong> die Betriebskosten zu tragen gehabt<br />

hätte. Der Angeklagte Sch. hielt den Angeklagten N. zu keinem Zeitpunkt dazu an, ihn als Nutzer der Immobilie zu<br />

erfassen <strong>und</strong> bei ihm Miete bzw. eine Nutzungsentschädigung <strong>und</strong> die Betriebskosten einzufordern. Der Angeklagte<br />

N. sah von der Geltendmachung dieser Ansprüche ab, "weil er sich hierfür ein Gewogensein des Angeklagten Sch.<br />

im Rahmen dessen dienstlicher Tätigkeit versprach. Davon ging auch der Angeklagte Sch. aus." Eine Umsetzung<br />

dieser "stillschweigenden Übereinkunft" über die kostenlose Überlassung der Wohnung hinaus vermochte die Strafkammer<br />

allerdings nicht festzustellen. Zwischen Februar 2003 <strong>und</strong> November 2007 entgingen dem Zwangsverwalter<br />

bzw. der Gläubigerin von Johann-Christian T. bzw. diesem selbst infolge der kostenlosen Nutzung der Wohnung<br />

durch den Angeklagten Sch. insgesamt 8.408,84 € (108,50 €/Monat Kaltmiete <strong>und</strong> 36,48 €/Monat Betriebskosten).<br />

II. Die Rechtsmittel der Angeklagten haben keinen Erfolg. Ergänzend zu den Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

in den Antragsschriften vom 26. April 2011 bemerkt der Senat:<br />

1. Die Schuldsprüche wegen Untreue weisen keinen Rechtsfehler auf. Insbesondere ist das Landgericht bei beiden<br />

Angeklagten zu Recht vom Bestehen einer Vermögensbetreuungspflicht ausgegangen.<br />

a) Nach den von der Strafkammer getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte N. nach § 266 Abs. 1 <strong>StGB</strong><br />

strafbar gemacht. Eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne dieser Vorschrift ist gegeben, wenn der Täter in einer<br />

Beziehung zum (potentiell) Geschädigten steht, die eine besondere, über die für jedermann geltenden Pflicht zur<br />

Wahrung der Rechtssphäre anderer hinausgehende Verantwortung für dessen materielle Güter mit sich bringt. Den<br />

Täter muss eine inhaltlich besonders herausgehobene Pflicht zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen treffen.<br />

Hierbei ist in erster Linie von Bedeutung, ob die fremdnützige Vermögensfürsorge den Hauptgegenstand der<br />

Rechtsbeziehung bildet <strong>und</strong> ob dem Verpflichteten bei deren Wahrnehmung ein gewisser Spielraum, eine gewisse<br />

Bewegungsfreiheit oder Selbständigkeit, mit anderen Worten die Möglichkeit zur verantwortlichen Entscheidung<br />

innerhalb eines gewissen Ermessensspielraums verbleibt (zum Ganzen: BGH, Beschluss vom 13. September 2010 -<br />

1 StR 220/09, BGHSt 55, 288, 297 f. mwN). Eine solche Vermögensbetreuungspflicht - wie auch seine Garantenstellung<br />

gegenüber der Gläubigerin von Johann-Christian T. <strong>und</strong> diesem selbst - bestand für den Angeklagten N. aufgr<strong>und</strong><br />

von §§ 152, 154 ZVG in Verbindung mit dem Beschluss über seine Bestellung zum Zwangsverwalter. Bereits<br />

das Reichsgericht (Urteil vom 16. Oktober 1905 - Rep. 426/05, RGSt 38, 190) hat den Zwangsverwalter zu den<br />

"kraft öffentlichrechtlicher Verpflichtung zu besonderer Treue verb<strong>und</strong>enen Personen" gerechnet <strong>und</strong> ihm eine Vermögensbetreuungspflicht<br />

auferlegt. Hieran hat sich nichts geändert. Denn aus §§ 152, 154 ZVG ergibt sich, dass der<br />

Zwangsverwalter eines Gr<strong>und</strong>stücks fremdes Vermögen im Interesse aller Beteiligten, also insbesondere der Gläubiger<br />

<strong>und</strong> Schuldner (§ 9 ZVG), treuhänderisch verwaltet (vgl. Böttcher/Keller in Böttcher, ZVG, 5. Aufl., § 152 Rn.<br />

5; ebenso zur Stellung des Vergleichsverwalters: BGH, Urteil vom 26. Juli 1960 - 1 StR 248/60; zum Konkurs- <strong>und</strong><br />

Insolvenzverwalter: BGH, Urteile vom 14. Februar 1955 - 3 StR 459/54; vom 14. Januar 1998 - 1 StR 504/97, NStZ<br />

1998, 246, 247; zu diesen auch SSW-<strong>StGB</strong>/Saliger § 266 Rn. 13, 33, Borchardt in Schmidt, Hamburger Kommentar<br />

zum Insolvenzrecht, 2. Aufl., § 266 <strong>StGB</strong> Rn. 1, 9 ff. jeweils mwN). Diesen gegenüber ist er - selbständig <strong>und</strong> nach<br />

pflichtgemäßem Ermessen handelnd (§ 1 Abs. 1 Satz 1 der Zwangsverwalterverordnung vom 19. Dezember 2003,<br />

BGBl. I S. 2804 [gültig ab 1. Januar 2004] - im Folgenden: ZwVwV, bzw. § 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über<br />

die Geschäftsführung <strong>und</strong> die Vergütung des Zwangsverwalters vom 16. Februar 1970, BGBl. I S. 185 [gültig bis 31.<br />

Dezember 2003] - im Folgenden: ZVwVergV) - für die Erfüllung der ihm obliegenden Verpflichtungen verantwortlich<br />

(§ 154 Satz 1 ZVG). Zu diesen Pflichten gehört es auch <strong>und</strong> insbesondere, das Gr<strong>und</strong>stück "ordnungsgemäß zu<br />

benutzen" (§ 152 Abs. 1 ZVG). Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, unterlässt er es also, alle möglichen Nutzungen<br />

zu ziehen (OLG Köln, Beschluss vom 25. Juni 2006 - 2 U 39/07; Böttcher/Keller aaO § 152 Rn. 19), also<br />

beispielsweise das Gr<strong>und</strong>stück durch Vermietung nutzbar zu machen (Böttcher/Keller aaO § 152 Rn. 20, 32; zur<br />

Umwandlung von unentgeltlichen Überlassungsverträgen in ein Miet- oder Pachtverhältnis: Drasdo NJW 2011,<br />

1782, 1784 mwN) <strong>und</strong> den Mietzins einzuziehen (OLG Köln aaO) oder zu niedrige Mieten anzuheben (KG, Urteil<br />

vom 12. Januar 1978 - 12 U 2661/77, MDR 1978, 586; Sievers in Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Zwangsvollstreckung,<br />

§ 152 Rn. 3), so haftet er für den hierdurch den Gläubigern bzw. dem Schuldner entstandenen Schaden nach §<br />

154 ZVG (vgl. OLG Köln aaO, KG aaO; ferner Böttcher/Keller aaO § 154 Rn. 3b). Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage hat der<br />

Angeklagte N. durch das Unterlassen des Forderns <strong>und</strong> Einziehens des Mietzinses bzw. einer Nutzungsentschädigung<br />

<strong>und</strong> der Betriebskosten beim Angeklagten Sch. seine Pflichten als Zwangsverwalter verletzt, hierdurch seine<br />

Vermögensbetreuungspflicht missachtet <strong>und</strong> die Gläubigerin von Johann-Christian T. bzw. diesen selbst geschädigt<br />

(vgl. OLG Köln aaO, ferner HansOLG Bremen, Urteil vom 5. Dezember 1988 - Ss 85/87, NStZ 1989, 228; SSW-<br />

<strong>StGB</strong>/Saliger § 266 Rn. 33 mwN).<br />

196


) Auch die Verurteilung des Angeklagten Sch. wegen Untreue weist keinen Rechtsfehler auf.<br />

aa) Ihm oblag ebenfalls eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 <strong>StGB</strong> gegenüber der Gläubigerin<br />

von Johann-Christian T. bzw. diesem selbst.<br />

Nach § 153 ZVG hat der Rechtspfleger (§ 3 Nr. 1 Buchst. i RPflG) des Vollstreckungsgerichts unter anderem die<br />

Geschäftsführung des Verwalters zu beaufsichtigen. Ihm kommt diesem gegenüber eine "verfahrensbeherrschende<br />

Stellung" zu (Böttcher/Keller aaO § 153 Rn. 1). Zwar handelt der Verwalter gr<strong>und</strong>sätzlich selbständig <strong>und</strong> eigenverantwortlich,<br />

jedoch ist das Vollstreckungsgericht berechtigt <strong>und</strong> verpflichtet, den Verwalter zu leiten <strong>und</strong> im Rahmen<br />

seiner Aufsichtstätigkeit festgestellte Pflichtwidrigkeiten abzustellen (vgl. Böttcher/Keller aaO § 153 Rn. 5). Diese<br />

Pflichten berühren nicht nur allgemeine Interessen der Gläubiger <strong>und</strong> Schuldner; sie betreffen vielmehr auch deren<br />

Vermögensinteressen. Denn die Aufsichtspflicht des Rechtspflegers bezieht sich insbesondere auf die treuhänderische<br />

Tätigkeit des Zwangsverwalters <strong>und</strong> die diesem obliegende Pflicht zur Wahrnehmung der Vermögensinteressen<br />

der Gläubiger <strong>und</strong> des Schuldners. Hierzu kann <strong>und</strong> muss der Rechtspfleger dem Zwangsverwalter gegebenenfalls<br />

auch (Einzel-)Anweisungen erteilen, die - wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt mit zahlreichen weiteren Beispielen ausgeführt<br />

hat - etwa Mietverträge betreffen können (§§ 6, 10 Abs. 1 Nr. 2 ZwVwV bzw. § 6 ZVwVergV). Solchen Anweisungen<br />

muss der Zwangsverwalter folgen, er ist an sie geb<strong>und</strong>en (§ 1 Abs. 1 Satz 2 ZwVwV bzw. § 1 Abs. 1 Satz<br />

2 ZVwVergV). Angesichts dieser Stellung <strong>und</strong> Aufgaben des Rechtspflegers in Zwangsverwaltungsverfahren oblag<br />

dem Angeklagten Sch. gegenüber der Gläubigerin von Johann-Christian T. bzw. diesem selbst eine Vermögensbetreuungspflicht<br />

im Sinne des § 266 <strong>StGB</strong> (vgl. zum Rechtspfleger in Nachlasssachen ebenso BGH, Urteil vom 25.<br />

Februar 1988 - 1 StR 466/87, BGHSt 35, 224, 227, 229 = JZ 1988, 881 m. Anm. Otto; zum Gerichtsvollzieher: RGSt<br />

61, 228, 229 ff.; BGH, Beschluss vom 7. Januar 2011 - 4 StR 409/10, NStZ 2011, 281, 282). Dem steht nicht entgegen,<br />

dass der Angeklagte Sch. - weil selbst betroffen (vgl. § 10 RPflG i.V.m. § 41 Nr. 1 ZPO) - in dem Zwangsverwaltungsverfahren<br />

gar nicht hätte tätig werden dürfen; denn das Verbot, in eigener Sache tätig zu werden, schließt<br />

ein gleichwohl bestehendes Treueverhältnis nicht aus (so bereits RGSt 72, 347, 348).<br />

bb) Gegen die ihm obliegende Vermögensbetreuungspflicht hat der Angeklagte Sch. verstoßen, da er den Zwangsverwalter<br />

nicht dazu anhielt, bei ihm selbst Miete bzw. Nutzungsentschädigung <strong>und</strong> Betriebskosten einzufordern.<br />

Zwar genügt die bloße Verletzung einer nicht zumindest auch den fremden Vermögensinteressen dienenden Dienstpflicht<br />

nicht für eine Verurteilung wegen Untreue (vgl. RGSt 61, 228, 231 [zum Gerichtsvollzieher]; SSW-<br />

<strong>StGB</strong>/Saliger § 266 Rn. 32 mwN; für den Nachlassrechtspfleger auch Otto JZ 1988, 883, 884). Jedoch ist eine<br />

Normverletzung pflichtwidrig i.S.v. § 266 <strong>StGB</strong>, wenn die verletzte Rechtsnorm wie hier - wenigstens auch, <strong>und</strong> sei<br />

es mittelbar - vermögensschützenden Charakter hat (BGH, Beschluss vom 13. September 2010 - 1 StR 220/09,<br />

BGHSt 55, 288, 300 f.).<br />

cc) Die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht durch den Angeklagten Sch. hat bei der Gläubigerin von Johann-Christian<br />

T. bzw. diesem selbst auch zu einem Vermögensnachteil im Sinne des § 266 Abs. 1 <strong>StGB</strong> geführt.<br />

Insofern ist ohne Bedeutung, dass es - wie die Revision einwendet - denkbar ist, dass der Zwangsverwalter Anweisungen<br />

des Rechtspflegers entgegen seiner Pflicht nicht folgt. Bei einer - wie vorliegend - rechtmäßigen <strong>und</strong> in der<br />

Sache gebotenen Anweisung steht eine solche ohne jeglichen Anhaltspunkt in den Raum gestellte, lediglich denkbare<br />

Annahme der Bejahung des erforderlichen Zusammenhangs zwischen dem pflichtwidrigem Tun <strong>und</strong> dem Erfolg<br />

nicht entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 12. Januar 2010 - 1 StR 272/09, NJW 2010, 1087, 1091). Auch soweit für eine<br />

Verurteilung wegen Untreue gefordert wird (dies in Frage stellend: BGH, Beschluss vom 13. April 2011 - 1 StR<br />

94/10, NJW 2011, 1747, 1751; dagegen beispielsweise SSW-<strong>StGB</strong>/Saliger § 266 Rn. 83, 84), dass der Vermögensnachteil<br />

unmittelbar durch die Pflichtverletzung ausgelöst worden sein muss, fehlt es hieran nicht. Denn ein über den<br />

Zurechnungszusammenhang hinausgehendes Unmittelbarkeitserfordernis zwischen Pflichtwidrigkeit <strong>und</strong> Nachteil<br />

steht weder in Fällen der mittelbaren Täterschaft noch in dem hier vom Landgericht angenommenen Fall der Mittäterschaft<br />

in Frage. Auch bei der vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt angenommenen Alleintäterschaft des Angeklagten Sch.<br />

liegt in dem Unterlassen der Anweisung an den Zwangsverwalter, die gegen ihn selbst bestehenden Forderungen<br />

geltend zu machen, aufgr<strong>und</strong> der Bindung des Zwangsverwalters an eine solche Anweisung zumindest eine unmittelbare<br />

schadensgleiche Vermögensgefährdung (vgl. für Schäden, die sich gleichsam von selbst vollstrecken: SSW-<br />

<strong>StGB</strong>/Saliger § 266 Rn. 75; zur Untreue durch Nicht-Erfüllung von Aufsichtspflichten: ders. Rn. 33 jeweils mwN).<br />

2. Die Verurteilungen der Angeklagten wegen Vorteilsgewährung bzw. Vorteilsannahme weisen ebenfalls keine<br />

Rechtsfehler auf. Die nach §§ 331, 333 <strong>StGB</strong> erforderliche Unrechtsvereinbarung liegt nach den vom Landgericht<br />

getroffenen Feststellungen vor. Denn nach der Neufassung dieser Tatbestände werden auch die Fälle erfasst, in denen<br />

durch einen Vorteil nur das generelle Wohlwollen <strong>und</strong> die Geneigtheit des Amtsträgers erkauft bzw. "allgemeine<br />

Klimapflege" betrieben wird, wobei allerdings zwischen dem Vorteil <strong>und</strong> der Dienstausübung ein "Gegenseitigkeitsverhältnis"<br />

in dem Sinne bestehen muss, dass der Vorteil nach dem ausdrücklichen oder stillschweigenden Einver-<br />

197


ständnis der Beteiligten seinen Gr<strong>und</strong> gerade in der Dienstausübung hat, also Ziel der Vorteilszuwendung ist, auf die<br />

künftige Dienstausübung Einfluss zu nehmen <strong>und</strong>/oder die vergangene Dienstausübung zu honorieren (BGH, Urteil<br />

vom 14. Oktober 2008 - 1 StR 260/08, BGHSt 53, 6, 15 f. mwN). Dies ist vorliegend gegeben, weil sich der Angeklagte<br />

N. ein "Gewogensein des Angeklagten Sch. [gerade] im Rahmen dessen dienstlicher Tätigkeit versprach" (UA<br />

47). Im Einvernehmen hiermit sollte der Angeklagte Sch. als für das Zwangsverwaltungsverfahren zuständiger<br />

Rechtspfleger, mithin als "das Vollstreckungsgericht" <strong>und</strong> als Amtsträger, handeln (vgl. auch BGH, Urteil vom 25.<br />

Februar 1988 - 1 StR 466/87, BGHSt 35, 224, 230 f. = JZ 1988, 881 m. Anm. Otto). Der gewährte bzw. entgegengenommene<br />

Vorteil, nämlich die unentgeltliche Nutzung der Wohnung während der von ihm angeordneten Zwangsverwaltung,<br />

stellt auch einen Vorteil im Sinne der §§ 331, 333 <strong>StGB</strong> dar. Denn hierunter ist jede Leistung zu verstehen,<br />

auf die der Amtsträger keinen Anspruch hat <strong>und</strong> die seine wirtschaftliche, rechtliche oder auch nur persönliche<br />

Lage objektiv verbessert (vgl. BGH, Urteil vom 14. Oktober 2008 - 1 StR 260/08, BGHSt 53, 6, 11 mwN).<br />

III. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft haben ebenfalls keinen Erfolg. Der Revisionsführerin ist zwar zuzugeben,<br />

dass die gegen die Angeklagten verhängten Strafen außerordentlich milde sind. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in<br />

die Strafzumessung ist jedoch in der Regel nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind,<br />

von unzutreffenden Tatsachen ausgehen, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn<br />

sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit<br />

löst, dass sie nicht mehr innerhalb des dem Tatrichter eingeräumten Spielraums liegt (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Beschluss<br />

vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349 mwN). Auch die Frage, welchen Umständen der<br />

Tatrichter bei der Strafrahmenwahl bestimmendes Gewicht beimisst, ist im Wesentlichen seiner Beurteilung überlassen<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 27. Januar 2010 - 2 StR 498/09). Die Grenze des Vertretbaren <strong>und</strong> damit den ihm eingeräumten<br />

Spielraum hat das Landgericht bei der Festsetzung der Strafen gegen die Angeklagten noch nicht überschritten.<br />

Einen durchgreifenden Rechtsfehler weist die Strafzumessung - wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift<br />

vom 26. April 2011 dargelegt hat - letztlich nicht auf. Dies gilt auch für die Nicht-Verhängung eines Berufsverbots<br />

gegen den Angeklagten N..<br />

<strong>StGB</strong> § 266; Untreue Schaden; Fertigstellung Protokoll, Verfahrensverzögerung<br />

BGH, Urt. v. 07.09.2011 - 2 StR 600/10 - NJW 2011, 3528 = NStZ 2012, 151 = StV 2012, 82<br />

Ein Nachteil i.S.v. § 266 <strong>StGB</strong> liegt vor, wenn die treuwidrige Handlung unmittelbar zu einer nicht<br />

durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des wirtschaftlichen Gesamtwerts des Vermögens des<br />

Treugebers führt (Prinzip der Gesamtsaldierung, BGHSt 15, 342, 343 f.; 47, 295, 301 f.; BGH NStZ<br />

2004, 205, 206; 2010, 330, 331). Maßgeblich ist der Zeitpunkt der pflichtwidrigen Tathandlung, also<br />

der Vergleich des Vermögenswerts unmittelbar vor <strong>und</strong> nach dieser Handlung.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten H. wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 24. Februar 2010 dahin ergänzt,<br />

dass von der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten ein Monat Freiheitsstrafe als Entschädigung<br />

für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als vollstreckt gilt.<br />

Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

2. Die Revision des Angeklagten B. gegen das Urteil des Landgerichts Bonn vom 24. Februar 2010 wird verworfen.<br />

3. Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht Bonn hat die Angeklagten wegen Untreue in drei Fällen schuldig gesprochen. Gegen den Angeklagten<br />

H. hat es eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten, gegen den Angeklagten B. eine Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von zwei Jahren verhängt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die hiergegen gerichtete Revision des<br />

Angeklagten B. bleibt ohne Erfolg. Die Revision des Angeklagten H. ist im Wesentlichen erfolglos; das Urteil ist<br />

lediglich um eine Kompensation für einen Konventionsverstoß zu ergänzen.<br />

I. Nach den Feststellungen des Landgerichts waren die Angeklagten geschäftsführende Gesellschafter der S. OHG,<br />

die zunächst mit der Vermittlung von Versicherungen für den Bildungsaustausch, ab Januar 2006 auch mit dem<br />

Prämieneinzug für die A. Krankenversicherung AG beschäftigt war. Im Juni 2006 kam es zu einer vertraglichen<br />

Vereinbarung mit der amerikanischen Versicherungsgesellschaft C., für diese gegen Entgelt als Drittwalter Versicherungen<br />

zu vertreiben <strong>und</strong> die Prämieneinziehung sowie die Schadensbearbeitung zu übernehmen. Die S. OHG hatte<br />

monatlich die eingenommenen Versicherungsprämien an die C. weiterzuleiten. Hiervon in Abzug zu bringen waren<br />

198


die Schadensbearbeitungskosten, d.h. die an die Versicherten gezahlten Entschädigungsleistungen sowie die hiermit<br />

in Zusammenhang stehenden Aufwendungen (Kosten für Gutachten etc.) mit Ausnahme der allgemeinen Verwaltungskosten<br />

(z.B. Personalkosten, Büromieten), die von der S. OHG zu tragen waren. Zur Schadensbearbeitung war<br />

die S. OHG berechtigt, vereinnahmte Prämien bis zur Höhe von einer Mio. € durch Verrechnung als "Schadensfonds"<br />

zurückzuhalten. Das Entgelt für die von der S. OHG zu erbringenden Leistungen bestand in einem Prämienaufschlag<br />

gegenüber den Versicherungsnehmern. Dieser reichte jedoch nicht aus, um den hohen Kostenaufwand der<br />

S. OHG zu decken, weshalb diese von Anfang an monatliche Verluste von mehreren 100.000 € zu verzeichnen hatte.<br />

Nachverhandlungen der S. OHG mit der C. über eine zusätzliche Provision scheiterten. Infolge dessen wurden ab<br />

Herbst 2006 vorrangig besonders bedürftige K<strong>und</strong>en <strong>und</strong> solche, die sich mehrfach beschwert hatten, entschädigt,<br />

während die anderen "hingehalten" wurden. Die S. OHG erstellte unter dem 22. Dezember 2006, 31. Januar 2007<br />

<strong>und</strong> 8. Februar 2007 Abrechnungen, in die sie die Prämieneinnahmen zutreffend einstellte. Entgegen der vertraglichen<br />

Vereinbarung brachte sie jedoch - was die Angeklagten wussten - nicht nur die tatsächlich gezahlten Entschädigungen,<br />

sondern auch die lediglich angemeldeten, noch nicht regulierten Schäden in Abzug. Aufgr<strong>und</strong> der Höhe<br />

dieser vermeintlichen Entschädigungsleistungen <strong>und</strong> unter Berücksichtigung des von der S. OHG berechtigterweise<br />

unterhaltenen Schadensfonds von einer Mio. € führte die Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt Prämien an die C. ab. Die<br />

vorenthaltenen Prämien in Höhe von etwa 4.303.040 € verwendeten die Angeklagten zur Deckung ihrer Kosten <strong>und</strong><br />

zum Aufbau der S.-Gruppe. Das Landgericht hat das Handeln der Angeklagten jeweils als Untreue in drei Fällen -<br />

entsprechend den erfolgten drei Abrechnungen - gewertet. Diese hätten ihre gegenüber der C. als Treugeberin bestehende<br />

Vermögensbetreuungspflicht verletzt, indem sie es unterlassen hätten, entsprechend ihrer vertraglichen Verpflichtung<br />

monatlich die Prämienüberschüsse abzuführen. Den der C. entstandenen Schaden hat das Landgericht<br />

aufgr<strong>und</strong> der Abrechnung vom 22. Dezember 2006 (Abrechnungszeitraum Juni bis November 2006) auf<br />

1.434.419,51 €, der Abrechnung vom 31. Januar 2007 (Abrechnungszeitraum Dezember 2006) auf 382.057,36 € <strong>und</strong><br />

der Abrechnung vom 8. Februar 2007 (Abrechnungszeitraum Januar 2007) auf 431.135,74 € beziffert. Hierbei hat es<br />

von den eingenommenen Prämien einen Betrag von einer Mio. € für den Schadensfonds, die von der C. zu tragenden<br />

Aufwendungen zur Schadensbearbeitung <strong>und</strong> die tatsächlich erbrachten Schadenszahlungen in Abzug gebracht <strong>und</strong><br />

zudem einen Sicherheitsabschlag von 20 % vorgenommen.<br />

II. Die Verfahrensrügen haben - mit Ausnahme des von dem Angeklagten H. geltend gemachten Verstoßes gegen<br />

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK (siehe dazu unten II. 2) - aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

keinen Erfolg. Auch die Sachrüge ist unbegründet.<br />

1. a) Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichts tragen die Schuldsprüche wegen Untreue in<br />

drei Fällen. Die Tathandlung besteht jeweils in einem Unterlassen i.S.v. § 13 <strong>StGB</strong>, dem Nichtabführen der Prämienüberschüsse<br />

zum monatlichen Abrechnungszeitpunkt. Für die Abgrenzung von Tun <strong>und</strong> Unterlassen kommt es<br />

auf den Schwerpunkt des Täterverhaltens an, über das in wertender Würdigung zu entscheiden ist (BGHSt 6, 46, 59;<br />

NStZ 1999, 607). Hier liegt - schon mit Blick darauf, dass ins Einzelne gehende Feststellungen zur vertragswidrigen<br />

Verwendung der Gelder nicht getroffen sind - der Schwerpunkt des treuwidrigen Verhaltens in der unterbliebenen<br />

Weiterleitung der zum Abrechnungszeitpunkt an die C. zu zahlenden Prämiengelder. Demgegenüber tritt die als<br />

positives Tun zu betrachtende Erstellung falscher Abrechnungen bei wertender Betrachtung als bloße Vorbereitung<br />

der den eigentlichen Schaden herbeiführenden Nichtabführung zu zahlender Prämien zurück. Soweit das Landgericht<br />

die treuwidrige Handlung i.S.v. § 266 <strong>StGB</strong> nicht zum jeweiligen vertraglich vorgesehenen monatlichen Abrechnungsstichtag,<br />

sondern zum Zeitpunkt der drei Prämienabrechnungen angenommen hat, belastet dies die Angeklagten<br />

nicht, die sich ansonsten wegen acht Untreuestraftaten zu verantworten gehabt hätten.<br />

b) Das Landgericht hat auch den eingetretenen Vermögensnachteil zutreffend berechnet. Ein Nachteil i.S.v. § 266<br />

<strong>StGB</strong> liegt vor, wenn die treuwidrige Handlung unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung<br />

des wirtschaftlichen Gesamtwerts des Vermögens des Treugebers führt (Prinzip der Gesamtsaldierung, BGHSt<br />

15, 342, 343 f.; 47, 295, 301 f.; BGH NStZ 2004, 205, 206; 2010, 330, 331). Maßgeblich ist der Zeitpunkt der<br />

pflichtwidrigen Tathandlung, also der Vergleich des Vermögenswerts unmittelbar vor <strong>und</strong> nach dieser Handlung.<br />

Nach den Feststellungen des Landgerichts nahmen die Angeklagten zu den jeweiligen Abrechnungszeitpunkten eine<br />

Abrechnung vor, die die abzuführenden Prämien nach Abzug eines Betrages von einer Mio. € für den Schadensfonds,<br />

den von der C. zu tragenden Aufwendungen zur Schadensbearbeitung sowie den tatsächlich von der S. OHG<br />

erbrachten Entschädigungszahlungen sowie den lediglich angemeldeten, aber noch nicht regulierten Schadensbeträgen<br />

für den jeweiligen Zeitraum verbindlich <strong>und</strong> abschließend darstellte. Sie reduzierten damit den auszuzahlenden<br />

Betrag an eingenommenen Prämien zu Unrecht um Beträge für lediglich angemeldete Schadensposten. Die Angeklagten<br />

beabsichtigten nach ihren Vorstellungen nicht, die vorenthaltenen Prämien jemals auszuzahlen; sie wollten<br />

vielmehr die vertragswidrig einbehaltenen Geldbeträge durch eine bewusst falsche Abrechnungsweise als berechtigt<br />

199


einbehalten ausweisen <strong>und</strong> diese zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs nach <strong>und</strong> nach vertragswidrig für eigene<br />

Zwecke verwenden. Damit war zum jeweiligen Abrechnungszeitpunkt ein endgültiger Schaden eingetreten. Der<br />

Umstand, dass die S. OHG in Einzelfällen Entschädigungszahlungen, die sie in ihrer Abrechnung zunächst nur zum<br />

Schein als bereits ausgezahlt verbucht hat, im Nachhinein bei besonders drängenden oder bedürftigen Versicherungsnehmern<br />

tatsächlich noch erbracht hat, steht dem nicht entgegen. Das Erlangen von durch spätere Geschäfte<br />

erzielten "Vermögensvorteilen" (Befreiung von einer Verbindlichkeit gegenüber den Versicherten) durch die Treugeberin<br />

konnte den bereits eingetretenen Schaden nicht mehr beseitigen, sondern stellte eine bloße Schadenswiedergutmachung<br />

dar (vgl. BGHSt 55, 266, 284). Der der C. entstandene Vermögensnachteil beläuft sich daher - es ist zu<br />

keinerlei Auszahlungen an sie gekommen - auf die Summe der eingenommenen Prämienzahlungen abzüglich des<br />

Betrages von einer Mio. € für den Schadensfonds, die von der C. zu tragenden Aufwendungen zur Schadensbearbeitung<br />

<strong>und</strong> die tatsächlich von der S. OHG erbrachten Entschädigungszahlungen. Der hypothetische Umstand, dass<br />

jedenfalls ein <strong>Teil</strong> der angemeldeten <strong>und</strong> noch nicht regulierten Schäden, die die S. OHG in ihren Abrechnungen als<br />

bereits ausgezahlte Schadensersatzleistungen auswies, von der S. OHG hätte erstattet werden müssen <strong>und</strong> von dieser<br />

dann hätte einbehalten werden dürfen, hat bei der Schadensberechnung unberücksichtigt zu bleiben. Eine Kompensation<br />

durch Zugr<strong>und</strong>elegung hypothetischer Sachverhalte findet bei der Schadensberechnung nicht statt (für den Bereich<br />

des Sozialversicherungsrechts BGH NStZ 1995, 85, 86; NStZ 2003, 313, 315).<br />

2. Schließlich begegnet die von der Strafkammer vorgenommene Strafzumessung hinsichtlich des Angeklagten H.<br />

keinen rechtlichen Bedenken. Entgegen der Auffassung der Revision hat das Landgericht dem Postulat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs,<br />

dass gegen Mittäter verhängte Strafen in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen sollen (vgl.<br />

zuletzt BGH NJW 2011, 2597 mwN), Rechnung getragen. Es hat bei dem Angeklagten H. eingestellt, dass dieser -<br />

im Gegensatz zu dem Angeklagten B., der keine Vorstrafe aufweist, den Anklagevorwurf weitgehend eingeräumt hat<br />

<strong>und</strong> u.a. angesichts einer eingetragenen Zwangshypothek von 800.000 € wirtschaftlich ruiniert ist - einschlägig hinsichtlich<br />

einer in allen Einzelheiten vergleichbaren Tat vorbestraft ist <strong>und</strong> sich beim Ermittlungsrichter lediglich<br />

teilweise geständig eingelassen hat. Angesichts beschränkter revisionsgerichtlicher Kontrolle ist daher das unterschiedliche<br />

Strafmaß nicht zu beanstanden.<br />

3. Zu Recht beanstandet die Revision des Angeklagten H. mit der Verfahrensrüge nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK<br />

allerdings, dass nach der Urteilsverkündung eine der Justiz anzulastende, erhebliche Verfahrensverzögerung eingetreten<br />

ist. Dem Angeklagten H. wurde das am 24. Februar 2010 verkündete Urteil am 21. Mai 2010 zugestellt. Diese<br />

Urteilszustellung war unwirksam, da das Hauptverhandlungsprotokoll vom 8. Februar 2010 von dem Protokollführer<br />

nicht unterschrieben <strong>und</strong> das Protokoll daher nicht fertiggestellt war. Fertig gestellt i.S.v. § 271 Abs. 1 Satz 2 StPO<br />

ist das Protokoll erst mit der letzten Unterschrift der Urk<strong>und</strong>sperson (BGHSt 23, 115, 117; Meyer-Goßner StPO 54.<br />

Aufl. § 271 Rn. 19). Fehlt es hieran, ist eine vorangegangene Urteilszustellung unwirksam (BGHSt 27, 80, 81). Die<br />

deshalb erforderliche erneute Urteilszustellung erfolgte am 10. Dezember 2010. Infolge dessen ist eine unangemessene<br />

Verfahrensverzögerung von mehr als sechs Monaten eingetreten. Über die angemessene Kompensation kann<br />

der Senat in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 a Satz 2 StPO selbst entscheiden (vgl. BGH NStZ-RR<br />

2008, 208, 209). Auf der Gr<strong>und</strong>lage der Vollstreckungslösung (BGH NJW 2008, 860) stellt der Senat fest, dass von<br />

der verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten ein Monat Freiheitsstrafe als Entschädigung für<br />

die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als vollstreckt gilt.<br />

4. Die gegen die Verurteilung insgesamt gerichtete Revision des Angeklagten H. hat nur einen geringen <strong>Teil</strong>erfolg,<br />

so dass es nicht unbillig ist, diesen mit den gesamten Kosten <strong>und</strong> Auslagen seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473<br />

Abs. 1 <strong>und</strong> 4 StPO).<br />

<strong>StGB</strong> § 266a Abs. 2 – Unmöglichkeit der Beitragsentrichtung bei illegaler Beschäftigung<br />

BGH, Beschl. v. 11.08.2011 - 1 StR 295/11 - NJW 2011, 3047m. Anm Bittmann<br />

LS: Bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen, die den Tatbestand des § 266a Abs. 2 erfüllen, wirkt<br />

die Unmöglichkeit der Beitragsentrichtung - anders als im originären Anwendungsbereich des §<br />

266a Abs. 1 <strong>StGB</strong> (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom 28. Mai 2002 - 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318) -<br />

regelmäßig nicht tatbestandsausschließend.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Coburg vom 16. Februar 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum<br />

200


Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels<br />

zu tragen. Ergänzend bemerkt der Senat:<br />

1. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen waren die in den „Drückerkolonnen“ des Angeklagten beschäftigten<br />

Personen vollständig in den Betrieb des Unternehmens des Angeklagten eingegliedert <strong>und</strong> dessen Weisungen<br />

unterworfen. Diese Feststellungen tragen die rechtliche Wertung des Landgerichts, dass der Angeklagte Arbeitgeber<br />

der in seinem Unternehmen beschäftigten Personen war. Für die Beurteilung, ob ein sozialversicherungs-<br />

<strong>und</strong> lohnsteuerpflichtiges Arbeitsverhältnis vorliegt, sind allein die tatsächlichen Gegebenheiten maßgeblich. Liegt<br />

danach ein Arbeitsverhältnis vor, können die Vertragsparteien die sich hieraus ergebenden Beitragspflichten nicht<br />

durch eine abweichende vertragliche Gestaltung beseitigen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2009 - 1 StR<br />

478/09, NStZ 2010, 337 mwN). Dem steht auch die von der Revision angeführte Entscheidung des B<strong>und</strong>esarbeitsgerichts<br />

vom 9. Juni 2010 (5 AZR 332/09, NJW 2010, 2455) nicht entgegen. Danach ist bei der Gesamtwürdigung<br />

eines Sachverhaltes zur Klärung der Frage, ob ein Arbeitsverhältnis vorliegt „zudem die Vertragstypenwahl der<br />

Parteien zu berücksichtigen“. Lediglich dann, „wenn die tatsächliche Handhabung nicht zwingend für ein Arbeitsverhältnis<br />

spricht, müssen sich die Parteien an dem von ihnen gewählten Vertragstypus festhalten lassen“ (BAG aaO<br />

2457). Vorliegend sind indes auf Gr<strong>und</strong>lage der getroffenen Feststellungen die Voraussetzungen eines Arbeitsverhältnisses<br />

zweifelsfrei gegeben.<br />

2. Das Landgericht hat der Verurteilung auch keine zu hohen Schwarzlohnsummen zu Gr<strong>und</strong>e gelegt. Soweit die<br />

Revision in diesem Zusammenhang geltend macht, die Einbeziehung der Zahlungen des Angeklagten für Verpflegung<br />

<strong>und</strong> Unterkunft der Arbeitnehmer sei zu Unrecht erfolgt, verkennt sie, dass die Zahlungen nicht zusätzlich,<br />

sondern anstatt des Gehaltes gezahlt worden sind. Bereits aus diesem Gr<strong>und</strong> greift die Einschränkung des § 1 ArEV<br />

bzw. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 SvEV nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juli 2009 - 1 StR 150/09, NStZ-RR 2009, 339).<br />

3. Angesichts der Tatsache, dass das Landgericht sowohl die Höhe der an die Arbeitnehmer gezahlten Schwarzlöhne<br />

als auch die Beitragssätze der zuständigen Krankenkassen rechtsfehlerfrei festgestellt hat, ist dem Senat auch ohne<br />

weiteres die Überprüfung der durch die Taten verursachten Schäden möglich. Die auf Gr<strong>und</strong>lage der getroffenen<br />

Feststellungen vorzunehmende Hochrechnung der Schwarzlöhne nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV <strong>und</strong> die sich daran<br />

anschließende Berechnung der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge ist Rechtsanwendung. Insoweit gilt ebenso<br />

wie bei der Berechnungsdarstellung im Falle der Verurteilung wegen Steuerhinterziehung, dass das Tatgericht<br />

nicht gehalten ist, den eigentlichen Berechnungsvorgang als <strong>Teil</strong> der Subsumtion im Urteil darzustellen, sofern dieser<br />

vom Revisionsgericht selbst durchgeführt werden kann. Freilich empfiehlt sich eine solche Berechnungsdarstellung<br />

auch bei der Verurteilung wegen Taten nach § 266a <strong>StGB</strong>, weil sie die Nachvollziehbarkeit des Urteils erleichtert.<br />

Zudem bietet die Berechnungsdarstellung die Möglichkeit zu kontrollieren, ob die im konkreten Fall erheblichen<br />

Tatsachen im angefochtenen Urteil festgestellt sind (vgl. insoweit auch BGH, Urteil vom 12. Mai 2009 - 1 StR<br />

718/08, NStZ 2009, 639).<br />

4. Dass - wie von der Revision behauptet - dem Angeklagten die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge unmöglich<br />

gewesen wäre, ergibt sich - wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend feststellt - aus den Urteilsgründen<br />

nicht. Anhaltspunkte, die weitere Feststellungen der Strafkammer zur Zahlungsfähigkeit geboten hätten,<br />

sind nicht ersichtlich. Auch die Revision trägt insoweit keine Umstände von Gewicht vor. Dessen ungeachtet wirkt<br />

in Fällen der vorliegenden Art - d.h. bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen - die Unmöglichkeit der Beitragsentrichtung<br />

- anders als im originären Anwendungsbereich des § 266a Abs. 1 <strong>StGB</strong> (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom<br />

28. Mai 2002 - 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318) - regelmäßig nicht tatbestandsausschließend. Anders als im Rahmen<br />

von § 266a Abs. 1 <strong>StGB</strong> besteht vorliegend die Tathandlung nicht im Vorenthalten - also dem schlichten Nichtzahlen<br />

- der Sozialversicherungsbeiträge. Hier ist das Vorenthalten vielmehr Folge der in § 266a Abs. 2 <strong>StGB</strong> definierten<br />

Tathandlungen. Bei dem Tatbestand des § 266a Abs. 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> handelt es sich dabei um ein Erfolgsdelikt, das an<br />

einem aktiven Tun anknüpft. Lediglich im Rahmen des Tatbestands des § 266a Abs. 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> ist ein echtes<br />

Unterlassungsdelikt gegeben (Fischer, <strong>StGB</strong> 58. Aufl., § 266a Rn. 21). Anders als § 266a Abs. 1 <strong>StGB</strong> enthält der<br />

Tatbestand des § 266a Abs. 2 <strong>StGB</strong> mithin über die Nichtzahlung hinausgehende Unrechtselemente (vgl. Wiedner in<br />

Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- <strong>und</strong> Steuerstrafrecht, 1. Aufl. 2011, § 266a Rn. 64: „Die Pflichtverletzungen des<br />

Arbeitgebers nach Nr. 1 <strong>und</strong> 2 verkörpern ein erhöhtes Unrecht <strong>und</strong> eine typische Gefahrerhöhung im Hinblick auf<br />

die eintretende Beitragsvorenthaltung“). Hierbei ist zwischen den das Unrecht des Tatbestands prägenden Tathandlungen<br />

des § 266a Abs. 2 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> dem Vorenthalten als deren Folge keine strikte äquivalente Kausalität in dem<br />

Sinne erforderlich, dass der Arbeitgeber ohne die Tathandlung - also bei ordnungsgemäßen Angaben - die Beiträge<br />

gezahlt haben müsste. Der Zusammenhang ist vielmehr wie im Fall des gleichlautenden § 370 Abs. 1 AO funktional<br />

zu verstehen (vgl. Wiedner aaO), was auch der Absicht des Gesetzgebers entspricht, die Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen<br />

bei Verletzung von Erklärungspflichten in Anlehnung an § 370 AO unter Strafe zu stellen<br />

201


(BT-Drucks. 15/2573 S. 28). Die bei Verwirklichung des Tatbestandes des § 266a Abs. 1 <strong>StGB</strong> als echtem Unterlassensdelikt<br />

geltenden allgemeinen Gr<strong>und</strong>sätze, wonach dem Handlungspflichtigen die Erfüllung seiner gesetzlichen<br />

Pflicht möglich <strong>und</strong> zumutbar sein müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Mai 2002 - 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318,<br />

320), können daher hinsichtlich der Tatbestandsalternative des § 266a Abs. 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> von vornherein keine Anwendung<br />

finden. Lediglich bei dem echten Unterlassungsdelikt des § 266a Abs. 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> sind sie zu beachten.<br />

Möglich <strong>und</strong> zumutbar muss dann allerdings nur die Erfüllung der Handlungspflichten sein, deren Verletzung im<br />

Tatbestand vorausgesetzt wird. Das sind die sozialversicherungsrechtlichen Meldepflichten, namentlich die nach §<br />

28a SGB IV. Demgegenüber gelten sie nicht im Hinblick auf die Folge des Unterlassens, d.h. dem Vorenthalten der<br />

Sozialversicherungsbeiträge. Soweit in Fällen der vorliegenden Art der Tatbestand des § 266a Abs. 1 <strong>StGB</strong> ebenfalls<br />

durch betrugsähnliche, in § 266a Abs. 2 <strong>StGB</strong> beschriebene Handlungen verwirklicht <strong>und</strong> Arbeitnehmeranteile zur<br />

Sozialversicherung vorenthalten werden, finden die für echte Unterlassensdelikte geltenden allgemeinen Gr<strong>und</strong>sätze<br />

aufgr<strong>und</strong> der vorstehenden Erwägungen ebenfalls keine Anwendung. Denn der Gesetzgeber beabsichtigte insoweit<br />

eine einheitliche Anwendung beider Absätze in der Praxis (BT-Drucks. 15/2573 S. 28), die im Hinblick auf den über<br />

das schlichte Nichtzahlen der angemeldeten Sozialversicherungsbeiträge hinausgehenden Unrechtsgehalt der Taten<br />

auch geboten ist. Hinzu kommt, dass im Hinblick auf eine eventuelle Unmöglichkeit der Zahlung der Arbeitnehmeranteile<br />

in Fällen der vorliegenden Art regelmäßig ein schuldhaftes Vorverhalten gegeben ist („omissio libera in<br />

causa“, vgl. insoweit BGH, Beschluss vom 28. Mai 2002 - 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318, 320 ff.), so dass die Unmöglichkeit<br />

der Zahlung der Beiträge zum Fälligkeitszeitpunkt ohnehin nicht tatbestandsausschließend wirken würde<br />

(vgl. auch BGH, Urteil vom 13. Mai 1987 - 3 StR 460/86, wistra 1987, 290, 291 f.). Dem steht auch § 266a Abs. 6<br />

<strong>StGB</strong> nicht entgegen. Ungeachtet des ohnehin eingeschränkten Anwendungsbereichs, den die Vorschrift bei Taten<br />

nach § 266a Abs. 2 <strong>StGB</strong> hat (vgl. Laitenberger NJW 2004, 2703, 2706; Joecks wistra 2004, 441, 443), bleibt der<br />

Strafaufhebungsgr<strong>und</strong> des § 266a Abs. 6 <strong>StGB</strong> erhalten, soweit die Tat nach § 266a Abs. 2 <strong>StGB</strong> begangen wurde,<br />

weil eine fristgemäße Zahlung nicht möglich war. In Fällen der vorliegenden Art, bei denen die Tat keine Reaktion<br />

auf wirtschaftliche Probleme des Arbeitgebers, sondern vielmehr Folge eines von vornherein auf Umgehung der<br />

Beitragszahlungen angelegten Tatplans war, ist demgegenüber für die Anwendung des § 266a Abs. 6 <strong>StGB</strong> ohnehin<br />

kein Raum (vgl. Laitenberger aaO). Die vorstehende, sich aus Wortlaut <strong>und</strong> Systematik der Vorschrift ergebende<br />

Auslegung wird zudem - neben den bereits angeführten Gesichtspunkten aus der Entstehungsgeschichte des Tatbestands<br />

- vom Willen des Gesetzgebers getragen. Mit der Einführung des neuen § 266a Abs. 2 <strong>StGB</strong> durch das Gesetz<br />

zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit <strong>und</strong> damit zusammenhängender Steuerhinterziehung vom 23.<br />

Juli 2004 (BGBl. I, 1842) sollten die Strafbarkeitslücken geschlossen werden, die bis dahin in Fällen des Beitragsbetrugs<br />

gegeben waren (vgl. BT-Drucks. 15/2573 S. 28). Der Tatbestand des § 263 <strong>StGB</strong> war in Fällen der vorliegenden<br />

Art nach zutreffender Auffassung bereits dann erfüllt, wenn die Beitragsforderungen irrtumsbedingt nicht festgesetzt<br />

<strong>und</strong> beigetrieben wurden (vgl. BGH, Urteil vom 20. Oktober 1983 - 4 StR 477/83, wistra 1984, 66, 67; BGH,<br />

Urteil vom 25. Januar 1984 - 3 StR 278/83, BGHSt 32, 236, 240; BGH, Urteil vom 13. Mai 1987 - 3 StR 460/86,<br />

wistra 1987, 290, 291 f.; a.A. obiter dictum BGH, Beschluss vom 12. Februar 2003 - 5 StR 165/02, NJW 2003, 1821,<br />

1824). Dass der Gesetzgeber dahinter zurückbleiben wollte, ist nicht ersichtlich. Der Schriftsatz der Verteidigung<br />

vom 8. August 2011 lag dem Senat bei dieser Entscheidung vor.<br />

<strong>StGB</strong> § 276 Verschaffen von falschen amtlichen Ausweisen<br />

BGH, Beschl. v. 07.10.2011 - 1 StR 321/11- NStZ-RR 2012, 50<br />

"Sich oder einem anderen Verschaffen" i.S.d. § 276 <strong>StGB</strong> bedeutet, dass der Täter das Tatobjekt in<br />

seinen Gewahrsam bringt, Zugriff hierauf hat <strong>und</strong> darüber nach Belieben verfügen kann, oder es in<br />

den Gewahrsam eines anderen bringt <strong>und</strong> ihm dadurch diese Möglichkeiten vermittelt.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 30. September 2010, soweit es ihn<br />

betrifft, aufgehoben (§ 349 Abs. 4 StPO)<br />

a) soweit er wegen Urk<strong>und</strong>enfälschung verurteilt wurde (Fall 38 der Urteilsgründe),<br />

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.<br />

Die weitergehende Revision wird verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO). Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu<br />

neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des<br />

Landgerichts zurückverwiesen.<br />

202


Gründe:<br />

1. Die Strafkammer hat festgestellt:<br />

a) Der Angeklagte hat einmal gleichzeitig sieben <strong>und</strong> einmal einem illegal eingereisten Vietnamesen ein Unterkommen<br />

geboten.<br />

b) Der Angeklagte hatte die Beschaffung eines gefälschten niederländischen Reisepasses <strong>und</strong> eines gefälschten niederländischen<br />

Führerscheins mit zwei (unter anderem) wegen banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern<br />

verurteilten, hier als „Kontaktpersonen <strong>und</strong> Zwischenverkäufer“ bezeichneten Mitangeklagten (in nicht näher<br />

gekennzeichneter Weise) „organisiert“; die Falsifikate waren für N. bestimmt. Der Angeklagte sollte die Mitangeklagten<br />

bezahlen (ob dies geschah, bleibt offen). Nachdem er die Falsifikate „von der Aufenthaltsanschrift“ dieser<br />

Mitangeklagten abgeholt hatte, wurden sie bei einer Kontrolle seines Fahrzeugs sichergestellt. Konkret ist nicht festgestellt,<br />

was das Ziel des Transports war.<br />

2. Deshalb wurde der Angeklagte wegen zwei Fällen der Beihilfe zum Verstoß gegen § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG<br />

(Einzelstrafe je vier Monate) <strong>und</strong> wegen Urk<strong>und</strong>enfälschung (Einzelstrafe sechs Monate) zu zehn Monaten Gesamtfreiheitsstrafe<br />

verurteilt, die wegen mehrerer Vorstrafen <strong>und</strong> Bewährungsbruchs nicht zur Bewährung ausgesetzt<br />

wurden.<br />

3. Seine auf die unausgeführte Sachrüge gestützte Revision hat zum <strong>Teil</strong> Erfolg.<br />

a) Schuldsprüche wegen Beihilfe zum Verstoß gegen das AufenthG<br />

Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten sind nicht ersichtlich. Es beschwert ihn nicht, dass er wegen des gleichzeitig<br />

sieben illegal eingereisten Vietnamesen gewährten Unterkommens nicht wegen Beihilfe in sieben tateinheitlichen<br />

Fällen verurteilt wurde. Die Annahme der Strafkammer, dass (außer einem anderen Mitangeklagten) “alle Angeklagten<br />

bezüglich der Schleusungstaten Bandenmitglieder waren“, widerspricht nicht der Feststellung, der Angeklagte<br />

habe „nicht zur Schleuserbande“ gehört, da er nicht wegen Einschleusens von Ausländern (§ 96 AufenthG)<br />

verurteilt wurde.<br />

b) Schuldspruch wegen Urk<strong>und</strong>enfälschung<br />

Es ist nicht ersichtlich, dass der Angeklagte unechte Urk<strong>und</strong>en hergestellt, echte Urk<strong>und</strong>en verfälscht hätte oder<br />

hieran beteiligt gewesen wäre. Auch hat er die Falsifikate nicht gebraucht, sondern er wollte dies dem N. ermöglichen.<br />

Da dieser sie aber auch noch nicht gebraucht hat, sie noch nicht einmal im Besitz hatte, liegt auch keine strafbare<br />

Beihilfe zum Gebrauch vor („Akzessorietät der <strong>Teil</strong>nahme“, vgl. zusammenfassend Lackner/Kühl, <strong>StGB</strong>, 27.<br />

Aufl., § 27 Rn. 8, 9 mwN).<br />

4. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat im Hinblick auf eine Verfahrensbeschränkung durch die Staatsanwaltschaft beantragt,<br />

hinsichtlich der als Urk<strong>und</strong>enfälschung abgeurteilten Tat gemäß § 154a Abs. 3 StPO den Vorwurf der Verschaffung<br />

falscher amtlicher Ausweise (§ 276 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong>) wieder einzubeziehen <strong>und</strong> den Schuldspruch demgemäß<br />

(entsprechend § 354 Abs. 1 StPO) abzuändern. Der Senat kann dem nicht folgen.<br />

a) Die Verfahrensbeschränkung durch die Staatsanwaltschaft geht dahin, dass hinsichtlich der Tatvorwürfe, „die<br />

nicht Gegenstand der Anklage sind, … das Verfahren gemäß §§ 154, 154a StPO … eingestellt“ wird. Zusätzliches ist<br />

auch nicht in der Anklage ausgeführt (vgl. demgegenüber Nr. 101a Abs. 3 RiStBV), die zwölf Angeschuldigten bei<br />

wechselnder Beteiligung 44 Taten (Fälle) zur Last legt. Regelmäßig sind aber ausgeschiedene Tatteile oder Strafbestimmungen<br />

konkret („positiv“) zu bezeichnen, die Feststellung, das Verfahren werde gemäß § 154 StPO <strong>und</strong>/oder §<br />

154a StPO im Sinne der Anklage beschränkt, entspricht als zu ungenau nicht dem Gesetz (fehlende Rechtssicherheit)<br />

<strong>und</strong> ist daher unwirksam (BGH, Beschluss vom 16. Juli 1980 - 3 StR 232/80, NStZ 1981, 23; tendenziell ebenso<br />

BGH, Urteil vom 4. April 2002 - 3 StR 405/01, NStZ 2002, 489; Beulke in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 154a<br />

Rn. 8, 20; Beukelmann in Graf, StPO, § 154a Rn. 7; Plöd in KMR, StPO, § 154a Rn. 13; Schoreit in KK, StPO, 6.<br />

Aufl., § 154a Rn. 12; Weßlau in SK-StPO, § 154a Rn. 21). Ein Fall, in dem wegen Eindeutigkeit des ausgeschiedenen<br />

Verfahrensstoffes der Hinweis auf die Anklage doch ausreichte (vgl. Beulke, aaO, Rn. 8; Weßlau, aaO), liegt<br />

schon wegen der zahlreichen im Einzelnen vielfach unterschiedlichen Taten <strong>und</strong> der hieran unterschiedlich beteiligten<br />

Angeklagten nicht vor. Daher ist auch § 154a Abs. 3 StPO hier nicht anwendbar.<br />

b) „Sich oder einem anderen verschaffen“ i.S.d. § 276 <strong>StGB</strong> bedeutet, dass der Täter das Tatobjekt in seinen Gewahrsam<br />

bringt, Zugriff hierauf hat <strong>und</strong> darüber nach Belieben verfügen kann, oder es in den Gewahrsam eines anderen<br />

bringt <strong>und</strong> ihm dadurch diese Möglichkeiten vermittelt (vgl. Zieschang in LK-<strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 276 Rn. 11;<br />

Puppe in NK-<strong>StGB</strong>, 3. Aufl., § 276 Rn. 3, § 149 Rn. 11). Dass dies hier (schon) vorgelegen hätte, ergeben die Feststellungen<br />

(vgl. oben 1.) nicht eindeutig. Wäre der Angeklagte ein „Verteilungsgehilfe“, hätte er, sofern „verschaffen“<br />

nicht vorläge, wie jeder unmittelbare Besitzer die Alternative „verwahren“ erfüllt (Puppe, aaO, § 149 Rn. 11).<br />

Im Ergebnis sprechen also die Feststellungen dafür, dass § 276 <strong>StGB</strong> vorliegt, die Alternative ist aber ohne dem<br />

203


Tatrichter vorbehaltene zusätzliche Feststellungen <strong>und</strong>/ oder Würdigungen unklar. Daher sieht der Senat von einer<br />

Schuldspruchänderung ab (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Mai 2010 - 1 StR 59/10, StV 2010, 685 mwN).<br />

5. Die Verurteilung wegen Urk<strong>und</strong>enfälschung war daher aufzuheben, zugleich entfällt die Gesamtstrafe. Sämtliche<br />

Feststellungen bleiben jedoch bestehen, da sie rechtsfehlerfrei getroffen <strong>und</strong> von dem aufgezeigten Mangel nicht<br />

berührt sind. Ergänzende Feststellungen, die zu den bisherigen Feststellungen nicht in Widerspruch stehen, sind<br />

jedoch möglich. Auch die (trotz unterschiedlichen Schuldumfangs <strong>und</strong>ifferenzierten) sehr maßvollen übrigen Einzelstrafen<br />

sind rechtsfehlerfrei <strong>und</strong> können bestehen bleiben.<br />

6. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat zutreffend ausgeführt, dass noch eine mögliche nachträgliche Gesamtstrafenbildung<br />

(§ 55 <strong>StGB</strong>) mit den Strafen aus dem Urteil des Landgerichts Leipzig vom 12. Mai 2010 zu prüfen sein wird.<br />

7. Dem Antrag, die Sache gemäß § 354 Abs. 3 StPO an das Amtsgericht (Strafrichter) zurückzuverweisen, folgt der<br />

Senat nicht. Außer im (seltenen) Fall einer Urteilsaufhebung wegen willkürlicher Anklage zum Landgericht (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 22. April 1997 - 1 StR 701/96, BGHSt 43, 53, 55 f. mwN), ist auch unter den Voraussetzungen des<br />

§ 354 Abs. 3 StPO eine Zurückverweisung an ein Gericht niedererer Ordnung nicht zwingend, sondern steht im<br />

pflichtgemäßen Ermessen des Revisionsgerichts (vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 1980 - 3 StR 32/80,<br />

BGHSt 29, 341, 350; BGH, Beschluss vom 25. November 1986 - 1 StR 613/86, BGH NJW 1987, 1092 f.; BGH,<br />

Beschluss vom 9. Oktober 2008 - 1 StR 359/08, BGH StraFo 2009, 33 f.; Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO, 25.<br />

Aufl., § 354 Rn. 64; Kuckein in KK StPO, 6. Aufl., § 354 Rn. 39; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 354 Rn. 42 jew.<br />

mwN; a.A. Dehne-Niemann, StraFo 2009, 34 ff. ). In diesem Zusammenhang maßgebend können etwa Gesichtspunkte der Verfahrensökonomie<br />

<strong>und</strong>/oder -beschleunigung sein (Momsen in KMR, § 354 Rn. 48; dort auch weitere mögliche Ermessenskriterien).<br />

Gründe des Einzelfalls, wonach ein neuer Instanzenzug mit einer Berufungsinstanz <strong>und</strong> dem Oberlandesgericht<br />

(Kammergericht) als Revisionsinstanz hier sachgerecht erschiene, sind nicht erkennbar.<br />

<strong>StGB</strong> § 283 Aufgabe der Interessentheorie<br />

BGH, Beschl. v. 15.05.2012 - 3 StR 118/11 1 - BeckRS 2012, 14980 -<br />

LS 1. Die Strafbarkeit des Geschäftsführers einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung wegen<br />

Bankrotts setzt nicht voraus, dass die Tathandlung im Interesse der Gesellschaft liegt (Aufgabe der<br />

"Interessentheorie"). (amtlicher Leitsatz)<br />

2. Eine durch den Geschäftsführer der Gesellschaft vorgenommene Entnahme von Vermögenswerten<br />

kann sowohl als Bankrott als auch als Untreue zu beurteilen sein. (Leitsatz der Redaktion )<br />

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 27. September 2010 werden<br />

verworfen.<br />

Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen.<br />

Gründe:<br />

[1] Das Landgericht hat die Angeklagten wegen Beihilfe zur Untreue in Tateinheit mit Beihilfe zum Bankrott zu<br />

Geldstrafen verurteilt, nachdem der Senat (mit Beschluss vom 10. Februar 2009 - 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225)<br />

eine in derselben Sache zuvor ergangene Verurteilung wegen Beihilfe zum Bankrott aufgr<strong>und</strong> unzureichender Feststellungen<br />

aufgehoben hatte. Die gegen die (erneute) Verurteilung gerichteten Revisionen der Angeklagten, die sie<br />

auf Verfahrensrügen <strong>und</strong> sachlich-rechtliche Beanstandungen stützen, haben keinen Erfolg.<br />

I.<br />

[2] 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts waren die Angeklagten zu nahezu gleichen <strong>Teil</strong>en an der nach dem<br />

Tode des Vaters übernommenen G. S. Gruppe beteiligt. Der Angeklagte S.war Geschäftsführer der G. S.GmbH mit<br />

Sitz in E.. Diese Gesellschaft war Komplementärin der am selben Ort ansässigen G.S.GmbH & Co. KG (im Folgenden:<br />

S.KG), deren alleinige Kommanditisten der Angeklagte S.zu 51 Prozent <strong>und</strong> die Angeklagte L. , geborene S., zu<br />

49 Prozent waren. Die S.KG fungierte als Besitzgesellschaft <strong>und</strong> hielt die Anteile an der in N.ansässigen G.S.GmbH<br />

1 Anfragebeschluss BGH, Beschl. v. 15.09.2011 - 3 StR 118/11 – wistra 2012, 25 m. Anm. Radtke/Hoffmann NStZ<br />

2012, 91, Valerius NZWiSt 2012, 65, Brand NZWiSt 2012, 64; Antwortbeschlüsse: 1 ARs 19/11 2 ARs 403/11 4<br />

ARs 17/11 5 ARs 64/11<br />

204


(im Folgenden: S.GmbH) sowie an der ebenfalls in N.ansässigen Se.Zucht- <strong>und</strong> Mastenten GmbH (im Folgenden:<br />

Se.GmbH), die wiederum die Anteile an weiteren Produktionsgesellschaften hielt. Der Angeklagte S.war auch in der<br />

S. GmbH <strong>und</strong> der Se.GmbH jeweils Geschäftsführer, der Angeklagten L. war Prokura erteilt.<br />

[3] Die Angeklagten betrieben bis zum Jahr 2002 mit wirtschaftlichem Erfolg u.a. unter der Marke "B.Enten" die<br />

Entenzucht <strong>und</strong> den weltweiten Vertrieb von Entenprodukten. Ein Umsatzeinbruch führte im Frühjahr 2003 zu einem<br />

erhöhten Kreditbedarf. Es kam zu verschiedenen Verhandlungen mit den beiden Hausbanken. Als nach einem Gespräch<br />

am 13. Februar 2004 den Kreditwünschen nicht entsprochen wurde, erkannten die Angeklagten, dass der<br />

Bestand ihres Unternehmens ernsthaft in Gefahr war. Sie bemühten sich daraufhin - wie bereits zuvor - um eine<br />

Umschuldung <strong>und</strong> die Gewinnung eines weiteren Gesellschafters, blieben damit aber erfolglos.<br />

[4] In dieser Situation bestellten die Angeklagten zum 1. März 2004 den ehemaligen Mitangeklagten K.zum Geschäftsführer<br />

der G.S.GmbH sowie der S.GmbH <strong>und</strong> der Se.GmbH. Der Angeklagte S.schied als Geschäftsführer<br />

aus, die Prokura der Angeklagten L.wurde widerrufen. Da der neue Geschäftsführer über keine Erfahrung in der<br />

Branche verfügte, blieben die Angeklagten weiter für die Gesellschaften tätig, wofür sie vom neuen Geschäftsführer<br />

pauschal jeweils 250.000 € erhalten sollten. Wegen der angespannten Liquiditätslage der Gesellschaften vereinbarten<br />

die Angeklagten mit dem früheren Mitangeklagten eine rein erfolgsabhängige Geschäftsführervergütung. Es kam<br />

indes nur zu einem nach dieser Vereinbarung provisionspflichtigen Geschäftsabschluss mit einem Volumen von 1,67<br />

Mio. €, weitere in Aussicht genommene Verträge kamen nicht zustande.<br />

[5]In einem Gespräch mit Bankvertretern am 8. März 2004 kündigte K.an, zur Verbesserung der Liquidität Reserven<br />

aufzulösen. Die Bankvertreter untersagten ihm daraufhin weitere Verfügungen über den Banken zustehendes Sicherungsgut<br />

ohne deren Zustimmung, weil sie befürchteten, K. wolle Waren oder Güter verschleudern. Tatsächlich hatte<br />

er schon am 27. Februar 2004 zusammen mit dem Angeklagten S.1.475 Tonnen Entenfleisch zum Gesamtpreis von<br />

1,67 Mio. € - <strong>und</strong> damit erheblich unter den Gestehungskosten - verkauft <strong>und</strong> dabei die Bezahlung mit LZB-Schecks<br />

vereinbart, die sodann nicht bei den Hausbanken, sondern bei anderen Banken eingelöst wurden. Die Hausbanken<br />

wurden davon nicht informiert, der Gegenwert der Schecks wurde nicht an diese abgeführt. Dies verstieß sowohl<br />

hinsichtlich der Preisgestaltung als auch hinsichtlich der Entgegennahme des Kaufpreises gegen die mit den Banken<br />

bestehende Globalzessionsabrede. Ab 1. März 2004 ließ sich K.eingehende Schecks vorlegen <strong>und</strong> brachte diese unter<br />

Umgehung der Buchhaltung neu eröffneten Konten gut. Insgesamt reichte er in den folgenden Wochen Schecks im<br />

Wert von r<strong>und</strong> 3 Mio. € bei anderen Banken ein. In Absprache mit den Angeklagten, die auch sonst über alle wesentlichenVorgänge<br />

informiert waren, verlagerte K. ab Ende März 2004 das operative Geschäft auf die "LM.GmbH".<br />

Diese Gesellschaft war die einzige innerhalb der S.-Firmengruppe, die keine unmittelbaren vertraglichen Beziehungen<br />

zu den Hausbanken hatte.<br />

[6] Mit Schreiben vom 9. März 2004 verlangten die Hausbanken binnen drei Tagen u.a. die Vorlage eines Liquiditätsstatus<br />

<strong>und</strong> eine Übersicht über bereits veräußertes Sicherungsgut <strong>und</strong> drohten für den Fall des fruchtlosen Verstreichens<br />

der Frist mit der außerordentlichen Kündigung des Kreditengagements. K. vertröstete sie auf den 23. März<br />

2004. Die Banken kündigten daraufhin am 15. März 2004 <strong>und</strong> am 23. März 2004 die gesamte Geschäftsverbindung<br />

<strong>und</strong> setzten für die bestehenden Verbindlichkeiten aller Gesellschaften, insgesamt fast 23 Mio. €, eine Zahlungsfrist<br />

bis zum 2. April 2004. Weder die S. GmbH noch die S.-Gruppe in ihrer Gesamtheit waren in der Lage, diese Forderung<br />

bei Fälligkeit oder in den folgenden drei Wochen zu begleichen.<br />

[7] Anfang April 2004 stellte der Geschäftsführer K.in Absprache <strong>und</strong> nach Vereinbarung mit den Angeklagten der<br />

S. GmbH <strong>und</strong> der Se. GmbH drei Rechnungen über insgesamt fast 2 Mio. €, die nunmehr - entgegen der ursprünglichen<br />

Vereinbarung - auch eine erfolgsunabhängige Vergütung sowie Erfolgshonorare für tatsächlich nicht zustande<br />

gekommene Geschäfte zum Gegenstand hatten, <strong>und</strong> vereinnahmte diesen Betrag (abzüglich bereits erhaltener<br />

250.000 €) letztlich aus dem Vermögen der S.GmbH. Nach der ursprünglichen Vereinbarung hätte ihm ein Anspruch<br />

in Höhe von allenfalls knapp 200.000 € zugestanden. Die Angeklagten waren einverstanden, weil sie sich aus den<br />

Beträgen, die K. erhielt, ihrerseits je 250.000 € erwarteten <strong>und</strong> mit Hilfe dieser Summe mit der zwischenzeitlich von<br />

ihnen erworbenen Gesellschaft "LM. GmbH" <strong>und</strong> der Marke "B.Enten" einen Neustart des Familienunternehmens<br />

schaffen wollten. Sie kannten die fehlende Berechtigung der Forderungen <strong>und</strong> wussten zum Zeitpunkt ihrer Zustimmung<br />

um die wirtschaftliche Lage der Unternehmensgruppe, insbesondere, dass eine infolge der Kündigungen erforderliche<br />

fristgerechte Zahlung der bei den Banken bestehenden Verbindlichkeiten nicht geleistet werden konnte <strong>und</strong><br />

sich die S.-Gruppe daher im Zustand der drohenden Zahlungsunfähigkeit befand. K. zahlte aus dem entnommenen<br />

Betrag an die beiden Angeklagten insgesamt 500.000 €. Über das Vermögen der S.GmbH <strong>und</strong> der Se. GmbH wurde<br />

auf Antrag der Banken das Insolvenzverfahren eröffnet.<br />

[8] 2. Das Landgericht hat das Verhalten des früheren Mitangeklagten K. - die Entnahme von r<strong>und</strong> 1,7 Mio. €, auf<br />

die ein Rechtsanspruch nicht bestand - als Untreue zum Nachteil der S.GmbH gewertet. Es hat ausgeführt, dass das<br />

205


Einverständnis der Angeklagten wegen der Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz der Gesellschaft durch die<br />

Entnahme unwirksam sei. Zugleich hat es das Verhalten als Bankrotthandlung nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> angesehen.<br />

Zwar habe der Geschäftsführer K.nicht im Interesse der S. GmbH, sondern eigennützig gehandelt, hierauf<br />

komme es indes nicht an. Das Verhalten der Angeklagten hat das Landgericht als Beihilfe zu den Taten des früheren<br />

Mitangeklagten K. beurteilt.<br />

II.<br />

[9] Die gegen das Urteil von beiden Angeklagten übereinstimmend erhobenen Verfahrensrügen sind, wie vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

dargelegt, im Ergebnis unbegründet. Die Sachrüge hat ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteilder<br />

Angeklagten ergeben. Der näheren Erörterung bedarf insoweit lediglich die (zutreffende) rechtliche Würdigung<br />

des Landgerichts.<br />

[10] 1. Das Landgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass sich der frühere Mitangeklagte als Geschäftsführer der<br />

S.GmbH wegen Bankrotts unabhängig davon strafbar machte, dass er eigennützig <strong>und</strong> zum Schaden der Gesellschaft<br />

handelte, <strong>und</strong> die Angeklagten dazu Beihilfe leisteten.<br />

[11] a) Der B<strong>und</strong>esgerichtshof ist bislang - die Rechtsprechung des Reichsgerichts (Urteil vom 29. März 1909 - III<br />

877/08, RGSt 42, 278, 282; aA indes RG, Urteil vom 22. Dezember 1938 - 2 D 581/38, RGSt 73, 68, 70) fortführend<br />

-in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen, dass der Geschäftsführer einer GmbH sich wegen Bankrotts nach<br />

§ 283 Abs. 1 Nr. 1, § 14 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> nur strafbar machen könne, wenn er die Tathandlung für die GmbH <strong>und</strong><br />

(zumindest auch) in deren Interesse vorgenommen hat (vgl. etwa BGH, Urteile vom 20. Mai 1981 - 3 StR 94/81,<br />

BGHSt 30, 127, 128; vom 5. Oktober 1954 2 StR 447/53, BGHSt 6, 314, 316 f.; vom 6. November 1986 - 1 StR<br />

327/86, BGHSt 34, 221, 223; Beschluss vom 14. Dezember 1999 - 5 StR 520/99, NStZ 2000, 206, 207, jeweils<br />

mwN; s. auch LK/Tiedemann, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 79 ff.; Arloth, NStZ 1990, 570 ff.). Dieser als<br />

"Interessentheorie" bezeichneten Ansicht liegt die Auffassung zugr<strong>und</strong>e, dass das Gesellschaftsorgan nicht in dieser<br />

Eigenschaft handele, wenn ein Bezug zum - durch den Interessenkreis bestimmten - Geschäftsbetrieb fehle (RG,<br />

Urteil vom 29. März 1909 III 877/08, RGSt 42, 278, 282). Daher hat die bisherige Rechtsprechung eine Strafbarkeit<br />

wegen Bankrotts abgelehnt, wenn der Vertreter ausschließlich im eigenen Interesse handelt.<br />

[12] b) An der Interessentheorie hält der Senat nicht weiter fest, da sich weder aus dem Gesetzeswortlaut noch nach<br />

dem Gesetzeszweck eine solche aufdas Interesse des Vertretenen abstellende Einschränkung ergibt <strong>und</strong> sie berechtigte<br />

Kritik erfahren hat.<br />

[13] aa) Der Gesetzeswortlaut stellt für die Zurechnung nicht auf das Interesse des Vertretenen ab: Nach § 14 Abs. 1<br />

Nr. 1 Alt. 1 <strong>StGB</strong> kommt die Strafbarkeit des Geschäftsführers einer GmbH bei Bankrotttaten in Betracht, wenn er<br />

"als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person" gehandelt hat. Dies setzt neben der Organstellung als<br />

solcher voraus, dass der Vertretungsberechtigte in seiner Eigenschaft als Organ gehandelt hat (vgl. BT-Drucks.<br />

5/1319 S. 63; BT-Drucks. 14/8998 S. 8: " 'in Ausübung' seiner Funktion"). Eine nähere Konkretisierung, wann ein<br />

Vertretungsberechtigter gerade in dieser Eigenschaft handelt, enthält der Gesetzeswortlaut nicht.<br />

[14] bb) Der vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 14 <strong>StGB</strong> verfolgte Zweck besteht - ebenso wie bei dem zuvor<br />

geltenden § 50a <strong>StGB</strong> - darin, den Anwendungsbereich von Straftatbeständen allgemein auf Personen zu erweitern,<br />

die in einem bestimmten Vertretungs- oder Auftragsverhältnis für den Normadressaten handeln, <strong>und</strong> die kriminalpolitisch<br />

nicht erträgliche Lücke zu schließen, die sich daraus ergibt, dass der Normadressat mangels Handlung <strong>und</strong> der<br />

Handelnde deshalb nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, weil er nicht Normadressat ist (BT-Drucks.<br />

5/1319 S. 62). Dieser Regelungszweck spricht nicht für eine einschränkende Normauslegung.<br />

[15] cc) Mit der dargelegten Intention des § 14 <strong>StGB</strong> lässt sich insbesondere nicht vereinbaren, dass die Interessentheorie<br />

im Ergebnis bei einer Vielzahl von Taten einer Strafbarkeit nach § 283 <strong>StGB</strong> entgegensteht, weil der Vermögensträger<br />

als juristische Person <strong>und</strong> die handelnde natürliche Person auseinanderfallen.<br />

[16] So lässt die Interessentheorie für die Insolvenzdelikte nur einen geringen Anwendungsbereich, wenn Schuldner<br />

im Sinne des § 283 <strong>StGB</strong> eine Handelsgesellschaft ist (LK/Tiedemann, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 80; SK-<br />

<strong>StGB</strong>/Hoyer, § 283 Rn. 103 [Stand: März 2002]; MünchKomm<strong>StGB</strong>/Radtke, 1. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 55; Labsch,<br />

wistra 1985, 1, 6 ff.; jeweils mwN); denn die in § 283 <strong>StGB</strong> aufgezählten Bankrotthandlungen widersprechen<br />

ganz überwiegend dem wirtschaftlichen Interesse der Gesellschaft. Damit läuft bei Anwendung der Interessentheorie<br />

der vom Gesetzgeber intendierte Gläubigerschutz in der wirtschaftlichen Krise insbesondere von Kapitalgesellschaften<br />

bei Anwendung der Interessentheorie weitgehend leer (vgl. Winkler, jurisPR-StrafR 16/2009 Anm. 1). Besonders<br />

augenfällig wird dies in Fällen der Ein-Mann-GmbH, in denen der Gesellschafter/Geschäftsführer der Gesellschaft<br />

angesichts der drohenden Insolvenz zur Benachteiligung der Gläubiger Vermögen entzieht <strong>und</strong> auf seine privaten<br />

Konten umleitet, nach wirtschaftlicher Betrachtung also aus eigennützigen Motiven handelt. Nach der Interessentheorie<br />

ist er nicht des Bankrotts schuldig, obwohl er die Insolvenz gezielt herbeigeführt hat (vgl. BGH, Urteil vom 20.<br />

206


Mai 1981 - 3 StR 94/81, BGHSt 30, 127, 128 f.; kritisch dazu LK/Tiedemann, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn.<br />

80, 85).<br />

[17] Während Einzelkaufleute in vergleichbaren Fällen regelmäßig wegen Bankrotts strafbar sind, entstehen so<br />

Strafbarkeitslücken für Vertreter oder Organe von Kapitalgesellschaften. Dies lässt sich nicht mit der Intention des<br />

Gesetzgebers vereinbaren, durch die Regelung des § 14 <strong>StGB</strong> Strafbarkeitslücken zu schließen. Zudem wird angesichts<br />

der besonderen Insolvenzanfälligkeit von in der Rechtsform der GmbH betriebenen Unternehmen der Schutzzweck<br />

der Insolvenzdelikte konterkariert (vgl. BGH, Beschluss vom 1. September 2009 - 1 StR 301/09, BGHR <strong>StGB</strong><br />

§ 283 Abs. 1 Geschäftsführer 4; SK-<strong>StGB</strong>/Hoyer, § 283 Rn. 103 [Stand: März 2002]; MünchKomm<strong>StGB</strong>/Radtke, 1.<br />

Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 55). Das gilt insbesondere, wenn man die Interessenformel konsequent auch auf die Bankrotthandlungen<br />

anwendet, die die Verletzung von Buchführungs- oder Bilanzierungspflichten sanktionieren (§ 283<br />

Abs. 1 Nr. 5-7 <strong>StGB</strong>): Entfällt wegen des fehlenden Interesses der Gesellschaft die Bankrott-strafbarkeit, scheitert<br />

eine Verurteilung wegen Untreue regelmäßig am nicht festzustellenden oder nicht nachzuweisenden Vermögensschaden<br />

der Gesellschaft (vgl. Arloth, NStZ 1990, 570, 572; LK/Tiedemann, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 84).<br />

[18] Über die nicht gerechtfertigte Privilegierung von GmbH-Geschäftsführern gegenüber Einzelkaufleuten hinaus<br />

wird der Zweck der § 283 Abs. 1 Nr. 5-8, § 283b <strong>StGB</strong> unterlaufen, der Verstöße gegen Buchführungs- <strong>und</strong> Bilanzierungsvorschriften<br />

wegen der besonderen Gefahr von Fehleinschätzungen mit schwerwiegenden wirtschaftlichen<br />

Folgen als eigenständiges Unrecht erfassen will (vgl. Arloth, NStZ 1990, 570, 572). Angesichts der dort genannten<br />

objektiven Anforderungen wäre kaum verständlich, dass daneben noch auf ein - zudem oft schwerlich zu ermittelndes<br />

- subjektives Interesse abzustellen sein soll (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2011 - 5 StR 122/11, StV<br />

2012, 216; S/S-Perron, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 14 Rn. 26 mwN). Es besteht auch kein Anlass, bei der Auslegung des § 14<br />

<strong>StGB</strong> im Hinblick auf § 283 Abs. 1 Nr. 5-7, § 283b <strong>StGB</strong> andere Anforderungen zu stellen als etwa im Rahmen des<br />

§ 283 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong>, da § 14 <strong>StGB</strong> eine der Rechtsvereinheitlichung dienende allgemeine Vorschrift darstellt<br />

(BT-Drucks. 5/1319 S. 62).<br />

[19] Überdies erscheint es problematisch, bei Fahrlässigkeits- <strong>und</strong> Unterlassungstaten die Zurechnung davon abhängig<br />

zu machen, in wessen Interesse der Vertreter handelte oder untätig blieb (vgl. S/S-Perron, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 14<br />

Rn. 26). Ähnliches gilt bei nicht eigennützigem Verhalten, etwa bei der Zerstörung von Vermögensbestandteilen (§<br />

283 Abs. 1 Nr. 1 Var. 3 <strong>StGB</strong>), da ein solches bei einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise (vgl. BGH, Urteil vom<br />

20. Mai 1981 - 3 StR 94/81, BGHSt 30, 127, 128 mwN) weder im Interesse des Vertreters noch des Vertretenen liegt<br />

(vgl. Brand, NStZ 2010, 9, 11).<br />

[20]dd) In der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist die Interessentheorie bei Vertretern von Personengesellschaften<br />

für die praktisch relevanten Fälle, dass die Gesellschafter der Bankrotthandlung zustimmen (vgl. dazu Labsch,<br />

wistra 1985, 1, 7), zudem nicht durchgehalten worden; ein Handeln, das aus wirtschaftlicher Sicht im vollständigen<br />

Widerstreit zu den Interessen der vertretenen Gesellschaft steht, soll etwa bei der Kommanditgesellschaft<br />

gleichwohl von dem durch das Einverständnis erweiterten Auftrag des Schuldners - also der Gesellschaft - gedeckt<br />

sein, wenn der Komplementär zustimmt (BGH, Urteil vom 6. November 1986 - 1 StR 327/86, BGHSt 34, 221, 223 f.<br />

= BGH StV 1988, 14, 15 m. Anm. Weber). Die Einschränkung der Interessentheorie sei insbesondere aus Gründen<br />

des Gläubigerschutzes geboten (BGH, Urteil vom 6. November 1986 - 1 StR 327/86, BGHSt 34, 221, 224). Diese<br />

Rechtsprechung hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof in der Folge auch auf Fälle der GmbH & Co. KG erstreckt, in denen der<br />

Geschäftsführer einer Komplementär-GmbH die Bankrotthandlungen mit Zustimmung der Gesellschafter dieser<br />

Kapitalgesellschaft <strong>und</strong> damit der Komplementärin vorgenommen hatte (BGH, Urteil vom 12. Mai 1989 - 3 StR<br />

55/89, wistra 1989, 264, 267; aA BGH, Urteil vom 29. November 1983 - 5 StR 616/83, wistra 1984, 71; BGH, Urteil<br />

vom 17. März 1987 - 5 StR 272/86, JR 1988, 254, 255 f. m. abl. Anm. Gössel; offen gelassen von BGH, Urteil vom<br />

3. Mai 1991 - 2 StR 613/90, NJW 1992, 250, 252). Der Gläubigerschutz hat aber bei den in der Rechtsform der<br />

GmbH betriebenen Gesellschaften kein geringeres Gewicht als bei Personengesellschaften oder insbesondere der<br />

Mischform der GmbH & Co. KG, so dass mit dieser Argumentation nicht nachvollziehbar erscheint, warum die<br />

Zustimmung der Gesellschafter einer Komplementär-GmbH den Auftrag des Geschäftsführers erweitern kann, das<br />

Einverständnis der Gesellschafter bei einer reinen Kapitalgesellschaft für die Frage, ob der Geschäftsführer als Organ<br />

oder im Auftrag der Gesellschaft handelt, hingegen bedeutungslos sein soll.<br />

[21] Auch in Bezug auf die Buchführungs- <strong>und</strong> Bilanzdelikte hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof nicht einheitlich an der<br />

Interessentheorie festgehalten, sondern diese - teils ausdrücklich, teils stillschweigend - in Frage gestellt (vgl. BGH,<br />

Beschlüsse vom 15. Dezember 2011 - 5 StR 122/11, StV 2012, 216; vom 24. Mai 2009 - 5 StR 353/08, NStZ 2009,<br />

635, 636; vom 18. Januar 1995 - 2 StR 693/94, wistra 1995, 146 f.; anders etwa BGH, Beschluss vom 14. Dezember<br />

1999 - 5 StR 520/99, NStZ 2000, 206, 207).<br />

207


[22] c) Kommt es für ein Handeln als Vertretungsberechtigter im Sinne des § 14 Abs. 1 <strong>StGB</strong> nicht (mehr) darauf an,<br />

ob dieses im Interesse des Geschäftsherrn liegt, ist auf andere taugliche Abgrenzungskriterien Bedacht zu nehmen<br />

(dazu bereits BGH, Beschlüsse vom 10. Februar 2009 - 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225, 2228; vom 15. September<br />

2011 - 3 StR 118/11, NStZ 2012, 89, 91). Entscheidend bleibt, dass der Handelnde gerade in seiner Eigenschaft als<br />

vertretungsberechtigtes Organ, also im Geschäftskreis des Vertretenen (BGH aaO), <strong>und</strong> nicht bloß "bei Gelegenheit"<br />

tätig wird (vgl. BT-Drucks. 14/8998 S. 8; 5/1319 S. 63). Dabei kann zwischen rechtsgeschäftlichem <strong>und</strong> sonstigem<br />

Handeln zu differenzieren sein (vgl. Münch-Komm<strong>StGB</strong>/Radtke, 2. Aufl., § 14 Rn. 65 ff.; S/S-Perron, <strong>StGB</strong>, 28.<br />

Aufl., § 14 Rn. 26; ausdrücklich anders noch BGH, Urteil vom 20. Mai 1981 - 3 StR 94/81, BGHSt 30, 127, 129).<br />

[23] Handelt ein Organwalter rechtsgeschäftlich, ist ein organschaftliches Tätigwerden jedenfalls dann naheliegend<br />

gegeben, wenn er im Namen der juristischen Person auftritt oder für diese aufgr<strong>und</strong> der bestehenden Vertretungsmacht<br />

bindende Rechtsfolgen zumindest im Außenverhältnis herbeiführt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Februar<br />

2009 - 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225, 2228; vom 15. September 2011 - 3 StR 118/11, NStZ 2012, 89, 91 m. Anm.<br />

Radtke/Hoffmann). Das Handeln des Vertretungsberechtigten als Organ wird etwa dadurch deutlich, dass er lediglich<br />

aufgr<strong>und</strong> seiner besonderen Organstellung überhaupt in der Lage ist, die vertretene juristische Person rechtlich zu<br />

binden. Diese Wirkung könnte er nicht herbeiführen, wenn er nicht als vertretungsberechtigtes Organ, sondern -<br />

gleichsam wie ein Außenstehender - als natürliche (Privat-) Person agierte (vgl. Arloth, NStZ 1990, 570, 574).<br />

[24] Eine Zurechnung der Schuldnereigenschaft ist auch in den Fällen möglich, in denen der Vertretungsberechtigte<br />

aufgr<strong>und</strong> seiner Stellung außerstrafrechtliche, aber gleichwohl strafbewehrte Pflichten des Vertretenen zu erfüllen<br />

hat (s. LK/Tiedemann, 12. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 84; NK-<strong>StGB</strong>-Kindhäuser, 3. Aufl., Vor §§ 283 bis 283d Rn.<br />

54).<br />

[25] Dagegen erscheint die Abgrenzung bei einem bloß faktischen Handeln problematischer. Ein solches kann jedenfalls<br />

dann Gr<strong>und</strong>lage für eine Zurechnung sein, wenn eine Zustimmung des Vertretenen vorliegt (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 15. September 2011 - 3 StR 118/11, NStZ 2012, 89, 91; weitergehend BGH, Beschluss vom 10. Januar<br />

2012 - 4 ARs 17/11, wistra 2012, 191; s. auch MünchKomm<strong>StGB</strong>/Radtke, 2. Aufl., § 14 Rn. 67 f.; Valerius, NZWiSt<br />

2012, 65, 66).<br />

[26] Es bedarf hier keiner abschließenden Klärung, unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen bei rein tatsächlichen<br />

Verhaltensweisen eine Zurechnung nach § 14 <strong>StGB</strong> in Betracht kommt; denn ein solches liegt nicht vor. Der<br />

Geschäftsführer K. ist rechtsgeschäftlich tätig geworden. Er verschaffte sich die Beträge im Wesentlichen durch<br />

Überweisungen, die er als Geschäftsführer der GmbH mit Wirkung für diese vornahm.<br />

[27] d) Der Senat ist durch die bislang ergangenen Entscheidungen nicht daran gehindert, eine Strafbarkeit der Angeklagten<br />

wegen Beihilfe zum Bankrott anzunehmen, obschon der Geschäftsführer der S.GmbH Gesellschaftsvermögen<br />

nicht im Interesse der GmbH, sondern in eigenem Interesse beiseite schaffte. Auf Anfrage (§ 132 Abs. 3 Satz<br />

1 GVG) haben sämtliche anderen Strafsenate erklärt, an ihrer insoweit entgegenstehenden früheren Rechtsauffassung<br />

nicht festzuhalten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. November 2011 1 ARs 19/11, wistra 2012, 113; vom 22. Dezember<br />

2011 - 2 ARs 403/11; vom 10. Januar 2012 - 4 ARs 17/11, wistra 2012, 191; vom 7. Februar 2012 5 ARs 64/11).<br />

Auch der Senat selbst gibt seine entgegenstehende Rechtsansicht auf.<br />

[28] 2. Das Landgericht hat die Strafbarkeit wegen Beihilfe zur Untreue (§§ 266, 27 <strong>StGB</strong>) ebenfalls rechtsfehlerfrei<br />

angenommen.<br />

[29] Der Geschäftsführer K.verursachte durch die vorgenommenen Verfügungen einen Vermögensnachteil der<br />

S.GmbH. Dies geschah pflichtwidrig, auch wenn die Angeklagten - durch die G.S.GmbH <strong>und</strong> die S. KG vermittelt -<br />

letztlich als natürliche Personen hinter der S.GmbH standen <strong>und</strong> damit einverstanden waren; denn ein solches Einverständnis<br />

ist jedenfalls dann unbeachtlich, wenn die betreffenden Verfügungen - wie hier - die wirtschaftliche<br />

Existenz der Gesellschaft gefährden. Hierzu gilt im Einzelnen:<br />

[30] Ein - wirksames - Einverständnis des Inhabers des zu betreuenden Vermögens schließt bereits die Tatbestandsmäßigkeit<br />

aus, weil die Pflichtwidrigkeit des Handelns Merkmal des Untreuetatbestandes ist (BGH, Urteil vom 24.<br />

Juni 2010 - 3 StR 90/10, BGHR <strong>StGB</strong> § 266 Abs. 1 Missbrauch 7 mwN). Vermögensträgerin ist die GmbH selbst,<br />

Vermögensträger sind nicht die einzelnen Gesellschafter. Allerdings tritt an die Stelle des Vermögensinhabers bei<br />

juristischen Personen deren oberstes Willensorgan für die Regelung der inneren Angelegenheiten (BGH aaO), bei<br />

einer GmbH also die Gesamtheit ihrer Gesellschafter (BGH, Urteil vom 27. August 2010 - 2 StR 111/09, BGHSt 55,<br />

266, 278). Indes kann auch diese nicht unbeschränkt in Vermögensverfügungen einwilligen. Vielmehr ist ein Einverständnis<br />

nach der gefestigten Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs, an welcher der Senat festhält, bei Gesellschaften<br />

mit beschränkter Haftung ausgeschlossen, wenn unter Verstoß gegen Gesellschaftsrecht die wirtschaftliche Existenz<br />

der Gesellschaft gefährdet wird, namentlich durch Beeinträchtigung des Stammkapitals entgegen § 30 GmbHG,<br />

durch Herbeiführung oder Vertiefung einer Überschuldung oder durch Gefährdung der Liquidität (vgl. etwa BGH,<br />

208


Beschluss vom 30. August 2011 - 3 StR 228/11, NStZ-RR 2012, 80; Beschluss vom 31. Juli 2009 - 2 StR 95/09,<br />

BGHSt 54, 52, 57 f.; Beschluss vom 30. September 2004 - 4 StR 381/04, NStZ-RR 2005, 86; Urteil vom 13. Mai<br />

2004 - 5 StR 73/03, BGHSt 49, 147, 157 ff. [zur AG]; Urteil vom 20. Juni 1999 - 1 StR 668/98, NJW 2000, 154,<br />

155; s. auch Lackner/Kühl, <strong>StGB</strong>, 27. Aufl., § 266 Rn. 20a; MünchKomm<strong>StGB</strong>/Dierlamm, 2006, § 266 Rn. 133 ff.;<br />

LK/Rönnau, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., Vor § 32 Rn. 178; LK/Schünemann, <strong>StGB</strong>, 11. Aufl., § 266 Rn. 125; ablehnend SK-<br />

<strong>StGB</strong>/Hoyer, § 266 Rn. 70 [Stand: Juli 2010]; S/S-Perron, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 266 Rn. 21b; Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl.,<br />

§ 266 Rn. 99; SSW-<strong>StGB</strong>/Saliger, 2009, § 266 Rn. 86). Eine solche Sachlage, die einem wirksamen Einverständnis<br />

entgegensteht, ist durch die vom Landgericht getroffenen Feststellungen belegt.<br />

[31] Es stellt entgegen einer vielfach im Schrifttum geäußerten Auffassung (s. z.B. Labsch, wistra 1985, 1, 7 f.; Arloth,<br />

NStZ 1990, 570, 573; Kasiske JR 2011, 235, 240; SK-<strong>StGB</strong>/Hoyer, § 266 Rn. 73 [Stand: Juli 2010]) keinen<br />

Wertungswiderspruch dar, die mit Zustimmung der Gesellschafter vorgenommene Entnahme von Vermögenswerten<br />

durch den Geschäftsführer sowohl als Bankrott als auch als Untreue zu beurteilen. Ein Eingriff in das Gesellschaftsvermögenkann<br />

gleichzeitig verschiedene Rechtsgüter beeinträchtigen, die durch die unterschiedlichen Strafvorschriften<br />

geschützt sind: Während der Untreuetatbestand das Vermögen des Treugebers wahren soll, dienen die Bankrottbestimmungen<br />

dem Schutz der Insolvenzmasse im Interesse der Gläubiger (vgl. BGH, Urteile vom 20. Juli 1999 - 1<br />

StR 668/98, NJW 2000, 154, 155; vom 4. April 1979 - 3 StR 488/78, BGHSt 28, 371, 372 f.). Angesichts der eigenen<br />

Rechtspersönlichkeit der GmbH (§ 13 GmbHG) kann in den Fällen, in denen ein Einverständnis der Gesellschafter<br />

mit der Vermögensverfügung aus den dargelegten Gründen ausgeschlossen ist, ein Eingriff in das betreute Vermögen<br />

mithin die Strafbarkeit sowohl wegen Untreue als auch wegen Bankrotts begründen (s. BGH, Beschlüsse vom<br />

10. Februar 2009 - 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225, 2228; vom 15. September 2011 - 3 StR 118/11, NStZ 2012, 89,<br />

91 m. zust. Anm. Radtke/Hoffmann; LK/Schünemann, <strong>StGB</strong>, 11. Aufl., § 266 Rn. 125, 171; aA etwa SK-<br />

<strong>StGB</strong>/Hoyer, § 266 Rn. 73 [Stand: Juli 2010]; S/S-Perron, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 266 Rn. 21b mwN).<br />

[32] Es bleibt dabei, dass die Untreue den Schutz des betreuten Vermögens, nämlich des Vermögens der GmbH,<br />

zum Gegenstand hat. Die Unwirksamkeit des Einverständnisses dient gerade diesem Vermögensschutz, unabhängig<br />

davon, dass dies mittelbar auch den Gläubigern zugutekommt (vgl. Radtke, GmbHR 2012, 28, 30; Ransiek, wistra<br />

2005, 121, 122). Das gilt insbesondere vor dem Hintergr<strong>und</strong>, dass der Kapitalschutz nach § 30 GmbHG nicht ausschließlich<br />

den Gläubigern eine Befriedigungsreserve, sondern überdies der GmbH nach Möglichkeit ein ihren Bestand<br />

schützendes Mindestbetriebsvermögen sichern soll (s. BGH, Urteile vom 24. November 2003 - II ZR 171/01,<br />

BGHZ 157, 72, 75; vom 17. März 2008 - II ZR 24/07, BGHZ 176, 62, 65; Hom-melhoff in Lutter/Hommelhoff,<br />

GmbHG, 17. Aufl., § 30 Rn. 1). Es bestehen somit gesetzlich gewährleistete Eigeninteressen der GmbH (BGH, Urteil<br />

vom 10. Juli 1996 - 3 StR 50/96, BGHR <strong>StGB</strong> § 266 Abs. 1 Nachteil 37; s. auchBGH, Urteil vom 13. Mai 2004 -<br />

5 StR 73/03, BGHSt 49, 147, 157 ff.), die von den Interessen der Gesellschafter unabhängig sind <strong>und</strong> daher deren<br />

Dispositionsmöglichkeit begrenzen.<br />

<strong>StGB</strong> § 306 a § 306 b, § 263 - Brandstiftung Wohnzwecke Versuch Betrug<br />

BGH, Urt. v. 21.09.2011 - 1 StR 95/11 - NStZ 2012, 39<br />

Selbst eine Vielzahl von Besuchen in einem Gebäude, die ausschließlich der Vornahme von Instandhaltungsarbeiten,<br />

der Hausreinigung oder der Gartenpflege dienen, kann nicht zur Begründung<br />

eines - auch nur vorübergehenden - räumlichen Lebensmittelpunktes, d.h. zum "Wohnen" i.S.d. §<br />

306a Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> führen.<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Amberg vom 26. Oktober 2010 aufgehoben.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Brandstiftung in Tateinheit mit Versicherungsmissbrauch<br />

zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Staatsanwaltschaft strebt mit ihrer auf die Sachrüge gestützten<br />

Revision eine Verurteilung des Angeklagten wegen besonders schwerer Brandstiftung an. Das vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

vertretene Rechtsmittel führt zur Aufhebung <strong>und</strong> Zurückverweisung des Urteils, allerdings nicht aus dem von<br />

209


der Staatsanwaltschaft geltend gemachten Rechtsgr<strong>und</strong> (nachfolgend unter II. 1.), sondern weil die Strafkammer ihre<br />

umfassende Kognitionspflicht verletzt hat (nachfolgend unter II. 2.).<br />

I.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts kauften der Angeklagte <strong>und</strong> seine Ehefrau im Jahr 2000 ein Haus in U.,<br />

das sie nach einem Umbau ab dem Jahr 2003 bewohnten. Das Haus in V. , das sie bis dahin bewohnt hatten, sollte<br />

für 1,4 Millionen € verkauft werden. Die Verkaufsbemühungen erwiesen sich jedoch als erfolglos. Die Eheleute<br />

unterhielten deshalb zunächst zwei Wohnsitze, wobei sie hauptsächlich in ihrem neuen Haus in U. wohnten. Ab dem<br />

Jahr 2009 gaben sie schließlich ihren Wohnsitz in V. auf. Sie hielten sich dort nur noch selten auf. Bei ihren Besuchen<br />

sahen sie nach dem Rechten. Außerdem kümmerten sie sich um die Gartenpflege, die Hausreinigung <strong>und</strong> die<br />

erforderlichen Instandhaltungsarbeiten, da das noch immer möblierte Haus wegen des beabsichtigten Verkaufs in<br />

einem „Vorzeigezustand“ erhalten bleiben sollte. Im Rahmen ihrer Aufenthalte in V. kam es vereinzelt auch zu<br />

Übernachtungen. So übernachteten der Angeklagte <strong>und</strong> seine Ehefrau im Mai, Juni <strong>und</strong> Juli 2009 jeweils einmal<br />

dort. Im März, April <strong>und</strong> August 2009 gab es dagegen keine Übernachtung. Da die monatlichen finanziellen Aufwendungen<br />

(Kreditzinsen, Unterhaltungs- <strong>und</strong> Betriebskosten) für die beiden Häuser die Einkünfte des Angeklagten<br />

<strong>und</strong> seiner Ehefrau aus ihren Renten bei Weitem überstiegen, entschloss sich der Angeklagte, das Haus in V. in<br />

Brand zu setzen, um anschließend Leistungen aus der Brandversicherung zu erhalten. Seine Ehefrau wusste hiervon<br />

nichts. Am 31. August 2009 zündete er im Keller des Hauses, in dem sich außer ihm keine weiteren Personen befanden,<br />

u.a. mehrere Federkernmatratzen an. Das Feuer griff über die hölzerne Außenfassade auf den Dachstuhl über.<br />

Ein im Dachgeschoss befindliches Schlafzimmer brannte vollständig aus. Durch die Brand- <strong>und</strong> Rußeinwirkung<br />

entstanden im Keller- <strong>und</strong> Dachgeschoss Schäden in Höhe von mindestens 200.000 €. Mit Schreiben vom 2. September<br />

2009 meldete der Angeklagte das Brandereignis seiner Versicherung. Am 23. Dezember 2009 wendete er<br />

sich mit einem weiteren Schreiben an diese.<br />

2. Das Landgericht hat eine besonders schwere Brandstiftung gemäß § 306b Abs. 2 Nr. 2, § 306a Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong><br />

verneint. Das in Brand gesetzte Haus habe zur Tatzeit nicht mehr der Wohnung von Menschen gedient. Die gelegentlichen<br />

Aufenthalte des Angeklagten <strong>und</strong> seiner Frau dort hätten nicht zu einer Verlagerung ihres persönlichen Lebensmittelpunktes<br />

geführt. Das Landgericht ist deshalb davon ausgegangen, dass der Angeklagte lediglich den Tatbestand<br />

der - einfachen - vorsätzlichen Brandstiftung verwirklicht habe. Tateinheitlich hierzu habe der Angeklagte<br />

einen Versicherungsmissbrauch (§ 265 <strong>StGB</strong>) begangen, weil er in der Absicht gehandelt habe, durch die Inbrandsetzung<br />

Versicherungsleistungen von der Brandversicherung in Anspruch nehmen zu können. Mit der Frage, ob der<br />

Angeklagte möglicherweise tatmehrheitlich (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 1999 - 4 StR 700/98, BGHSt 45,<br />

211, 213 mwN) einen versuchten Betrug begangen haben könnte, hat sich das Landgericht nicht auseinandergesetzt.<br />

II. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist im Ergebnis begründet.<br />

1. Soweit die Staatsanwaltschaft mit ihrem Rechtsmittel jedoch das Ziel verfolgt, eine Verurteilung des Angeklagten<br />

wegen besonders schwerer Brandstiftung zu erreichen, hat ihr Rechtsmittel keinen Erfolg. Die Bewertung des Landgerichts,<br />

wonach der Qualifikationstatbestand der besonders schweren Brandstiftung vorliegend nicht erfüllt ist,<br />

weist keinen Rechtsfehler auf.<br />

a) Eine Verurteilung wegen besonders schwerer Brandstiftung setzt das Vorliegen einer Haupttat nach § 306a <strong>StGB</strong><br />

voraus. In Betracht kommt vorliegend allein eine Tat nach § 306a Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> in der Tatvariante des Inbrandsetzens<br />

eines Gebäudes, das zur Tatzeit der Wohnung von Menschen dient. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofes geht das Landgericht zutreffend davon aus, dass diese Tatbestandsalternative nur<br />

dann verwirklicht ist, wenn das Gebäude von seinen Bewohnern zumindest vorübergehend tatsächlich als Mittelpunkt<br />

ihrer (privaten) Lebensführung zu Wohnzwecken genutzt wird (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 28. Juni 2007 -<br />

3 StR 54/07 mwN). Ob dies der Fall ist, bestimmt sich nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles (st. Rspr.;<br />

vgl. BGH, Urteil vom 20. November 1961 - 2 StR 521/61, BGHSt 16, 394, 396; BGH, Urteil vom 24. April 1975 - 4<br />

StR 120/75, BGHSt 26, 121, 122; BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2004 - 2 StR 381/04, BGHR <strong>StGB</strong> § 306a Abs.<br />

1 Nr. 1 Wohnung 4). Indizien für eine Wohnnutzung können hierbei neben der Gebrauchsdauer z.B. das regelmäßige<br />

Übernachten (BGH, Beschluss vom 23. November 1993 - 1 StR 742/93, BGHR <strong>StGB</strong> § 306 Nr. 2 Wohnung 10<br />

mwN) <strong>und</strong> Zubereiten von Speisen sowie die postalische Erreichbarkeit sein (SSW-Wolters, <strong>StGB</strong>, § 306a Rn. 7).<br />

b) Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hat sich das Landgericht nicht davon überzeugen können, dass das von<br />

dem Angeklagten in Brand gesetzte Haus in V. zur Tatzeit noch der Wohnung von Menschen diente. Dies ist aus<br />

Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Die Aufgabe, sich auf der Gr<strong>und</strong>lage der vorhandenen Beweismittel eine Überzeugung<br />

vom tatsächlichen Geschehen zu verschaffen, obliegt gr<strong>und</strong>sätzlich allein dem Tatrichter. Seine Beweiswürdigung<br />

hat das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen. Es ist ihm verwehrt, sie durch eine eigene zu ersetzen<br />

oder sie etwa nur deshalb zu beanstanden, weil aus seiner Sicht eine andere Bewertung der Beweise näher gelegen<br />

210


hätte. Kann der Tatrichter vorhandene Zweifel nicht überwinden, so kann das Revisionsgericht eine solche Entscheidung<br />

nur im Hinblick auf Rechtsfehler überprüfen, insbesondere darauf, ob die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich,<br />

unklar oder lückenhaft ist, die Beweismittel nicht ausschöpft, Verstöße gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze<br />

aufweist oder ob der Tatrichter überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche<br />

Gewissheit gestellt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 10. August 2011 - 1 StR 114/11; BGH, Urteil vom 1. Juni<br />

2011 - 2 StR 90/11 jew. mwN). Solche Rechtsfehler liegen hier nicht vor.<br />

aa) Das Revisionsvorbringen der Staatsanwaltschaft erschöpft sich in dem unzulässigen Versuch, die tatrichterliche<br />

Beweiswürdigung durch eine eigene zu ersetzen.<br />

bb) Die Beweiswürdigung ist auch nicht lückenhaft. Das Landgericht hat sich in den Urteilsgründen mit allen Umständen<br />

auseinandergesetzt, die für eine Wohnnutzung des in Brand gesetzten Gebäudes zur Tatzeit sprechen könnten.<br />

Dabei hat es, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergibt, insbesondere nicht außer Acht<br />

gelassen, dass es bis zu der Tat zu gelegentlichen Aufenthalten - einschließlich vereinzelter Übernachtungen - des<br />

Angeklagten <strong>und</strong> seiner Frau in dem Haus gekommen war. Weiterhin hat es bei seiner Beweiswürdigung auch berücksichtigt,<br />

dass das Haus bis zum Brand „fast“ vollständig möbliert <strong>und</strong> dass der Pool beheizt war. Dennoch hat es<br />

sich keine Überzeugung von einer Wohnnutzung verschaffen können. Zur Begründung hat es entscheidend darauf<br />

abgestellt, dass der Angeklagte <strong>und</strong> seine Ehefrau nicht mehr regelmäßig in dem Haus in V. übernachteten <strong>und</strong> sich<br />

dort, wie sich aus den im Urteil mitgeteilten Angaben der Ehefrau in der Hauptverhandlung ergibt, nur noch deshalb<br />

aufhielten, um es wegen des beabsichtigten Verkaufs sauber zu halten <strong>und</strong> um die Gartenpflege zu bewerkstelligen.<br />

Selbst die Nachbarn <strong>und</strong> der Polizeibeamte, der am Tag nach dem Brand den Tatort untersuchte, hielten das Haus für<br />

unbewohnt. Angesichts dieser Umstände ist die Annahme des Landgerichts, dass es sich bei dem Haus in V. nicht<br />

(mehr) um den Lebensmittelpunkt des Angeklagten <strong>und</strong> seiner Ehefrau handelte, eine nahe liegende Schlussfolgerung,<br />

die revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Das Landgericht musste sich in diesem Zusammenhang auch<br />

nicht mit der Frage auseinandersetzen, wie oft sich der Angeklagte <strong>und</strong> seine Ehefrau in dem Haus aufhielten, ohne<br />

dort zu übernachten. Da Wohnen mehr ist als sich nur Aufhalten (S/S-Heine, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 306a Rn. 5), kann<br />

selbst eine Vielzahl von Besuchen in einem Gebäude, die ausschließlich der Vornahme von Instandhaltungsarbeiten,<br />

der Hausreinigung oder der Gartenpflege dienen, nicht zur Begründung eines - auch nur vorübergehenden - räumlichen<br />

Lebensmittelpunktes führen.<br />

2. Auch wenn die Bewertung des Landgerichts, der Angeklagte habe vorliegend - nur - den Tatbestand einer (einfachen)<br />

vorsätzlichen Brandstiftung verwirklicht, nicht rechtsfehlerhaft ist, kann das Urteil im Ergebnis gleichwohl<br />

keinen Bestand haben, weil das Landgericht seiner umfassenden Kognitionspflicht nicht genügt hat. Das Sachurteil<br />

muss den durch die zugelassene Anklage abgegrenzten Prozessstoff erschöpfen; der einheitliche geschichtliche Lebensvorgang,<br />

der den Gegenstand der Untersuchung bildet, muss vollständig abgeurteilt werden (BGH, Urteile vom<br />

9. August 2011 - 1 StR 194/11 <strong>und</strong> vom 28. November 1995 - 1 StR 558/95 jew. mwN). Dies ist hier nicht geschehen.<br />

a) Das Landgericht hätte sich nicht damit begnügen dürfen, lediglich eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen eines<br />

- tateinheitlich neben der Brandstiftung begangenen - Versicherungsmissbrauchs zu bejahen. Es hätte vielmehr erörtern<br />

müssen, ob sich der Angeklagte stattdessen möglicherweise wegen versuchten Betruges zum Nachteil der Versicherung<br />

schuldig gemacht hat. Eine solche Tat würde zur Brandstiftung nicht nur in Tatmehrheit stehen (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 23. September 1999 - 4 StR 700/98, BGHSt 45, 211, 213 mwN), sondern ließe auch die tateinheitliche<br />

Verurteilung wegen Versicherungsmissbrauchs aufgr<strong>und</strong> der in § 265 Abs. 1 StPO enthaltenen Subsidiaritätsklausel<br />

entfallen (vgl. Sackreuther in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- <strong>und</strong> Steuerstrafrecht, 1. Aufl. 2011, <strong>StGB</strong> § 265 Rn. 32<br />

f. mwN). Eine Strafbarkeit wegen versuchten Betruges kommt hier nach den Feststellungen schon deshalb in Betracht,<br />

weil der Angeklagte nicht nur bei der Brandlegung bereits in der Absicht handelte, Versicherungsleistungen<br />

zu erlangen, um seine desolate finanzielle Situation zu verbessern, sondern weil er sich nach der Brandstiftung auch<br />

mit zwei Schreiben an die Brandversicherung wandte, was die Strafkammer als einen Beleg für ein Handeln des<br />

Angeklagten aus rein finanziellen Gründen wertet. Ob diese beiden Schreiben lediglich der Vorbereitung des Betruges<br />

dienten oder schon ein unmittelbares Ansetzen zum Betrugsversuch darstellten (vgl. BGH, Urteil vom 23. September<br />

1999 - 4 StR 700/98, BGHSt 45, 211), von dem der Angeklagte möglicherweise in der Folgezeit freiwillig<br />

zurückgetreten ist, kann der Senat anhand der vom Landgericht getroffenen <strong>und</strong> insoweit lückenhaften Feststellungen<br />

nicht überprüfen. So wird hinsichtlich des ersten Schreibens lediglich mitgeteilt, dass der Angeklagte das<br />

„Brandereignis“ seiner Versicherung gemeldet habe. Der Inhalt des zweiten Schreibens wird überhaupt nicht dargelegt.<br />

Diesen Feststellungen kann somit nicht entnommen werden, ob der Angeklagte bereits Täuschungshandlungen<br />

gegenüber der Versicherung unternommen hat, um an die von ihm erstrebten Versicherungsleistungen zu gelangen.<br />

Auch ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht, warum dies letztlich gescheitert ist.<br />

211


) Einer Verurteilung wegen versuchten Betruges stünde vorliegend auch nicht das Verfahrenshindernis einer unwirksamen<br />

Anklage entgegen. Zwar finden sich in der - unverändert zugelassenen - Anklageschrift der Staatsanwaltschaft<br />

Amberg vom 30. März 2010 keine näheren Angaben zu einer versuchten Täuschung der Versicherung. Im<br />

Rahmen der rechtlichen Würdigung wird lediglich ausgeführt, dass „von einem mitverwirklichten Versicherungsmissbrauch<br />

(§ 265 <strong>StGB</strong>) auszugehen“ sei, weil „bislang keine Ansprüche gegen die Brandversicherung erhoben<br />

wurden.“ Die fehlenden Angaben zu einem versuchten Betrug des Angeklagten zum Nachteil seiner Brandversicherung<br />

haben gleichwohl nicht zur Folge, dass diese nicht Gegenstand der Anklage wären <strong>und</strong> die Untersuchung sich<br />

nicht auf sie hätte erstrecken dürfen; denn sie bilden mit der Brandstiftung, die der Angeklagte - wie hier - zum<br />

Zweck der Täuschung der Versicherung vorgenommen hat, eine Tat im prozessualen Sinn (vgl. BGH, Urteil vom 23.<br />

September 1999 - 4 StR 700/98, BGHSt 45, 211, 212).<br />

3. Die Verurteilung wegen vorsätzlicher Brandstiftung in Tateinheit mit Versicherungsmissbrauch war wegen der<br />

Verletzung der Kognitionspflicht aufzuheben. Die vom Landgericht rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen können<br />

jedoch bestehen bleiben, denn sie sind von dem dargelegten Rechtsfehler nicht betroffen. Der neue Tatrichter<br />

wird weitere ergänzende Feststellungen, insbesondere zu einer Strafbarkeit des Angeklagten wegen versuchten Betruges<br />

<strong>und</strong> zur Frage eines Rücktritts, zu treffen haben, soweit diese nicht zu den bisherigen in Widerspruch stehen.<br />

4. Der Senat weist vorsorglich daraufhin, dass der vom Landgericht bei der Strafzumessung als Strafmilderungsgr<strong>und</strong><br />

berücksichtigte Umstand, dass der Angeklagte „infolge der Tat einen hohen Eigenschaden erlitten“ hat, „den<br />

er nicht durch eine Versicherungsleistung wird kompensieren können“, keine geringere Strafe rechtfertigt, da der<br />

Angeklagte diese typischen <strong>und</strong> für ihn vorhersehbaren Auswirkungen der Tat in vorwerfbarer Weise selbst herbeigeführt<br />

hat (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juli 2005 - 2 StR 168/05, BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 40).<br />

<strong>StGB</strong> § 306 I - Brandstiftung Gewicht einer <strong>Teil</strong>zerstörung - gewerbliches Gebäude<br />

BGH, Beschl. v. 20.10.2011 - 4 StR 344/11 - NJW 2012, 693 NStZ 2012, 215<br />

LS: Auch die teilweise Zerstörung eines zu gewerblichen Zwecken genutzten Gebäudes erfordert<br />

eine solche von Gewicht. Sie liegt wie im Fall der teilweisen Zerstörung eines Wohngebäudes regelmäßig<br />

erst dann vor, wenn das Gebäude für eine nicht unbeträchtliche Zeit wenigstens für einzelne<br />

seiner Zweckbestimmungen oder wenn ein für die ganze Sache zwecknötiger <strong>Teil</strong> unbrauchbar gemacht<br />

wird, ferner dann, wenn einzelne Bestandteile des Gebäudes, die für einen selbständigen Gebrauch<br />

bestimmt oder eingerichtet sind, wie etwa eine einzelne Abteilung des Gebäudes, gänzlich<br />

vernichtet werden (im Anschluss an Senatsurteil vom 12. September 2002 - 4 StR 165/02, BGHSt 48,<br />

14).<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II als Schwurgericht vom 21. Dezember<br />

2010 mit den Feststellungen aufgehoben,<br />

a) soweit der Angeklagte im Fall III. 7 der Urteilsgründe wegen vorsätzlicher Brandstiftung verurteilt worden ist,<br />

b) im Ausspruch über die weitere Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

3. Die weiter gehende Revision wird mit der Maßgabe verworfen, dass, soweit der Angeklagte wegen Sachbeschädigung<br />

zum Nachteil der Firma R. durch Beschädigung der Fensterscheibe zu einer Geldstrafe von fünfzig Tagessätzen<br />

verurteilt worden ist (Fall III. 3 der Urteilsgründe), die Höhe des Tagessatzes auf einen Euro festgesetzt wird.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls, Verleumdung <strong>und</strong> Sachbeschädigung in jeweils zwei Fällen<br />

unter Einbeziehung der Strafe aus einem anderweit ergangenen Strafbefehl zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei<br />

Jahren <strong>und</strong> wegen vorsätzlicher Brandstiftung in Tatmehrheit mit Diebstahl <strong>und</strong> Sachbeschädigung zu einer weiteren<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Im Übrigen hat das Landgericht auf Freispruch<br />

erkannt. Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen <strong>und</strong><br />

materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg; im Übrigen ist es<br />

unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

I. Die verfahrensrechtliche Beanstandung greift aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom<br />

2. August 2011 nicht durch.<br />

212


II. Die Überprüfung des angefochtenen Urteils auf die Sachrüge hat hinsichtlich der Verurteilung in den Fällen III. 1<br />

bis III. 6 der Urteilsgründe keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

Hingegen hält die Verurteilung wegen vorsätzlicher Brandstiftung im Fall III. 7 der Gründe rechtlicher Nachprüfung<br />

nicht stand. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe ein fremdes Gebäude durch eine Brandlegung<br />

teilweise zerstört (§ 306 Abs. 1 Nr. 1 2. Variante <strong>StGB</strong>), wird von den Feststellungen nicht getragen.<br />

1. Die Strafkammer hat festgestellt, dass sich der Angeklagte in der Nacht vom 1. auf den 2. November 2009 unter<br />

Verwendung eines Nachschlüssels Zutritt zu dem Verwaltungsgebäude der Firma in I. verschaffte. Unter Mitnahme<br />

des Mobilteils eines Telefons begab er sich vom Büro des Betriebsleiters aus in die Küche des Gebäudes. Dort stellte<br />

er die üblicherweise auf einer Arbeitsplatte stehende Kaffeemaschine auf die linke hintere Herdplatte <strong>und</strong> schaltete<br />

diese auf die Maximalstufe, um die Kaffeemaschine in Brand zu setzen. Ihm war dabei bewusst, dass durch sein<br />

Vorgehen trotz des Vorhandenseins eines Rauchmelders die Gefahr erheblicher Brandschäden am Gebäude bestand.<br />

Dies nahm er billigend in Kauf, da er den Eindruck erwecken wollte, ein Mitarbeiter des inzwischen statt seines<br />

eigenen Unternehmens für die Firma tätigen Sicherheitsdienstes habe den Brand durch Unaufmerksamkeit verursacht.<br />

Wie vom Angeklagten beabsichtigt geriet die Kaffeemaschine in Brand, wodurch es an der Küchendecke zu<br />

Putzabplatzungen kam <strong>und</strong> von der Wandverkleidung über dem unmittelbaren Brandherd zwei Fliesen abfielen.<br />

Darüber hinaus wurde der gesamte Küchenraum bis zur Unbenutzbarkeit verrußt; ein Vollbrand konnte verhindert<br />

werden. Es entstand ein Sachschaden in Höhe von 15.000 bis 18.000 Euro.<br />

2. Das Landgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass auf der Gr<strong>und</strong>lage dieser Feststellungen eine Strafbarkeit<br />

gemäß § 306 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> nur in der Variante des teilweisen Zerstörens durch Brandlegung in Betracht<br />

kam. Die Voraussetzungen dieser Tatmodalität hat es indes nicht hinreichend belegt.<br />

a) Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der teilweisen Zerstörung bei den Brandstiftungsdelikten soll sich nach<br />

dem Willen des Gesetzgebers auf die Auslegung der gleichlautenden Tatbestandsfassung in den §§ 305, 305a <strong>StGB</strong><br />

orientieren (vgl. BTDrucks. 13/8587 S. 88). Danach ist ein Gebäude im Sinne der §§ 306 Abs. 1, 306a Abs. 1, 2<br />

<strong>StGB</strong> teilweise zerstört, wenn es für eine nicht unbeträchtliche Zeit wenigstens für einzelne seiner Zweckbestimmungen<br />

unbrauchbar gemacht, wenn ein für die ganze Sache zwecknötiger <strong>Teil</strong> unbrauchbar wird oder wenn einzelne<br />

Bestandteile der Sache, die für einen selbständigen Gebrauch bestimmt oder eingerichtet sind, gänzlich vernichtet<br />

werden (Senatsurteil vom 12. September 2002 – 4 StR 165/02, BGHSt 48, 14, 20 zu § 306a <strong>StGB</strong> m. Anm. Radtke,<br />

NStZ 2003, 432; LK-<strong>StGB</strong>/Wolff, 12. Aufl., § 306 Rn. 13 f.; SSW-<strong>StGB</strong>/Wolters § 306 Rn. 14). Dabei muss schon<br />

wegen der im Vergleich zu den §§ 305, 305a <strong>StGB</strong> deutlich höheren Strafdrohung in den §§ 306, 306a <strong>StGB</strong> eine<br />

Zerstörung von Gewicht vorliegen, das jeweilige Objekt also in einem seiner wesentlichen Bestandteile betroffen<br />

sein (Senatsurteil aaO, S. 18). Die teilweise Zerstörung etwa eines Mehrfamilienhauses hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

daher nicht schon dann angenommen, wenn Mobiliar zerstört wird, sondern erst dann, wenn eine zu Wohnzwecken<br />

bestimmte „Untereinheit“ wegen der Brandlegungsfolgen aus der Sicht eines „verständigen“ Wohnungsinhabers für<br />

eine beträchtliche Zeitspanne nicht mehr benutzbar ist (Senatsbeschluss vom 6. Mai 2008 – 4 StR 20/08, NStZ 2008,<br />

519, Tz. 2; Beschluss vom 10. Januar 2007 – 5 StR 401/06, NStZ 2007, 270, Tz. 11). Dabei kann sich die länger<br />

andauernde Unbenutzbarkeit auch aus einer starken Verrußung ergeben (BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 3<br />

StR 422/01, StV 2002, 145). Dieser Auslegungsmaßstab für das Merkmal des teilweisen Zerstörens gilt für nicht zu<br />

Wohnzwecken genutzte Gebäude gleichermaßen. In § 306 Abs. 1 <strong>StGB</strong> ist auch für diese Tatobjekte ein Strafrahmen<br />

vorgesehen, der den des § 305 <strong>StGB</strong> deutlich überschreitet, so dass an die Tathandlung der teilweisen Zerstörung<br />

durch Brandlegung dieselben, soeben näher dargelegten erhöhten Anforderungen zu stellen sind. Angesichts der<br />

denkbaren Bandbreite von Zweckbestimmungen bei gewerblich genutzten Gebäuden wird der Tatrichter je nach den<br />

Umständen des einzelnen Falles den konkreten Zweck zu ermitteln <strong>und</strong> in wertender Betrachtung unter Berücksichtigung<br />

des Erfordernisses der Gewichtigkeit des Taterfolgs zu beurteilen haben, ob die Feststellungen zu Art <strong>und</strong><br />

Umfang der Unbrauchbarkeit des Gebäudes insgesamt oder seiner zwecknötigen <strong>Teil</strong>e bzw. der gänzlichen Vernichtung<br />

einzelner Bestandteile die Annahme einer teilweisen Zerstörung im Sinne des § 306 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> rechtfertigen.<br />

Dies muss in den Urteilsgründen im Einzelnen dargelegt werden.<br />

b) Gemessen daran bedarf die Frage, ob sich der Angeklagte einer teilweisen Zerstörung des Verwaltungsgebäudes<br />

der Firma durch Inbrandsetzung der in dem Gebäude befindlichen Teeküche strafbar gemacht, erneuter tatrichterlicher<br />

Prüfung. Dass das Gebäude als Sitz der Verwaltung der Firma für eine seiner Zweckbestimmungen durch Inbrandsetzung<br />

der Teeküche für eine nicht unbeträchtliche Zeit unbrauchbar gemacht wurde, ist den Urteilsgründen<br />

nicht hinreichend sicher zu entnehmen <strong>und</strong> liegt insbesondere angesichts der – soweit aus den bisherigen Feststellungen<br />

ersichtlich – untergeordneten Bedeutung des betroffenen Raumes für den Widmungszweck des Gesamtgebäudes<br />

eher fern. Entsprechendes gilt erst recht für die Frage, ob die Teeküche als für das ganze Gebäude zwecknötiger <strong>Teil</strong><br />

oder als für einen selbständigen Gebrauch bestimmte <strong>und</strong> eingerichtete Abteilung anzusehen ist. Ob sich der Ange-<br />

213


klagte, sollte das Landgericht zum Vorliegen zumindest einer dieser Voraussetzungen keine Feststellungen treffen<br />

können, eines Versuchs im Sinne des § 306 Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> oder lediglich einer Sachbeschädigung strafbar gemacht<br />

hat, wird im Wesentlichen davon abhängen, welche Vorstellungen des Angeklagten zum Tatverlauf der zu<br />

neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung berufene Tatrichter für erwiesen hält.<br />

3. Die Aufhebung der Verurteilung wegen vorsätzlicher Brandstiftung entzieht auch dem Ausspruch über die weitere<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten die Gr<strong>und</strong>lage.<br />

III. Der Senat holt ferner in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO die versehentlich unterbliebene Festsetzung<br />

der Höhe des Tagessatzes auf den Mindestsatz des § 40 Abs. 2 Satz 3 <strong>StGB</strong> nach, soweit der Angeklagte im<br />

Fall III. 3 der Urteilsgründe wegen Sachbeschädigung durch Beschädigung der Fensterscheibe zum Nachteil der<br />

Firma R. zu einer Geldstrafe von fünfzig Tagessätzen verurteilt worden ist. Dies ist auch dann erforderlich, wenn aus<br />

einer Geldstrafe <strong>und</strong> Freiheitsstrafen eine Gesamtfreiheitsstrafe gebildet wird (BGH, Beschluss vom 20. April 1988 –<br />

3 StR 138/88, BGHR <strong>StGB</strong> § 54 Abs. 3 Tagessatzhöhe 2). Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung<br />

an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen, da die verbliebenen Tatvorwürfe die Zuständigkeit<br />

des Schwurgerichts nicht mehr begründen können.<br />

<strong>StGB</strong> § 315b gefährlicher Eingriff: Besucherparkplatz öffentlicher Verkehrsraum<br />

BGH, Beschl. v. 05.10.2011 - 4 StR 401/11 – StV 2012, 218<br />

Zwar wird die Anwendbarkeit der Strafvorschrift des § 315b <strong>StGB</strong> nicht schon dadurch ausgeschlossen,<br />

dass die konkrete Gefahr oder gar der Schaden außerhalb des öffentlichen Verkehrsraums<br />

eintritt, etwa, wenn der Täter sein Opfer bereits von der öffentlichen Straße aus mit dem<br />

Fahrzeug verfolgt, aber erst außerhalb des öffentlichen Verkehrsraums erfasst. Voraussetzung dafür<br />

ist jedoch, dass sich das Opfer in dem Zeitpunkt, in dem der Täter zur Verwirklichung des Tatbestandes<br />

der Straßenverkehrsgefährdung durch zweckwidrigen Einsatz des Fahrzeugs als Waffe<br />

oder Schadenswerkzeug unmittelbar ansetzt, noch im öffentlichen Raum befindet, die abstrakte<br />

Gefahr also noch im öffentlichen Verkehrsraum entsteht. Hält sich das Opfer zu diesem Zeitpunkt<br />

außerhalb des öffentlichen Verkehrsraums auf, fehlt es an einer Beeinträchtigung der Sicherheit<br />

des Straßenverkehrs <strong>und</strong> damit an einer tatbestandlichen Voraussetzung für die Anwendbarkeit<br />

des § 315b <strong>StGB</strong>.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hagen vom 3. Februar 2011<br />

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass hinsichtlich der zum Nachteil der Zeugen S. <strong>und</strong> Ko. (Tatkomplex: Zufahren<br />

auf den Eingangsbereich des Büroraums der Firma K.) begangenen Tat die tateinheitliche Verurteilung wegen<br />

vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr entfällt,<br />

b) im Ausspruch über die insoweit verhängte Einzelstrafe sowie die Gesamtstrafe aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung<br />

wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine<br />

allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung <strong>und</strong> wegen vorsätzlichen gefährlichen<br />

Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in zwei rechtlich zusammentreffenden<br />

Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt <strong>und</strong> eine Maßregel gemäß §§ 69, 69a <strong>und</strong> b <strong>StGB</strong><br />

angeordnet.<br />

I. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat den aus der Beschlussformel<br />

ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg.<br />

1. Soweit das Landgericht den Angeklagten wegen des Schlages mit dem ausgeklappten Fahrzeugschlüssel gegen<br />

den Hinterkopf des Geschädigten Klaus T. wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong>) verurteilt<br />

hat, hat die Nachprüfung des Urteils aufgr<strong>und</strong> der Sachrüge keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler<br />

ergeben.<br />

2. Hingegen begegnet die Verurteilung wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß §<br />

315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, § 315 Abs. 3 Nr. 1a <strong>StGB</strong> durchgreifenden rechtlichen Bedenken, da die Urteilsfeststellungen<br />

die von § 315b <strong>StGB</strong> vorausgesetzte Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs nicht belegen.<br />

214


a) Geschütztes Rechtsgut der Bestimmung des § 315b <strong>StGB</strong> ist die Sicherheit des Straßenverkehrs. Sie bezieht sich<br />

nur auf den öffentlichen Verkehrsraum. Voraussetzung für eine Strafbarkeit ist daher, dass durch die Tathandlung in<br />

den Verkehr auf solchen Wegen <strong>und</strong> Plätzen eingegriffen worden ist, die – mit ausdrücklicher oder stillschweigender<br />

Zustimmung des Verfügungsberechtigten <strong>und</strong> ohne Rücksicht auf die Eigentumsverhältnisse oder eine verwaltungsrechtliche<br />

Widmung – jedermann oder allgemein bestimmten Gruppen dauernd oder vorübergehend zur Benutzung<br />

offen stehen <strong>und</strong> auch in dieser Weise benutzt werden (st. Rspr.; vgl. Senatsbeschluss vom 9. März 1961 – 4 StR<br />

6/61, BGHSt 16, 7, 9 f.; Senatsurteil vom 4. März 2004 – 4 StR 377/03, BGHSt 49, 128, 129). Jedoch erfüllt nicht<br />

jede Tathandlung, die vom öffentlichen Straßenraum ausgeht, den objektiven Tatbestand des gefährlichen Eingriffs<br />

in den Straßenverkehr. Zwar wird die Anwendbarkeit der Strafvorschrift des § 315b <strong>StGB</strong> nicht schon dadurch ausgeschlossen,<br />

dass die konkrete Gefahr oder gar der Schaden außerhalb des öffentlichen Verkehrsraums eintritt, etwa,<br />

wenn der Täter sein Opfer bereits von der öffentlichen Straße aus mit dem Fahrzeug verfolgt, aber erst außerhalb des<br />

öffentlichen Verkehrsraums erfasst. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sich das Opfer in dem Zeitpunkt, in dem<br />

der Täter zur Verwirklichung des Tatbestandes der Straßenverkehrsgefährdung durch zweckwidrigen Einsatz des<br />

Fahrzeugs als Waffe oder Schadenswerkzeug unmittelbar ansetzt, noch im öffentlichen Raum befindet, die abstrakte<br />

Gefahr also noch im öffentlichen Verkehrsraum entsteht. Hält sich das Opfer zu diesem Zeitpunkt außerhalb des<br />

öffentlichen Verkehrsraums auf, fehlt es an einer Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs <strong>und</strong> damit an<br />

einer tatbestandlichen Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 315b <strong>StGB</strong> (Senatsbeschluss vom 8. Juni 2004 – 4<br />

StR 160/04, NStZ 2004, 625 = DAR 2004, 529 m. zust. Anm. König DAR 2004, 656, jeweils m.w.N.; SSW-<br />

<strong>StGB</strong>/Ernemann § 315b Rn. 9 m.w.N.; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl. § 315b <strong>StGB</strong> Rn. 3).<br />

So liegt es hier.<br />

b) Nach den Feststellungen befindet sich das Bürogebäude der geschädigten Firma K. im Erdgeschoss eines mehrstöckigen<br />

Gebäudes mit einem der Straßenseite abgewandten Eingang, der aus einer zweiflügeligen Glastür mit einer<br />

vorgebauten Betonstufe besteht. Zum Tatzeitpunkt hatte der Angeklagte das Mietfahrzeug, das er bei der Firma K.<br />

zurückgeben wollte, auf dem durch eine unverschlossene Zufahrt erreichbaren gepflasterten Hof vor dem Eingangsbereich<br />

des Büros abgestellt. Als er beschloss, sich für die ihm seitens der Beschäftigten der Firma K. widerfahrene,<br />

als ungerecht empf<strong>und</strong>ene Behandlung zu rächen <strong>und</strong> das Bürogebäude mit dem als Rammbock eingesetzten Fahrzeug<br />

zu zerstören, befanden sich die beiden später verletzten Angestellten der Autovermietung, die Zeugin Ko. <strong>und</strong><br />

der Zeuge S., außen „unmittelbar vor der Glastür“, mithin auf der Betonstufe vor der Tür. Danach befand sich zwar<br />

der Angeklagte zum Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung im öffentlichen Verkehrsraum,<br />

nämlich auf einem für einen unbestimmten Personenkreis allgemein zugänglichen K<strong>und</strong>en- <strong>und</strong> Besucherparkplatz<br />

eines mehrstöckigen Gebäudes (vgl. dazu Senatsurteil vom 4. März 2004 aaO), nicht aber die Geschädigten,<br />

die auf der unmittelbar zum Eingangsbereich des Büros der Firma K. gehörenden Treppenstufe standen.<br />

Schon wegen des Höhenunterschiedes zu dem vorgelagerten Parkplatz rechnete diese Stufe, die den Zugang zu den<br />

Büroräumen der Firma K. ermöglichte <strong>und</strong> an der nach den Urteilsfeststellungen der erste Zufahrtversuch des Angeklagten<br />

scheiterte, nicht mehr zum öffentlichen Verkehrsraum.<br />

3. Infolge der Änderung des Schuldspruchs können die in diesem Fall verhängte Einzelstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong><br />

sechs Monaten, die zugleich die Einsatzstrafe bildet, sowie die Gesamtstrafe nicht bestehen bleiben.<br />

II. Der Senat verweist die Sache an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurück, da das Verfahren nunmehr<br />

keine Straftat im Sinne des § 74 Abs. 2 GVG zum Gegenstand hat.<br />

<strong>StGB</strong> § 3315 c, § 316 rauschmittelbedingte (Kokain) Fahruntüchtigkeit<br />

BGH, Beschl. v. 21.12.2011 - 4 StR 477/11 - StV 2012, 285<br />

Die Empfehlungen der Gemeinsamen Arbeitsgruppe für Grenzwertfragen <strong>und</strong> Qualitätskontrolle<br />

[hier zu Benzoylecgonin im Beschluss vom 22. Mai 2007, BA 2007, 311] bezeichnen lediglich Messwerte,<br />

die mindestens erreicht sein müssen, damit eine Blutwirkstoffkonzentration bei Anwendung<br />

der Richtlinien der Gesellschaft für Toxikologische <strong>und</strong> Forensische Chemie als qualitativ sicher<br />

nachgewiesen <strong>und</strong> quantitativ richtig bestimmt gelten kann [sog. Analytische Grenzwerte]. Sie beruhen<br />

auf einer Übereinkunft der in der Kommission versammelten Experten <strong>und</strong> versuchen Richtlinien<br />

für den Nachweis berauschender Mittel <strong>und</strong> Substanzen im Blut im Sinne von § 24a Abs. 2<br />

Satz 2 StVG vorzugeben […]. Da diese Grenzwerte keine Aussage über eine Dosis-<br />

215


Blutkonzentrations-Wirkungs-Beziehung enthalten, lässt ihre Überschreitung für sich genommen<br />

noch keinen zuverlässigen Rückschluss auf eine im konkreten Fall gegebene, eine Strafbarkeit nach<br />

§ 316 <strong>StGB</strong> begründende rauschmittelbedingte Fahrunsicherheit zu.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Verfahren im Fall 33 der Urteilsgründe nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt;<br />

im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens <strong>und</strong> die notwendigen Auslagen des Angeklagten<br />

der Staatskasse zur Last.<br />

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.<br />

3. Die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen<br />

der Nebenklägerin trägt der Angeklagte.<br />

Gründe:<br />

1. Soweit der Angeklagte im Fall 33 der Urteilsgründe wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316<br />

Abs. 2 <strong>StGB</strong> zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt worden ist, ist das Verfahren auf Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

nach § 154 Abs. 2 StPO einzustellen, weil die bisher getroffenen Feststellungen die Verurteilung<br />

nicht tragen <strong>und</strong> eine Zurückverweisung mit Rücksicht auf das geringe Gewicht des Tatvorwurfes nicht angezeigt ist.<br />

Der geständige Angeklagte geriet nach dem Konsum von Kokain mit seinem Pkw in einen Verkehrsunfall. Eine zwei<br />

St<strong>und</strong>en nach dem Unfallereignis entnommene Blutprobe enthielt Benzoylecgonin in einer Konzentration von 387<br />

ng/ml <strong>und</strong> Kokain in einer Konzentration von 14,6 ng/ml. Bei der Blutentnahme schien der Angeklagte „leicht beeinflusst“<br />

zu sein. Das Landgericht hat den Nachweis einer rauschmittelbedingten Fahruntüchtigkeit schon deshalb als<br />

erbracht angesehen, weil der von der Grenzwertekommission empfohlene Grenzwert für Benzoylecgonin von 75<br />

ng/ml um das Fünffache überschritten war. Anders als bei Alkohol kann der Nachweis einer rauschmittelbedingten<br />

Fahrunsicherheit gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a., § 316 <strong>StGB</strong> auch weiterhin nicht allein durch einen bestimmten<br />

Blutwirkstoffbef<strong>und</strong> geführt werden. Gesicherte Erfahrungswerte, die es erlauben würden, bei Blutwirkstoffkonzentrationen<br />

oberhalb eines bestimmten Grenzwertes ohne Weiteres auf eine rauschmittelbedingte Fahrunsicherheit<br />

zu schließen, bestehen nach wie vor nicht (BGH, Beschluss vom 3. November 1998 – 4 StR 395/98, BGHSt<br />

44, 219, 222; Beschluss vom 7. Oktober 2008 – 4 StR 272/08, StV 2009, 359, 360; Maatz BA 2004, Suppl. I. 9, 10;<br />

SSW-Ernemann § 316 Rn. 30; Fischer, <strong>StGB</strong> 59. Aufl., § 316 Rn. 39 mwN.). Es bedarf daher neben dem positiven<br />

Blutwirkstoffbef<strong>und</strong> noch weiterer aussagekräftiger Beweisanzeichen, die im konkreten Einzelfall belegen, dass die<br />

Gesamtleistungsfähigkeit des betreffenden Kraftfahrzeugführers soweit herabgesetzt war, dass er nicht mehr fähig<br />

gewesen ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, auch bei Eintritt schwieriger Verkehrslagen,<br />

sicher zu steuern (BGH, Urteil vom 15. April 2008 – 4 StR 639/07, NZV 2008, 528, 529). Das ohne eine phänomengeb<strong>und</strong>ene<br />

Schilderung mitgeteilte Erscheinungsbild des Angeklagten („leicht beeinflusst“) reicht dazu nicht aus.<br />

Die vom Landgericht herangezogenen Empfehlungen der Gemeinsamen Arbeitsgruppe für Grenzwertfragen <strong>und</strong><br />

Qualitätskontrolle (hier zu Benzoylecgonin im Beschluss vom 22. Mai 2007, BA 2007, 311) bezeichnen lediglich<br />

Messwerte, die mindestens erreicht sein müssen, damit eine Blutwirkstoffkonzentration bei Anwendung der Richtlinien<br />

der Gesellschaft für Toxikologische <strong>und</strong> Forensische Chemie als qualitativ sicher nachgewiesen <strong>und</strong> quantitativ<br />

richtig bestimmt gelten kann (sog. Analytische Grenzwerte). Sie beruhen auf einer Übereinkunft der in der Kommission<br />

versammelten Experten <strong>und</strong> versuchen Richtlinien für den Nachweis berauschender Mittel <strong>und</strong> Substanzen im<br />

Blut im Sinne von § 24a Abs. 2 Satz 2 StVG vorzugeben (Ergebnisbericht der Gemeinsamen Arbeitsgruppe für<br />

Grenzwertfragen <strong>und</strong> Qualitätskontrolle, BA 1998, 372, 374; BA 2007, 311; Geppert, DAR 2008, 125, 127; Eisenmenger,<br />

NZV 2006, 24, 26; vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 41. Aufl., StVG § 24a Rn. 21a <strong>und</strong><br />

21b mwN.). Da diese Grenzwerte keine Aussage über eine Dosis-Blutkonzentrations-Wirkungs-Beziehung enthalten,<br />

lässt ihre Überschreitung für sich genommen noch keinen zuverlässigen Rückschluss auf eine im konkreten Fall<br />

gegebene, eine Strafbarkeit nach § 316 <strong>StGB</strong> begründende rauschmittelbedingte Fahrunsicherheit zu (vgl. Möller,<br />

BA 2004, Suppl. I. 16, 17).<br />

2. Die weiter gehende Revision ist offensichtlich unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Der Senat schließt<br />

aus, dass das Landgericht bei einem Wegfall der im Fall 33 der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafe auf eine niedrigere<br />

Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte. Gegen den Angeklagten wurden in den verbleibenden Fällen jeweils zwei<br />

Freiheitsstrafen von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten (Fälle 26 <strong>und</strong> 28 der Urteilsgründe), einem Jahr (Fälle 6 <strong>und</strong> 8<br />

der Urteilsgründe), neun Monaten (Fälle 5 <strong>und</strong> 7 der Urteilsgründe) <strong>und</strong> sechs Monaten (Fälle 4 <strong>und</strong> 27) sowie 20<br />

Geldstrafen von jeweils 90 Tagessätzen (Fälle 9 bis 24 <strong>und</strong> 29 bis 32 der Urteilsgründe) festgesetzt.<br />

216


Nebenstrafrecht<br />

AO § 370 Abs. 1; UStG § 4 Nr. 1 Buchstabe b, § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 3 - Vorlage an EuGH:<br />

USt-Hinterziehung Scheinrechnung innergemeinschaftliche Lieferung<br />

BGH, Beschl. v. 20.10.2011 - 1 StR 41/09 - wistra 2009, 441<br />

LS: Zur Versagung der Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung (§ 6a UStG) von der<br />

Umsatzsteuer bei der Verschleierung der Identität des wahren Erwerbers, um diesem die Hinterziehung<br />

der im Bestimmungsland für den Erwerb geschuldeten Umsatzsteuer zu ermöglichen (im<br />

Anschluss an die Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache<br />

R durch Urteil vom 7. Dezember 2010, C-285/09).<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 17. September 2008 wird als unbegründet<br />

verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von<br />

drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen<br />

<strong>und</strong> materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg; die Nachprüfung des Urteils aufgr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung<br />

hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Auch die<br />

rechtliche Würdigung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung stand, der Angeklagte habe sich gemäß § 370<br />

Abs. 1 Nr. 1 AO der Steuerhinterziehung schuldig gemacht, weil er in den Umsatzsteuerjahreserklärungen der P.<br />

GmbH für die Jahre 2002 <strong>und</strong> 2003 steuerpflichtige Lieferungen (I.) von Gebrauchtwagen an Fahrzeughändler in<br />

Portugal vorsätzlich (II.) als steuerfrei behandelt habe.<br />

I. Die verfahrensgegenständlichen Fahrzeuglieferungen waren umsatzsteuerpflichtig, weil der Angeklagte nach den<br />

vom Landgericht rechtsfehlerfrei getroffenen Urteilsfeststellungen in einem „ausgeklügelten System“ (UA S. 8)<br />

unter Verwendung unrichtiger Belege, die er auch in die Buchhaltung der P. GmbH aufnahm, die wirklichen portugiesischen<br />

Erwerber der Fahrzeuge verschleierte <strong>und</strong> diese damit bei der Umgehung der Erwerbsbesteuerung in<br />

Portugal unterstützte.<br />

1. Innergemeinschaftliche Lieferungen sind unter den Voraussetzungen des § 6a UStG steuerfrei (§ 4 Nr. 1 Buchstabe<br />

b UStG).<br />

a) Die Steuerfreiheit für die innergemeinschaftliche Lieferung setzt gemäß § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG voraus,<br />

dass der Unternehmer oder der Abnehmer den Gegenstand der Lieferung in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert<br />

oder versendet. Darüber hinaus bestehen bei Lieferungen (abgesehen von den Fällen der Lieferung neuer Fahrzeuge)<br />

weitere, in der Person des Erwerbers zu erfüllende Voraussetzungen. Nach § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a<br />

<strong>und</strong> b UStG muss es sich beim Abnehmer der Lieferung entweder um einen Unternehmer, der den Gegenstand der<br />

Lieferung für sein Unternehmen erworben hat, oder um eine juristische Person handeln, die nicht Unternehmer ist<br />

oder die den Gegenstand der Lieferung nicht für ihr Unternehmen erworben hat. Der Erwerb des Gegenstands der<br />

Lieferung muss nach § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG in allen Fällen beim Abnehmer in einem anderen Mitgliedstaat<br />

den Vorschriften der Umsatzbesteuerung unterliegen.<br />

b) Die Steuerfreiheit beruhte im verfahrensgegenständlichen Zeitraum auf Art. 28c <strong>Teil</strong> A Buchst. a Unterabs. 1 der<br />

Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten<br />

über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates<br />

vom 17. Oktober 2000 geänderten Fassung. Danach „befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur<br />

Gewährleistung einer korrekten <strong>und</strong> einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von<br />

Steuerhinterziehung, Steuerumgehung <strong>und</strong> Missbrauch festlegen: a) die Lieferungen von Gegenständen im Sinne des<br />

Artikels 5, die durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb des in<br />

Artikel 3 bezeichneten Gebietes, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden, wenn diese Lieferungen<br />

an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt werden,<br />

der/die als solcher/solche in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns des Versands oder der Beförderung<br />

der Gegenstände handelt.“<br />

217


2. Die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nach § 6a UStG lagen hier nicht vor, weil der Angeklagte hinsichtlich<br />

der nach Portugal gelieferten Gebrauchtwagen die Identität der wahren Erwerber verschleiert hatte, um diesen dort<br />

eine Mehrwertsteuerhinterziehung zu ermöglichen. Die Versagung der Steuerbefreiung beruht auf zwei nebeneinander<br />

bestehenden Gründen: Durch die Verschleierung der Abnehmer - <strong>und</strong> zwar kollusiv mit diesen - zum Zwecke der<br />

Umsatzsteuerhinterziehung fehlte es für die Steuerbefreiung bereits an den in § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG enthaltenen<br />

Befreiungsvoraussetzungen. Es lag nämlich eine beiderseitige Täuschung durch Lieferanten <strong>und</strong> Abnehmer vor<br />

(a). Eine Befreiung von der deutschen Umsatzsteuer kam darüber hinaus auch deshalb nicht in Betracht, weil der<br />

Angeklagte zudem einseitig - unbeschadet der Tatbeiträge der Abnehmer - gegen die sich aus § 6a Abs. 3 UStG<br />

i.V.m. § 17a, § 17c UStDV ergebenden Anforderungen an den Buch- <strong>und</strong> Belegnachweis verstoßen hatte, um den<br />

wahren Erwerbern in Portugal eine Umsatzsteuerhinterziehung zu ermöglichen. Wegen der zu diesem Zweck vorgenommenen<br />

Verschleierung der Identität der Erwerber war es ihm verwehrt, sich später darauf zu berufen, dass eine<br />

innergemeinschaftliche Lieferung tatsächlich stattgef<strong>und</strong>en hatte. In einem solchen Fall reicht bereits eine einseitige<br />

Täuschung durch den Lieferanten (b). Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esfinanzhofs,<br />

die in Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 7. Dezember 2010 (Rechtssache<br />

R, C-285/09, NJW 2011, 203) ergangen ist (vgl. BFH, Urteile vom 11. August 2011 - V R 50/09, DStR 2011, 1901,<br />

vom 17. Februar 2011 - V R 28/10 - BFHE 233, 311 <strong>und</strong> vom 17. Februar 2011 - V R 30/10, wistra 2011, 354).<br />

a) Der erste Versagungsgr<strong>und</strong> - beiderseitige kollusive Täuschung - beruht darauf, dass die sich aus § 6a Abs. 1 Satz<br />

1 Nr. 3 UStG ergebende Voraussetzung für die Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung hier schon<br />

deshalb nicht vorliegt, weil der Angeklagte kollusiv mit dem Abnehmer zusammenwirkte.<br />

aa) Schon nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats stellte die Lieferung von Gegenständen durch einen inländischen<br />

Unternehmer an einen Unternehmer im übrigen Gemeinschaftsgebiet dann keine steuerfreie innergemeinschaftliche<br />

Lieferung im Sinne des § 6a UStG dar, wenn der inländische Unternehmer in kollusivem Zusammenwirken<br />

mit dem Abnehmer die Lieferung an einen Zwischenhändler vortäuschte, um dem Abnehmer die Hinterziehung<br />

von Umsatzsteuern zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. November 2008 - 1 StR 354/08, BGHSt 53, 45<br />

Rn. 4, vom 19. August 2009 - 1 StR 206/09, BGHSt 54, 133). Der Senat ist dabei davon ausgegangen, dass es in<br />

solchen Fällen an der Befreiungsvoraussetzung des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG fehle, weil diese Vorschrift gemeinschaftsrechtlich<br />

dahin auszulegen sei, dass der Erwerb des Gegenstands einer Lieferung beim Abnehmer dann<br />

nicht den Vorschriften der Umsatzbesteuerung in einem anderen Mitgliedstaat im Sinne der Vorschrift unterliegt,<br />

wenn die im Bestimmungsland vorgesehene Erwerbsbesteuerung der konkreten Lieferung nach dem übereinstimmenden<br />

Willen von Unternehmer <strong>und</strong> Abnehmer durch Verschleierungsmaßnahmen <strong>und</strong> falsche Angaben gezielt<br />

umgangen werden soll, um dem Unternehmer oder dem Abnehmer einen ungerechtfertigten Steuervorteil zu verschaffen<br />

(BGH, Beschluss vom 20. November 2008 - 1 StR 354/08, BGHSt 53, 45 Rn. 13). Anderes gilt, wenn die<br />

Verschleierungsmaßnahme anderen Zwecken dient (BGH aaO Rn. 13).<br />

bb) Nachdem das Finanzgericht Baden-Württemberg Zweifel an der Richtigkeit dieser Rechtsprechung geäußert<br />

hatte (Beschluss vom 11. März 2009 - 1 V 4305/08, diesem folgend BFH, Beschluss vom 29. Juli 2009 - XI B 24/09,<br />

BFHE 226, 449), hat der Senat gemäß Art. 234 Abs. 3 EG (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) im vorliegenden Verfahren<br />

dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (jetzt: Gerichtshof der Europäischen Union; nachfolgend: Gerichtshof)<br />

mit Beschluss vom 7. Juli 2009 (wistra 2009, 441) folgende Fragen zur Vorabentscheidung über die Auslegung<br />

des Art. 28c <strong>Teil</strong> A Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates zur Harmonisierung der<br />

Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche<br />

steuerpflichtige Bemessungsgr<strong>und</strong>lage vorgelegt: „Ist Art. 28c <strong>Teil</strong> A Buchstabe a der Sechsten Richtlinie in dem<br />

Sinne auszulegen, dass einer Lieferung von Gegenständen im Sinne dieser Vorschrift die Befreiung von der Mehrwertsteuer<br />

zu versagen ist, wenn die Lieferung zwar tatsächlich ausgeführt worden ist, aber aufgr<strong>und</strong> objektiver<br />

Umstände feststeht, dass der steuerpflichtige Verkäufer<br />

a) wusste, dass er sich mit der Lieferung an einem Warenumsatz beteiligt, der darauf angelegt ist, Mehrwertsteuer zu<br />

hinterziehen, oder<br />

b) Handlungen vorgenommen hat, die darauf abzielten, die Person des wahren Erwerbers zu verschleiern, um diesem<br />

oder einem Dritten zu ermöglichen, Mehrwertsteuer zu hinterziehen?“<br />

cc) Mit Urteil vom 7. Dezember 2010 (Rechtssache R, C-285/09, NJW 2011, 203) hat der Gerichtshof auf das Vorabentscheidungsersuchen<br />

hin für Recht erkannt: „Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, wenn also<br />

eine innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen tatsächlich stattgef<strong>und</strong>en hat, der Lieferer jedoch bei der<br />

Lieferung die Identität des wahren Erwerbers verschleiert hat, um diesem zu ermöglichen, die Mehrwertsteuer zu<br />

hinterziehen, kann der Ausgangsmitgliedstaat der innergemeinschaftlichen Lieferung aufgr<strong>und</strong> der ihm nach dem<br />

ersten Satzteil von Art. 28c <strong>Teil</strong> A Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur<br />

218


Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem:<br />

einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgr<strong>und</strong>lage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom<br />

17. Oktober 2000 geänderten Fassung zustehenden Befugnisse die Mehrwertsteuerbefreiung für diesen Umsatz versagen.“<br />

Der Gerichtshof führt in diesem Urteil weiter aus (Rn. 52), dass dann, wenn ernsthafte Gründe für die Annahme<br />

bestehen, dass der mit der fraglichen Lieferung zusammenhängende innergemeinschaftliche Erwerb im Bestimmungsmitgliedstaat<br />

der Zahlung der Mehrwertsteuer entgehen könnte, der Ausgangsmitgliedstaat dem Lieferer<br />

der Gegenstände die Befreiung sogar verweigern muss (also nicht nur verweigern kann), um zu vermeiden, dass der<br />

fragliche Umsatz jeglicher Besteuerung entgeht (EuGH aaO Rn. 52). Denn nach dem Gr<strong>und</strong>prinzip des gemeinsamen<br />

Mehrwertsteuersystems werde diese Steuer auf jeden Produktions- oder Vertriebsvorgang erhoben, abzüglich<br />

der Mehrwertsteuer, mit der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet worden sind (EuGH aaO). Dieser<br />

gemeinschaftsrechtlich gebotenen Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG stehen nach der Rechtsprechung<br />

des Gerichtshofs weder die Gr<strong>und</strong>sätze der Neutralität der Mehrwertsteuer <strong>und</strong> der Rechtssicherheit noch die<br />

Gr<strong>und</strong>sätze des Vertrauensschutzes <strong>und</strong> der Verhältnismäßigkeit entgegen. Denn ein Steuerpflichtiger, der sich vorsätzlich<br />

an einer Steuerhinterziehung beteiligt <strong>und</strong> das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdet,<br />

kann sich nicht mit Erfolg auf diese Gr<strong>und</strong>sätze berufen (EuGH aaO Rn. 53 f.).<br />

dd) Die Anwendung dieser Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall ergibt: Das Landgericht ist zu Recht davon<br />

ausgegangen, dass die Steuerbefreiung des § 6a UStG bei den verfahrensgegenständlichen Gebrauchtwagenlieferungen<br />

nicht eingreift. Denn ausgehend von den vom Landgericht getroffenen Feststellungen bestehen die vom Gerichtshof<br />

vorausgesetzten „ernsthaften Gründe“ für die Annahme, dass wegen der vom Angeklagten zur Unterstützung<br />

der wahren Erwerber - kollusiv mit diesen - vorgenommenen Verschleierungshandlungen der mit den fraglichen<br />

Lieferungen zusammenhängende Erwerb im Bestimmungsland der Zahlung der Mehrwertsteuer entgehen könnte.<br />

Maßgeblich für die Steuerbefreiung sind der zwischen innergemeinschaftlicher Lieferung <strong>und</strong> innergemeinschaftlichem<br />

Erwerb bestehende Besteuerungszusammenhang <strong>und</strong> die damit bezweckte Verlagerung des Steueraufkommens<br />

auf den Bestimmungsmitgliedstaat durch die dort beim Abnehmer als Steuerschuldner vorzunehmende Besteuerung,<br />

die es nicht zulässt, die Steuerfreiheit trotz absichtlicher Täuschung über die Person des Abnehmers (Erwerbers)<br />

in Anspruch zu nehmen (vgl. BFH, Urteil vom 11. August 2011 - V R 50/09, DStR 2011, 1901 Rn. 24). Die<br />

vom Gerichtshof vorgenommene gemeinschaftsrechtliche Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG bestimmt<br />

auch die Auslegung des auf dieser Richtlinie beruhenden Befreiungstatbestandes des § 6a UStG. Danach besteht<br />

unter den Umständen des vorliegenden Sachverhalts auch ausgehend von den Tatbestandsvoraussetzungen des § 6a<br />

UStG für die verfahrensgegenständlichen Lieferungen keine Steuerbefreiung. Denn die vom Angeklagten vorgenommenen<br />

Verschleierungshandlungen führten dazu, dass im Bestimmungsland der Lieferungen faktisch keine Besteuerung<br />

des Erwerbs der Fahrzeuge stattfinden konnte (vgl. auch Lohse, NStZ 2011, 165, 166), der Erwerb der<br />

Fahrzeuge mithin nicht im Sinne von § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG als beim Abnehmer im anderen Mitgliedstaat<br />

den Vorschriften der Umsatzbesteuerung unterliegend angesehen werden kann.<br />

ee) Der Wortlaut der deutschen steuerrechtlichen Vorschriften ist ein ausreichender Anknüpfungspunkt für die gemeinschaftsrechtlich<br />

gebotene Auslegung auch des Steuerstrafrechts. Denn nach § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG liegt<br />

eine steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung nur dann vor, wenn der Erwerb des Gegenstands der Lieferung<br />

beim Abnehmer der Lieferung in einem anderen Mitgliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteuerung unterliegt. In<br />

dieser Vorschrift kommen der vom Gerichtshof hervorgehobene Besteuerungszusammenhang zwischen innergemeinschaftlicher<br />

Lieferung <strong>und</strong> innergemeinschaftlichem Erwerb (EuGH, Urteil vom 7. Dezember 2010 in der<br />

Rechtssache R, C-285/09, NJW 2011, 203 Rn. 38) <strong>und</strong> die damit bezweckte Verlagerung des Steueraufkommens auf<br />

den Bestimmungsmitgliedstaat durch die dort beim Abnehmer als Steuerschuldner vorzunehmende Besteuerung zum<br />

Ausdruck. Deshalb ist es nicht zulässig, die Steuerfreiheit nach § 6a UStG trotz absichtlicher Täuschung über die<br />

Person des Erwerbers in Anspruch zu nehmen (vgl. BFH, Urteil vom 11. August 2011 - V R 50/09, DStR 2011,<br />

1901). Damit wird die vom Senat im Beschluss vom 20. November 2008 (Verfahren 1 StR 354/08, BGHSt 53, 45<br />

Rn. 13) vorgenommene Auslegung des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG von der gemeinschaftsrechtlich gebotenen<br />

Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG getragen.<br />

ff) Diese Auslegung des § 6a UStG durch den Senat steht nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

auch im Einklang mit den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG. Denn das - von systematischen Erwägungen getragene<br />

- Verständnis des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG, dass der Erwerb beim Abnehmer den Vorschriften der<br />

Umsatzbesteuerung tatsächlich unterworfen wird - was nicht der Fall wäre, wenn der Abnehmer die Erwerbsbesteuerung<br />

gezielt umgeht -, ist nach dem Wortlaut dieser Vorschrift möglich (BVerfG - Kammer - Beschluss vom 16. Juni<br />

2011 - 2 BvR 542/09).<br />

219


) Eine Befreiung der verfahrensgegenständlichen Fahrzeuglieferungen nach Portugal von der deutschen Umsatzsteuer<br />

schied hier - neben dem ersten Versagungsgr<strong>und</strong> - auch deshalb aus, weil der Angeklagte, <strong>und</strong> zwar schon<br />

einseitig, gegen die sich aus § 6a Abs. 3 UStG i.V.m. § 17a, § 17c UStDV ergebenden Anforderungen an den Buch-<br />

<strong>und</strong> Belegnachweis verstoßen hatte, um den wahren Erwerbern in Portugal eine Umsatzsteuerhinterziehung zu ermöglichen.<br />

aa) Die Lieferungen nach Portugal, die unter Verstoß gegen die auf dem ersten Satzteil des Art. 28c <strong>Teil</strong> A der Richtlinie<br />

77/388/EWG beruhenden Pflichten zum Beleg- <strong>und</strong> Buchnachweis durchgeführt wurden, rechtfertigten gemeinschaftsrechtlich<br />

eine Steuerbefreiung nicht, wie sich insbesondere unter Heranziehung der vom Gerichtshof in den<br />

Rechtssachen Collée (EuGH, Urteil vom 27. September 2007 - C-146/05, Slg 2007, I-7861, DStR 2007, 1811) <strong>und</strong> R<br />

(Urteil vom 7. Dezember 2010 - C-285/09, NJW 2011, 203) vorgenommenen Auslegung der Richtlinie 77/388/EWG<br />

ergibt.<br />

(1) Bei einem Verstoß des Lieferanten gegen die Pflichten zum Buch- <strong>und</strong> Belegnachweis gilt nach dieser Rechtsprechung<br />

im Gr<strong>und</strong>satz: Der Unternehmer kann gemäß Art. 28c <strong>Teil</strong> A der Richtlinie 77/388/EWG eine innergemeinschaftliche<br />

Lieferung gr<strong>und</strong>sätzlich dann als steuerfrei erfassen, wenn er die bestehenden gesetzlichen Nachweispflichten<br />

erfüllt. Kommt er demgegenüber den Nachweispflichten nicht oder nur unvollständig nach oder erweisen<br />

sich die Nachweisangaben bei einer Überprüfung als unzutreffend oder bestehen zumindest berechtigte Zweifel<br />

an der inhaltlichen Richtigkeit der Angaben, die der Unternehmer nicht ausräumt, ist die Lieferung steuerpflichtig<br />

(vgl. BFH, Urteil vom 17. Februar 2011 - V R 30/10, wistra 2011, 354 Rn. 19). Denn dann ist der Nachweis der<br />

Steuerfreiheit vom Unternehmer nicht erbracht.<br />

(2) Eine Ausnahme von diesem Gr<strong>und</strong>satz besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Rechtssache<br />

Collée (aaO Rn. 31) dann, wenn trotz derartiger Nachweismängel feststeht, dass die Voraussetzungen der Steuerfreiheit<br />

erfüllt sind (vgl. BFH aaO Rn. 19 mwN). Diese Ausnahme greift aber nicht ein, wenn der Verstoß gegen die<br />

Nachweispflichten den „sicheren Nachweis“ - also den zweifelsfrei objektiven Nachweis - verhinderte, dass die<br />

materiellen Voraussetzungen der Steuerfreiheit erfüllt werden (vgl. BFH aaO Rn. 19). Dann verbleibt es bei dem<br />

Gr<strong>und</strong>satz der Steuerpflicht.<br />

(3) Darüber hinaus verbleibt es auch dann bei der Steuerpflicht, wenn - obwohl die Voraussetzungen für die Steuerfreiheit<br />

objektiv vorliegen - der Steuerpflichtige unter Verstoß gegen die auf dem ersten Satzteil des Art. 28c <strong>Teil</strong> A<br />

der Richtlinie 77/388/EWG beruhenden Pflichten zum Buch- <strong>und</strong> Belegnachweis die Identität des Erwerbers verschleiert,<br />

um diesem im Bestimmungsmitgliedstaat eine Mehrwertsteuerhinterziehung zu ermöglichen (vgl. BFH,<br />

Urteil vom 11. August 2011 - V R 50/09, DStR 2011, 1901 Rn. 22 mwN). Bei dieser Einschränkung der Steuerbefreiung<br />

handelt es sich nicht um eine vom Gerichtshof durch das Urteil in der Rechtssache R nachträglich vorgenommene<br />

Korrektur der Rechtsprechung aus dem Verfahren in der Rechtssache Collée. Vielmehr kam diese Einschränkung<br />

bereits in der Rechtssache Collée in der Formulierung zum Ausdruck, dass dem nationalen Gericht die<br />

Prüfung obliege, „ob die Verschleierung ... Züge einer Mehrwertsteuerhinterziehung" habe (Rechtssache Collée aaO<br />

Rn. 38). Allerdings hatte der Gerichtshof in der Rechtssache R Anlass, in der deutschen Rechtsprechung <strong>und</strong> Literatur<br />

entstandene Zweifel zu beseitigen, die sich daraus ergaben, dass der Rechtssache Collée ein Sachverhalt zugr<strong>und</strong>e<br />

lag, der weder eine Steuerhinterziehung noch deren Ermöglichung zum Gegenstand hatte. Denn der Unternehmer in<br />

der Rechtssache Collée hatte nicht aufgr<strong>und</strong> unzutreffender Angaben die Steuerfreiheit beansprucht, sondern aus<br />

einem vom Steuerrecht gänzlich unabhängigen Gr<strong>und</strong> Verschleierungshandlungen begangen. Ziel seiner Handlungen<br />

war allein die Umgehung einer Gebietsbeschränkung des Herstellers des verkauften Gegenstandes. Nur aus diesem<br />

Gr<strong>und</strong> hatte er zunächst eine steuerpflichtige Inlandslieferung erklärt <strong>und</strong> erst nach Aufdeckung des wahren Sachverhalts<br />

die Steuerfreiheit der objektiv vorliegenden innergemeinschaftlichen Lieferung beansprucht (vgl. BFH,<br />

Urteil vom 17. Februar 2011 - V R 30/10, wistra 2011, 354 Rn. 19). In der Rechtssache R hat der Gerichtshof die<br />

Grenzen, in denen Verstöße gegen die Nachweispflichten die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung<br />

nicht gefährden, deutlich hervorgehoben. Er hat dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Verweigerung<br />

der Steuerbefreiung in einem Fall, in dem eine nach nationalem Recht vorgesehene Verpflichtung nicht eingehalten<br />

wurde - etwa die Verpflichtung der Angabe des Empfängers einer innergemeinschaftlichen Lieferung - eine abschreckende<br />

Wirkung hat, die die Durchsetzung dieser Verpflichtung gewährleisten <strong>und</strong> Steuerhinterziehungen oder –<br />

umgehungen verhüten soll (EuGH, Urteil vom 7. Dezember 2010, Rechtssache R, C-285/09, NJW 2011, 203 Rn.<br />

50). Hierbei hat der Gerichtshof betont, dass die Vorlage von Scheinrechnungen oder die Übermittlung unrichtiger<br />

Angaben sowie sonstige Manipulationen die genaue Erhebung der Steuer verhindern <strong>und</strong> das ordnungsgemäße Funktionieren<br />

des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems in Frage stellen könne. Derartige Handlungen wögen umso<br />

schwerer, wenn sie - wie hier - im Rahmen der Übergangsregelung für die Besteuerung innergemeinschaftlicher<br />

Umsätze begangen werden, die auf Beweisen beruht, die von den Steuerpflichtigen zu erbringen sind (EuGH aaO<br />

220


Rn. 48). Eine solche Vorgehensweise trägt daher - in der Terminologie des Gerichtshofs - „Züge einer Mehrwertsteuerhinterziehung“<br />

<strong>und</strong> steht deshalb wegen missbräuchlichen Verhaltens einer Berufung auf Gemeinschaftsrecht<br />

entgegen (vgl. EuGH, Urteil vom 27. September 2007 in der Rechtssache Collée - C-146/05, Slg 2007, I-7861, DStR<br />

2007, 1811 Rn. 38; Urteil vom 6. Juli 2006 in den Rechtssachen C-439/04 <strong>und</strong> C-440/04 - Kittel <strong>und</strong> Recolta Recycling,<br />

Slg 2006, I-6161, DStR 2006, 1274 Rn. 54).<br />

(4) So verhält es sich auch hier. Der Angeklagte verhinderte zum einen durch das Verschweigen seiner tatsächlichen<br />

Abnehmer den „sicheren Nachweis", dass die materiellen Voraussetzungen der Steuerbefreiung erfüllt waren. Zum<br />

anderen verschleierte er deren Identität, um ihnen im Bestimmungsmitgliedstaat eine Mehrwertsteuerhinterziehung<br />

zu ermöglichen (vgl. auch BFH, Urteil vom 11. August 2011 - V R 50/09, DStR 2011, 1901). Auf die - hier zu verneinende<br />

(s.o.) - Frage, ob die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung „objektiv" vorlagen, käme<br />

es daher im vorliegenden Fall nicht einmal an.<br />

bb) Diese gemeinschaftsrechtlich gebotene Auslegung der Richtlinie 77/388/EWG ist auch bei der Auslegung der<br />

nationalen Vorschrift des § 6a UStG zu beachten. Die Beschränkung der Steuerbefreiung auf die Fälle, in denen die<br />

in § 6a Abs. 1 <strong>und</strong> Abs. 2 UStG beschriebenen Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung vom Unternehmer<br />

nach Maßgabe der Vorschriften über den Buch- <strong>und</strong> Belegnachweis in § 17a, § 17c UStDV nachgewiesen<br />

sind, ist in § 6a Abs. 3 UStG ausdrücklich gesetzlich bestimmt. Damit sind auch insoweit die sich aus Art. 103 Abs.<br />

2 GG ergebenden Bestimmtheitsanforderungen erfüllt.<br />

II. Das Landgericht hat ohne Rechtsfehler festgestellt, dass der Angeklagte vorsätzlich gehandelt hat (zu den Anforderungen<br />

an den Tatvorsatz bei Steuerhinterziehung vgl. auch BGH, Urteil vom 8. September 2011 - 1 StR 38/11).<br />

Die Einlassung des Angeklagten, sein Ziel sei ausschließlich die Verhinderung der Erwerbsbesteuerung in Portugal,<br />

nicht aber die Verkürzung in Deutschland gewesen, hat das Landgericht rechtsfehlerfrei als widerlegt angesehen.<br />

AO § 370 III S. 2 Nr. 1 – Großes Ausmaß<br />

BGH, Beschl. v. 15.12.2011 - 1 StR 579/11 - NJW 2012, 1015 = NZWiSt 2012, 154<br />

LS: Zur Wertgrenze des Merkmals "in großem Ausmaß" des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO beim<br />

"Griff in die Kasse des Staates".<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 26. Mai 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil<br />

des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Der Erörterung bedarf lediglich Folgendes:<br />

1. Die Verfahrensrüge einer Verletzung des § 189 GVG, mit der geltend gemacht wird, der Dolmetscher für die<br />

arabische Sprache eines Mitangeklagten, K., sei nicht gemäß § 189 Abs. 1 GVG vereidigt worden <strong>und</strong> habe sich<br />

auch nicht auf seine - zuvor schon erfolgte - allgemeine Beeidigung als Dolmetscher berufen, hat keinen Erfolg.<br />

a) Allerdings zeigt die Revision zutreffend auf, dass das Hauptverhandlungsprotokoll - vor dessen Berichtigung -<br />

weder einen Hinweis darauf enthalten hat, dass dieser Dolmetscher dahin beeidigt worden ist, treu <strong>und</strong> gewissenhaft<br />

zu übertragen, noch, dass er sich auf seine allgemeine Beeidigung als Dolmetscher berufen hat. Durch das Fehlen<br />

eines derartigen Hinweises wird der Verstoß gegen § 189 GVG unwiderleglich bewiesen, denn bei der Vereidigung<br />

eines Dolmetschers gemäß § 189 Abs. 1 GVG handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit i.S.v. § 274 StPO<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 1987 - 3 StR 285/87, BGHR GVG § 189 Beeidigung 1).<br />

b) Die Verfahrensrüge dringt aber nicht durch, weil der Senat ausschließen kann, dass das angefochtene Urteil auf<br />

diesem Verstoß beruht (aa). Zudem wurde das Hauptverhandlungsprotokoll ordnungsgemäß dahin berichtigt, dass<br />

sich der Dolmetscher K. auf seine allgemeine Vereidigung als Dolmetscher für die arabische Sprache berufen hat<br />

(bb).<br />

aa) Der Senat schließt aus, dass das Urteil auf einer Nichtberufung des Dolmetschers K. beruht, der für einen Mitangeklagten<br />

hinzugezogen worden war. Angesichts der Vereidigung der übrigen Dolmetscher in der Hauptverhandlung<br />

bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Dolmetscher K. sein eigener allgemein geleisteter Eid aus dem Blick<br />

geraten sein könnte. Auch sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass er deswegen nicht treu <strong>und</strong> gewissenhaft<br />

übertragen hat, weil nicht nach außen dokumentiert ist, dass er sich seine allgemeine Beeidigung gerade im Einzelfall<br />

vergegenwärtigt hat. Vielmehr ist fernliegend, dass ein allgemein vereidigter Dolmetscher, der jahrelang bei<br />

221


Gericht übersetzt <strong>und</strong> sich immer wieder auf seinen allgemein geleisteten Eid berufen hat, sich seiner Verpflichtung<br />

im Einzelfall nicht bewusst war <strong>und</strong> er deshalb unrichtig übersetzt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juli 2005 - 1<br />

StR 208/05, NStZ 2005, 705). Es ist deshalb in Fällen wie hier, in denen keine Anzeichen dafür sprechen, dass der<br />

Dolmetscher sich seiner besonderen Verantwortung im konkreten Fall nicht bewusst war, auszuschließen, dass das<br />

Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 28. November 1997 - 2 StR 257/97, BGHR<br />

GVG § 189 Beeidigung 3). Im vorliegenden Fall kommt noch hinzu, dass in der Hauptverhandlung für einen anderen<br />

Mitangeklagten noch ein weiterer vereidigter Dolmetscher für die arabische Sprache tätig war, der jedenfalls die für<br />

ihn wahrnehmbare Dolmetschertätigkeit des Dolmetschers K. auf ihre Richtigkeit hin prüfen konnte. Im Übrigen<br />

schließt der Senat ein Beruhen des Urteils auf dem geltend gemachten Verfahrensverstoß auch deswegen aus, weil<br />

der Angeklagte ein umfangreiches Geständnis abgelegt hat <strong>und</strong> seine Angaben von zahlreichen Zeugen bestätigt<br />

worden sind (UA S. 29).<br />

bb) Die Verfahrensrüge hat auch deshalb keinen Erfolg, weil das Hauptverhandlungsprotokoll im Hinblick auf die<br />

Verfahrensrüge zulässig berichtigt <strong>und</strong> dabei das für eine Protokollberichtigung zu beachtende Verfahren eingehalten<br />

worden ist (vgl. dazu BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, BGHSt 51,<br />

298; BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2009 - 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248). Das Hauptverhandlungsprotokoll<br />

ist wirksam dahin berichtigt worden, dass sich der Dolmetscher K. auf seinen allgemein geleisteten Eid berufen<br />

hat. Der ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge ist damit die Tatsachengr<strong>und</strong>lage entzogen, der geltend gemachte<br />

Verfahrensverstoß liegt nicht vor. Im Hinblick auf den substantiierten Widerspruch des Revisionsverteidigers hat<br />

der Senat die Gründe der Berichtigungsentscheidung im Rahmen der Verfahrensrüge überprüft (vgl. dazu BGHSt 51,<br />

298, 317). Die Gründe tragen die Berichtigung; der Senat hat auch sonst keine Zweifel daran, dass die Berichtigung<br />

zu Recht erfolgt ist. Bei der Überprüfung hat der Senat neben dem Umstand, dass sich der Kammervorsitzende <strong>und</strong><br />

die Protokollführerin sicher waren, der Dolmetscher K. habe sich auf den von ihm geleisteten Eid berufen, insbesondere<br />

berücksichtigt, dass die von den weiteren Berufsrichtern, dem Sitzungsstaatsanwalt <strong>und</strong> dem betroffenen Dolmetscher<br />

eingeholten dienstlichen Stellungnahmen die Berichtigung ebenfalls tragen. Der Kammervorsitzende hatte<br />

sogar noch die konkrete Erinnerung daran, überrascht gewesen zu sein, dass von den beiden in dem Verfahren als<br />

Dolmetscher eingesetzten Brüdern K. , die beide seit vielen Jahren als Dolmetscher beim Landgericht Essen tätig<br />

waren, nur der Dolmetscher K. allgemein vereidigt war. Der Senat hat bei seiner Überprüfung der vorgenommenen<br />

Protokollberichtigung auch berücksichtigt, dass die beiden Instanzverteidiger angegeben hatten, keine Erinnerung<br />

mehr an den tatsächlichen Verfahrensablauf zu haben. Die Auffassung der Revision, es sei selbst angesichts der von<br />

der Protokollführerin gefertigten handschriftlichen Aufzeichnungen ausgeschlossen, dass diese eine eigene sichere<br />

Erinnerung an den Vorgang haben könnte, teilt der Senat nicht.<br />

2. Die näher ausgeführte Sachrüge hat aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts keinen den<br />

Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben. Dies gilt auch für die Strafzumessung. Der Erörterung bedarf<br />

allerdings die Annahme des Landgerichts, es sehe die Grenze für die Steuerhinterziehung „in großem Ausmaß“ gemäß<br />

§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO „entsprechend der ständigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs bei 100.000<br />

Euro“ (UA S. 40). Dies lässt besorgen, das Landgericht sei der Auffassung, die Schwelle zur Hinterziehung „in großem<br />

Ausmaß“ sei stets erst bei einer Verkürzung von 100.000 Euro überschritten. Dies ist indes nicht zutreffend. Im<br />

Fall 1 der Urteilsgründe stellt das Landgericht zudem darauf ab, dass das aufgr<strong>und</strong> der unrichtigen Angaben des<br />

Angeklagten in der Umsatzsteuerjahreserklärung 2009 errechnete Umsatzsteuerguthaben nur teilweise ausgezahlt,<br />

überwiegend aber mit anderen „Steuerschulden der Ka. GmbH, insbesondere Lohnsteuer, verrechnet“ wurde (UA S.<br />

15). Das Landgericht war offenbar der - unzutreffenden - Auffassung, es mache für die Frage, ob eine Hinterziehung<br />

„in großem Ausmaß“ vorliege, einen Unterschied, ob ein durch die Tat erlangtes (scheinbares) Steuerguthaben ausgezahlt<br />

oder aber mit anderweitigen Steuerschulden verrechnet werde. Bei der Bestimmung des gesetzlichen Merkmals<br />

„in großem Ausmaß“ im Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO für einen besonders schweren Fall der<br />

Steuerhinterziehung gilt Folgendes:<br />

a) Wie bereits im Gr<strong>und</strong>satzurteil des Senats vom 2. Dezember 2008 (1 StR 416/08, BGHSt 53, 71, 81) ausgeführt,<br />

bestimmt sich das Merkmal „in großem Ausmaß“ im Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO nach objektiven<br />

Maßstäben. Es liegt gr<strong>und</strong>sätzlich dann vor, wenn der Hinterziehungsbetrag 50.000 Euro übersteigt. Die Betragsgrenze<br />

von 50.000 Euro kommt namentlich dann zur Anwendung, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen<br />

vom Finanzamt erlangt hat, etwa bei Steuererstattungen durch Umsatzsteuerkarusselle, Kettengeschäfte oder durch<br />

Einschaltung von sog. Serviceunternehmen („Griff in die Kasse“). Ist diese Wertgrenze überschritten, dann ist das<br />

Merkmal erfüllt (BGHSt 53, 71, 85; vgl. auch BGH, Beschluss vom 5. Mai 2011 - 1 StR 116/11, NStZ 2011, 643,<br />

644; BGH, Beschluss vom 12. Juli 2011 - 1 StR 81/11, wistra 2011, 396).<br />

222


) Beschränkt sich das Verhalten des Täters indes darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche<br />

Tatsachen in Unkenntnis zu lassen <strong>und</strong> führt das lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs, liegt die<br />

Wertgrenze zum „großen Ausmaß“ demgegenüber bei 100.000 Euro (BGHSt 53, 71, 85). Dasselbe gilt auch dann,<br />

wenn der Steuerpflichtige zwar eine Steuerhinterziehung durch aktives Tun (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) begeht, indem<br />

er eine unvollständige Steuererklärung abgibt, er dabei aber lediglich steuerpflichtige Einkünfte oder Umsätze verschweigt<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2011 - 1 StR 81/11, wistra 2011, 396) <strong>und</strong> allein dadurch eine Gefährdung<br />

des Steueranspruchs herbeiführt.<br />

c) Anders ist die Sachlage, wenn der Täter steuermindernde Umstände vortäuscht, indem er etwa tatsächlich nicht<br />

vorhandene Betriebsausgaben vortäuscht oder nicht bestehende Vorsteuerbeträge geltend macht. Denn in einem<br />

solchen Fall beschränkt sich das Verhalten des Täters nicht darauf, den bestehenden Steueranspruch durch bloßes<br />

Verschweigen von Einkünften oder Umsätzen zu gefährden. Vielmehr unternimmt er einen „Griff in die Kasse“ des<br />

Staates, weil die Tat zu einer Erstattung eines (tatsächlich nicht bestehenden) Steuerguthabens oder zum (scheinbaren)<br />

Erlöschen einer bestehenden Steuerforderung führen soll. Es bleibt dann deshalb für das gesetzliche Merkmal<br />

„in großem Ausmaß“ bei der Wertgrenze von 50.000 Euro.<br />

d) Trifft beides zusammen, das Verheimlichen von Einkünften bzw. Umsätzen einerseits <strong>und</strong> die Vortäuschung von<br />

Abzugsposten andererseits, etwa beim Verheimlichen von Umsätzen <strong>und</strong> gleichzeitigem Vortäuschen von Vorsteuerbeträgen,<br />

ist das Merkmal „in großem Ausmaß“ i.S.v. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO jedenfalls dann erfüllt, wenn<br />

der Täter vom Finanzamt ungerechtfertigte Zahlungen in Höhe von mindestens 50.000 Euro erlangt hat (vgl. BGH<br />

NStZ 2011, 643, 644 Rn. 13). Dasselbe gilt aber auch, wenn ein aufgr<strong>und</strong> falscher Angaben scheinbar in dieser Höhe<br />

(50.000 Euro) bestehender Auszahlungsanspruch ganz oder teilweise mit anderweitigen Steuerverbindlichkeiten<br />

verrechnet worden ist. Die Verrechnung steht dann nämlich insoweit einer Auszahlung gleich. Hat dagegen die Vortäuschung<br />

von steuermindernden Umständen für sich allein noch nicht zu einer Steuerverkürzung von mindestens<br />

50.000 Euro geführt, verbleibt es für die Tat insgesamt beim Schwellenwert von 100.000 Euro (vgl. BGH NStZ<br />

2011, 643, 644).<br />

e) Ob die Schwelle des „großen Ausmaßes“ überschritten ist, ist für jede einzelne Tat im materiellen Sinne gesondert<br />

zu bestimmen. Dabei genügt derjenige Erfolg, der für die Vollendung der Steuerhinterziehung ausreicht. Bei mehrfacher<br />

tateinheitlicher Verwirklichung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung ist - nichts anderes gilt für § 371 Abs.<br />

2 Nr. 3 AO - das „Ausmaß“ des jeweiligen Taterfolges zu addieren, da in solchen Fällen eine einheitliche Handlung<br />

im Sinne des § 52 <strong>StGB</strong> vorliegt (BGHSt 53, 71, 85).<br />

f) Eine nachträgliche „Schadenswiedergutmachung“ hat für die Frage, ob eine Steuerhinterziehung „in großem Ausmaß“<br />

vorliegt oder nicht, keine Bedeutung. Die Höhe des auf Dauer beim Fiskus verbleibenden „Steuerschadens“ ist<br />

ein Umstand, der erst bei der Prüfung, ob die Indizwirkung des Regelbeispiels im Einzelfall widerlegt ist, <strong>und</strong> im<br />

Übrigen als bloße Zumessungserwägung in die Strafzumessung einbezogen werden kann (vgl. im Übrigen zur Schadensverringerung<br />

mit Geldmitteln unklarer Herkunft BGH, Beschluss vom 5. Mai 2011 - 1 StR 116/11, NStZ 2011,<br />

643, 645 Rn. 17, <strong>und</strong> einer solchen aufgr<strong>und</strong> von Pfändungen BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2010 - 1 StR<br />

359/10, insoweit nicht abgedruckt in NStZ 2011, 170). Zutreffend hat das Landgericht daher den Umstand, dass „der<br />

Steuerschaden aufgr<strong>und</strong> der Beschlagnahme erheblicher Vermögenswerte der Ka. GmbH nachträglich vollständig<br />

kompensiert“ wurde (UA S. 43), bei der Frage, ob das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO erfüllt ist,<br />

außer Betracht gelassen, in die Gesamtwürdigung, ob die Indizwirkung des Regelbeispiels widerlegt sein könnte,<br />

aber einbezogen.<br />

223


AO § 370, § 373 I; <strong>StGB</strong> § 46 Strafzumessung bei Millionenhinterziehung<br />

BGH, Urt. v. 22.05.2012 - 1 StR 103/12 - BeckRS 2012, 12750<br />

LS: 1. Auch bei einer gewerbsmäßigen Hinterziehung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben nach §<br />

373 AO in Millionenhöhe kommt eine zwei Jahre nicht überschreitende Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen<br />

besonders gewichtiger Milderungsgründe in Betracht.<br />

2. Sowohl beim Schmuggel nach § 373 AO wie auch bei der Steuerhinterziehung nach § 370 AO ist<br />

es dabei ohne Bedeutung, ob die Millionengrenze durch eine einzelne Tat oder erst durch mehrere<br />

gleichgelagerte Einzeltaten erreicht worden ist.<br />

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 1. November 2011 mit<br />

den Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere<br />

Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten G. wegen gewerbsmäßigen Schmuggels in 32 Fällen <strong>und</strong> wegen Beihilfe zur<br />

Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> vier Monaten verurteilt, deren Vollstreckung<br />

es zur Bewährung ausgesetzt hat. Den Angeklagten J. hat es des gewerbsmäßigen Schmuggels in 32 Fällen schuldig<br />

gesprochen <strong>und</strong> ihn unter Auflösung einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren aus<br />

einem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 12. November 2010 <strong>und</strong> Einbeziehung der dieser zugr<strong>und</strong>eliegenden<br />

Einzelstrafen erneut zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es wiederum zur<br />

Bewährung ausgesetzt hat. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihren zu Ungunsten der Angeklagten<br />

eingelegten, auf die Sachrüge gestützten <strong>und</strong> den Strafausspruch beschränkten Revisionen. Die vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

vertretenen Rechtsmittel haben Erfolg <strong>und</strong> führen - bei unwirksamer Rechtsmittelbeschränkung - zur Aufhebung<br />

des angefochtenen Urteils insgesamt.<br />

I.<br />

1. Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lassen sich noch folgende Feststellungen entnehmen: Die Angeklagten<br />

importierten „im bewussten <strong>und</strong> arbeitsteiligen Zusammenwirken“ <strong>und</strong> „mit Unterstützung der gesondert<br />

Verfolgten Z. <strong>und</strong> L. “ sowie, um sich eine zusätzliche Einkommensquelle zu verschaffen, Mobiltelefone <strong>und</strong> MP-<br />

Player aus der Volksrepublik China nach Deutschland <strong>und</strong> veräußerten „diese Unterhaltungselektronik“ (UA S. 12)<br />

in Deutschland sodann über Internetplattformen. Bei der Einfuhr gestellten sie die elektronischen Geräte nicht, sondern<br />

meldeten lediglich Tarnware an <strong>und</strong> verkürzten dadurch Einfuhrumsatzsteuer <strong>und</strong> Zoll. Die auf die Veräußerung<br />

der Geräte anfallende Umsatz-steuer wurde ebenfalls nicht angemeldet.<br />

a) Zum gewerbsmäßigen Schmuggel<br />

In einem Fall im Februar 2009 sowie in 30 Fällen im Januar <strong>und</strong> Februar 2010 (Fälle 1 bis 31 der Urteilsgründe)<br />

führten die Angeklagten Mobiltelefone (nachgebaute IPhones) aus der Volksrepublik China per See- oder Luftfracht<br />

nach Deutschland ein, ohne die jeweils anfallende Einfuhrumsatzsteuer (in Höhe von r<strong>und</strong> 205.000 €) zu entrichten.<br />

Die Mobiltelefone waren in funktionslose Netzteile verpackt <strong>und</strong> wurden beim Zoll entsprechend als Netzteile deklariert.<br />

Die Einfuhr erfolgte - mit Ausnahme eines den Februar 2009 betreffenden Falles - über eine in Hamburg ansässige<br />

D. GmbH, „deren Geschäftsführer ein Zh. war“ (UA S. 13) <strong>und</strong> für die der Angeklagte G. Büroräume angemietet,<br />

ein Konto in China eröffnet <strong>und</strong> Bestellungen in China vorgenommen hat. Im Februar 2009 (Fall 26 der Urteilsgründe)<br />

erfolgte die Einfuhr der Mobiltelefone über eine ebenfalls in Hamburg ansässige Firma O. GmbH, deren<br />

zunächst formeller (vgl. UA S. 12) <strong>und</strong> sodann faktischer Geschäftsführer (vgl. UA S. 14) der Angeklagte J. war. Die<br />

O. GmbH „war <strong>Teil</strong> einer von China aus handelnden Vertriebsorganisation für den europäischen Raum“ (UA S. 10).<br />

Der Angeklagte J. <strong>und</strong> der gesondert Verfolgte Z. „veranlassten die Überweisungen der aus den Verkäufen vereinnahmten<br />

Entgelte nicht nur auf das Firmenkonto …, sondern zur Verschleierung der Geldflüsse“ auch auf Konten<br />

„von Strohleuten aus der Bekanntschaft des Z. “ (UA S. 10). Für diese Firma war der Angeklagte G. seit An-fang des<br />

Jahres 2007 zunächst von China aus tätig; er kaufte dort „insbesondere Maniküreartikel <strong>und</strong> H<strong>und</strong>ehalsbänder“ (UA<br />

S. 12). Ende Mai 2009 kam der Angeklagte G., der zuvor in Deutschland drei Semester Volkswirtschaft studiert hatte<br />

<strong>und</strong> sich auch in der Zwischenzeit immer wieder für kurze Zeit in Deutschland aufhielt, dauerhaft nach Deutschland.<br />

Für die O. GmbH übernahm er zunächst nur Empfang <strong>und</strong> Weiterversand der Mobiltelefone, später „auch die Lagerverwaltung“<br />

(UA S. 13). Für diese Tätigkeit erhielt der Angeklagte G. 2.100 € monatlich brutto, nicht jedoch eine<br />

224


ihm zunächst in Höhe von bis zu 20 % des Gewinns zugesagte Provision. Des Weiteren führten die Angeklagten in<br />

einem nicht festgestellten Zeitraum entweder über die O. GmbH oder die D. GmbH („Empfänger unbekannt“, UA S.<br />

16; „Import der Waren erfolgte insbesondere, <strong>und</strong> bezüglich der hier abgeurteilten Taten ausschließlich, über die O.<br />

GmbH … <strong>und</strong> die D. GmbH“, UA S. 12) <strong>und</strong> in nicht festgestelltem Umfang („Anzahl unbekannt“, UA S. 16) MP-<br />

Player aus der Volksrepublik China nach Deutschland ein, ohne hierfür Einfuhrumsatzsteuer <strong>und</strong> Zoll „zu entrichten“<br />

(UA S. 12). Hierdurch sei ein „Schaden EUSt inkl. Zollsatz 2 %“ in Höhe von 1.000.501,61 € abzüglich eines<br />

10%igen Sicherheitsabschlags entstanden (UA S. 16). Der Schadensberechnung hat die Kammer „die Berechnung<br />

des Zolls (Anlage 2 der Anklageschrift) zugr<strong>und</strong>e gelegt. … Diese Berechnung des Zolls war für die Kammer hinreichend<br />

detailliert <strong>und</strong> nachvollziehbar“ (UA S. 22).<br />

b) Zur Umsatzsteuerhinterziehung<br />

Die Geräte wurden in Deutschland über Internetplattformen an Endk<strong>und</strong>en veräußert, ohne dass dann die auf die<br />

ausgeführten Lieferungen anfallende Umsatzsteuer angemeldet wurde. Dies war bereits Gegenstand eines früheren<br />

Strafverfahrens gegen den Angeklagten J. . Weil dieser Angeklagte Umsätze der genannten Art in den für die O.<br />

GmbH abgegebenen Umsatzsteuervoranmeldungen für die Monate Januar bis Dezember 2009 sowie Januar bis März<br />

2010 verschwieg <strong>und</strong> für das Jahr 2008 entgegen der ihm bekannten Verpflichtung keine Umsatzsteuerjahreserklärung<br />

abgab (er verkürzte hierdurch Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt 819.858,89 €), wurde er vom Landgericht<br />

Hamburg mit Urteil vom 12. November 2010 - rechtskräftig seit Juli 2011 - zu einer zur Bewährung ausgesetzten<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.<br />

Nach den Feststellungen im hier gegenständlichen Verfahren unterstützte der Angeklagte G. den Angeklagten J. bei<br />

der Hinterziehung von Umsatzsteuer dadurch, dass er die Lagerverwaltung übernahm <strong>und</strong> sein Konto in China zur<br />

Verfügung stellte, was J. zusätzlich ein Gefühl der Sicherheit vermittelte; dabei wusste <strong>und</strong> wollte G. , dass die elektronischen<br />

Geräte verkauft werden <strong>und</strong> die hierfür anfallende Umsatzsteuer „nicht abgeführt“ wird (UA S. 18; Fall 33<br />

der Urteilsgründe).<br />

2. Das Landgericht hat die Fälle 1 bis 32 der Urteilsgründe bei beiden Angeklagten als gewerbsmäßigen Schmuggel<br />

(§ 373 Abs. 1 AO) gewertet. Eine bandenmäßige Begehungsweise hat es dagegen verneint, weil „tragende Feststellungen<br />

zu einer Bandenstruktur mitsamt Bandenabrede“ (UA S. 24) nicht hätten getroffen werden können. Den<br />

Fall 33 der Urteilsgründe, der lediglich den Angeklagten G. betrifft, hat das Landgericht als einheitliche Beihilfe zu<br />

den beim Angeklagten J. bereits im November 2010 abgeurteilten 16 Taten der Umsatzsteuerhinterziehung gewertet.<br />

3. Im Rahmen der Strafzumessung hat das Landgericht die Fälle 1 bis 32 der Urteilsgründe für beide Angeklagte<br />

jeweils als minder schwere Fälle des Schmuggels im Sinne von § 373 Abs. 1 Satz 2 AO angesehen. Es hat da-für<br />

jeweils eine Freiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> zwei Monaten, eine solche von acht Monaten <strong>und</strong> im Übrigen Geldstrafen<br />

zwischen 90 <strong>und</strong> 120 Tagessätzen verhängt. Im Fall 33 der Urteilsgründe (Beihilfe des Angeklagten G. zur<br />

Umsatzsteuerhinterziehung) hat das Landgericht der Strafzumessung den gemäß § 27 Abs. 2 Satz 2, § 49 Abs. 1<br />

<strong>StGB</strong> gemilderten Strafrahmen des § 370 Abs. 1 AO zugr<strong>und</strong>e gelegt <strong>und</strong> gegen den Angeklagten G. eine Freiheitsstrafe<br />

von acht Monaten verhängt. Strafmildernd hat das Landgericht bei beiden Angeklagten jeweils ein umfassendes<br />

<strong>und</strong> beim Angeklagten G. ein auch von Reue getragenes Geständnis berücksichtigt, was zu einer erheblichen<br />

Verkürzung der Hauptverhandlung beigetragen habe, sowie den Umstand, dass den Angeklagten hinsichtlich der<br />

Schmuggeltaten eine untergeordnete Rolle zukam <strong>und</strong> sie nicht Initiatoren waren, zudem die von ihnen als Erstverbüßer<br />

erlittene Untersuchungshaft <strong>und</strong> eine besondere Haftempfindlichkeit. Zugunsten der Angeklagten hat das<br />

Landgericht jeweils auch gewertet, dass sie keinen Vorsteuerabzug geltend gemacht hatten, der aber (lediglich) in<br />

Höhe von r<strong>und</strong> 12.000 € berechtigt gewesen wäre. Zu Lasten der Angeklagten hat das Landgericht berücksichtigt,<br />

dass ein „erheblicher Schaden entstanden“ sei. Zugunsten des Angeklagten G. hat das Landgericht auch dessen Unbestraftheit<br />

sowie den Umstand gewertet, dass dieser Angeklagte außer einem „Gehalt in Höhe von 2.100 € brutto“<br />

keine finanziellen Vorteile aus den Taten erlangt habe. Zugunsten des Angeklagten J. hat das Landgericht weiterhin<br />

berücksichtigt, dass er zur Tatzeit nur unwesentlich bestraft war. „Insbesondere“ sei auch die lange Verfahrensdauer<br />

zugunsten des Angeklagten J. zu bewerten, der sich „über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr … der Verfolgung<br />

durch die Staatsanwaltschaft ausgesetzt“ sah, „obwohl es sich - insbesondere, aber nicht nur, für ihn - um die<br />

gleiche Angelegenheit handelte <strong>und</strong> er mit Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht im November<br />

2011 davon ausgehen konnte, dass dieser Lebensabschnitt damit für ihn abgeschlossen war“ (UA S. 29). Bei der<br />

Bemessung der Gesamtfreiheitsstrafe betreffend den Angeklagten J. hat das Landgericht „insbesondere“ berücksichtigt,<br />

dass dieser sich „in dem vorliegenden Verfahren das zweite Mal gerichtlich verantworten musste, obwohl es<br />

sich bei den Fällen 1 bis 32 <strong>und</strong> der vorangegangenen Verurteilung um einen einheitlichen Lebenssachverhalt handelt,<br />

der im Hinblick auf den Angeklagten nicht zusammen in einem Verfahren angeklagt, sondern unnatürlich in<br />

zwei verschiedene Verfahren von der Staatsanwaltschaft aufgespalten wurde“ (UA S. 30).<br />

225


II. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft haben Erfolg. Sie führen zur Auf-hebung des angefochtenen Urteils insgesamt,<br />

weil die knappen <strong>und</strong> lückenhaften, dadurch unklaren <strong>und</strong> zudem widersprüchlichen Urteilsgründe keine hinreichende<br />

Gr<strong>und</strong>lage für die Prüfung eines Rechtsfolgenausspruchs bieten. An-gesichts solcher Feststellungen ist<br />

auch die Beschränkung der Rechtsmittel auf den Strafausspruch unwirksam.<br />

1. Die Urteilsgründe sind unklar, lückenhaft <strong>und</strong> widersprüchlich.<br />

Soweit das Landgericht festgestellt hat, dass die Angeklagten Mobiltelefone <strong>und</strong> MP-Player nach Deutschland einführten,<br />

ohne die jeweils anfallende Einfuhrumsatzsteuer (<strong>und</strong> Zoll) „zu entrichten“ <strong>und</strong> „diese Unterhaltungselektronik<br />

… unter Umgehung der Umsatzsteuer“ veräußerten (UA S. 12), ist es erkennbar davon ausgegangen, dass es<br />

sich bei den geschmuggelten <strong>und</strong> den weiterverkauften Elektronikgegenständen jeweils um die nämliche Ware aus<br />

dem Einfuhrschmuggel handelt. Diese Annahme steht jedoch mit den vom Landgericht der Entscheidung zugr<strong>und</strong>e<br />

gelegten Tatzeitpunkten, soweit solche überhaupt festgestellt wurden, im Widerspruch. Nach den - insoweit aus der<br />

vorangehenden, rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten J. entnommenen - wiedergegebenen Urteilsfeststellungen<br />

war die Umsatzsteuer aus dem Weiterverkauf der „geschmuggelten“ Elektronikgegenstände bereits im Zeitraum<br />

zwischen dem Jahr 2008 <strong>und</strong> März 2010 hinterzogen worden. Da andererseits nach den Urteilsfeststellungen<br />

die Mobiltelefone - mit Ausnahme einer Einfuhr im Februar 2009 - erst im Januar <strong>und</strong> Februar 2010 nach Deutschland<br />

eingeführt wurden, bleibt unklar, inwieweit der Umsatzsteuerhinterziehung die Lieferung von Waren zugr<strong>und</strong>e<br />

liegen konnte, auf die sich die ausgeurteilten Schmuggeltaten beziehen. Die im Jahr 2010 eingeschmuggelten Elektronikgeräte<br />

konnten jedenfalls nicht bereits vorher an Abnehmer in Deutschland ausgeliefert worden sein. Für die<br />

MP-Player hat das Landgericht keine Feststellungen zum konkreten Einfuhrzeitpunkt innerhalb des vom Landgericht<br />

angenommenen Gesamttatzeitraums vorgenommen. Es begnügt sich vielmehr mit der Mitteilung eines anzunehmenden<br />

Gesamtschadens <strong>und</strong> der Angabe eines Verkaufspreises an deutsche Endk<strong>und</strong>en, ohne auch nur ansatzweise<br />

sonstige Besteuerungsgr<strong>und</strong>lagen mitzuteilen (zu den Anforderungen an die Urteilsdarstellungen in Steuerstrafsachen<br />

vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2011 - 1 StR 154/11; BGH, Urteil vom 12. Mai 2009 - 1 StR 718/08,<br />

wistra 2009, 398). Es kann - wie auch die Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts belegen - lediglich vermutet<br />

werden, dass es ganz oder teilweise die in Fall 32 der Urteilsgründe genannten MP-Player waren, die Gegenstand der<br />

Umsatzsteuerhinterziehung gewesen sein könnten. Auf eine bloße Vermutung kann eine Verurteilung indes nicht<br />

gestützt werden (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 24. November 1992 - 5 StR 456/92, BGHR StPO § 261 Vermutung 11).<br />

Die Strafkammer wäre freilich nicht gehindert gewesen, tragfähige Feststellungen auf ein nach ihrer Überzeugung<br />

glaubwürdiges Geständnis zu stützen, sofern die Feststellungen - wozu sich das Urteil jedoch ebenfalls nicht verhält -<br />

Gegenstand eines Geständnisses hätten sein können (vgl. BGH, Urteil vom 11. August 2010 - 1 StR 199/10). Selbst<br />

wenn Angeklagte den Anklage-vorwurf nur knapp einräumen, darf das Gericht dem freilich auf seine Zuverlässigkeit<br />

geprüften Geständnis Glauben schenken <strong>und</strong> Feststellungen darauf stützen (BGH, Urteil vom 10. Juni 1998 - 2 StR<br />

156/98, NStZ 1999, 92). Auch kann, wenn das Tatgericht von einem strafbaren Verhalten des Täters über-zeugt ist,<br />

die Bestimmung des Schuldumfangs im Wege der Schätzung erfolgen, namentlich wenn sich Feststellungen auf<br />

andere Weise nicht treffen lassen, etwa weil über die kriminellen Geschäfte keine Belege oder Aufzeichnungen vorhanden<br />

sind (BGH, Urteil vom 28. Juli 2010 - 1 StR 283/09, wistra 2010, 148; BGH, Urteil vom 12. August 1999 - 5<br />

StR 269/99, wistra 1999, 426). Eine solche Schätzung nimmt die Strafkammer hier indes gerade nicht vor, vielmehr<br />

stützt sie sich auf eine als Anlage der Anklageschrift beigefügte Schadensberechnung. Abgesehen davon, dass die<br />

Strafkammer allein durch die Bezugnahme auf das Ergebnis von Dritten gefertigter Steuer- oder Zollberechnungen<br />

den der Berechnungsdarstellung zukommenden Aufgaben nicht entsprechen konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 13.<br />

Juli 2011 - 1 StR 154/11), wird der Inhalt der Berechnungsdarstellung nicht mitgeteilt <strong>und</strong> ist somit der Prüfung<br />

durch das Revisionsgericht entzogen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 30. Januar 2007 - 5 StR 17/06, NStZ 2007,<br />

478). Der Widerspruch bezüglich der Frage, ob <strong>und</strong> gegebenenfalls in welchem Umfang hinsichtlich der ausgeurteilten<br />

16 Taten der Umsatzsteuerhinterziehung - hinsichtlich derer sich die Feststellungen auf den Umfang der in den<br />

jeweiligen Veranlagungszeiträumen pflichtwidrig nicht angemeldeten Umsätzen beschränken - <strong>und</strong> der 32 Fälle des<br />

gewerbsmäßigen Schmuggels Warenidentität bestand, lässt sich auch nicht aus dem weiteren Gesamtzusammenhang<br />

der Urteilsgründe heraus beseitigen. Die Ausführungen der Strafkammer im Rahmen der Strafzumessung, dass allein<br />

im Fall 26 der Urteilsgründe eine entrichtete Einfuhrumsatzsteuer für zuvor eingeführte Gegenstände abzugsfähig<br />

gewesen wäre, in anderen Fällen der Import „für die D. GmbH“ (UA S. 27) erfolgt sei oder aber - im Fall 32 der<br />

Urteilsgründe - gar nicht feststellbar sei, für welche Gesellschaft die Waren eingeführt worden waren, legen die<br />

Nämlichkeit der Waren ebenfalls nur zugr<strong>und</strong>e, ohne diese zu belegen.<br />

2. Schon die aufgezeigten Mängel müssen hier zur Unwirksamkeit der Rechtsmittelbeschränkung <strong>und</strong> zur Aufhebung<br />

des gesamten Urteils mit den Feststellungen führen. Die Sache ist zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung an<br />

das Landgericht zurückzuverweisen.<br />

226


a) Eine - hier sogar ausdrücklich erklärte - Beschränkung eines Rechts-mittels allein auf den Rechtsfolgenausspruch<br />

ist gr<strong>und</strong>sätzlich zulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 1980 - 1 StR 262/80, BGHSt 29, 359, 364). Die in<br />

der Regel gegebene Trennbarkeit zwischen Schuld- <strong>und</strong> Strafausspruch ist jedoch - ausnahmsweise - zu verneinen,<br />

wenn die Schuldfeststellungen eine getrennte Überprüfung des angefochtenen Urteils nicht ermöglichen, ohne dass<br />

der nicht angefochtene <strong>Teil</strong> mitberührt würde. Dies ist hier - wie aufgezeigt - jedoch der Fall, weil die Feststellungen<br />

zur Tat so knapp, unvollständig, unklar <strong>und</strong> zudem widersprüchlich sind, dass sie keine hinreichende Gr<strong>und</strong>lage für<br />

die Prüfung der Rechtsfolgenentscheidung bilden (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 1993 - 3 StR 334/93, NStZ<br />

1994, 130; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 318 Rn. 16 mwN).<br />

b) Dies bedingt zugleich die Aufhebung des Urteils insgesamt. Zwar erfordert ein lediglich den Schuldumfang betreffender<br />

Rechtsfehler regelmäßig nicht die Aufhebung auch des Schuldspruchs, da sich die Verurteilung jeden-falls<br />

im Ergebnis rechtfertigt (Kuckein in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 353 Rn. 13 mwN). So lässt es bei<br />

Steuerhinterziehung den Schuldspruch gr<strong>und</strong>sätzlich unberührt, wenn lediglich der Verkürzungsumfang, etwa durch<br />

eine fehlerhafte Schätzung, unrichtig bestimmt ist, die Verwirklichung des Tatbestandes aber sicher von den Feststellungen<br />

getragen wird (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Mai 2007 - 5 StR 58/07, wistra 2007, 345). Der Schuldspruch<br />

ist hier jedoch aufzuheben, weil - insbesondere mit Blick auf § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG - wesentliche Modalitäten<br />

zu dem auch den Schuldumfang determinierenden Tathergang unklar bleiben (hierzu vgl. Kuckein in Karlsruher<br />

Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 353 Rn. 18 mwN) <strong>und</strong> dem neuen Tatrichter die Möglichkeit zu geben ist, eine Entscheidung<br />

ohne Bindung an die bisherigen - widersprüchlichen - Feststellungen zu treffen (hierzu vgl. auch BGH,<br />

Beschluss vom 20. Juni 1996 - 4 StR 680/95, NStZ-RR 1997, 72, 73).<br />

III. Die Erwägungen zur Strafzumessung im angefochtenen Urteil geben dem Senat Anlass, für den - angesichts der<br />

Geständnisse der Angeklagten zum Tatablauf naheliegenden - Fall eines erneuten Schuldspruchs durch den neuen<br />

Tatrichter Folgendes anzumerken:<br />

1. Die Annahme minder schwerer Fälle des Schmuggels gemäß § 373 Abs. 1 Nr. 2 AO scheidet bei einer Hinterziehung<br />

von Einfuhrabgaben in großem Ausmaß regelmäßig aus. Dies ergibt sich aus Folgendem: Bei Schmuggel gemäß<br />

§ 373 AO handelt es sich um einen Qualifikationstatbestand gegenüber dem Gr<strong>und</strong>tatbestand der Steuerhinterziehung<br />

(§ 370 AO). Liegen Qualifikationsmerkmale - wie etwa gewerbsmäßiges Handeln - nicht vor, ist die Hinterziehung<br />

von Einfuhrabgaben eine Steuerhinterziehung. Denn gemäß § 3 Abs. 3 AO sind Einfuhr- <strong>und</strong> Ausfuhrabgaben<br />

nach Art. 4 Nr. 10 <strong>und</strong> 11 des Zollkodexes Steuern im Sinne der Abgabenordung. Sind in einem solchen Fall<br />

durch eine Tat Einfuhrabgaben in großem Ausmaß (hierzu zuletzt BGH, Urteil vom 7. Februar 2012 - 1 StR 525/11)<br />

verkürzt, liegt gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO ein Regelbeispiel eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung<br />

vor, bei dem ein Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren eröffnet ist. Dieser Strafrahmen<br />

entspricht dem des Schmuggels nach § 373 AO. Tritt ein Merkmal hinzu, das die Tat zum Schmuggel qualifiziert -<br />

etwa Gewerbsmäßigkeit (§ 373 Abs. 1 AO) - entfaltet der Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO, wenn er ohne das qualifizierende<br />

Merkmal anzuwenden wäre, eine Sperrwirkung. Deswegen kommt bei einem Schmuggel „in großem<br />

Ausmaß“ ein minder schwerer Fall mit einem auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe verminderten<br />

Strafrahmen (§ 373 Abs. 1 Satz 2 AO) allenfalls in besonderen Ausnahmefällen noch in Betracht. Ein solcher Ausnahmefall<br />

liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn - wie hier vom Landgericht festgestellt - der Schmuggel in organisierten<br />

Vertriebsstrukturen stattgef<strong>und</strong>en hat. Denn nach der Intention des Gesetzgebers soll der mildere Strafrahmen<br />

für minder schwere Fälle eine angemessene Bestrafung des bandenmäßigen Schmuggels z.B. in Fällen, die nicht der<br />

typischen organisierten Kriminalität zuzurechnen sind, ermöglichen (BT-Drucks. 16/5846, S. 174 ff.).<br />

2. Aus dem Umstand, dass es sich beim Schmuggel um einen Qualifikationstatbestand der Steuerhinterziehung handelt,<br />

folgt zudem, dass die Rechtsprechung zur Strafzumessung bei Hinterziehung in Millionenhöhe auch auf<br />

Schmuggeltaten Anwendung findet. Demnach kommt eine (aussetzungsfähige) Freiheitsstrafe von nicht mehr als<br />

zwei Jahren auch bei Schmuggel gemäß § 373 AO nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe noch<br />

in Betracht. Dabei ist es für den Unrechtsgehalt ohne Bedeutung, ob die Millionengrenze durch eine einzelne oder<br />

mehrere Taten erreicht worden ist <strong>und</strong> ob eine Gesamtstrafe zu bilden ist.<br />

a) Für die Strafzumessung in Fällen der Steuerhinterziehung in großem Ausmaß gilt nach der Rechtsprechung des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs, die der Gesetzgeber in den Beratungen zu dem am 3. Mai 2011 (BGBl. I, 676) in Kraft getretenen<br />

Schwarzgeldbekämpfungsgesetz aufgegriffen <strong>und</strong> gebilligt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Februar 2012 - 1<br />

StR 525/11), Folgendes: Der Straftatbestand der Steuerhinterziehung sieht in § 370 Abs. 3 Satz 1 AO für besonders<br />

schwere Fälle einen erhöhten Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vor. Ein besonders<br />

schwerer Fall liegt gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO (in der seit 1. Januar 2008 geltenden Fassung) in der Regel<br />

vor, wenn der Täter in großem Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Vorteile erlangt. Dieses nach<br />

objektiven Maßstäben zu bestimmende Merkmal des Regelbeispiels „in großem Ausmaß“ ist dann erfüllt, wenn der<br />

227


Hinterziehungsbetrag (bei einem „Griff in die Kasse des Staates“) 50.000 € übersteigt. Beschränkt sich das Verhalten<br />

des Täters darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen<br />

<strong>und</strong> führt das lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs, liegt die Wertgrenze zum „großen Ausmaß“ bei<br />

100.000 € (vgl. zusammenfassend BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2011 - 1 StR 579/11, NJW 2012, 1015). Der<br />

in § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO zum Ausdruck kommenden Wertung des Gesetzgebers ist bei hohen Hinterziehungsbeträgen<br />

im Rahmen der Strafzumessung Rechnung zu tragen, gleichviel ob dieser Betrag durch eine einzelne<br />

Tat hervorgerufen wurde oder durch eine Serie gleichgelagerter Taten, selbst wenn jede für sich genommen die<br />

Grenze zum großen Ausmaß nicht überschreitet. Schon bei der Einzelstrafbemessung ist nicht allein der jeweils<br />

durch die Einzeltat verursachte Schaden entscheidend, sondern auch die Gesamtserie <strong>und</strong> der dadurch verursachte<br />

Gesamtschaden in den Blick zu nehmen (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 2009 - 1 StR 627/08, BGHSt 53, 221). Es<br />

ist ferner - zumal bei der Bildung einer Gesamtstrafe aus so gebildeten Einzelstrafen - die Wertung des Gesetzgebers<br />

zu beachten, dass bei Überschreiten zur Grenze des „großen Ausmaßes“ eine Freiheitsstrafe von nicht unter sechs<br />

Monaten schuldangemessen ist, bei einem sechsstelligen Hinterziehungsbetrag die Verhängung einer Geldstrafe<br />

demzufolge nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen noch schuldangemessen sein kann. Bei Hinterziehungsbeträgen<br />

in Millionenhöhe - also bei einem Gesamthinterziehungsumfang, der die Millionengrenze überschreitet<br />

- kommt eine aussetzungsfähige, also eine zwei Jahre nicht überschreitende Freiheitsstrafe regelmäßig nur<br />

bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe noch in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 2. Dezember 2008 -<br />

1 StR 416/08 mwN, BGHSt 53, 71, zuletzt bestätigt in BGH, Urteil vom 7. Februar 2012 - 1 StR 525/11, NJW 2012,<br />

1458).<br />

b) Diese Gr<strong>und</strong>sätze sind auch in Fällen des Schmuggels gemäß § 373 AO anzuwenden. Zwar ist § 373 AO ein selbständiger<br />

Qualifikationstatbestand zu § 370 Abs. 1 AO. Mit der dies klarstellenden Fassung des § 373 AO durch Art.<br />

3 Nr. 4 des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung <strong>und</strong> an-derer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen<br />

<strong>und</strong> zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 21. Dezember 2007 (BGBl. I, 3198) wurde aber<br />

zugleich - mit Wirkung zum 1. Januar 2008 - der Strafrahmen des gewerbsmäßigen, gewalt-samen oder bandenmäßigen<br />

Schmuggels erhöht <strong>und</strong> an den Strafrahmen der Steuerhinterziehung im besonders schweren Fall nach § 370<br />

Abs. 3 AO angepasst. Eine Regelung für besonders schwere Fälle des § 373 AO oder eine Verweisung auf den Strafrahmen<br />

des § 370 Abs. 3 AO <strong>und</strong> damit auch die Notwendigkeit, für besonders schwere Fälle des § 373 AO den<br />

Strafrahmen der Strafzumessungsregel in § 370 Abs. 3 AO zu entnehmen, wurde dadurch entbehrlich (vgl. BT-<br />

Drucks. 16/5846, S. 174 ff.). Wenn aber allein eine gewerbs- oder bandenmäßige Begehung regelmäßig einen sechs<br />

Monate übersteigenden Strafrahmen eröffnet, kann durch eine zugleich verwirklichte Hinterziehung von Einfuhr-<br />

oder Ausfuhrabgaben „in großem Ausmaß“ im Sinne der aufgezeigten Rechtsprechung zu § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO<br />

regelmäßig keine geringere Freiheitsstrafe verwirkt sein. Demzufolge kann entsprechend den Wertungen des Gesetzgebers<br />

auch bei einer gewerbsmäßigen Hinterziehung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben in Millionenhöhe eine zwei<br />

Jahre nicht überschreitende Freiheitsstrafe regelmäßig nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe<br />

noch in Betracht kommen.<br />

c) Die bislang getroffenen Feststellungen belegen derartige Milderungsgründe nicht. Ein solcher kann sich insbesondere<br />

nicht daraus ergeben, dass der An-geklagte J. bereits im November 2010 wegen Taten der Umsatzsteuerhinterziehung<br />

verurteilt wurde <strong>und</strong> sich nun einem weiteren Strafverfahren ausgesetzt sah. Der Umstand, dass sich bei<br />

einem diesen Taten vorgelagerten (Ein-fuhr-) Schmuggel aus Sicht der Angeklagten gegebenenfalls um einen <strong>Teil</strong><br />

einer einheitlichen Gesamthinterziehungsstrategie gehandelt hat, führt weder zu einem Strafklageverbrauch, noch<br />

schafft er einen Vertrauenstatbestand, der einer gesonderten Verfolgung eines der Umsatzsteuerhinterziehung vorgelagerten<br />

Schmuggels entgegenstehen würde. Sofern bei beiden Taten die nämliche Ware betroffen ist, kann dies -<br />

wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen - lediglich dazu führen, dass der Möglichkeit des Vorsteuerabzugs für<br />

Einfuhrumsatzsteuer (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG) im Rahmen der Strafzumessung Rechnung zu tragen ist. Auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage der - allerdings widersprüchlichen - Feststellungen kann auch aus dem Verfahren <strong>und</strong> dessen Dauer<br />

ein Strafmilderungsgr<strong>und</strong> nicht erblickt werden. Zwar stellt die belastende Wirkung einer unverhältnismäßig langen<br />

Verfahrensdauer (als Folge der Tat für den Täter) einen allgemeinen Milderungsgr<strong>und</strong> dar (BGH, Beschluss vom 22.<br />

Januar 1992 - 3 StR 440/91, NStZ 1992, 229; vgl. aber auch BGH, Urteil vom 7. Februar 2012 - 1 StR 525/11, NJW<br />

2012, 1458). Eine solche ist aber im Urteil ebenso wenig festgestellt wie Umstände, die beim Angeklagten J. ein<br />

schutzwürdiges Vertrauen hätten begründen können, mit der Verurteilung vom 12. November 2010 hätte es sein<br />

Bewenden. Eine nach den Ausführungen im Urteil zum Verfahrensgang, namentlich zur „unnatürlichen“ Aufspaltung<br />

der Verfahren durch die Staatsanwaltschaft hier zu besorgende Annahme des Landgerichts, es sei an eine bei<br />

außerhalb des von § 257c StPO vorgegebenen Rahmens geführten Gesprächen in Aussicht gestellte Strafobergrenze<br />

geb<strong>und</strong>en (die sich für das erkennende Gericht überdies nur auf den zu seiner Kognition gestellten Sachverhalt be-<br />

228


ziehen könnte), könnte gegebenenfalls sogar schon für sich den Bestand eines Urteils gefährden (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 12. Juli 2011 - 1 StR 274/11). Erst recht wäre der neue Tatrichter an solche Gespräche - sollten sie geführt<br />

worden sein - nicht geb<strong>und</strong>en. Auch könnte es den Angeklagten G. nicht entlasten, dass er - sofern auch das<br />

neue Tatgericht zu entsprechenden Feststellungen gelangen sollte - über einen monatlichen Bruttolohn von 2.100 €<br />

hinaus keine weiteren Vorteile erzielt hat. Denn für gewerbsmäßiges Handeln genügt bereits die Ab-sicht, sich durch<br />

wiederholte Hinterziehung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben eine fortlaufende Einnahmequelle zu verschaffen (vgl.<br />

die Nachweise bei Jäger in Klein, AO, 11. Aufl., § 373 Rn. 16). Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils<br />

war das Tätigwerden des Angeklagten G. hier sogar auf eine Gewinnbeteiligung von bis zu 20 % ausgerichtet. Ebenso<br />

wenig stellt der durch Untersuchungshaft erlittene Freiheitsentzug bei Verhängung einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe<br />

wegen der vollen Anrechenbarkeit nach § 51 <strong>StGB</strong> einen strafmildernd zu berücksichtigenden Nachteil<br />

für den Angeklagten dar (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 14. Juni 2006 - 2 StR 34/ 06, BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 2<br />

Lebensumstände 21).<br />

d) Die Gr<strong>und</strong>sätze zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehung in großem Ausmaß bzw. in Millionenhöhe sind auch<br />

dann zu beachten, wenn lediglich - wie vom Landgericht hier bei dem Angeklagten G. angenommen - eine einheitliche<br />

Beihilfe zu einer Mehrzahl von Fällen der Steuerhinterziehung in Betracht kommt. Übersteigt in einem solchen<br />

Fall der Gesamtverkürzungs-umfang der durch die Beihilfe geförderten Haupttaten die Betragsgrenze des Regelbeispiels<br />

Steuerhinterziehung „in großem Ausmaß“ gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO, muss deshalb das Tatgericht<br />

ausgehend von einer Gesamtwürdigung erörtern, ob im Rahmen der Strafzumessung statt des gemäß § 27 Abs. 2, §<br />

49 Abs. 1 <strong>StGB</strong> gemilderten Strafrahmens des § 370 Abs. 1 AO von dem gemäß § 27 Abs. 2, § 49 Abs. 1 <strong>StGB</strong><br />

gemilderten (erhöhten) Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO oder dem nicht gemilderten Strafrahmen des § 370 Abs. 1<br />

AO auszugehen ist.<br />

3. Das neue Tatgericht wird auch Gelegenheit haben, zu prüfen, ob das Tatgeschehen bei der Einfuhr der Elektronikartikel<br />

(auch) den Tatbestand eines bandenmäßigen Schmuggels (§ 373 Abs. 2 Nr. 3 AO) erfüllt, was angesichts der<br />

bisherigen Feststellungen zur organisierten Vertriebsstruktur nahe liegt.<br />

AO § 370; <strong>StGB</strong> § 46 - Strafzumessung bei Steuerhinterziehung „in Millionenhöhe“<br />

BGH, Urt. v. 07.02.2012 - 1 StR 525/11 - NJW 2012, 1458 = wistra 2012, 236<br />

LS: Zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehung „in Millionenhöhe“ (Fortführung von BGH, Urteil<br />

vom 2. Dezember 2008 - 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71).<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 8. April 2011 im gesamten<br />

Strafausspruch aufgehoben, soweit es den Angeklagten G. betrifft.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von<br />

zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten<br />

eingelegten <strong>und</strong> auf den Strafausspruch beschränkten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft sachlichrechtliche<br />

Fehler bei der Strafzumessung zum Vorteil des Angeklagten. Das vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertretene<br />

Rechtsmittel hat Erfolg.<br />

I.<br />

1. Den Urteilsfeststellungen liegen zwei Taten zugr<strong>und</strong>e: Die Hinterziehung von Einkommensteuer für das Jahr 2002<br />

<strong>und</strong> von Lohnsteuer für den Monat Oktober 2006. Zum Tatgeschehen hat das Landgericht folgende Feststellungen<br />

getroffen:<br />

a) Hinterziehung von Einkommensteuer für das Jahr 2002<br />

Der Angeklagte war im Jahr 2001 Gesellschafter <strong>und</strong> Geschäftsführer der von ihm mitgegründeten P. (im Folgenden:<br />

P. GmbH). Am Stammkapital der Gesellschaft war der Angeklagte mit 25% beteiligt. Die P. GmbH hielt wiederum<br />

49% der Anteile der P B. GmbH. Die Geschäftsanteile an beiden Gesellschaften veräußerte der Angeklagte in den<br />

Jahren 2001 <strong>und</strong> 2002 für einen Kaufpreis von 80 Mio. DM an die in Luxemburg ansässige T. AG, wobei die Anteile<br />

auf deren Veranlassung auf zwei andere in Luxemburg <strong>und</strong> in der Schweiz ansässige Aktiengesellschaften übertragen<br />

wurden. Aus diesem Veräußerungsgeschäft erhielt der Angeklagte von der T. AG <strong>und</strong> von Mitgesellschaftern<br />

229


der P. GmbH im Jahr 2002 folgende Zuwendungen: Für seine eigenen Gesellschaftsanteile erhielt er von der T. AG<br />

einen Kaufpreis von 28,8 Mio. DM. Daneben zahlten ihm zwei Mitgesellschafter der P. GmbH je 300.000 DM als<br />

„Auskehrung Kaufpreis“. Zusätzlich zum Kaufpreis wurden ihm vom „verantwortlichen“ Gesellschafter der T. AG<br />

Aktien dieser Gesellschaft im Wert von 7,2 Mio. DM als Gegenleistung dafür zugewendet, dass er der T. AG den<br />

Kauf auch der übrigen Gesellschaftsanteile der P. GmbH sowie der P. B. GmbH ermöglicht hatte; diese Gegenleistung<br />

liegt der ersten Tat zugr<strong>und</strong>e. Um „in den Vorzug der Versteuerung nach dem Halbeinkünfteverfahren zu gelangen“,<br />

bezeichnete der Angeklagte im Februar 2004 in seiner Einkommensteuererklärung für das Jahr 2002 das<br />

ihm zugewendete Aktienpaket der T. AG als weiteres Kaufpreiselement für die Veräußerung der Geschäftsanteile<br />

neben dem „eigentlichen“ Veräußerungserlös <strong>und</strong> den Zuwendungen der Mitgesellschafter. Dabei unterließ er es<br />

bewusst, dem Finanzamt die der Übertragung des Aktienpakets zugr<strong>und</strong>e liegende Vereinbarung vom 24. Januar<br />

2001 über die „Zahlung“ von 7,2 Mio. DM vorzulegen, um die Finanzbehörden hierüber in Unkenntnis zu lassen.<br />

Die unrichtige Bezeichnung der Einkünfte als <strong>Teil</strong> des Veräußerungserlöses hatte zur Folge, dass auch diese Einkünfte<br />

(gemäß § 3 Nr. 40 Buchst. c EStG aF i.V.m. § 17 Abs. 2 EStG) dem damals geltenden Halbeinkünfteverfahren<br />

unterworfen wurden. Tatsächlich handelte es sich bei der Übertragung der Aktien aber nicht um einen Veräußerungserlös<br />

gemäß § 17 EStG, sondern um Provisionszahlungen, die als Einkünfte aus sonstigen Leistungen gemäß §<br />

22 Nr. 3 EStG in vollem Umfang zu versteuern gewesen wären. Aufgr<strong>und</strong> der unrichtigen Qualifizierung der Einkünfte<br />

als Veräußerungserlöse wurde die Einkommensteuer in dem im April 2004 erlassenen Einkommensteuerbescheid<br />

2002 um einen Betrag von 892.715 € zu niedrig festgesetzt, der hierdurch verkürzt wurde.<br />

b) Hinterziehung von Lohnsteuer für den Monat Oktober 2006<br />

Auch nach der Veräußerung seiner Geschäftsanteile war der Angeklagte noch im Jahr 2006 Geschäftsführer der P.<br />

GmbH. Ihm standen aus seinem Geschäftsführeranstellungsvertrag Tantiemenzahlungen zu. Diese Zahlungen hatte<br />

er in die Lohnsteueranmeldungen gemäß § 41a Abs. 1 Nr. 1 EStG aufzunehmen, für deren Richtigkeit er als Geschäftsführer<br />

verantwortlich war. Um der P. GmbH Lohnsteuer <strong>und</strong> sich selbst später Einkommensteuer „zu ersparen“,<br />

kam der Angeklagte auf die Idee, die Auszahlung dieser Tantiemen nicht direkt an sich vorzunehmen, sondern<br />

als angebliche Schenkungen der Gesellschaft an seine Söhne bzw. seine Ehefrau „zu kaschieren“. Hierzu ließ er sich<br />

von seinem - hierfür mittlerweile wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilten - Steuerberater<br />

beraten. Dieser stellte dem Angeklagten eine Übersicht über Freibeträge <strong>und</strong> Steuersätze bei der Schenkungsteuer<br />

zur Verfügung, woraus sich der Angeklagte eine Steuerbelastung von nur etwa 21,9% errechnete. In der Folgezeit<br />

verhandelte der Angeklagte mit Vertretern der neuen Gesellschafterin der P. GmbH, der R. AG mit Sitz in Luxemburg,<br />

über „gesplittete Zahlungen“ an seine Ehefrau <strong>und</strong> seine beiden Söhne im Gegenzug zur Abgabe einer formalen<br />

Verzichtserklärung im Hinblick auf die Tantiemenansprüche. Nach einem Hinweis, dass die Verzichtserklärung<br />

„auf Januar 2005 zurückdatiert werden müsse“, legte der Steuerberater eine unzutreffend auf Januar 2005 datierte<br />

Verzichtserklärung vor. Gleichzeitig machte er in Absprache mit dem Angeklagten die Gegenzeichnung der Verzichtserklärung<br />

davon abhängig, dass der Geldeingang an die Söhne bzw. die Ehefrau erfolgte. Tatsächlich wurde<br />

die Verzichtserklärung erst im November 2006 unterzeichnet. Bereits im Oktober 2006 erhielten die Söhne des Angeklagten<br />

von der R. AG vereinbarungsgemäß Überweisungen von jeweils 260.000 € <strong>und</strong> die Ehefrau des Angeklagten<br />

eine solche in Höhe von 53.500 €. Sowohl die Söhne als auch die Ehefrau erklärten die ihnen zugewendeten<br />

Beträge als Schenkungen der R. AG, für die - später berichtigte - Schenkungsteuer von insgesamt 125.356 € entrichtet<br />

wurde. Demgegenüber unterließ der Angeklagte in der Lohnsteueranmeldung für den Monat Oktober 2006, die<br />

ihm zugewendeten Tantiemenzahlungen in Höhe von 573.500 € zu erklären. Hierdurch wurde – mit der Absicht<br />

einer Hinterziehung auf Dauer – Lohnsteuer in Höhe von 240.870 € verkürzt. Der steuerlich beratene Angeklagte<br />

wusste hierbei, dass die Verzichtserklärung <strong>und</strong> die Gestaltung der Tantiemenzahlungen über das Konstrukt von<br />

Schenkungen lediglich dazu dienten, die mit der Tantiemenzahlung verb<strong>und</strong>ene Steuerbelastung zu verringern <strong>und</strong><br />

Steuern in entsprechender Höhe zu hinterziehen.<br />

2. Das Landgericht hat gegen den geständigen Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in zwei Fällen Einzelstrafen<br />

von einem Jahr <strong>und</strong> neun Monaten (Einkommensteuerhinterziehung 2002) sowie von zehn Monaten (Lohnsteuerhinterziehung<br />

Oktober 2006) verhängt <strong>und</strong> hieraus eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren festgesetzt, die es zur<br />

Bewährung ausgesetzt hat. Zudem hat es eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung festgestellt, weil der Anspruch<br />

des Angeklagten auf Behandlung der Strafsache binnen angemessener Frist aus Art. 6 Abs.1 MRK dadurch<br />

verletzt worden sei, dass das Verfahren nach Eingang der Anklage <strong>und</strong> schriftlicher Stellungnahme des Angeklagten<br />

im Zeitraum zwischen November 2009 <strong>und</strong> Anfang Januar 2011 nicht gefördert worden sei. Das Landgericht hat in<br />

beiden Fällen einen besonders schweren Fall der Steuerhinterziehung angenommen, weil mit Verkürzungsbeträgen<br />

von 892.715 € <strong>und</strong> 240.870 € jeweils im Sinne des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO Steuern in großem Ausmaß verkürzt<br />

worden seien, <strong>und</strong> hat deshalb die Einzelstrafen jeweils dem erhöhten Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO von<br />

230


sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe entnommen. Im Rahmen der Zumessung der Einzelstrafen hat das<br />

Landgericht zu Lasten des Angeklagten die hohen Steuerschäden <strong>und</strong> im Fall der Lohnsteuerhinterziehung die Vertuschung<br />

durch eine falsch datierte Verzichtserklärung gewertet. Zu seinen Gunsten hat es sein Geständnis, die von<br />

ihm ausgesprochene Entschuldigung, die vollständige Schadenswiedergutmachung, vorhandene psychische Belastungen<br />

des Angeklagten einschließlich der ihn belastenden Verfahrensdauer von dreieinhalb Jahren <strong>und</strong> den Umstand<br />

berücksichtigt, dass der Angeklagte nicht vorbestraft ist. Bei der Einkommensteuerhinterziehung hat das Landgericht<br />

darüber hinaus strafmildernd berücksichtigt, dass der Angeklagte „durch einen Steuerberater begleitet wurde<br />

<strong>und</strong> insofern nur von bedingtem Vorsatz auszugehen“ sei. Zu Gunsten des Angeklagten hat die Strafkammer auch<br />

gewertet, dass er die erhaltene Provision der steuerlichen Veranlagung nicht gänzlich entzogen hat <strong>und</strong> sie sich nicht<br />

geheim (z.B. im Ausland) hat auszahlen lassen. Bei der Lohnsteuerhinterziehung hat sie zu Gunsten des Angeklagten<br />

berücksichtigt, dass die geleisteten Zahlungen bei seinen Angehörigen der Schenkungsteuer unterworfen wurden.<br />

Bei der Gesamtstrafenbildung hat das Landgericht insbesondere die „deutlich erkennbare Reue“ des Angeklagten<br />

<strong>und</strong> den Umstand berücksichtigt, dass er durch das Verfahren „weit überdurchschnittlich beeindruckt <strong>und</strong> beeinflusst“<br />

gewesen sei. Die „trotz des fehlenden zeitlichen <strong>und</strong> sachlichen Zusammenhangs“ noch verhängte Bewährungsstrafe<br />

begründet das Landgericht damit, „dass eine höhere als die erkannte Gesamtfreiheitstrafe bei positiver<br />

Aussetzungsprognose nicht mehr hätte ausgesetzt werden können“.<br />

II. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte <strong>und</strong> auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft<br />

hat Erfolg. Allerdings ist die Strafzumessung gr<strong>und</strong>sätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat <strong>und</strong> der Persönlichkeit des<br />

Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden <strong>und</strong> belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten <strong>und</strong><br />

hierbei gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist in<br />

der Regel nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, wenn das Tatgericht gegen rechtlich<br />

anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung<br />

löst, gerechter Schuldausgleich zu sein (vgl. BGH, Urteil vom 17. September 1980 – 2 StR 355/80, BGHSt 29,<br />

319, 320 mwN). Nur in diesem Rahmen kann eine „Verletzung des Gesetzes“ (§ 337 Abs. 1 StPO) vorliegen. Dagegen<br />

ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen (BGH, GS, Beschluss vom 10. April 1987 –<br />

GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349; BGH, Urteil vom 12. Januar 2005 – 5 StR 301/04). Solche Rechtsfehler liegen hier<br />

indes vor; sowohl die Einzelfreiheitsstrafen als auch die Gesamtfreiheitsstrafe können keinen Bestand haben. Die<br />

vom Landgericht getroffenen Feststellungen können demgegenüber bestehen bleiben, da hier lediglich Wertungsfehler<br />

vorliegen.<br />

1. Das Landgericht hat bereits bei der Zumessung der Einzelstrafen unzutreffende Maßstäbe angelegt; auch unter<br />

Zugr<strong>und</strong>elegung des dargelegten eingeschränkten Prüfungsmaßstabes halten die Einzelstrafaussprüche daher rechtlicher<br />

Nachprüfung nicht stand.<br />

a) Soweit das Landgericht hinsichtlich der Hinterziehung von Einkommensteuer für das Jahr 2002 (der ersten Tat)<br />

zugunsten des Angeklagten gewertet hat, dass er seine Vermittlungsprovision der steuerlichen Veranlagung nicht<br />

gänzlich entzogen <strong>und</strong> sie sich nicht geheim (z.B. im Ausland) hat auszahlen lassen, zeigt es keinen Strafmilderungsgr<strong>und</strong><br />

auf. Wäre der Angeklagte so wie vom Landgericht beschrieben vorgegangen, wäre der Steuerschaden<br />

deutlich höher gewesen. Bei der Bemessung der Strafe, der das Landgericht zutreffend nur den tatsächlich angerichteten<br />

Steuerschaden zugr<strong>und</strong>e gelegt hat, kann nicht strafmildernd berücksichtigt werden, dass nicht mit noch höherer<br />

krimineller Energie ein noch höherer Schaden angerichtet wurde. Die strafmildernde Wertung, der Angeklagte<br />

habe lediglich mit bedingtem Tatvorsatz gehandelt, steht - unbeschadet der Frage der generellen Eignung der Vorsatzform<br />

für die Strafzumessung (vgl. hierzu Schäfer/Sander/van Gemmeren, 4. Aufl. Rn. 338) - im Widerspruch mit<br />

den Urteilsfeststellungen. Aus diesen ergibt sich, dass der Angeklagte mit der Angabe, es handele sich bei den Zahlungen<br />

um einen <strong>Teil</strong> des Veräußerungserlöses, dem Finanzamt bewusst einen unrichtigen Gr<strong>und</strong> für die Übertragung<br />

des Aktienpaketes an ihn genannt hat, um in den Genuss des Halbeinkünfteverfahrens als für ihn steuerlich<br />

vorteilhafte Regelung zu gelangen, die auf Provisionen nicht anwendbar war. Sein Handeln zielte also darauf ab, die<br />

Provision in Höhe von 7,2 Mio. DM nur zur Hälfte der Besteuerung zu unterwerfen. Damit belegen die Urteilsgründe,<br />

dass der Angeklagte mit Hinterziehungsabsicht (dolus directus 1. Grades) handelte.<br />

b) Es liegt nahe, dass bereits die aufgezeigten Mängel bei der Zumessung der Einzelstrafe für die Einkommensteuerhinterziehung<br />

auch die Aufhebung der weiteren Einzelstrafe für die Tat der Lohnsteuerhinterziehung bedingen. Bei<br />

Tatmehrheit kann nach der ständigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs die Aufhebung eines Einzelstrafausspruchs<br />

dann zur Aufhebung weiterer, für sich genommen sogar rechtsfehlerfreier Strafaussprüche führen, wenn<br />

nicht auszuschließen ist, dass diese durch den Rechtsfehler im Ergebnis beeinflusst sind (vgl. BGH, Urteil vom 16.<br />

Mai 1995 – 1 StR 117/95 mwN). Dies kann insbesondere dann zu bejahen sein, wenn es sich bei der rechtsfehlerhaft<br />

231


festgesetzten Einzelstrafe um die höchste Einzelstrafe (sog. Einsatzstrafe) handelt oder wenn die abgeurteilten Taten<br />

in einem engen inneren Zusammenhang stehen. Die rechtsfehlerhaft festgesetzte Strafe für die Einkommensteuerhinterziehung<br />

ist wesentlich höher als diejenige für die Lohnsteuerhinterziehung. Für einen inneren Zusammenhang der<br />

Taten spricht, dass sie demselben Motiv entsprangen <strong>und</strong> jeweils Einkünfte betrafen, die der Angeklagte im Rahmen<br />

seiner Tätigkeit bei der P. GmbH erzielt hatte.<br />

c) Unabhängig davon ist die Strafe für die (zweite) Tat der Lohnsteuerhinterziehung aber auch für sich genommen<br />

nicht rechtsfehlerfrei zugemessen. Der Angeklagte hat nicht nur seinen Steuerberater zur „Steuerhinterziehungsberatung“<br />

veranlasst, sondern auch seine Angehörigen als Empfänger von Zuwendungen der P. GmbH vorgeschoben.<br />

Dies deutet darauf hin, dass der Angeklagte andere - sei es auch in unterschiedlicher Form - in seine Straftat hineingezogen<br />

hat; seinen Steuerberater hat er sogar in die Tatbegehung verstrickt. Diesen gewichtigen Gesichtspunkt hat<br />

das Landgericht nicht erkennbar erwogen; insbesondere ist er in der im Zusammenhang mit den Angehörigen allein<br />

angestellten Erwägung, dass bei diesen die „kaschierten“ Tantiemenzahlungen der Schenkungsteuer unterworfen<br />

wurden, nicht enthalten.<br />

2. Mit der Aufhebung der Einzelstrafen entfällt auch die Gr<strong>und</strong>lage für die Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren.<br />

Diese hält zudem schon deswegen revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand, weil sie sich angesichts der vom<br />

Landgericht festgestellten Umstände nach unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Das<br />

Landgericht hat die nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs bei Hinterziehung in Millionenhöhe geltenden<br />

Maßstäbe für die Strafzumessung nicht zutreffend angewandt.<br />

a) Für die Strafzumessung in Fällen der Steuerhinterziehung in großem Ausmaß gilt nach der Rechtsprechung des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs Folgendes: Der Straftatbestand der Steuerhinterziehung sieht in § 370 Abs. 3 Satz 1 AO für<br />

besonders schwere Fälle einen erhöhten Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vor. Ein<br />

besonders schwerer Fall liegt gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO in der Regel vor, wenn der Täter in großem Ausmaß<br />

Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Vorteile erlangt. In Fällen, in denen – wie hier – noch die vorherige<br />

Gesetzesfassung dieser Vorschrift Anwendung findet, weil die Tat vor dem 1. Januar 2008 begangen wurde, ist das<br />

Regelbeispiel nur dann erfüllt, wenn der Täter zudem aus grobem Eigennutz gehandelt hat. Nach der Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs, die der Senat seit der Gr<strong>und</strong>satzentscheidung vom 2. Dezember 2008 (im Verfahren 1 StR<br />

416/08, BGHSt 53, 71, 84 ff.) mehrfach bestätigt <strong>und</strong> fortgeschrieben hat (vgl. zusammenfassend BGH, Beschluss<br />

vom 15. Dezember 2011 – 1 StR 579/11), ist das nach objektiven Maßstäben zu bestimmende Merkmal des Regelbeispiels<br />

„in großem Ausmaß“ dann erfüllt, wenn der Hinterziehungsbetrag 50.000 € übersteigt. Beschränkt sich das<br />

Verhalten des Täters darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu<br />

lassen <strong>und</strong> führt das lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs, liegt die Wertgrenze zum „großen Ausmaß“<br />

bei 100.000 € (BGHSt 53, 71, 85). Der in § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen<br />

Wertung ist bei besonders hohen Hinterziehungsbeträgen dadurch Rechnung zu tragen, dass bei einem sechsstelligen<br />

Hinterziehungsbetrag die Verhängung einer Geldstrafe nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen<br />

noch schuldangemessen sein kann. Bei Hinterziehungsbeträgen in Millionenhöhe kommt eine aussetzungsfähige<br />

Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe noch in Betracht (BGHSt 53, 71, 86<br />

mwN).<br />

b) Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber in den Beratungen zu dem am 3. Mai 2011 (BGBl. I, 676) in Kraft<br />

getretenen Schwarzgeldbekämpfungsgesetz aufgegriffen. In der Beschlussempfehlung <strong>und</strong> dem Bericht des Finanzausschusses<br />

des Deutschen B<strong>und</strong>estages heißt es dazu unter Bezugnahme auf das in BGHSt 53, 71 abgedruckte Senatsurteil<br />

(BT-Drucks. 17/5067 neu, S. 18): „Bei den Beratungen der geplanten Maßnahmen zur Verhinderung der<br />

Steuerhinterziehung waren sich alle Fraktionen in der Bewertung einig, dass Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt<br />

sei <strong>und</strong> entsprechend bekämpft werden müsse. Die Koalitionsfraktionen der CDU/CSU <strong>und</strong> FDP haben dabei<br />

betont, … Eine Aussetzung der Freiheitsstrafe auf Bewährung bei Hinterziehung in Millionenhöhe sei nach einer<br />

Entscheidung des BGH nicht mehr möglich.“ Damit hat der Gesetzgeber diese Rechtsprechung gebilligt (vgl. dazu<br />

bereits BGH, Beschluss vom 5. Mai 2011 – 1 StR 116/11 Rn. 14, wistra 2011, 347).<br />

c) Nach diesen Maßstäben stellt die vom Landgericht auf der Gr<strong>und</strong>lage der getroffenen Feststellungen verhängte<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren keinen gerechten Schuldausgleich mehr dar. Sie kann daher keinen Bestand<br />

haben.<br />

aa) Zwar trifft die Feststellung des Landgerichts zu, dass sich im Rahmen der Gesamtstrafenbildung eine „schematische<br />

Betrachtung“ verbietet. Dies bedeutet aber nicht, dass das Tatgericht die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung<br />

in Strafzumessungsmaßstäben zusammengefassten Wertungen des Gesetzgebers übergehen dürfte, wenn sich<br />

damit nicht die vom Tatgericht für angemessen erachtete Strafe begründen lässt. Das Tatgericht hat zwar bei der<br />

Strafzumessung einen Spielraum für die Festsetzung der schuldangemessenen Strafe. Ob es dabei von zutreffenden<br />

232


Maßstäben ausgegangen ist, obliegt aber der uneingeschränkten Rechtsüberprüfung durch das Revisionsgericht. In<br />

Fällen der Steuerhinterziehung in Millionenhöhe, bei denen das Tatgericht – wie hier – gleichwohl keine höhere<br />

Freiheitsstrafe als zwei Jahre verhängt hat, prüft das Revisionsgericht daher auch, ob die hierfür vom Tatgericht<br />

angeführten schuldmindernden Umstände solche von besonderem Gewicht sind.<br />

bb) Milderungsgründe von besonderem Gewicht hat das Landgericht nicht genannt; ihr Vorliegen ergibt sich auch<br />

nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe.<br />

(1) Zwar durfte das Landgericht der Unbestraftheit des Angeklagten, seiner Entschuldigung, der Verfahrensdauer<br />

<strong>und</strong> den psychischen Belastungen, denen der Angeklagte angesichts einer drohenden Haftstrafe ausgesetzt war,<br />

strafmildernde Bedeutung beimessen. Auch stellen – ungeachtet der hier bestehenden Beweislage – das in der<br />

Hauptverhandlung abgelegte Geständnis sowie die vollständige Nachzahlung der von dem Angeklagten hinterzogenen<br />

Steuern bestimmende Strafmilderungsgründe dar.<br />

(2) Allerdings sind diese Umstände hier keine besonders gewichtigen Milderungsgründe. Dies gilt auch für die<br />

Nachzahlung der geschuldeten <strong>und</strong> hinterzogenen Steuern. Durch die Nachentrichtung hat der Angeklagte diejenigen<br />

Steuern abgeführt, die von ihm nach dem Gesetz geschuldet waren <strong>und</strong> zu deren Zahlung er auch als ehrlicher Steuerpflichtiger<br />

ohnehin verpflichtet gewesen wäre. Das Gewicht dieser Schadenswiedergutmachung verliert hier<br />

dadurch an Gewicht, dass der Angeklagte diese angesichts seiner komfortablen Vermögensverhältnisse ohne erkennbare<br />

Einbuße seiner Lebensführung erbringen konnte. Hinzu kommt, dass sie – unbeschadet der naheliegenden Vollstreckungsmöglichkeiten<br />

der Finanzbehörden – offensichtlich keinen besonderen persönlichen Verzicht darstellte.<br />

Die Gesamtverfahrensdauer von dreieinhalb Jahren bis zum erstinstanzlichen Urteil ist in einer Wirtschaftsstrafsache<br />

wie der hier vorliegenden ebenfalls regelmäßig kein besonders gewichtiger Milderungsgr<strong>und</strong>. Soweit das Landgericht<br />

auf die „erheblichen psychischen Belastungen“ angesichts einer drohenden Haftstrafe abstellt, die sich in einer<br />

„sehr angespannten emotionalen Verfassung des Angeklagten“ ausgedrückt habe, kommen darin keine besonderen<br />

Umstände zum Ausdruck, die sich wesentlich von der Situation unterscheiden, in der sich jeder Beschuldigte befindet,<br />

dem eine nicht mehr zur Bewährung aussetzbare Freiheitsstrafe droht.<br />

cc) Den festgestellten Milderungsgründen stehen zudem gewichtige Strafschärfungsgründe gegenüber. Der Angeklagte<br />

täuschte die Finanzverwaltung in zwei Fällen durch falschen Tatsachenvortrag bewusst, ohne dass die eine Tat<br />

auf der anderen aufgebaut hätte oder deren Folge gewesen wäre. Bei der zweiten Tat verwendete er dabei ein nicht<br />

nur - worauf die Strafkammer abstellt - rückdatiertes, sondern insbesondere auch inhaltlich unrichtiges Schriftstück,<br />

das der Steuerberater eigens für die Verschleierungszwecke des Angeklagten erstellt hatte.<br />

3. Das Landgericht hat darüber hinaus die Zumessung der Strafhöhe unzulässig mit Erwägungen zur Strafaussetzung<br />

zur Bewährung vermengt. Dies verstößt gegen die Gr<strong>und</strong>sätze der Strafzumessung.<br />

a) Der Tatrichter hat zunächst die schuldangemessene Strafe zu finden; erst wenn sich ergibt, dass die der Schuld<br />

entsprechende Strafe innerhalb der Grenzen des § 56 Abs. 1 oder Abs. 2 <strong>StGB</strong> liegt, ist Raum für die Prüfung, ob<br />

auch die sonstigen Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung gegeben sind (BGH, Urteil<br />

vom 17. September 1980 – 2 StR 355/80, BGHSt 29, 319, 321; BGH, Urteil vom 24. August 1983 – 3 StR 89/83,<br />

BGHSt 32, 60, 65). Zwar begründet der Umstand, dass die Frage der Aussetzbarkeit der Strafvollstreckung bei der<br />

Findung schuldangemessener Sanktionen mitberücksichtigt worden ist, für sich allein noch keinen durchgreifenden<br />

Rechtsfehler (vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2001 – 4 StR 363/01, wistra 2002, 137). Denn das Gericht hat<br />

auch die Wirkungen, die von einer Strafe ausgehen, in den Blick zu nehmen (vgl. § 46 Abs. 1 Satz 2 <strong>StGB</strong>). Liegt<br />

daher die - schuldangemessene - Strafe in einem Spielraum, in dem gr<strong>und</strong>sätzlich noch eine aussetzungsfähige Strafe<br />

in Betracht kommt, dürfen bereits bei der Strafzumessung die Wirkungen einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe<br />

berücksichtigt werden (sog. Spielraumtheorie; vgl. dazu nur BGH, Urteil vom 10. November 1954 – 5<br />

StR 476/54, BGHSt 7, 28, 32 sowie Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl. Rn. 461 ff.<br />

mwN). Rechtsfehlerhaft sind solche Erwägungen bei der Strafzumessung aber dann, wenn - wie hier - eine zur Bewährung<br />

aussetzungsfähige Strafe nicht mehr innerhalb des Spielraums für eine schuldangemessene Strafe liegt.<br />

Denn die Grenzen dieses Spielraums dürfen nicht überschritten werden. Von ihrer Bestimmung als gerechter<br />

Schuldausgleich darf sich die Strafe weder nach oben noch nach unten lösen (vgl. BGH, Urteil vom 10. November<br />

1954 – 5 StR 476/54, BGHSt 7, 28, 32; BGH, Urteil vom 17. September 1980 – 2 StR 355/80, BGHSt 29, 319, 320).<br />

Das Gericht darf auch nicht deshalb eine nicht mehr schuldangemessene Strafe festsetzen, um den Täter noch eine<br />

Strafaussetzung zu ermöglichen. Ebenso wenig wie die Anordnung einer Maßregel zur Unterschreitung der schuldangemessenen<br />

Strafe führen darf, darf das Bestreben, dem Täter die Rechtswohltat der Strafaussetzung zur Bewährung<br />

zu verschaffen, dazu führen, dass die Strafe das Schuldmaß unterschreitet (BGH, Urteil vom 17. September<br />

1980 – 2 StR 355/80, BGHSt 29, 319, 321 f.).<br />

233


) So verhält es sich aber hier. Das Landgericht hat eine zur Bewährung aussetzungsfähige Gesamtstrafe von zwei<br />

Jahren Freiheitsstrafe gerade deshalb verhängt, weil „eine höhere als die erkannte Gesamtfreiheitsstrafe bei positiver<br />

Aussetzungsprognose nicht mehr zur Bewährung hätte ausgesetzt werden können“. Das Landgericht hat damit Gesichtspunkte<br />

im Sinne der Findung einer schuldangemessenen Strafe mit solchen der Strafaussetzung zur Bewährung<br />

(§ 56 Abs. 1 <strong>und</strong> Abs. 2 <strong>StGB</strong>) unzulässig vermengt (vgl. BGH, Urteil vom 21. Mai 1992 – 4 StR 154/92, BGHR<br />

<strong>StGB</strong> § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 29; Urteil vom 14. Juli 1993 – 3 StR 251/93, BGHR <strong>StGB</strong> § 46 Abs. 1 Begründung<br />

19; Urteil vom 19. Dezember 2000 – 5 StR 490/00, NStZ 2001, 311; Urteil vom 13. Mai 2004 - 5 StR 73/03,<br />

NJW 2004, 2248, 2254 f.; Urteil vom 5. April 2007 – 4 StR 5/07, wistra 2007, 341; Beschluss vom 19. August 2008<br />

– 5 StR 244/08, NStZ-RR 2008, 369). Es ist dabei auch zu besorgen, dass das Landgericht nicht nur die Bemessung<br />

der Gesamtstrafe, sondern auch bereits der Einzelstrafen so vorgenommen hat, dass die Vollstreckung noch zur Bewährung<br />

ausgesetzt werden konnte. Bei der für die zweite Tat verhängten Einzelstrafe wird dies schon daraus deutlich,<br />

dass das Landgericht für diese Wiederholungstat, eine Steuerhinterziehung im besonders schweren Fall, für die<br />

ein Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren eröffnet war (§ 370 Abs. 3 Satz 1 AO), lediglich eine Freiheitsstrafe<br />

von zehn Monaten verhängt hat, obwohl es selbst die bei dieser Tat mittels der Verzichtserklärung begangene<br />

Vertuschung strafschärfend berücksichtigt hat.<br />

4. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im vorliegenden Fall<br />

die Aussetzung der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung schon deshalb nicht mehr in Betracht gekommen<br />

wäre, weil die Verteidigung der Rechtsordnung deren Vollstreckung geboten hätte (vgl. § 56 Abs. 3 <strong>StGB</strong>). Der<br />

Senat sieht jedoch Anlass, nochmals darauf hinzuweisen, dass es bei Steuerhinterziehungen beträchtlichen Umfangs<br />

von Gewicht ist, die Rechtstreue der Bevölkerung auch auf dem Gebiet des Steuerrechts zu erhalten. Die Vollstreckung<br />

einer Freiheitsstrafe kann sich daher zur Verteidigung der Rechtsordnung als notwendig erweisen, wenn die<br />

Tat Ausdruck einer verbreiteten Einstellung ist, die eine durch einen erheblichen Unrechtsgehalt gekennzeichnete<br />

Norm nicht ernst nimmt <strong>und</strong> von vornherein auf die Strafaussetzung vertraut (BGH, Urteil vom 30. April 2009 – 1<br />

StR 342/08, BGHSt 53, 311, 320 mwN).<br />

5. Soweit das Landgericht festgestellt hat, dass das Recht des Angeklagten „auf Behandlung der Strafsache binnen<br />

angemessener Frist aus Art. 6 Abs. 1 MRK verletzt“ worden sei, ist dem Senat mangels erhobener Verfahrensrüge<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2003 – 1 StR 445/03, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung<br />

19, <strong>und</strong> BGH, Beschluss vom 13. Februar 2008 – 2 StR 356/07, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung<br />

36) eine Überprüfung verwehrt. Die Ausführungen des Landgerichts zum Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen<br />

Verfahrensverzögerung geben dem Senat jedoch Anlass, erneut (vgl. bereits BGH, Beschluss vom 20.<br />

März 2008 – 1 StR 488/07, BGHR StPO § 213 Terminierung 1) auf die Besonderheiten beim Ablauf des gerichtlichen<br />

Verfahrens in Wirtschaftsstrafsachen hinzuweisen:<br />

a) Die Annahme des Landgerichts, das Verfahren sei von November 2009 bis Anfang Januar 2011, also während des<br />

gesamten Zeitraums zwischen dem Eingang der Stellungnahme des Angeklagten nach Anklageerhebung <strong>und</strong> der<br />

Eröffnung des Hauptverfahrens <strong>und</strong> Terminierung der Hauptverhandlung rechtsstaatswidrig verzögert worden, ist<br />

nicht tragfähig. Solches wäre allenfalls dann der Fall, wenn das Landgericht, wovon der Senat nicht ausgeht, die<br />

Eröffnung des Hauptverfahrens nur unzureichend vorbereitet hätte. Die zur sorgfältigen Vorbereitung <strong>und</strong> Terminierung<br />

– zumal einer Wirtschaftsstrafsache – erforderliche Zeit ist selbst dann nicht als Zeitraum einer (rechtsstaatswidrigen)<br />

Verfahrensverzögerung anzusehen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 – 1 StR 238/08, wistra 2009,<br />

147), wenn nicht näher belegt ist, wie dieser Zeitraum vom Gericht genutzt wurde. Denn das gebotene gründliche<br />

Aktenstudium der Berufsrichter vor Eröffnung des Hauptverfahrens <strong>und</strong> Terminierung der Hauptverhandlung schlägt<br />

sich regelmäßig nicht in den Akten nieder (vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 2008 – 1 StR 488/07, BGHR StPO §<br />

213 Terminierung 1). Etwas anderes gilt auch dann nicht, wenn – wie hier – dem Angeklagten vom Gericht eine<br />

Verständigung gemäß § 257c StPO über eine Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung <strong>und</strong> die Zahlung<br />

von einer Mio. € als Bewährungsauflage vorgeschlagen wird. Die – auch hier zutreffende – Erwartung, der Angeklagte<br />

werde einer solchen Verständigung zustimmen, kann die hinreichende Befassung mit dem Verfahrensstoff<br />

nicht ersetzen, selbst wenn – anders als hier – auch mit der Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu rechnen ist.<br />

b) Beim gerichtlichen Verfahren in Wirtschaftsstrafsachen bestehen Besonderheiten (vgl. BGH, Beschluss vom 20.<br />

März 2008 – 1 StR 488/07, BGHR StPO § 213 Terminierung 1), die regelmäßig einen Vorrang der Gründlichkeit vor<br />

der Schnelligkeit gebieten: Der Eingang einer Anklageschrift ist auch bei Wirtschaftsstrafkammern nicht vorhersehbar.<br />

Denn die Zuteilung an die einzelnen Strafkammern muss so erfolgen, dass auch nur der Eindruck der Möglichkeit<br />

einer Manipulation des gesetzlichen Richters ausgeschlossen ist. Jede Strafkammer ist dann – <strong>und</strong> sollte dies<br />

auch sein – zunächst mit anderen Sachen ausgelastet. Bei komplexen <strong>und</strong> umfangreichen Strafsachen ist es unter<br />

diesen Umständen nicht möglich, dass sich der Vorsitzende <strong>und</strong> der Berichterstatter sofort mit der neu eingegange-<br />

234


nen Anklageschrift intensiv befassen. In aller Regel ist das dann nur parallel zu bereits laufenden – oder anstehenden<br />

– Verhandlungen möglich, die im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot bei vorausschauender, auch größere Zeiträume<br />

umfassender Hauptverhandlungsplanung (vgl. BVerfG - Kammer-Beschlüsse vom 19. September 2007 – 2<br />

BvR 1847/07 – <strong>und</strong> vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2652/07) langfristig im Voraus zu terminieren waren. In diesem<br />

frühen Stadium des gerichtlichen Verfahrens ist ein Ausblenden anderweitiger Belastungen der Strafkammer bei der<br />

Prüfung, ob der Pflicht zur Erledigung des Verfahrens in angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) genügt<br />

wurde, nicht möglich <strong>und</strong> deshalb auch nicht geboten. Dem Zwischenverfahren kommt im Hinblick auf den Schutz<br />

des Angeklagten große Bedeutung zu. Zur Vorbereitung der Eröffnungsberatung bedarf es schon deshalb einer intensiven<br />

Einarbeitung des Vorsitzenden <strong>und</strong> des Berichterstatters in die Sache - parallel zur Förderung <strong>und</strong> Verhandlung<br />

anderer Verfahren. Diese Vorarbeit schlägt sich hinsichtlich des Umfangs naturgemäß nicht als verfahrensfördernd<br />

in den Akten nieder, wie auch andere Vorgänge der meist gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Verfahrensstoff<br />

in der Regel nicht. Am Ende einer intensiven Vorbereitung <strong>und</strong> der Eröffnungsberatung steht häufig nur ein<br />

Eröffnungsbeschluss, der aus einem Satz besteht (BGH, Beschluss vom 20. März 2008 – 1 StR 488/07, BGHR StPO<br />

§ 213 Terminierung 1).<br />

III. Durchgreifende Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten, die gemäß § 301 StPO eine Urteilsaufhebung auch<br />

zugunsten des Angeklagten nach sich ziehen würden, sind nicht vorhanden. Zwar erwähnt das Landgericht bei der<br />

Strafzumessung das zu den Tatzeitpunkten für die Annahme des Regelbeispiels gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO<br />

aF jeweils noch erforderliche Handeln aus grobem Eigennutz nicht ausdrücklich. Bei dem vorliegenden Tatbild war<br />

dieses Merkmal aber erkennbar erfüllt.<br />

AO § 374 Steuerhehlerei vor Beendigung der Vortat<br />

BGH, Beschl. v. 09.02.2012 - 1 StR 438/11 - StraFo 2012, 157<br />

LS: Steuerhehlerei kann jedenfalls in Form von Absatzhilfe auch vor Beendigung der vorangegangenen<br />

Steuerhinterziehung begangen werden.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 30. März 2011 wird verworfen. Der<br />

Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Der Angeklagte war wiederholt an Geschäften mit unversteuert, d.h. ohne Anmeldung von deutscher Tabaksteuer<br />

nach Deutschland verbrachten Zigaretten beteiligt. Deshalb wurde er wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei in acht<br />

Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Seine Revision ist auf die nur zum ersten Fall der Urteilsgründe<br />

konkret begründete Sachrüge gestützt. Sie ist unbegründet, § 349 Abs. 2 StPO, was nur hinsichtlich dieses Falles<br />

näher auszuführen ist.<br />

1. Die Strafkammer hat zu diesem Fall zur Beteiligung des Angeklagten am Absatz von derartigen Zigaretten<br />

(10.000 Stangen der Marke „Jin Ling“) Folgendes festgestellt: Nachdem die Zigaretten bereits im Inland waren, war<br />

der ursprünglich vorgesehene Abnehmer abgesprungen. Daraufhin wandte sich „D.“, der den Transport im Auftrag<br />

der Lieferanten organisierte, hilfesuchend an den bisher an dem Geschehen nicht beteiligten Angeklagten, er brauche<br />

Lagerfläche <strong>und</strong> einen Abnehmer. Der Angeklagte nahm Kontakt mit dem gesondert verfolgten O. auf, der an der<br />

Abnahme der Zigaretten interessiert war. Der Angeklagte, die Transporteure, O. <strong>und</strong> ein <strong>Partner</strong> O. s trafen sich an<br />

einer Raststätte. Das Geschäft kam zustande, der <strong>Partner</strong> O. s dirigierte den Lastwagen mit den Zigaretten in eine<br />

Lagerhalle O. s. Der Angeklagte erhielt für die Vermittlung des Geschäfts aus der Lieferung 1.500, mit logistischer<br />

Hilfe eines <strong>Partner</strong>s von O. von ihm dann weiterverkaufte Stangen Zigaretten zu einem Vorzugspreis, wobei er letztlich<br />

mit „D.“ abrechnete.<br />

2. Die Strafkammer hat hinsichtlich der gesamten Lieferung (aus näher dargelegten Gründen gewerbsmäßige) Steuerhehlerei<br />

(§ 374 AO) in Form von Absatzhilfe angenommen. Als hinterzogene Steuer hat sie dabei nur (sachgerecht;<br />

vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 9. Juni 2011 - 1 StR 21/11 mwN) die deutsche Tabaksteuer zugr<strong>und</strong>e gelegt.<br />

Die Revision meint, Steuerhehlerei liege lediglich hinsichtlich der Übernahme der 1.500 Stangen Zigaretten vor.<br />

Soweit der Angeklagte davor gehandelt habe, seien die Zigaretten insgesamt noch nicht „zur Ruhe gekommen“, die<br />

Steuerhinterziehung also noch nicht beendet gewesen. Daher könne er insoweit keine Steuerhehlerei begangen haben,<br />

es liege vielmehr Beihilfe zur Steuerhinterziehung vor.<br />

3. Der Senat sieht keinen den Angeklagten belastenden Rechtsfehler.<br />

235


a) Als der Angeklagte Kontakt mit O. aufnahm, war die Steuerhinterziehung zwar bereits vollendet, aber noch nicht<br />

beendet, da die Zigaretten bereits im Inland, aber noch nicht „zur Ruhe gekommen“ waren (vgl. hierzu nur BGH,<br />

Urteil vom 2. Februar 2010 - 1 StR 635/09 mwN). Es wird unterschiedlich beurteilt, ob Steuerhehlerei nur nach<br />

Beendigung der Vortat begangen werden kann. Die Beendigung der Vortat wird z.B. ohne nähere Begründung <strong>und</strong><br />

für Fallgestaltungen, bei denen nicht Steuerhehlerei in Form der Absatzhilfe im Raum stand, von BGH, Urteil vom 4.<br />

September 1956 - 5 StR 64/56 für erforderlich gehalten, ebenso von BGH, Urteil vom 24. Juni 1952<br />

- 1 StR 316/51, BGHSt 3, 40, 44 noch zu § 398 RAbgO, hier sollte „die Ware aus der … gefährlichen Nähe der<br />

Grenze“ weggebracht werden (aaO 45), sowie von BayObLG wistra 2003, 316, 317 <strong>und</strong> Hilgers-Klautzsch in Kohlmann,<br />

Steuerstrafrecht, § 374 AO Rn. 26 ff. mwN. Eine Vollendung der Vortat halten hingegen für ausreichend z.B.<br />

Jäger in FGJ, 7. Aufl., § 374 AO Rn. 13; Wegner in MüKo AO, § 374 Rn. 23 f.; Engelhardt in Hübschmann/Hepp/Spitaler,<br />

§ 374 AO Rn. 17, in vergleichbarem Sinne auch BGH, Beschluss vom 18. Juli 2000 - 5 StR<br />

245/00.<br />

b) Nach Auffassung des Senats kann Steuerhehlerei jedenfalls in Form der Absatzhilfe - hinsichtlich anderer Begehungsformen<br />

ist dies hier nicht zu prüfen - auch dann vorliegen, wenn die Vortat (hier Steuerhinterziehung) zwar<br />

vollendet, aber noch nicht beendet ist.<br />

(1) Es entspricht allgemeiner Auffassung, dass Sachhehlerei gr<strong>und</strong>sätzlich eine abgeschlossene Vortat erfordert (vgl.<br />

zuletzt BGH, Beschluss vom 9. November 2011 - 2 StR 386/11; zusammenfassend Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 259<br />

Rn. 8 mwN).<br />

(2) Jedoch kann für Sachhehlerei sogar eine nur versuchte Tat als Vortat dann ausreichen, wenn diese den Vortäter<br />

bereits in den Besitz der Sache gebracht hat (vgl. BGH, Urteil vom 7. März 1995 - 1 StR 523/94, StV 1996, 81 f.<br />

mwN; ebenso Walter in LK, 12. Aufl., § 259 Rn. 19, wonach dies im Ergebnis unstreitig sei). Dieser Gesichtspunkt<br />

ist hier nicht einschlägig, weil die vorangegangene Steuerhinterziehung nicht unmittelbar an die rechtswidrige Erlangung<br />

von Sachherrschaft anknüpfte (vgl. Engelhardt in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 374 AO Rn. 19). Wenn jedoch<br />

sogar eine nur versuchte Vortat Gr<strong>und</strong>lage der Sachhehlerei sein kann, zeigt dies aber, dass nicht allein auf das formale<br />

Stadium der Vortat abzustellen ist, sondern dass auch die tatsächlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen<br />

sind. Gründe für die Annahme, dass dies nur für Sachhehlerei, aber nicht für Steuerhehlerei gelten würde, sind nicht<br />

ersichtlich.<br />

(3) Die hier maßgeblichen Gesichtspunkte ergeben sich bereits aus dem Wesen der Absatzhilfe. Diese ist eine zur<br />

Täterschaft erhobene Beihilfe, weil die Absatztat für den Vortäter nicht gesondert strafbar ist (vgl. Jäger in FGJ, 7.<br />

Aufl., § 374 AO Rn. 21 mwN). Dennoch ist die Möglichkeit des Absatzes regelmäßig der eigentliche Gr<strong>und</strong> für die<br />

der Steuerhehlerei vorangegangene Steuerhinterziehung in Form des „(Zigaretten-)Schmuggels“. Denn in Fällen der<br />

vorliegenden Art werden, anders als z.B. beim Diebstahl als Vortat einer Sachhehlerei, zunächst Kosten für den<br />

Erwerb der Zigaretten aufgewendet. Hinzu treten die Kosten für ihren Transport <strong>und</strong> das Risiko der Entdeckung mit<br />

allen Folgen. Der Vortäter würde all dies nicht auf sich nehmen, wenn er bei Begehung der Steuerhinterziehung nicht<br />

bereits die sichere Erwartung des gewinnbringenden Weiterverkaufs der Zigaretten vor Augen hätte, sondern lediglich<br />

deren Verwahrung in einem Versteck, wo sie zur Ruhe kommen, oder - noch fernliegender - eigenen Verbrauch.<br />

(4) Hilfe bei dem für den Vortäter also wesentlichen Absatz (Absatzhilfe) kann typischerweise (wie auch vorliegend)<br />

in der Vermittlung von Kontakten zu Kaufinteressenten liegen (vgl. zur Sachhehlerei Jahn in SSW, § 259 <strong>StGB</strong> Rn.<br />

26). Die Absatzhilfe geht im Erfolgsfalle der Übertragung an den Abnehmer jedenfalls regelmäßig voraus. Sie beschränkt<br />

sich also nicht auf Fallgestaltungen, in denen die Steuerhinterziehung bereits beendet ist, weil die Ware<br />

schon aus anderem Gr<strong>und</strong>e zur Ruhe gekommen ist (vgl. zu dieser Fallgestaltung BGH, Beschluss vom 18. Juli 2000<br />

- 5 StR 245/00). Vielmehr sind auch die - häufigeren - Fälle erfasst, in denen die Steuerhinterziehung erst mit der<br />

Übergabe der „Schmuggelware“ an den Kaufinteressenten beendet wird. Eine Verurteilung allein wegen Beihilfe zur<br />

Steuerhinterziehung würde das nach gesetzlicher Wertung beim Tatbeteiligten eigenständige Unrecht, das in der<br />

Mitwirkung am Absatz liegt, nicht erfassen.<br />

(5) Abweichende Entscheidungen anderer Senate zum gleichen Sachverhalt sind nicht ersichtlich. Sie würden im<br />

Hinblick auf die inzwischen (allein) dem Senat übertragene Zuständigkeit für Steuerstrafsachen auch nicht zu einem<br />

Verfahren nach § 132 GVG führen (Franke in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 132 GVG, Rn. 12, Meyer-<br />

Goßner, StPO, 54. Aufl., § 132 GVG, Rn. 14).<br />

c) An den Voraussetzungen der Absatzhilfe bestehen hier auch sonst keine Zweifel.<br />

(1) Der Angeklagte wollte nicht lediglich die Zigaretten sichern. Er hat nämlich entsprechend der Bitte von „D.“<br />

nicht etwa nur einen Lagerplatz beschafft, von dem aus dieser den Absatz der Zigaretten selbst hätte weiterbetreiben<br />

können. Er hat darüber hinaus auch einen Abnehmer der Ware beschafft, der die Zigaretten dann in seiner eigenen<br />

236


Halle gelagert hat (zur Bedeutung der - hier ohne Weiteres klaren - Willensrichtung zur Abgrenzung zwischen Beihilfe<br />

zur Vortat <strong>und</strong> Steuerhehlerei vgl. Jäger in FGJ, 7. Aufl., § 374 AO Rn. 13 mwN).<br />

(2) Dass der Angeklagte im „Lager“ von „D.“ tätig wurde (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 11. Juni 2008 - 5 StR<br />

145/08 mwN), ergibt sich daraus, dass er auf dessen Initiative tätig wurde; dass er zugleich auch ein für den Abnehmer<br />

nicht nachteiliges Geschäft vermitteln wollte, steht dem nicht entgegen.<br />

(3) Die erforderliche Unselbständigkeit der Tätigkeit des Angeklagten gegenüber „D.“ (vgl. BGH aaO mwN) ergibt<br />

sich daraus, dass die Entscheidung zum Weiterverkauf der Zigaretten an O. nicht vom Angeklagten, sondern allein<br />

von „D.“ getroffen wurde. Auch sonst sind Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ersichtlich.<br />

AO § 378 Leichtfertigkeit <strong>und</strong> Erk<strong>und</strong>igungspflicht des Kaufmanns<br />

BGH, Urt. v. 08.09.2011 - 1 StR 38/11 - NStZ 2012, 160 = wistra 2011, 465; Anm. Schützeberg NZWiSt 2012, 74;<br />

Meyberg PStR 2011, 308<br />

Zur Leichtfertigkeit bei der leichtfertigten Steuerverkürzung [§ 378 AO]: Jeder Steuerpflichtige<br />

muss sich über diejenigen steuerlichen Pflichten unterrichten, die ihn im Rahmen seines Lebenskreises<br />

treffen. Dies gilt in besonderem Maße in Bezug auf solche steuerrechtlichen Pflichten, die<br />

aus der Ausübung eines Gewerbes oder einer freiberuflichen Tätigkeit erwachsen. Bei einem Kaufmann<br />

sind deshalb jedenfalls bei Rechtsgeschäften, die zu seiner kaufmännischen Tätigkeit gehören,<br />

höhere Anforderungen an die Erk<strong>und</strong>igungspflichten zu stellen als bei anderen Steuerpflichtigen.)<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 2. August 2010 aufgehoben,<br />

soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von<br />

zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Vom Vorwurf der Steuerhinterziehung<br />

in weiteren zwölf Fällen hat das Landgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen<br />

diesen <strong>Teil</strong>freispruch wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision, mit der sie die Verletzung materiellen<br />

Rechts rügt. Das vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.<br />

I.<br />

1. Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift vom 6. Januar 2010 hat die Staatsanwaltschaft<br />

dem Angeklagten zur Last gelegt, in 17 Fällen dadurch Umsatzsteuer hinterzogen zu haben, dass er für sechs<br />

von ihm geleitete Unternehmen mit Sitz in Luxemburg, Belgien, Frankreich <strong>und</strong> Polen für die Jahre 2002 bis 2005<br />

vorsätzlich keine Umsatzsteuerjahreserklärungen abgegeben habe. Hierzu sei er aber verpflichtet gewesen, weil er<br />

über diese Firmen an deutsche Landwirte <strong>und</strong> Winzer, die umsatzsteuerlich von der Pauschalregelung des § 24 UStG<br />

Gebrauch gemacht haben, Lieferungen von Pflanzenschutzmitteln ausgeführt habe. Die Lieferungen seien für ihn in<br />

Deutschland steuerpflichtig gewesen.<br />

2. Nach den Feststellungen des Landgerichts lieferte der Angeklagte in den Jahren 2002 bis 2005 als alleinverantwortlich<br />

Handelnder mehrerer Gesellschaften, die in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Deutschland<br />

ihren Sitz hatten <strong>und</strong> lediglich in Luxemburg, Frankreich <strong>und</strong> Belgien Lagerräumlichkeiten unterhielten, Pflanzenschutzmittel<br />

an deutsche Landwirte <strong>und</strong> Winzer. Die Empfänger wurden als Betreiber landwirtschaftlicher Betriebe<br />

umsatzsteuerlich nach § 24 UStG besteuert. Die den Lieferungen zugr<strong>und</strong>e liegenden Bestellungen erfolgten<br />

zumeist über Sammelbesteller für Einkaufsgemeinschaften, die vom Angeklagten Bestellscheine mit angefügten<br />

„Speditionsauftragsschreiben“ erhalten hatten. Hinsichtlich der Art <strong>und</strong> Menge der Beladung sowie des Zeitpunkts<br />

der Auslieferung wurden die Speditionen allein vom Angeklagten angewiesen, die Landwirte bzw. Sammelbesteller<br />

teilten allein die Abladestelle in Deutschland mit. Das Landgericht ist der Ansicht, die Lieferungen hätten der deutschen<br />

Umsatzbesteuerung unterlegen, weil es sich um Versandgeschäfte gehandelt habe <strong>und</strong> deshalb der Ort der<br />

Lieferung gemäß § 3c UStG jeweils in Deutschland gelegen habe. Der Angeklagte sei deshalb verpflichtet gewesen,<br />

für die von ihm geleiteten Firmen in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland Umsatzsteuererklärungen abzugeben, was er<br />

pflichtwidrig unterlassen habe. Das Landgericht hat sich die Überzeugung gebildet, dass der Angeklagte bis zu einer<br />

237


Befragung durch die luxemburgische Steuerfahndung im Oktober oder November 2005 davon ausgegangen ist, die<br />

von ihm getätigten Geschäfte unterlägen nicht der Umsatzsteuer (UA S. 10). Es hat den Angeklagten daher - nach<br />

einer <strong>Teil</strong>einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO hinsichtlich zweier Fälle - nur wegen dreier im Jahr<br />

2006 begangener Taten der pflichtwidrigen Nichtabgabe von Umsatzsteuerjahreserklärungen für das Jahr 2005 wegen<br />

Steuerhinterziehung verurteilt (Fälle 4, 14, <strong>und</strong> 17 der Anklageschrift). Der Angeklagte war insoweit geständig<br />

(UA S. 11). Vom Vorwurf der Steuerhinterziehung in weiteren zwölf Fällen hat das Landgericht den Angeklagten<br />

aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, es konnte sich insoweit von einem Hinterziehungsvorsatz des Angeklagten<br />

nicht überzeugen. Dem Angeklagten sei für die Zeit vor dem Erscheinen der luxemburgischen Steuerfahnder bei<br />

ihm im Jahr 2005 nicht nachzuweisen gewesen, gewusst zu haben, dass bei dem von ihm gewählten Geschäftsmodell<br />

eine Steuerpflicht nach deutschem Umsatzsteuerrecht eintritt. Eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit kenne § 370 AO nicht<br />

(UA S. 41).<br />

II. Der <strong>Teil</strong>freispruch wegen Annahme eines Tatumstandsirrtums hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht<br />

stand. Zum einen beruhen die deswegen ebenfalls aufzuhebenden Feststellungen zum Tatvorsatz auf einer in sich<br />

widersprüchlichen sowie lückenhaften <strong>und</strong> damit nicht tragfähigen Beweiswürdigung (a). Zum anderen hat das<br />

Landgericht nicht geprüft, ob sich der Angeklagte zumindest einer leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO)<br />

schuldig gemacht hat, was einem Freispruch entgegenstehen würde (b). Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung<br />

neuer tatrichterlicher Prüfung auf der Gr<strong>und</strong>lage diesbezüglich insgesamt neu zu treffender Feststellungen.<br />

a) Die Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.<br />

aa) Allerdings muss es das Revisionsgericht gr<strong>und</strong>sätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht,<br />

weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts.<br />

Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel<br />

überw<strong>und</strong>en hätte. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen<br />

sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar<br />

oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile<br />

vom 16. Dezember 2009 - 1 StR 491/09 Rn. 18, HFR 2010, 866; vom 11. September 2007 - 5 StR 213/07, wistra<br />

2008, 22, 24; vom 6. September 2006 - 5 StR 156/06, wistra 2007, 18, 19; jew. mwN).<br />

bb) Derartige Rechtsfehler in der Beweiswürdigung liegen hier vor; die Urteilsfeststellungen zur subjektiven Tatseite<br />

können daher keinen Bestand haben.<br />

(1) Die Beweiswürdigung ist in sich widersprüchlich. Sie setzt sich hinsichtlich des freisprechenden <strong>Teil</strong>s des Urteils<br />

in Widerspruch zu den die Verurteilung betreffenden Feststellungen. Das Landgericht hat als gegen einen Tatvorsatz<br />

des Angeklagten sprechenden Umstand gewertet, dass er seine geschäftliche Tätigkeit nicht verheimlicht, sondern<br />

Rechnungen mit ausländischer Umsatzsteuer erstellt habe (UA S. 39). Weiter hat es ausgeführt, die Tatsache, dass<br />

der Angeklagte die angefallenen ausländischen Umsatzsteuern in seinen Rechnungen aufgeführt <strong>und</strong> „wohl“ im<br />

Ausland erklärt <strong>und</strong> abgeführt habe, sei ein Indiz dafür, dass ihm die Steuerbarkeit der Umsätze nach deutschem<br />

Umsatzsteuerrecht nicht bewusst gewesen sei (UA S. 40). Diese Wertungen lassen sich nicht mit den - im Rahmen<br />

der Verurteilung strafschärfend gewerteten (UA S. 34) - Feststellungen vereinbaren, dass der Angeklagte ab dem<br />

Jahr 2005, in dem er von der luxemburgischen Steuerfahndung aufgesucht worden war, „die zuvor aufgebauten Unternehmensstrukturen<br />

fortgeführt <strong>und</strong> somit im Ergebnis ein aufwendiges Täuschungssystem genutzt“ habe. Durch<br />

die Firmenverlagerung nach Polen, die fortgesetzte Einschaltung von Firmen in Belgien, Luxemburg <strong>und</strong> Frankreich<br />

<strong>und</strong> die Gründung von Zwischenlagern in Deutschland habe er insbesondere „hinsichtlich der Lieferwege <strong>und</strong> der<br />

Umsatzermittlung einen schwer aufklärbaren Sachverhalt geschaffen“ (UA S. 34). War das Gesamtsystem aber<br />

schon vor dem Erscheinen der Steuerfahnder auf Täuschung angelegt, dann konnte die Ausstellung von Rechnungen<br />

mit gegenüber dem deutschen Steuersatz zum <strong>Teil</strong> deutlich niedrigeren ausländischen Umsatzsteuersätzen zwischen<br />

drei <strong>und</strong> zwölf Prozent (UA S. 9) kein Indiz für eine beabsichtigte Steuerehrlichkeit des Angeklagten sein.<br />

(2) Die Beweiswürdigung ist zudem lückenhaft. Denn das Landgericht hat wesentliche, den Urteilsfeststellungen zu<br />

entnehmende belastende Umstände nicht in die Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite eingestellt. Zwar können<br />

<strong>und</strong> müssen die Gründe auch eines freisprechenden Urteils nicht jeden irgendwie beweiserheblichen Umstand ausdrücklich<br />

würdigen. Das Maß der gebotenen Darlegung hängt vielmehr von der jeweiligen Beweislage <strong>und</strong> insoweit<br />

von den Umständen des Einzelfalls ab; dieser kann so beschaffen sein, dass sich die Erörterung bestimmter einzelner<br />

Beweisumstände erübrigt. Insbesondere dann, wenn das Tatgericht auf Freispruch erkennt, obwohl gegen den Angeklagten<br />

ein ganz erheblicher Tatverdacht besteht, muss es jedoch in seine Beweiswürdigung <strong>und</strong> deren Darlegung die<br />

ersichtlich möglicherweise gegen den Angeklagten sprechenden Umstände <strong>und</strong> Erwägungen einbeziehen <strong>und</strong> in<br />

einer Gesamtwürdigung betrachten (vgl. BGH, Urteile vom 6. September 2006 - 5 StR 156/06, wistra 2007, 18, 19<br />

<strong>und</strong> vom 22. August 2002 - 5 StR 240/02, wistra 2002, 430 mwN). Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdi-<br />

238


gung des Landgerichts nicht gerecht. Sie ist lückenhaft, weil sie sich mit wesentlichen, den Angeklagten belastenden<br />

Umständen nicht auseinandersetzt, die für die subjektive Tatseite bedeutsam sind (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember<br />

1986 - 3 StR 500/86, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2). Zu einer umfassenden Gesamtwürdigung aller<br />

den Angeklagten be- <strong>und</strong> entlastenden Umstände hätte sich das Landgericht hier schon deshalb gedrängt sehen müssen,<br />

weil der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen noch nach entsprechenden Hinweisen der luxemburgischen<br />

Steuerfahndung auf die in Deutschland bestehende Steuerpflicht das bisherige System der Vermeidung der Besteuerung<br />

in Deutschland unverändert fortsetzte. Das Landgericht hätte - worauf der Generalb<strong>und</strong>esanwalt bereits in seiner<br />

Antragsschrift zutreffend hingewiesen hat - auch in die Gesamtwürdigung einbeziehen müssen, dass der Angeklagte<br />

den steuerlich bedeutsamen Ort der Lieferung in seinen Rechnungen jedenfalls teilweise absichtlich falsch<br />

deklariert hat, was für eine bewusste Täuschung der Finanzbehörden spricht. So hat der Angeklagte auch die Lieferungen<br />

seiner polnischen Firmen als Abholgeschäfte mit dem Umsatzsteuersatz von drei Prozent deklariert (UA S. 9<br />

f.), obwohl er nach den Feststellungen in Polen gar kein Warenlager unterhielt (UA S. 4, 38) <strong>und</strong> die K<strong>und</strong>en selbst<br />

bei der Bestellung keinen Kontakt nach Polen hatten (UA S. 32). Dieser primär den Fall 15 der Urteilsgründe betreffende<br />

Umstand der Ausstellung falscher Rechnungen war auch für die Vorsatzfrage hinsichtlich der Tatvorwürfe<br />

betreffend die Jahre 2002 bis 2004 von erheblicher Bedeutung.<br />

b) Der <strong>Teil</strong>freispruch kann auch deshalb keinen Bestand haben, weil das Landgericht nicht geprüft hat, ob das Verhalten<br />

des Angeklagten nicht zumindest den Bußgeldtatbestand der leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO)<br />

verwirklicht hat. § 378 AO wirkt in solchen Fällen wie ein Auffangtatbestand (BGH, Beschluss vom 13. Januar 1988<br />

- 3 StR 450/87, BGHR AO § 378 Leichtfertigkeit 1; BGH, Urteil vom 23. Februar 2000 - 5 StR 570/99, NStZ 2000,<br />

320, 321; BGH, Urteil vom 16. Dezember 2009 - 1 StR 491/09 Rn. 39 ff., HFR 2010, 866). Leichtfertig handelt, wer<br />

die Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den besonderen Umständen des Einzelfalls <strong>und</strong> seinen persönlichen<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Kenntnissen verpflichtet <strong>und</strong> imstande ist, obwohl sich ihm aufdrängen musste, dass dadurch eine<br />

Steuerverkürzung eintreten wird (BGH, Urteil vom 16. Dezember 2009 aaO Rn. 40). Jeder Steuerpflichtige muss<br />

sich über diejenigen steuerlichen Pflichten unterrichten, die ihn im Rahmen seines Lebenskreises treffen. Dies gilt in<br />

besonderem Maße in Bezug auf solche steuerrechtlichen Pflichten, die aus der Ausübung eines Gewerbes oder einer<br />

freiberuflichen Tätigkeit erwachsen. Bei einem Kaufmann sind deshalb jedenfalls bei Rechtsgeschäften, die zu seiner<br />

kaufmännischen Tätigkeit gehören, höhere Anforderungen an die Erk<strong>und</strong>igungspflichten zu stellen als bei anderen<br />

Steuerpflichtigen (vgl. BFH, Urteil vom 19. Februar 2009 - II R 49/07 mwN, BFHE 225, 1). In Zweifelsfällen hat er<br />

von sachk<strong>und</strong>iger Seite Rat einzuholen (vgl. dazu auch Joecks in Franzen/ Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl., §<br />

378 AO Rn. 39 mwN). Dies gilt insbesondere dann, wenn er die erkannte Steuerpflichtigkeit eines Geschäfts durch<br />

eine modifizierte Gestaltung des Geschäfts zu vermeiden sucht (zu den Erk<strong>und</strong>igungspflichten vgl. auch Sahan in<br />

Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- <strong>und</strong> Steuerstrafrecht, § 378 AO Rn. 28 ff.). Zudem ist es Steuerpflichtigen regelmäßig<br />

möglich <strong>und</strong> zumutbar, offene Rechtsfragen nach Aufdeckung des vollständigen <strong>und</strong> wahren Sachverhalts im<br />

Besteuerungsverfahren zu klären (vgl. BVerfG - Kammer - Beschlüsse vom 16. Juni 2011 - 2 BvR 542/09 <strong>und</strong> vom<br />

29. April 2010 - 2 BvR 871/04, 2 BvR 414/08, wistra 2010, 396, 404, jew. mwN). Im vorliegenden Fall war deshalb<br />

in den Blick zu nehmen, dass der Angeklagte für sechs Unternehmen als alleinverantwortlich Handelnder tätig war,<br />

die jeweils in großem Umfang grenzüberschreitenden Handel mit Pflanzenschutzmitteln an Landwirte <strong>und</strong> Winzer<br />

durchführten. Er hatte erkannt, dass die Durchführung der von ihm geplanten Lieferungen als „Versandgeschäfte“ zu<br />

einer Steuerpflicht in Deutschland führen würde <strong>und</strong> wählte deswegen eine Geschäftsabwicklung, die nach seiner<br />

Wertung als „Abholgeschäfte“ im Empfängerstaat Deutschland nicht steuerbar waren. Ob er hierbei Rechtsrat eingeholt<br />

hatte, hat das Landgericht nicht festgestellt.<br />

III. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat im Hinblick auf die subjektive Tatseite auf Folgendes hin:<br />

1. Nach ständiger Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs gehört zum Vorsatz der Steuerhinterziehung, dass der<br />

Täter den Steueranspruch dem Gr<strong>und</strong>e <strong>und</strong> der Höhe nach kennt oder zumindest für möglich hält <strong>und</strong> ihn auch verkürzen<br />

will (vgl. BGH, Urteil vom 13. November 1953 - 5 StR 342/53, BGHSt 5, 90, 91 f.; BGH, Urteil vom 5.<br />

März 1986 - 2 StR 666/85, wistra 1986, 174; BGH, Urteil vom 16. Dezember 2009 - 1 StR 491/09 Rn. 37, HFR<br />

2010, 866; BGHR AO § 370 Abs. 1 Vorsatz 2, 4, 5). Für eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung bedarf es dabei<br />

keiner Absicht oder eines direkten Hinterziehungs-vorsatzes; es genügt, dass der Täter die Verwirklichung der<br />

Merkmale des gesetzlichen Tatbestands für möglich hält <strong>und</strong> billigend in Kauf nimmt (Eventualvorsatz). Der Hinterziehungsvorsatz<br />

setzt deshalb weder dem Gr<strong>und</strong>e noch der Höhe nach eine sichere Kenntnis des Steueranspruchs<br />

voraus (vgl. BGH, Urteil vom 16. Dezember 2009 - 1 StR 491/09 Rn. 37, HFR 2010, 866; zu strenge Anforderungen<br />

OLG München, Beschluss vom 15. Februar 2011 - 4 St RR 167/10 mit Anm. Roth, StRR 2011, 235).<br />

2. Hat der Steuerpflichtige irrtümlich angenommen, dass ein Steueranspruch nicht entstanden ist, liegt nach dieser<br />

Rechtsprechung ein Tatumstandsirrtum vor, der den Vorsatz ausschließt (§ 16 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong>).<br />

239


3. Ob dies auch dann gilt, wenn der Irrtum über das Bestehen eines Steueranspruchs allein auf einer Fehlvorstellung<br />

über die Reichweite steuerlicher Normen - hier etwa des § 3c UStG über den Ort der Lieferung in besonderen Fällen<br />

- beruht, oder ob dann vielmehr ein Verbotsirrtum (§ 17 <strong>StGB</strong>) gegeben ist, wird in der neueren Literatur teilweise in<br />

Frage gestellt (vgl. Allgayer in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- <strong>und</strong> Steuerstrafrecht, § 369 AO Rn. 28 mwN; vgl.<br />

zum Irrtum über die Arbeitgebereigenschaft in § 266a <strong>StGB</strong> auch BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2009 - 1 StR<br />

478/09, NStZ 2010, 337).<br />

4. Der Senat braucht diese Frage hier nicht zu entscheiden, denn sie stellt sich erst dann, wenn ein rechtserheblicher<br />

Irrtum über das Bestehen eines Steueranspruchs festgestellt ist. Ein solcher Irrtum liegt aber dann nicht vor, wenn der<br />

Erklärungspflichtige hinsichtlich der Verkürzung eines Steueranspruchs mit Eventualvorsatz handelt. Bei der Klärung<br />

der Frage, ob ein solcher Irrtum bestanden hat, ist Folgendes zu beachten:<br />

a) Die bloße Berufung eines Angeklagten auf einen derartigen Irrtum nötigt das Tatgericht nicht, einen solchen Irrtum<br />

als gegeben anzunehmen. Es bedarf vielmehr einer Gesamtwürdigung aller Umstände, die für das Vorstellungsbild<br />

des Angeklagten von Bedeutung waren. Denn es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten,<br />

zu Gunsten eines Angeklagten Umstände oder Geschehensabläufe zu unterstellen, für deren Vorliegen - außer der<br />

bloßen Behauptung des Angeklagten - keine Anhaltspunkte bestehen (vgl. BGH, Urteil vom 18. August 2009 - 1 StR<br />

107/09, NStZ-RR 2010, 85).<br />

b) Ein Tatumstandsirrtum scheidet bei Steuerhinterziehung durch Unterlassen im Übrigen dann aus, wenn der Täter<br />

es für möglich hält, dass er die Finanzbehörde über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt <strong>und</strong> dass<br />

durch sein Verhalten Steuern verkürzt werden oder dass er oder ein anderer nicht gerechtfertigte Vorteile erlangt.<br />

Weitergehende Einschränkungen der Annahme eines Eventualvorsatzes ergeben sich auch nicht aus der voluntativen<br />

Seite des Vorsatzes. Ob der Täter will, dass ein Steueranspruch besteht, ist für den Hinterziehungsvorsatz bedeutungslos.<br />

Es kommt insoweit allein auf die Vorstellung des Täters an, ob ein solcher Steueranspruch besteht oder<br />

nicht. Hält er die Existenz eines Steueranspruchs für möglich <strong>und</strong> lässt er die Finanzbehörden über die Besteuerungsgr<strong>und</strong>lagen<br />

gleichwohl in Unkenntnis, findet er sich also mit der Möglichkeit der Steuerverkürzung ab, handelt<br />

er mit bedingtem Tatvorsatz. Ob ein Angeklagter das Bestehen eines Steueranspruchs für möglich gehalten hat, muss<br />

vom Tatgericht im Rahmen der Beweiswürdigung geklärt werden. Dabei hat das Gericht bei Kaufleuten deren Umgang<br />

mit den in ihrem Gewerbe bestehenden Erk<strong>und</strong>igungspflichten in die Würdigung einzubeziehen. Informiert<br />

sich ein Kaufmann über die in seinem Gewerbe bestehenden steuer-rechtlichen Pflichten nicht, kann dies auf seine<br />

Gleichgültigkeit hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflichten hindeuten. Dasselbe gilt, wenn es ein Steuerpflichtiger<br />

unterlässt, in Zweifelsfällen Rechtsrat einzuholen. Auch in Fällen, in denen ein nicht steuerlich sachk<strong>und</strong>iger Steuerpflichtiger<br />

eine von ihm für möglich gehaltene Steuerpflicht dadurch vermeiden will, dass er von der üblichen Geschäftsabwicklung<br />

abweichende Vertragskonstruktionen oder Geschäftsabläufe wählt, kann es für die Inkaufnahme<br />

einer Steuerverkürzung sprechen, wenn er keinen zuverlässigen Rechtsrat einholt, sondern allein von seinem laienhaften<br />

Rechtsverständnis ausgeht. Dies gilt nicht nur bei rechtlich schwierigen oder ungewöhnlichen Inlandsgeschäften,<br />

sondern gerade auch bei grenzüberschreitenden Lieferungen oder Leistungen.<br />

5. Im vorliegenden Fall wird es daher für die Frage des Tatvorsatzes darauf ankommen, ob der Angeklagte eine<br />

Steuerentstehung in Deutschland für möglich erachtet hat. Im Hinblick darauf, dass er - jedenfalls nach den bisherigen<br />

Feststellungen - gerade zur Vermeidung einer Besteuerung in Deutschland zugunsten der Anwendung niedrigerer<br />

ausländischer Steuersätze die bei Versandgeschäften übliche Geschäftsabwicklung verändert hat, wird dabei der<br />

Frage, ob er sachk<strong>und</strong>igen Rechtsrat eingeholt hat, besondere Bedeutung zukommen. Dasselbe gilt, wenn das neue<br />

Tatgericht wieder zu entsprechenden Feststellungen gelangen sollte, für den Umstand, dass der Angeklagte die luxemburgischen<br />

Steuerfahndungsbeamten gebeten hat, die deutschen Finanzbehörden nicht zu informieren (UA S.<br />

13).<br />

6. Sollte das neue Tatgericht aufgr<strong>und</strong> seiner Beweisaufnahme <strong>und</strong> Beweiswürdigung bezogen auf die Fälligkeitszeitpunkte<br />

für die Abgabe von Umsatzsteuererklärungen wieder zur Annahme eines vorsatzausschließenden Tatumstandsirrtums<br />

des Angeklagten gelangen, wird es die Prüfung einer Unterlassenstrafbarkeit auch darauf zu erstrecken<br />

haben, ob der Irrtum noch vor Wegfall der Erklärungspflicht, insbesondere vor Eintritt der steuerlichen Festsetzungsverjährung<br />

wieder entfallen ist. Bedeutung könnte insoweit dem Umstand zukommen, dass der Angeklagte -<br />

jedenfalls nach den bisherigen Feststellungen - von der luxemburgischen Steuerfahndung auf die Bedenken gegen<br />

seine steuerliche Behandlung der Lieferungen nach Deutschland hingewiesen wurde (UA S. 13).<br />

240


AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 7 – Wiederholter Verstoß auch ohne Ahndung des Erstverstoßes<br />

BGH, Beschl. v. 05.07.2011 - 3 StR 87/11 - BGHSt 56, 271 = NJW 2011, 3174 = StV 2012, 286<br />

LS: Das Tatbestandsmerkmal der wiederholten Zuwiderhandlung nach § 95 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG<br />

erfordert weder eine Ahndung des Erstverstoßes noch eine sonstige behördliche Reaktion, die geeignet<br />

ist, dem Ausländer sein Fehlverhalten vor Augen zu führen.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 2. Dezember 2010 wird verworfen. Der<br />

Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen wiederholter Zuwiderhandlung gegen eine räumliche Beschränkung<br />

nach § 61 AufenthG in 15 Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 10 € verurteilt <strong>und</strong> die Zahlung<br />

in monatlichen Raten bewilligt. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung<br />

materiellen Rechts. Das Rechtsmittel ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Der Erörterung durch den<br />

Senat bedürfen über die Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts in dessen Antragsschrift hinaus lediglich folgende<br />

Gesichtspunkte:<br />

I. Die Voraussetzungen des § 95 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, wonach bestraft wird, wer wiederholt einer räumlichen<br />

Beschränkung nach § 61 Abs. 1 AufenthG zuwiderhandelt, werden durch die Feststellungen belegt. Danach wurde<br />

der Asylantrag des Angeklagten, eines türkischen Staatsbürgers kurdischer Herkunft, mit seit dem 23. März 2004<br />

bestandskräftigem Bescheid vom 10. Dezember 1999 abgelehnt. Sodann lebte der Angeklagte auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

regelmäßig verlängerter Duldungen in Deutschland; er besaß keinen Aufenthaltstitel <strong>und</strong> war vollziehbar ausreisepflichtig.<br />

Sein Aufenthalt war - was er wusste - räumlich auf das Land Brandenburg beschränkt. Der Angeklagte<br />

hielt sich jedoch bereits Anfang des Jahres 2007 wiederholt ohne Erlaubnis in Berlin auf. Im Tatzeitraum zwischen<br />

dem 27. Oktober 2007 <strong>und</strong> dem 21. Juli 2009 verließ er - ebenfalls ohne Erlaubnis - insgesamt 15 mal das Land<br />

Brandenburg, um überwiegend in Berlin, aber auch in anderen B<strong>und</strong>esländern, an politischen bzw. gesellschaftlichen<br />

Veranstaltungen teilzunehmen <strong>und</strong> Kontakt zu Landsleuten zu pflegen.<br />

1. Somit verstieß der vollziehbar ausreisepflichtige Angeklagte gegen die nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gesetzlich<br />

angeordnete Beschränkung seines Aufenthalts auf das Gebiet des Landes Brandenburg. Auf die von der Revision<br />

aufgeworfene Frage, ob § 95 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG auch Zuwiderhandlungen gegen behördlich angeordnete<br />

Aufenthaltsbeschränkungen nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG umfasst (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 17. Februar<br />

2009 - 1 StR 381/08, BGHSt 53, 181), kommt es deshalb nicht an.<br />

2. Der Angeklagte handelte wiederholt im Sinne des § 95 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG.<br />

a) Eine wiederholte Zuwiderhandlung setzt zunächst einen vorsätzlich begangenen Erstverstoß voraus (HansOLG<br />

Bremen, Beschluss vom 29. September 2008 - Ss 23/08, StraFo 2008, 520; OLG Brandenburg, Beschluss vom 22.<br />

Februar 2007 - 1 Ss 96/06, NStZ 2008, 531). Dieser ist gegeben; denn der Angeklagte hielt sich trotz Kenntnis der<br />

räumlichen Beschränkung seines Aufenthalts auf das Land Brandenburg bereits zu Beginn des Jahres 2007 mehrfach<br />

in Berlin auf.<br />

b) Die Strafbarkeit des Angeklagten wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass eine staatliche Reaktion auf den Erstverstoß<br />

nicht festgestellt ist. Das Tatbestandsmerkmal der wiederholten Zuwiderhandlung nach § 95 Abs. 1 Nr. 7<br />

AufenthG erfordert weder eine Ahndung des Erstverstoßes noch eine sonstige behördliche Reaktion, die geeignet ist,<br />

dem Ausländer sein Fehlverhalten vor Augen zu führen (OLG <strong>Hamm</strong>, Urteil vom 31. Januar 2007 - 1 Ss 500/06;<br />

Erbs/Kohlhaas/Senge, Strafrechtliche Nebengesetze, § 95 AufenthG Rn. 39 [Stand: April 2010]; Lange, StRR 2007,<br />

118; zum AsylVfG vgl. OLG Celle, Urteil vom 20. Februar 1984 - 1 Ss 28/84, NStZ 1984, 324; OLG Karlsruhe,<br />

Urteil vom 4. August 1988 - 1 Ss 41/88, NStZ 1988, 560; OLG Stuttgart, Urteil vom 13. Oktober 1995 - 1 Ss 416/95,<br />

NStZ-RR 1996, 173, 174; MünchKomm <strong>StGB</strong>/Schmidt-Sommerfeld, § 85 AsylVfG Rn. 37).<br />

aa) Aus dem Wortlaut der Vorschrift lässt sich eine derartige Einschränkung, wie sie teilweise in der Literatur vertreten<br />

wird (MünchKomm <strong>StGB</strong>/Gericke, § 95 AufenthG Rn. 66, 72; HK-AuslR/Wingerter, § 95 AufenthG Rn. 18;<br />

Huber/Stoppa, AufenthG, § 95 Rn. 241, 244; Renner/Dienelt, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 50), nicht<br />

ableiten. Die Norm verlangt allein eine "wiederholte" Zuwiderhandlung, mithin einen vor der eigentlichen Tat begangenen<br />

gleichartigen Verstoß.<br />

bb) Ein Wille des Gesetzgebers dahin, dass die Strafvorschrift des § 95 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG nur dann eingreifen<br />

soll, wenn der Erstverstoß zu einer staatlichen Reaktion in dem umschriebenen Sinne geführt hat, ist nicht ersichtlich.<br />

Er lässt sich insbesondere nicht aus den Gesetzesmaterialien herleiten. In der Begründung zu § 61 <strong>und</strong> § 95<br />

241


AufenthG (BT-Drucks. 15/420 S. 92, 98) ist im Wesentlichen lediglich ausgeführt, vollziehbar Ausreisepflichtige<br />

sollten gegenüber Asylbewerbern nicht besser gestellt werden. Mit Blick hierauf hat der Gesetzgeber den erstmaligen<br />

Verstoß gegen eine räumliche Aufenthaltsbeschränkung des vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers nach § 61<br />

Abs. 1 Satz 1 AufenthG in § 98 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG als Ordnungswidrigkeit ausgestaltet <strong>und</strong> in § 95 Abs. 1 Nr. 7<br />

AufenthG eine Strafvorschrift geschaffen, die wie § 34 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a AsylVfG aF, § 85 Nr. 2 AsylVfG nF<br />

einen wiederholten Verstoß des Ausländers voraussetzt. Auch aus den einschlägigen Materialien zum Asylverfahrensgesetz<br />

ergibt sich nicht, dass die Strafbarkeit davon abhängig sein soll, dass der Erstverstoß in irgendeiner Form<br />

zur Ahndung gelangt ist. Nach dem ursprünglichen Gesetzesentwurf der damaligen Koalitionsfraktionen von SPD<br />

<strong>und</strong> FDP (BT-Drucks. 9/875) sollte bereits der Erstverstoß als Straftat sanktioniert werden (BT-Drucks. 9/875 S. 8).<br />

Der Rechtsausschuss des B<strong>und</strong>estages vertrat demgegenüber in seinem Bericht (BT-Drucks. 9/1630), auf dem die<br />

spätere Gesetzesfassung gründet, die Auffassung, eine Zuwiderhandlung gegen eine räumliche Beschränkung der<br />

Aufenthaltsgestattung solle nicht schon bei einem ersten Verstoß als Strafe bedroht sein, sondern nur, wenn der<br />

Asylbewerber die Zuwiderhandlung wiederhole. Erst in einem solchen Wiederholungsfall liege strafwürdiges Unrecht<br />

vor. Die erste Zuwiderhandlung könne als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Eine solche abgestufte Sanktionierung<br />

erscheine besser geeignet, auf die Zuwiderhandlungen des Asylbewerbers angemessen reagieren zu können<br />

(BT-Drucks. 9/1630 S. 27 f.). Diesen Ausführungen lässt sich nicht eindeutig entnehmen, dass die Strafbarkeit<br />

bei einem wiederholten Zuwiderhandeln von einer staatlichen Reaktion auf den Erstverstoß abhängen soll (OLG<br />

Celle aaO). Sie sprechen vielmehr eher dafür, dass nach den Vorstellungen des Gesetzgebers allein die erneute Zuwiderhandlung<br />

das strafbare Unrecht begründet; denn hätte der Rechtsausschuss eine entsprechende Voraussetzung<br />

für die Ahndung des zweiten Verstoßes als Straftat empfehlen wollen, hätte es nahe gelegen, dies ausdrücklich zum<br />

Ausdruck zu bringen (so zu Recht schon OLG Karlsruhe aaO; vgl. auch MünchKomm<strong>StGB</strong>/Schmidt-Sommerfeld<br />

aaO Rn. 37). Dementsprechend geht auch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz des B<strong>und</strong>esministeriums<br />

des Innern vom 26. Oktober 2009 (VV AufenthG) davon aus, dass nur der wiederholte, d.h. der<br />

mindestens zweite Verstoß gegen die gesetzliche räumliche Beschränkung nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, die<br />

Strafbarkeit gemäß § 95 AufenthG begründet (Ziffer 95.1.7.2 VV AufenthG), <strong>und</strong> sieht es als unerheblich an, ob der<br />

erste Verstoß rechtskräftig geahndet worden ist; erforderlich ist danach lediglich die objektive Wiederholung (Ziffer<br />

95.1.7.3 i.V.m. Ziffer 95.1.6a.1.2 VV AufenthG).<br />

cc) Systematische Erwägungen sprechen ebenfalls gegen das Erfordernis einer staatlichen Reaktion auf den Erstverstoß.<br />

Mehrere Strafvorschriften, welche die Strafbarkeit ähnlich wie § 95 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG von einem mehrfachen<br />

Tätigwerden abhängig machen - etwa die Ausübung der verbotenen Prostitution (§ 184e <strong>StGB</strong>), die Nachstellung<br />

(§ 238 <strong>StGB</strong>), die Erwerbstätigkeit von Ausländern ohne Genehmigung oder ohne Aufenthaltstitel in größerem<br />

Umfang (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 SchwarzArbG) sowie die Vergehen nach § 27 Abs. 2 Nr. 2 JuSchG, § 148 Nr. 1 GewO<br />

<strong>und</strong> § 20 GPSG -, erfordern ein beharrliches Handeln des Täters. Dieses setzt voraus, dass das entsprechende Verbot<br />

aus Missachtung oder Gleichgültigkeit immer wieder übertreten wird. Erforderlich ist demnach in objektiver Hinsicht<br />

stets - insoweit entsprechend dem wiederholten Zuwiderhandeln nach § 95 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG - zumindest<br />

ein vorangegangener Verstoß. Hinzukommen muss allerdings als subjektives Element eine besondere Gesinnung. Zu<br />

deren Beurteilung ist eine Gesamtwürdigung der verschiedenen Handlungen erforderlich. Dabei stehen die einzelnen<br />

in Betracht kommenden Elemente nicht isoliert nebeneinander; vielmehr bestehen Wechselwirkungen, die jeweils<br />

Rückschlüsse auf das Vorliegen der anderen Kriterien erlauben (vgl. im Einzelnen BGH, Beschluss vom 19. November<br />

2009 - 3 StR 244/09, BGHSt 54, 189, 196, 198; Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 184e Rn. 5). Hieraus folgt, dass<br />

eine Ahndung der Vortat zwar als für die subjektive Komponente der Beharrlichkeit sprechendes Indiz im Rahmen<br />

der erforderlichen Gesamtwürdigung Bedeutung gewinnen kann; eine Reaktion auf den Erstverstoß ist indessen nicht<br />

unbedingt erforderlich <strong>und</strong> damit keine konstitutive Voraussetzung beharrlichen Handelns (vgl. SIS-Perron/Eisele,<br />

<strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 184e Rn. 5; noch offen gelassen in BGH, Urteil vom 25. Februar 1992 - 5 StR 528/91, NStZ<br />

1992, 594, 595). Mit diesen Gr<strong>und</strong>sätzen wäre es nicht zu vereinbaren, wollte man zur Erfüllung des Tatbestands des<br />

§ 95 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, der ein wiederholtes Handeln genügen lässt <strong>und</strong> auf eine zusätzliche subjektive Komponente<br />

verzichtet, eine Reaktion auf den Erstverstoß verlangen. Dies gilt selbst auf der Gr<strong>und</strong>lage der Ansicht, dass<br />

beharrliches Handeln nur vorliegt, wenn zuvor ein Erstverstoß geahndet worden ist (vgl. SK-<strong>StGB</strong>/Wolters, § 184e<br />

Rn. 3 [Stand: November 2008]; MünchKomm<strong>StGB</strong>/Hörnle, § 184d Rn. 5; Erbs/Kohlhaas/Liesching, Strafrechtliche<br />

Nebengesetze, § 27 JuSchG Rn. 11 [Stand: Februar 2004]; Marcks, Makler- <strong>und</strong> Bauträgerverordnung, 8. Aufl., §<br />

148 GewO Rn. 1); denn auch nach dieser Auffassung ist die Reaktion auf den Erstverstoß lediglich zur Begründung<br />

der subjektiven Komponente der Beharrlichkeit von Belang. Auf diese kommt es bei § 95 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG<br />

indes gerade nicht an.<br />

242


dd) Schließlich erfordern auch verfassungsrechtliche Vorgaben nicht die Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG<br />

dahin, dass der Erstverstoß zu einer staatlichen Reaktion geführt haben muss, um hinsichtlich des Folgeverstoßes<br />

strafwürdiges Unrecht zu begründen. Insbesondere das Übermaßverbot, dem wegen des in Androhung, Verhängung<br />

<strong>und</strong> Vollziehung von Strafe zum Ausdruck kommenden sozialethischen Unwerturteils als Maßstab für die verfassungsrechtliche<br />

Legitimierung einer Strafnorm besondere Bedeutung zukommt (BVerfG, Beschlüsse vom 9. März<br />

1994 - 2 BvL 43/92 u.a., BVerfGE 90, 145, 185; vom 15. Mai 1995 - 2 BvL 19/91 u.a., BVerfGE 92, 277, 326), wird<br />

auch dann ausreichend beachtet, wenn die Strafbarkeit allein an die mehrfache vorsätzliche Zuwiderhandlung anknüpft.<br />

(1) Nach gefestigter Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts ist es gr<strong>und</strong>sätzlich Sache des Gesetzgebers,<br />

den Bereich strafbaren Handelns verbindlich festzulegen. Demgemäß obliegt es diesem u.a., die Grenzlinie zwischen<br />

kriminellem Unrecht <strong>und</strong> Ordnungsunrecht im Einzelnen zu ziehen; ihm ist mit Blick auf die in diesem Grenzbereich<br />

unter Umständen nur graduellen Unterschiede ein nicht unerheblicher Spielraum eigenverantwortlicher Bewertung<br />

einzuräumen (BVerfG, Beschlüsse vom 6. Juni 1989 - 2 BvL 6/89, BVerfGE 80, 182, 186; vom 10. April 1997 - 2<br />

BvL 45/92, BVerfGE 96, 10, 26). Diesen weiten Gestaltungsspielraum überschreitet die Regelung in § 95 Abs. 1 Nr.<br />

7 AufenthG nicht dadurch, dass sie zur Erfüllung des Vergehenstatbestands eine staatliche Reaktion auf den Erstverstoß<br />

nicht verlangt. § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll es ermöglichen, das Untertauchen eines vollziehbar ausreisepflichtigen<br />

Ausländers zu erschweren <strong>und</strong> die Erfüllung der Ausreisepflicht besser zu überwachen (BT-Drucks.<br />

15/420 S. 92). Die strafrechtliche Sanktion nach § 95 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG hat die wirkungsvolle Durchsetzung<br />

dieses legitimen öffentlichen Interesses im Blick. Sie greift erst nach einem vorsätzlich begangenen Erstverstoß ein,<br />

betrifft mithin nur solche vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer, die sich dem Normbefehl mehrfach bewusst <strong>und</strong><br />

gewollt widersetzen. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> beinhaltet die Sanktionsschärfung von der Ordnungswidrigkeit des<br />

Erstverstoßes hin zu einem Vergehen im Falle der Wiederholung mit einer Strafandrohung von Geldstrafe bis zu<br />

einem Jahr Freiheitsstrafe keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Gr<strong>und</strong>rechte des Betroffenen; sie trägt vielmehr<br />

dem erhöhten Schuldgehalt bei Wiederholungstaten im Bereich des Aufenthaltsgesetzes in nicht zu beanstandender<br />

Weise Rechnung.<br />

(2) Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung eines <strong>Teil</strong>s des Schrifttums (HK-AuslR/Wingerter aaO Rn.<br />

18; Huber/Stoppa aaO Rn. 243 f.) insbesondere nicht aus dem Beschluss des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 10.<br />

April 1997 (BVerfG aaO, BVerfGE 96, 10). Zwar hat das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht dort ausgeführt, die staatliche<br />

Strafandrohung für eine erneute Zuwiderhandlung gegen § 34 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a AsylVfG aF - mithin einer § 95<br />

Abs. 1 Nr. 7 AufenthG vergleichbaren Norm - greife im konkreten Fall erst Platz, nachdem der Angeklagte trotz<br />

einer vorangegangenen Ahndung die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung wiederum nicht beachtet<br />

habe. Eine unter solchen Umständen wiederholte Zuwiderhandlung gegen die Aufenthaltsbeschränkung mit Strafe zu<br />

bedrohen, sei zur Durchsetzung der mit der Regelung verfolgten Zwecke nicht nur geeignet <strong>und</strong> erforderlich; auch<br />

das Übermaßverbot sei nicht verletzt (BVerfG aaO, BVerfGE 96, 10, 26). Das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht hat im<br />

selben Zusammenhang jedoch ausdrücklich betont, dass die genannte Vorschrift nur insoweit überhaupt Gegenstand<br />

der Prüfung sei, als es zu einer vorangegangenen Ahndung - dort: einer jugendgerichtlichen Maßnahme nach § 9 Nr.<br />

1, § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, § 45 Abs. 2, § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 JGG - gekommen sei. Aus seinen Darlegungen lässt<br />

sich deshalb nicht der Schluss ziehen, dass für die Verfassungsmäßigkeit entsprechender Strafvorschriften eine derartige<br />

staatliche Reaktion zwingend erforderlich sein soll.<br />

II. Schließlich kann der Ansicht der Revision nicht gefolgt werden, der Bestrafung des Angeklagten stehe das Meistbegünstigungsprinzip<br />

nach § 2 Abs. 3 <strong>StGB</strong> entgegen. Die die Strafbarkeit des Angeklagten begründenden gesetzlichen<br />

Vorschriften, insbesondere § 95 Abs. 1 Nr. 7 <strong>und</strong> § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, sind nach Begehung der Taten<br />

unverändert geblieben. Dies gilt auch für § 12 Abs. 5 AufenthG, der die Voraussetzungen bestimmt, unter denen die<br />

Ausländerbehörde dem Ausländer das Verlassen des beschränkten Aufenthaltsbereichs erlauben kann. Soweit die<br />

Revision auf die Verordnung der Landesregierung Brandenburg vom 23. Juli 2010 (GVBl. des Landes Brandenburg,<br />

<strong>Teil</strong> II vom 28. Juli 2010) <strong>und</strong> den Erlass Nr. 7/2010 des Ministeriums des Innern des Landes Brandenburg vom 28.<br />

Juli 2010 abstellt, regeln die dort enthaltenen Bestimmungen - soweit hier von Bedeutung - lediglich auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

des § 12 Abs. 5 AufenthG, dass die Ausländerbehörden des Landes Brandenburg durch eine Einzelfallentscheidung<br />

Duldungsinhabern die für die Dauer der Duldung befristete Erlaubnis erteilen sollen, sich vorübergehend in<br />

Berlin aufzuhalten, sofern nicht bestimmte Versagungsgründe vorliegen (vgl. insbesondere Ziffer II. 3. des genannten<br />

Erlasses). Allein dadurch, dass der Angeklagte aufgr<strong>und</strong> dieser neuen Erlasslage nunmehr möglicherweise eine<br />

derartige Dauererlaubnis für den vorübergehenden Aufenthalt in Berlin erlangen könnte, wird die Strafbarkeit seines<br />

abgeurteilten Verhaltens - das im Übrigen nicht ausschließlich Aufenthalte in Berlin betraf - nicht berührt.<br />

243


AufenthG § 95 Abs. 6 Täuschung über Reisezweck<br />

BGH, Beschluss vom 24. Mai 2012 – 5 StR 567/11 - NJW 2012, 2210<br />

LS: Durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden des Ausstellermitgliedstaats über den<br />

wahren Reisezweck erlangte, jedoch formell bestandskräftige Visa von Drittstaatsangehörigen<br />

schließen deren Strafbarkeit wegen illegaler Einreise <strong>und</strong> illegalen Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2, 3<br />

AufenthG) sowie eine Strafbarkeit gemäß den hieran anknüpfenden Schleusungstat-beständen der<br />

§§ 96, 97 AufenthG nach § 95 Abs. 6 AufenthG verfassungsrechtlich unbedenklich nicht aus; Unionsrecht<br />

steht dem nicht entgegen (im Anschluss an die Vorabentscheidung des Gerichtshofs der<br />

Europäischen Union durch Urteil vom 10. April 2012 in der Rechtssache C-83/12 PPU).<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 23. August 2011 wird nach § 349 Abs.<br />

2 StPO als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbs- <strong>und</strong> banden-mäßigen Einschleusens von Ausländern in vier<br />

Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> drei Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete <strong>und</strong> auf<br />

die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten bleibt – nach Erledigung des Vorabentscheidungsersuchens<br />

an den Gerichtshof der Europäischen Union – im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO ohne Erfolg. Der Erörterung<br />

bedarf nur Folgendes:<br />

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen festgestellt:<br />

a) Der Angeklagte gehörte vietnamesischen Banden an, deren Ziel es war, vietnamesische Staatsbürger illegal nach<br />

Deutschland zu verbringen. Eine Bande ging in der Weise vor, dass der ungarischen Botschaft in Vietnam vorgespiegelt<br />

wurde, bei gegen ein Entgelt von 11.000 bis 15.000 $ zu schleusenden vietnamesischen Staatsbürgern handele<br />

es sich um Mitglieder touristischer Reisegruppen. Die vorgeblichen Reisegruppen bestanden jeweils aus 20 bis<br />

30 Personen. In der irrigen Annahme, dass die Reisen tatsächlich stattfinden würden, erteilte die ungarische Botschaft<br />

den Betroffenen Touristenvisa, die einen kurzen Aufenthalt in allen Schengenstaaten ermöglichten. Die Reisen<br />

wurden in den ersten Tagen zum Schein gemäß Reise-programm durchgeführt, bevor die Betroffenen dem vorab<br />

gefassten Tatplan entsprechend von Paris aus in die jeweiligen Zielländer – zumeist Deutschland – weiter transportiert<br />

wurden. Die in Berlin eintreffenden Geschleusten wurden zunächst in so genannten „Safehouses“ untergebracht,<br />

bis sie dann von in Deutschland ansässigen Verwandten abgeholt <strong>und</strong> anderweitig ein-quartiert wurden. Die weitere<br />

Bande machte sich den Umstand zunutze, dass vietnamesische Arbeitskräfte in Schweden als Beerenpflücker auf<br />

wenige Monate befristete Arbeitsvisa erlangen konnten, die einen Aufenthalt im Schengenraum erlaubten. Bei der<br />

Beantragung der Visa wurde den zuständigen Behörden vorgespiegelt, dass die zu schleusenden Personen als Beerenpflücker<br />

arbeiten wollten, während sie in Wahrheit planten, sich unmittelbar nach ihrer Ankunft in Schweden<br />

weiter nach Deutschland oder in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union schleusen zu lassen.<br />

b) Dem – wenngleich nicht wegen ausländerrechtlicher Straftaten, jedoch nicht unerheblich vorgeahndeten – Angeklagten<br />

liegt im Einzelnen zur Last:<br />

aa) Am 21. Juni 2010 nahm er mit zwei anderen Bandenmitgliedern sechs vietnamesische Staatsbürger in Empfang,<br />

die mit erschlichenen ungarischen Touristenvisa von Paris kommend in Berlin eingetroffen waren. Mit einem Mittäter<br />

sorgte er dafür, dass diese <strong>und</strong> drei weitere geschleuste Personen durch Verwandte oder Bekannte abgeholt <strong>und</strong><br />

untergebracht wurden. Dafür erhielt er 500 €. Dem Plan entsprechend tauchten die vietnamesischen Staatsbürger<br />

nach ihrer Ankunft in Deutschland unter (Tat 1).<br />

bb) Am 4. Juli 2010 holte er mit zwei Bandenmitgliedern zehn in gleicher Weise nach Berlin verbrachte vietnamesische<br />

Staatsbürger ab <strong>und</strong> sorgte für deren Unterbringung. Er erhielt Geldleistungen in unbekannter Höhe (Tat 2).<br />

cc) Am 17. Juli 2010 fuhren der Angeklagte <strong>und</strong> ein Mittäter nach Schweden, um den Transport einer Gruppe von<br />

vietnamesischen Staatsangehörigen nach Berlin zu organisieren. Diese hatten unter Hilfestellung der Bande schwedische<br />

Arbeitsvisa als Beerenpflücker erschlichen. Jeder vietnamesische Staatsangehörige hatte für die Schleusung<br />

2.000 € an den Angeklagten zu zahlen. Der Mittäter fuhr mit vier geschleusten Personen am 19. Juli 2010 nach Berlin.<br />

Deren Unterbringung in Berlin wurde von einem weiteren Mittäter durchgeführt (Tat 3).<br />

dd) Anschließend organisierten der deswegen in Schweden verbliebene Angeklagte <strong>und</strong> sein dorthin zurückgekehrter<br />

Mittäter nach gleichem Muster die Schleusung weiterer vietnamesischer Staatsbürger nach Berlin. Auch diese Personen<br />

mussten jeweils 2.000 € an den Angeklagten bezahlen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 2010 wurden acht<br />

244


vietnamesische Staatsangehörige von Schweden nach Berlin verbracht, wo deren Aufnahme <strong>und</strong> Unterbringung<br />

organisiert wurde (Tat 4).<br />

2. Der Schuldspruch wegen gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern (§ 97 Abs. 2 i.V.m. § 96<br />

Abs. 1 Nr. 1 lit. a <strong>und</strong> b i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 3 <strong>und</strong> § 96 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) wird von<br />

den Feststellungen getragen. Entgegen vormaliger Rechtslage (hierzu BGH, Urteil vom 27. April 2005 – 2 StR<br />

457/04, BGHSt 50, 105) schadet es dabei nicht, dass die geschleusten Personen zur Tatzeit jeweils über Visa verfügten,<br />

die formal die Einreise in den Schengenraum <strong>und</strong> den dortigen Aufenthalt erlaubten. Denn nach dem durch Gesetz<br />

zur Umsetzung aufenthalts- <strong>und</strong> asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007<br />

(BGBl. I S. 1970, 1988) eingeführten § 95 Abs. 6 AufenthG steht für die Tatbestände nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 <strong>und</strong> 3<br />

AufenthG einem Handeln ohne erforderlichen Aufenthaltstitel ein Handeln aufgr<strong>und</strong> eines durch falsche Angaben<br />

erschlichenen Aufenthaltstitels gleich.<br />

a) Die Voraussetzungen des § 95 Abs. 6 AufenthG sind erfüllt. Die zu schleusenden Personen gaben – unterstützt<br />

durch im angefochtenen Urteil teils benannte Bandenmitglieder – gegenüber den Amtsträgern der ungarischen Botschaft<br />

in Vietnam bewusst wahrheitswidrig vor, zu touristischen Zwecken bzw. zum Zweck des Beerenpflückens in<br />

Schweden für einen Kurz-aufenthalt in den Schengenraum einreisen zu wollen (vgl. Art. 21 der nach deren Art. 58<br />

Abs. 2 ab dem 5. April 2010 geltenden Verordnung [EG] Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des Rates<br />

vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft, ABl. L 243 vom 15. September 2009, S. 1 – Visakodex –<br />

i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. a, c, d <strong>und</strong> e der Verordnung [EG] Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des Rates<br />

vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, ABl. L 105<br />

vom 13. April 2006, S. 1 – Schengener Grenzkodex –). Demgegenüber hatten sie von Anfang an die Absicht, dauerhaft<br />

in Deutschland zu bleiben, was der Erteilung der Visa zwingend entgegenstand (vgl. Art. 21 Abs. 1 Visakodex,<br />

Art. 5 Abs. 1 lit. e Schengener Grenzkodex; Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 6 Rn. 22). Nur aufgr<strong>und</strong> der Fehlvorstellung<br />

der Amtsträger über den wahren Zweck der Reisen wurden die Visa nach den Feststellungen erteilt.<br />

Soweit das Landgericht die Festnahme eines Angehörigen der ungarischen Botschaft erwähnt (UA S. 9), steht dies<br />

den Feststellungen zu Irrtümern der maßgebenden Funktionsträger nicht entgegen. Im Übrigen wären andernfalls<br />

Fälle der Kollusion nach § 95 Abs. 6 AufenthG gegeben, die zu demselben Ergebnis führen würden. Für die Annahme<br />

deutscher Strafgewalt irrelevant ist, dass sich die Vorgänge zum Erschleichen der Visa im Ausland abgespielt<br />

haben. Das gilt schon deswegen, weil es sich bei § 95 Abs. 6 AufenthG nicht um einen eigenständigen Straftatbestand,<br />

sondern um eine Gleichstellungsklausel in Bezug auf das in § 95 Abs. 1 Nr. 2, 3 AufenthG normierte (negative)<br />

Tatbestandsmerkmal des Fehlens eines erforderlichen Aufenthaltstitels handelt (vgl. Wohlers JZ 2001, 850, 853<br />

f.; aM wohl Stoppa in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2010, § 95 Rn. 368 ff.; Schott, Einschleusen von Ausländern, 2.<br />

Aufl., S. 280 ff.).<br />

b) § 95 Abs. 6 AufenthG stellt für die Fälle des unerlaubten Aufenthalts <strong>und</strong> der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1<br />

Nr. 2, 3 AufenthG) ein Handeln aufgr<strong>und</strong> eines solchermaßen erlangten Aufenthaltstitels einem Handeln ohne den<br />

erforderlichen Aufenthaltstitel gleich. Die Vorschrift bewirkt in den relevanten Fällen trotz Vorhandensein eines<br />

verwaltungsrechtlich formell bestandskräftigen Aufenthaltstitels eine Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 <strong>und</strong> 3 AufenthG,<br />

die ihrerseits den Anknüpfungspunkt für die „Schleusungstatbestände“ nach §§ 96, 97 AufenthG bilden können<br />

(aM Schott, aaO, S. 283 f.).<br />

aa) Dass der Gesetzgeber diese Rechtsfolge herbeiführen wollte, unterliegt keinem Zweifel. Unter anderem mit der<br />

Einführung des § 95 Abs. 6 AufenthG reagierte er auf das Urteil des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 27. April 2005<br />

(BGHSt aaO). Darin wurde entschieden, dass ausländerrechtlichen Erlaubnissen für die verwaltungsakzessorischen<br />

Straftatbestände des Aufenthaltsgesetzes Tatbestandswirkung zukommt, weswegen rechtsmissbräuchlich erlangte,<br />

jedoch formell wirksame Einreise- oder Aufenthaltsgenehmigungen (Visa) die Strafbarkeit wegen illegaler Einreise<br />

<strong>und</strong> illegalen Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 <strong>und</strong> 3, auch i.V.m. § 96 Abs. 1 AufenthG) ausschließen (BGHSt aaO, S.<br />

110 ff.). Der Behebung von Strafbarkeitslücken aufgr<strong>und</strong> dieser Entscheidung dienten verschiedene im genannten<br />

Gesetz enthaltene Maßnahmen (hierzu Regierungsentwurf, BT-Drucks. 16/5065 S. 164, 182 f., 199). Mit dem an §<br />

330d Nr. 5 <strong>StGB</strong> angelehnten § 95 Abs. 6 AufenthG wollte der Gesetzgeber sämtliche Fälle erfassen, „in denen die<br />

strafbefreiende Genehmigung auf unlautere Weise erlangt worden ist“ (BT-Drucks. 16/5065 S. 199; vgl. hierzu auch<br />

den diesbezüglichen Hinweis in BGHSt aaO, S. 115).<br />

bb) In § 95 Abs. 6 AufenthG hat der gesetzgeberische Wille auch unter dem Blickwinkel des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots<br />

(Art. 103 Abs. 2 GG) hinreichenden Niederschlag gef<strong>und</strong>en. Für die illegale Einreise erscheint<br />

dies eindeutig <strong>und</strong> wird im Schrifttum soweit ersichtlich auch nicht bestritten (vgl. MünchKomm-<strong>StGB</strong>/Gericke, 1.<br />

Aufl., § 95 AufenthG Rn. 107). Gleiches gilt indessen entgegen vereinzelten Stimmen in der Literatur (Gericke, aaO,<br />

245


§ 95 AufenthG Rn. 28; Schott, aaO, S. 282 f.) auch in Bezug auf § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (so im Ergebnis der<br />

Großteil des Schrifttums, vgl. Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand April 2010, § 95 AufenthG<br />

Rn. 11a; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 22; Mosbacher in GK/AufenthG,<br />

Stand Juli 2008, § 95 Rn. 57; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Oktober 2010, § 95 AufenthG Rn. 110; Brocke,<br />

NStZ 2009, 546, 548). Allerdings ersetzt § 95 Abs. 6 AufenthG ausdrücklich nur das Fehlen des erforderlichen Aufenthaltstitels<br />

<strong>und</strong> erwähnt die weitere in § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG enthaltene Voraussetzung einer vollziehbaren<br />

Ausreisepflicht nicht. Der Umstand, dass ein formell bestandskräftiger Aufenthaltstitel gr<strong>und</strong>sätzlich eine vollziehbare<br />

Ausreisepflicht hindert, führt indessen nicht dazu, dass die ausdrücklich auch auf § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG<br />

zielende Regelung des § 95 Abs. 6 AufenthG „fehlgeschlagen“ ist (so Gericke, aaO; Schott, aaO). Aus der Gleichstellung<br />

des Handelns auf Gr<strong>und</strong> eines erschlichenen Aufenthaltstitels mit dem Handeln ohne Aufenthaltstitel folgt<br />

vielmehr auch, dass im Rahmen der Strafvorschriften des § 95 Abs. 1 Nr. 2 <strong>und</strong> 3 AufenthG die mit einem erschlichenen<br />

Aufenthaltstitel erfolgte Einreise als unerlaubt <strong>und</strong> die Ausreisepflicht somit als vollziehbar anzusehen ist<br />

(vgl. § 58 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Ausdrücklicher Erwähnung im Gesetzestext bedarf dies nicht zwingend.<br />

c) Über eine Duldung verfügten die eingeschleusten Personen nicht. Im Hinblick darauf, dass sie sich im B<strong>und</strong>esgebiet<br />

von vornherein vor den Behörden verborgen haben, stellt sich die Frage eines die Erfüllung des Tatbestands<br />

ausschließenden hypothetischen Duldungsanspruchs (hierzu BVerfG – Kammer – NStZ 2003, 488, 489) mithin nicht<br />

(BGH, Urteil vom 6. Oktober 2004 – 1 StR 76/04, BGHR AuslG § 92 Unerlaubter Aufenthalt 4 mwN; Beschluss<br />

vom 2. September 2009 – 5 StR 266/09, BGHSt 54, 140, 142).<br />

d) § 95 Abs. 6 AufenthG lockert im vorbezeichneten Umfang die Akzessorietät der betroffenen Strafrechtsbestimmungen<br />

zum – unionsrechtlich ausgeformten – Verwaltungsrecht. Im Hinblick darauf, dass zur Beurteilung unionsrechtlicher<br />

Zulässigkeit eines solchen Konzepts einschlägige oder übertragbare Rechtsprechung des Europäischen<br />

Gerichtshofs nicht ersichtlich gewesen ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. Oktober 2011 – 2 BvR 1969/09 Rn. 25,<br />

<strong>und</strong> vom 22. September 2011 – 2 BvR 947/11 Rn. 14, jeweils mwN), hat der Senat dem Gerichtshof der Europäischen<br />

Union mit Beschluss vom 8. Februar 2012 (vgl. auch BGH, Beschluss vom 10. Januar 2012 – 5 StR 351/11,<br />

wistra 2012, 152) gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. a, Abs. 3 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:<br />

„Sind die die Erteilung <strong>und</strong> Annullierung eines einheitlichen Visums regelnden Art. 21, 34 der Verordnung (EG) Nr.<br />

810/2009 des Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft<br />

(ABl. L 243 vom 15. September 2009, S. 1, Visakodex – VK) dahin auszulegen, dass sie einer aus der Anwendung<br />

nationaler Rechtsvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Einschleusens von Ausländern in Fällen entgegenstehen,<br />

in denen die geschleusten Personen zwar über ein Visum verfügen, dieses aber durch arglistige Täuschung<br />

der zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaates über den wahren Reisezweck erlangt haben?“ Mit Urteil<br />

vom 10. April 2012 (Rechtssache C-83/12 PPU) hat der Gerichtshof auf das Vorabentscheidungsersuchen hin für<br />

Recht erkannt: „Die Art. 21 <strong>und</strong> 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des Rates<br />

vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) sind dahin auszulegen, dass sie einer aus der<br />

Anwendung nationaler Rechtsvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Einschleusens von Ausländern in Fällen,<br />

in denen die geschleusten Personen, die Drittstaatsangehörige sind, über ein Visum verfügen, das sie durch arglistige<br />

Täuschung der zuständigen Behörden des Ausstellermitgliedstaats über den wahren Reisezweck erlangt haben<br />

<strong>und</strong> das nicht zuvor annulliert worden ist, nicht entgegenstehen.“ Bei Anwendung dieser Rechtsprechung auf den<br />

vorliegenden Fall ist das Landgericht in Einklang mit dem Unionsrecht davon ausgegangen, dass die formell vorhandenen<br />

Visa der geschleusten Personen wegen Erfüllung des § 95 Abs. 6 AufenthG einer Strafbarkeit des Angeklagten<br />

nicht entgegenstehen.<br />

e) Auch durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken sind nicht gegeben. Die Lockerung der Verwaltungsakzessorietät<br />

hat § 95 Abs. 6 AufenthG mit § 330d Nr. 5 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> ähnlichen Bestimmungen (§ 34 Abs. 8 AWG, § 16<br />

Abs. 4 CWÜAG) gemein. Einfachrechtlich liegen diese Maßnahmen im Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers.<br />

Der verfassungsrechtlich gewährleistete Vertrauensschutz ist mangels schutzwürdigen Vertrauens der geschleusten<br />

Personen <strong>und</strong> der diese unterstützenden Mitglieder der Schleuserorganisationen offensichtlich nicht verletzt (vgl.<br />

Gericke, aaO, § 95 AufenthG Rn. 107, Heine in Schönke/Schröder, <strong>StGB</strong>, 28. Aufl., § 330d Rn. 27 mit zahlreichen<br />

Nachweisen). Auch der Gr<strong>und</strong>satz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung (vgl. dazu etwa BVerfGE 116, 164<br />

mwN) hindert nicht, einer durch die Beteiligten rechtsmissbräuchlich erlangten rechtswidrigen Erlaubnis, die aus<br />

diesem Gr<strong>und</strong>e von den zuständigen Verwaltungsbehörden zu „annullieren“, also mit Wirkung ex tunc aufzuheben<br />

(vgl. Art. 34 Abs. 1 Visakodex) <strong>und</strong> damit aus von den Betroffenen selbst zu verantwortenden Gründen von Anfang<br />

an schwer fehlerbehaftet ist, eine die Strafbarkeit ausschließende Wirkung zu versagen (für § 330d Nr. 5 <strong>StGB</strong> hM,<br />

vgl. etwa Heine, aaO, § 330d Rn. 27; LK-<strong>StGB</strong>/Steindorf, 11. Aufl., § 330d Rn. 6; SSW-<strong>StGB</strong>/Saliger, 2009, § 330d<br />

Rn. 15; Wohlers, aaO, S. 854 f.; je mwN auch zur Gegenansicht; siehe auch Hecker in Sieber u.a., Europäisches<br />

246


Strafrecht, 2011, § 28 Rn. 17). Vielmehr verhilft die Regelung dem gleichfalls verfassungsrechtlich abgesicherten<br />

Gebot wirksamer Verfolgung <strong>und</strong> Ahndung von Straftaten (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 27. März 2012 – 2<br />

BvR 2258/09 Rn. 50 mwN) zum Erfolg. Typischerweise ist eine formell erklärte Annullierung der Visa in Konstellationen<br />

wie der hier zu beurteilenden weder vor noch nach der Einreise der geschleusten Personen faktisch möglich.<br />

Dementsprechend würden die einschlägigen Tatbestände ohne Bestand des § 95 Abs. 6 AufenthG weitgehend leerlaufen.<br />

Wenn der Gesetzgeber den vordergründigen Widerstreit der genannten Belange dahin auflöst, dass er dem<br />

Gebot effektiver Verfolgung <strong>und</strong> Ahndung von Straftaten den Vorrang gibt, so ist dies von Verfassungs wegen nicht<br />

zu beanstanden.<br />

3. Eines Anfrageverfahrens zum Zweck der Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen (§ 132 Abs. 2, 3 GVG) im<br />

Hinblick auf BGHSt aaO bedurfte es nach der seither erfolgten Gesetzesänderung nicht (vgl. BGH, Be-schluss vom<br />

23. Mai 2011 – 5 StR 394, 440, 474/10, BGHSt 56, 248, 251 mwN).<br />

BtmG § 29, § 13 I S.2 rechtlichen Grenzen einer Substitutionsbehandlung<br />

BGH, Urt. V. 02.02.2012 - 3 StR 321/11 - NStZ 2012, 337<br />

Zu den rechtlichen Grenzen einer Substitutionsbehandlung gem. § 13 Abs. 1 Satz 2 BtMG.<br />

1. Auf die Revisionen des Angeklagten <strong>und</strong> der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom<br />

15. Februar 2011 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.<br />

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil darüber hinaus mit den Feststellungen aufgehoben,<br />

soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist mit Ausnahme des Freispruchs zu den Fällen unter C.X.<br />

der Urteilsgründe (Fälle 940 bis 942 der Anklageschrift). Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung<br />

<strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel <strong>und</strong> die dem Angeklagten durch die Revision der<br />

Staatsanwaltschaft entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision der Staatsanwaltschaft wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Abgabe von Betäubungsmitteln in 49 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Vom<br />

Vorwurf des Verschreibens von Betäubungsmitteln in 829 Fällen <strong>und</strong> vom Vorwurf des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln<br />

in drei Fällen hat es den Angeklagten freigesprochen. Weiter hat es das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen<br />

Verfahrensverzögerung festgestellt <strong>und</strong> für den Fall, dass die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen<br />

werde, angeordnet, dass zwei Monate der Gesamtfreiheitsstrafe für vollstreckt gelten. Es hat dem Angeklagten untersagt,<br />

für die Dauer von drei Jahren Substitutionsbehandlungen durchzuführen. Die zuungunsten des Angeklagten<br />

eingelegte, vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie das Verfahren beanstandet<br />

<strong>und</strong> die allgemeine Sachrüge erhebt, ist zum überwiegenden <strong>Teil</strong> begründet. Die Revision des Angeklagten,<br />

mit der er die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachbeschwerde Erfolg.<br />

A.<br />

I. Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage hatte die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten,<br />

der über eine Erlaubnis zum Verkehr mit Betäubungsmitteln nicht verfügt, zur Last gelegt, in der Zeit von Januar<br />

2004 bis Mai 2006 in 110 Fällen (Fälle 830 bis 939 der Anklageschrift) Betäubungsmittel unerlaubt abgegeben zu<br />

haben, indem er in seiner Eigenschaft als mit der Substitution Betäubungsmittelabhängiger befasster Arzt für Patienten<br />

bestimmtes Methadon oder Levomethadon ("L-Polamidon") an Dritte mit dem Auftrag übergeben habe, es den<br />

an der Substitutionsbehandlung <strong>Teil</strong>nehmenden auszuhändigen. Weiter hatte sie dem Angeklagten vorgeworfen, in<br />

diesem Tatzeitraum in 829 Fällen (Fälle 1 bis 829 der Anklageschrift) Betäubungsmittel entgegen den Vorgaben des<br />

Betäubungsmittelgesetzes verschrieben zu haben, da die Substitutionsbehandlung des Angeklagten, in deren Rahmen<br />

die Verschreibungen vorgenommen worden seien, den gesetzlichen Bestimmungen nicht entsprochen habe, <strong>und</strong> in<br />

drei Fällen (Fälle 940 bis 942 der Anklageschrift) mit Betäubungsmitteln gehandelt zu haben, indem er einem Patienten<br />

Methadon gegen Zahlung eines Entgelts überlassen habe. Im Übrigen hatte sie gemäß § 154 Abs. 1 StPO von der<br />

Verfolgung weiterer, nicht angeklagter Taten abgesehen bzw. gemäß § 154a Abs. 1 StPO die Strafverfolgung auf die<br />

angeklagten Gesetzesverletzungen beschränkt.<br />

II. Das Landgericht hat nach Einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO in neun Fällen den Angeklagten<br />

in 49 Fällen (Fälle A.IV.3 der Urteilsgründe) der Abgabe von Betäubungsmitteln (Methadongemisch mit einem<br />

247


Anteil von 1% Methadonhydrochlorid) schuldig gesprochen. Dabei hat es einzelne Fälle einer Herausgabe von Methadon<br />

zugunsten des Angeklagten zu einer Bewertungseinheit zusammengefasst, da es nicht habe ausschließen<br />

können, dass die Gaben aus einer einheitlichen größeren Lieferung einer Apotheke gestammt hätten. In einem <strong>Teil</strong><br />

der Fälle hat es die zusätzliche oder neuerliche Mitgabe von Methadon verneint, in einem Fall hat es sich nicht von<br />

einer Tatbeteiligung des Angeklagten zu überzeugen vermocht. Insoweit hat es aufgr<strong>und</strong> seiner konkurrenzrechtlichen<br />

Bewertung - tateinheitliche statt, wie angeklagt <strong>und</strong> zur Gr<strong>und</strong>lage des Eröffnungsbeschlusses gemacht, tatmehrheitliche<br />

Begehung - von einem <strong>Teil</strong>freispruch abgesehen. Von einem gewerbsmäßigen Handeln des Angeklagten<br />

ist es nicht ausgegangen, weil für sein Tun nicht leitend gewesen sei, sich eine fortlaufende Einnahmequelle von<br />

einigem Umfang <strong>und</strong> einiger Dauer zu verschaffen. In den Fällen 1 bis 829 der Anklageschrift (Fälle C.I. der Urteilsgründe)<br />

hat es den Angeklagten freigesprochen <strong>und</strong> hierzu ausgeführt, eine Strafbarkeit wegen einer Verschreibung<br />

von Betäubungsmitteln im Zuge einer ärztlichen Substitutionsbehandlung komme nur dann in Betracht, wenn<br />

der Arzt Substitutionsmittel entweder einem nicht-opiatabhängigen Patienten verschreibe oder dies mit der Zielsetzung<br />

einer intravenösen Anwendung oder in Kenntnis nachfolgender körperlicher Beeinträchtigungen oder in dem<br />

Wissen um eine anderweitige Substitutionsbehandlung tue; diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt gewesen.<br />

Es hat weiter angenommen, dem Angeklagten, einem approbierten niedergelassenen Arzt, der im Jahr 2000 einen<br />

insgesamt fünfzigstündigen Lehrgang zu den betäubungsmittelrechtlichen Vorgaben einer Substitutionsbehandlung<br />

absolviert habe, habe jedenfalls der erforderliche Vorsatz gefehlt, sofern eine Verschreibung engeren Voraussetzungen<br />

als den vom Landgericht angenommenen unterlegen habe. In den Fällen 940 bis 942 der Anklageschrift (Fälle<br />

C.X. der Urteilsgründe) ist es zu einem Freispruch gelangt, weil es nicht die Überzeugung gewonnen hat, Zahlungen<br />

des Patienten an den Angeklagten hätten in Zusammenhang mit der Überlassung von Betäubungsmitteln gestanden.<br />

B.<br />

I. Die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der der gesamte Urteilsausspruch zur Überprüfung des Senats steht, ist<br />

mit der allgemeinen Sachrüge überwiegend erfolgreich. Die nach § 301 StPO zugunsten des Angeklagten gebotene<br />

Überprüfung hat Rechtsfehler auch zu seinem Nachteil ergeben, soweit er verurteilt worden ist. Auf die von der<br />

Staatsanwaltschaft erhobenen Verfahrensrügen kommt es nicht an.<br />

1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Abgabe von Betäubungsmitteln in 49 Fällen, bei der das Landgericht im<br />

Ausgangspunkt zutreffend die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Gr<strong>und</strong>sätze (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 4. Juni 2008 - 2 StR 577/07, BGHSt 52, 271, 273 f.; Beschluss vom 28. Juli 2009 - 3 StR 44/09, BGHR<br />

BtMG § 13 Abs. 1 Abgabe 1) zugr<strong>und</strong>e gelegt hat, hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />

a) Die getroffenen Feststellungen ergeben keine hinreichende Gr<strong>und</strong>lage für die konkurrenzrechtliche Bewertung des<br />

Landgerichts, in den Fällen 1 bis 3, 5, 6, 8, 10 bis 12, 14, 16 bis 23, 27 bis 32, 34 bis 36, 38 <strong>und</strong> 47 bis 49 unter<br />

A.IV.3 der Urteilsgründe sei von einer tateinheitlichen statt von einer durchgängig tatmehrheitlichen Begehungsweise<br />

auszugehen.<br />

aa) Sämtliche Betätigungen, die sich auf den Vertrieb derselben, in einem Akt erworbenen Betäubungsmittel beziehen,<br />

sind als eine Tat anzusehen, wenn bereits der Erwerb der Betäubungsmittel, die zum Zweck der Weitergabe<br />

beschafft werden, den Tatbestand einer Variante des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG in Bezug auf die Gesamtmenge<br />

erfüllt; denn in diesem Fall bilden die aus dem einheitlich bezogenen Betäubungsmittelvorrat vorgenommenen Weitergaben<br />

von Einzelmengen lediglich unselbständige <strong>Teil</strong>akte ein <strong>und</strong> desselben strafbaren Güterumsatzes im Sinne<br />

einer strafrechtlichen Bewertungseinheit (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juli 1997 - 4 StR 222/97, BGHR BtMG § 29<br />

Bewertungseinheit 15). Ist der Erwerb des Betäubungsmittelvorrats dagegen für sich nicht strafbewehrt <strong>und</strong> greift<br />

eine Strafnorm des Betäubungsmittelgesetzes erst mit der Weitergabe hieraus entnommener <strong>Teil</strong>mengen ein, fehlt es<br />

an einem die Einzeltaten zu einer Bewertungseinheit verbindenden einheitlichen Güterumsatz.<br />

bb) Ob schon der Erwerb der Substitutionsmittel den Straftatbestand des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG erfüllte,<br />

lässt sich den Feststellungen des Landgerichts nicht entnehmen, weil die Urteilsgründe über den Hinweis, sie hätten<br />

aus dem Bestand einer Apotheke gestammt, keine weitere Aufklärung darüber geben, auf welche Weise der Angeklagte<br />

an die Substitutionsmittel gelangte. Feststellungen zu einem Erwerb nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a BtMG<br />

fehlen. Insbesondere zu den Voraussetzungen der § 2 Abs. 3, § 5 Abs. 5 Satz 2, Abs. 7 Satz 2 BtMVV bzw. zu einem<br />

Erwerb zu gesetzlich zulässigen Zwecken <strong>und</strong> nicht schon mit dem Ziel einer Abgabe entgegen betäubungsmittelrechtlicher<br />

Vorschriften ist den Urteilsgründen hinreichendes nicht zu entnehmen. Deshalb kommt eine Änderung<br />

des Schuldspruchs durch den Senat in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO nicht in Betracht. Vielmehr<br />

wird der neue Tatrichter die angeklagten Taten trotz der Beschränkung der Strafverfolgung auf die Abgabe von<br />

Betäubungsmitteln unter dem Aspekt der tateinheitlichen (§ 264 StPO) Mitverwirklichung weiterer Varianten des §<br />

29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG zu untersuchen <strong>und</strong> danach das Konkurrenzverhältnis zu bestimmen haben; denn die<br />

248


Verfahrensbeschränkung nach § 154a Abs. 1 StPO hat auf die konkurrenzrechtliche Bewertung keinen Einfluss (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 6. September 1988 - 1 StR 481/88, BGHR StPO § 154a Klammerwirkung 1).<br />

b) Rechtsfehlerhaft hat das Landgericht in diesem Tatkomplex darüber hinaus zulasten des Angeklagten von einem<br />

<strong>Teil</strong>freispruch abgesehen, soweit es sich nicht von einer Täterschaft des Angeklagten hat überzeugen können. Sämtliche<br />

Fälle der unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln waren als tatmehrheitlich begangen (§ 53 <strong>StGB</strong>) angeklagt;<br />

dem ist das Landgericht im Eröffnungsbeschluss gefolgt. Es hätte deshalb, um den Eröffnungsbeschluss zu<br />

erschöpfen, ohne Rücksicht auf die dem Urteil zugr<strong>und</strong>e gelegte konkurrenzrechtliche Bewertung den Angeklagten<br />

teilweise freisprechen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 24. September 1998 - 4 StR 272/98, BGHSt 44, 196, 202;<br />

Beschluss vom 30. Mai 2008 - 2 StR 174/08, NStZ-RR 2008, 287; Beschluss vom 3. Juni 2008 - 3 StR 163/08,<br />

NStZ-RR 2008, 316; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 260 Rn. 13).<br />

c) Der Senat hebt den gesamten Schuldspruch samt der zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) auf, um dem<br />

neuen Tatrichter in Anbetracht der eng verwobenen Tatvorwürfe eine umfassende Beurteilung zu ermöglichen. Damit<br />

entfällt der gesamte Rechtsfolgenausspruch.<br />

2. Weiter unterliegt das Urteil samt den insoweit getroffenen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO, vgl. Meyer-Goßner,<br />

aaO, § 353 Rn. 15a) der Aufhebung, soweit das Landgericht den Angeklagten vom Vorwurf des unerlaubten Verschreibens<br />

von Betäubungsmitteln in den Fällen unter C.I. der Urteilsgründe (Fälle 1 bis 829 der Anklageschrift)<br />

freigesprochen hat; denn es hat hierzu aufgr<strong>und</strong> eines rechtsfehlerhaften Beurteilungsmaßstabs nur unzureichende<br />

Feststellungen getroffen.<br />

a) Ein im Rahmen der Substitutionsbehandlung von Betäubungsmittelabhängigen tätiger Arzt verstößt gegen § 29<br />

Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a BtMG, wenn er als Substitutionsmittel verwendete Betäubungsmittel der in Anlage III<br />

zum Betäubungsmittelgesetz bezeichneten Art entgegen § 13 Abs. 1 BtMG verschreibt (BGH, Urteil vom 4. Juni<br />

2008 - 2 StR 577/07, BGHSt 52, 271, 273). Nach § 13 Abs. 1 BtMG dürfen die in Anlage III zum Betäubungsmittelgesetz<br />

bezeichneten Betäubungsmittel von Ärzten nur dann verschrieben werden, wenn ihre Anwendung am oder im<br />

menschlichen Körper begründet ist. Eine Substitutionsbehandlung ist nach § 13 Abs. 1 Satz 2 BtMG nur als ultima<br />

ratio zulässig (vgl. Nestler, MedR 2009, 211, 214). Eine Verschreibung von Betäubungsmitteln ohne Indikationsstellung<br />

<strong>und</strong> ohne Prüfung von Behandlungsalternativen ist unbegründet <strong>und</strong> nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a<br />

BtMG strafbar (Körner/Patzak, BtMG, 7. Aufl., § 29 <strong>Teil</strong> 15 Rn. 14 a.E.), weil sie nicht gewährleistet, dass gegebenenfalls<br />

andere <strong>und</strong> damit vorrangige Behandlungsmethoden zur Anwendung kommen.<br />

b) Gleiches gilt, wenn der Substitutionsbehandlung eine unzureichende ärztliche Kontrolle zugr<strong>und</strong>e liegt (Körner/Patzak,<br />

aaO, § 29 <strong>Teil</strong> 15 Rn. 21 a.E.), wobei § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 BtMVV der Umfang der erforderlichen<br />

ärztlichen Begleitung <strong>und</strong> damit die innerhalb der § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a, § 13 BtMG verbindliche Richtschnur<br />

der sorgfältigen Substitutionsbehandlung zu entnehmen ist (Körner/Patzak, aaO, § 29 <strong>Teil</strong> 15 Rn. 41 a.E.).<br />

Einer Strafbarkeit nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a BtMG wegen einer unzureichenden ärztlichen Begleitung<br />

der Substitutionsbehandlung steht nicht entgegen, dass eine Verschreibung unter Missachtung des § 5 Abs. 2 Satz 1<br />

Nr. 5 BtMVV nicht nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 14 BtMG, § 16 Nr. 2 Buchst. a BtMVV bestraft werden kann. § 29<br />

Abs. 1 Satz 1 Nr. 14 BtMG in Verbindung mit der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung sanktioniert Verstöße<br />

gegen formelle Voraussetzungen der Substitutionsbehandlung. Materielle Zuwiderhandlungen, zu denen es<br />

gehört, wenn der Arzt Substitutionsmittel verschreibt, obwohl er sich nicht fortlaufend in Übereinstimmung mit der<br />

Subsidiaritätsregel des § 13 Abs. 1 Satz 2 BtMG über die Fortschritte der Behandlung unterrichtet, sind nach § 29<br />

Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a BtMG strafbar, ohne dass § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 14 BtMG Sperrwirkung entfaltet<br />

(Nestler, MedR 2009, 211, 215; aA von Glahn, ZAP Fach 21, S. 213, 215 f.).<br />

c) Diese Maßgaben einer zulässigen Substitutionsbehandlung sind aus den §§ 29, 13 BtMG, § 5 BtMVV ohne weiteres<br />

ersichtlich, so dass für den Arzt als Adressaten der Strafnorm - den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 17. Mai 1991 - 3 StR 8/91, BGHSt 37, 383, 384 f.; Nestler, MedR 2009, 211, 215)<br />

- klar erkennbar ist, unter welchen Voraussetzungen er sich durch das Verschreiben eines zur ärztlichen Medikation<br />

zugelassenen Substitutionsmittels strafbar macht.<br />

d) Zu den gesetzlichen Voraussetzungen ordnungsgemäßer Verschreibungen fehlen hinreichende Feststellungen. Das<br />

Landgericht hat sich lediglich mit der Ermittlung des für die Erfüllung der Verschreibungsvoraussetzungen im Rahmen<br />

einer Substitutionsbehandlung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 2 <strong>und</strong> 4 Buchst. c BtMVV gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2<br />

BtMVV maßgebenden Standes der medizinischen Wissenschaft befasst <strong>und</strong> sich weitestgehend auf die Prüfung<br />

beschränkt, ob dieser vom Angeklagten gewahrt wurde. Ob die in § 5 Abs. 2 Satz 1 BtMVV aufgezählten sonstigen<br />

rechtlichen Voraussetzungen einer zulässigen Verschreibung zu Substitutionszwecken erfüllt wurden, hat es dagegen<br />

nicht oder nur unzureichend in den Blick genommen. Insbesondere der Frage der Eingangs- <strong>und</strong> fortlaufender Kontrolluntersuchungen<br />

(§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 BtMVV) durch den Angeklagten <strong>und</strong> der Erstellung eines auf das Errei-<br />

249


chen einer Betäubungsmittelabstinenz zielenden Behandlungskonzepts als Voraussetzungen einer betäubungsmittelrechtlich<br />

unbedenklichen Verschreibung von Substitutionsmitteln ist es nicht weiter nachgegangen. Eine regelmäßige<br />

oder gar wöchentliche Konsultation des Angeklagten hat es nicht festgestellt, sondern festgehalten, ein "direkter<br />

Arzt-Patienten-Kontakt" habe hauptsächlich stattgef<strong>und</strong>en, "wenn der Patient ein konkretes Anliegen, z.B. körperliche<br />

Beschwerden <strong>und</strong>/oder den Wunsch nach Änderung der Dosierung", gehabt habe. Regelmäßiger, vom Angeklagten<br />

initiierter Konsultationen hätte es indessen bedurft, um eine Verschreibung von Substitutionsmitteln in Einklang<br />

mit § 13 BtMG zu bringen. "[A]ußerhalb einer förmlichen Untersuchungssituation, z.B. am Tresen", "im Vorbeigehen"<br />

oder über den Mobilfunkanschluss geführte Gespräche des Angeklagten mit Patienten, bei denen eine körperliche<br />

Untersuchung oder eine Unterredung unter vier Augen nicht stattfand <strong>und</strong> entsprechend der Fortschritt der Substitutionstherapie<br />

<strong>und</strong> die weiter unabdingbare Verschreibung von Substitutionsmitteln nicht überprüft werden konnten,<br />

waren entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht geeignet, den gesetzlichen, insoweit einer abweichenden<br />

Bewertung aufgr<strong>und</strong> sachverständiger Beweiserhebung zu alternativen Behandlungsansätzen nicht zugänglichen<br />

Anforderungen Genüge zu tun.<br />

e) Das Landgericht hat darüber hinaus ein vorsätzliches - im Gegensatz zu einem bloß fahrlässigen <strong>und</strong> damit im<br />

Gegenschluss nach § 29 Abs. 4 BtMG nicht strafbaren - Handeln des Angeklagten aufgr<strong>und</strong> unzureichender Feststellungen<br />

verneint. Der das Substitutionsmittel entgegen § 13 BtMG verschreibende Arzt handelt vorsätzlich, wenn er<br />

zumindest billigend in Kauf nimmt, dass seine Verschreibung nicht den gesetzlichen Vorschriften entspricht <strong>und</strong><br />

Verschreibungen von Betäubungsmitteln ohne Untersuchung oder ohne medizinische Indikation bzw. ohne ausreichende<br />

Kontrolle einen ärztlichen Kunstfehler darstellen (Körner/Patzak, aaO, § 29 <strong>Teil</strong> 15 Rn. 47). Mit der Frage<br />

diesbezüglicher (Er-)Kenntnisse des Angeklagten hat sich das Landgericht nicht hinreichend befasst. Es hat allein<br />

aufgr<strong>und</strong> des Umstands erhebliche Zweifel am subjektiven Tatbestand des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a BtMG<br />

gehegt, dass es bei der Ermittlung des allgemein anerkannten Stands der medizinischen Wissenschaft nach § 5 Abs. 2<br />

Satz 2 BtMVV in der Hauptverhandlung erhebliche Zeit aufgewandt <strong>und</strong> divergierende Auffassungen ermittelt hat.<br />

Der Stand der medizinischen Wissenschaft spielt indessen für die rechtliche Voraussetzung hinreichender Untersuchungen<br />

als Maßgabe einer zulässigen Substitutionsbehandlung keine Rolle. Das Landgericht hätte daher der Frage<br />

nachgehen müssen, ob der Angeklagte im Zuge des von ihm im Jahr 2000 absolvierten Lehrgangs - den Vorwurf<br />

bedingt vorsätzlichen Handelns im angeklagten Zeitraum begründend - über die gesetzlichen Voraussetzungen einer<br />

Substitutionsbehandlung unterrichtet worden war.<br />

3. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist dagegen unbegründet, soweit sie sich gegen den Freispruch in den Fällen<br />

unter C.X. der Urteilsgründe (Fälle 940 bis 942 der Anklageschrift) richtet.<br />

a) Das Landgericht ist für sich genommen rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, der Angeklagte könne in diesen drei<br />

Fällen nicht des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln schuldig gesprochen werden, weil ihm ein eigennütziges<br />

Verhalten als Voraussetzung eines täterschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (vgl. BGH, Urteil vom<br />

24. Juni 1986 - 5 StR 153/86, BGHSt 34, 124, 126; Beschluss vom 28. Juli 2009 - 3 StR 44/09, BGHR BtMG § 13<br />

Abs. 1 Abgabe 1; Beschluss vom 18. Januar 2011 - 3 StR 479/10, juris; st. Rspr.) nicht nachweisbar sei. Es hat in<br />

einer den Anforderungen des § 267 Abs. 5 StPO genügenden Weise dargelegt, es habe Zahlungen zugunsten des<br />

Angeklagten Zug um Zug gegen die Übergabe von Methadon nicht festgestellt.<br />

b) Dass das Landgericht die angeklagten Taten nicht (auch) unter dem Gesichtspunkt der unerlaubten Abgabe von<br />

Betäubungsmitteln gewertet hat, führt nicht zum Erfolg der Revision der Staatsanwaltschaft. Zwar ist der Tatrichter<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich gehalten, die angeklagte Tat unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu würdigen.<br />

Dieser Kognitionspflicht dürfen aber keine verfahrensrechtlichen Hindernisse entgegenstehen. Wird die Strafverfolgung<br />

wie hier durch die Staatsanwaltschaft vor Anklageerhebung nach § 154a Abs. 1 StPO auf eine Gesetzesverletzung<br />

- konkret das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln - beschränkt, so können, wie sich aus der Notwendigkeit<br />

einer formellen Wiedereinbeziehung nach § 154a Abs. 3 Satz 1 StPO ergibt, zunächst ausgeschiedene Gesetzesverletzungen<br />

nur dann Gegenstand einer Verurteilung sein, wenn die Entscheidung über die Beschränkung zuvor<br />

rückgängig gemacht wird. Da es sich hierbei um einen Verfahrensvorgang handelt, kann die unterbliebene Wiedereinbeziehung<br />

als Verfahrensverstoß nur mit einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden,<br />

von der Staatsanwaltschaft indessen nicht erhobenen Verfahrensbeschwerde gerügt werden. Die Beanstandung einer<br />

Verletzung materiellen Rechts genügt nicht (vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember 1995 - 4 StR 370/95, BGHR StPO<br />

§ 154a Abs. 3 Wiedereinbeziehung 3; Meyer-Goßner, aaO, § 264 Rn. 12 a.E.). Der Senat ist an der daher gebotenen<br />

teilweisen Verwerfung der Revision der Staatsanwaltschaft nicht durch das Urteil des 1. Strafsenats vom 18. Juli<br />

1995 (1 StR 320/95, NStZ 1995, 540) gehindert. Denn soweit dort die Ansicht vertreten wird, das Unterlassen einer<br />

Wiedereinbeziehung ausgeschiedener Gesetzesverletzungen könne mit der Sachrüge geltend gemacht werden, handelt<br />

es sich nicht um eine die Entscheidung tragende Erwägung (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Mai 1963 - GSSt<br />

250


2/62, BGHSt 19, 7, 9; Kissel/Mayer, GVG, 6. Aufl., § 132 Rn. 20). In dem genannten Fall unterlag der Freispruch<br />

(auch) der Aufhebung, weil das Landgericht den festgestellten Sachverhalt unter weiteren rechtlichen Gesichtspunkten<br />

zu würdigen unterlassen hatte, die von der Beschränkung nach § 154a StPO nicht erfasst waren. Das Urteil des 2.<br />

Strafsenats vom 19. Februar 1997 (2 StR 561/96, BGHR StPO § 154a Abs. 3 Wiedereinbeziehung 4) lässt die Beachtlichkeit<br />

eines Verstoßes gegen § 154a Abs. 3 StPO auf die allgemeine Sachrüge ausdrücklich dahinstehen.<br />

II. Die Revision des Angeklagten gegen seine Verurteilung in den Fällen unter A.IV.3 der Urteilsgründe ist mit der<br />

Sachbeschwerde aus den oben dargelegten Gründen gerechtfertigt. Auf die Verfahrensbeanstandungen kommt es<br />

daher nicht mehr an.<br />

III. Mit der Aufhebung <strong>und</strong> Zurückverweisung nach § 354 Abs. 2 StPO entfällt die Kostenentscheidung des Landgerichts.<br />

Die Kostenbeschwerde des Angeklagten (§ 464 Abs. 3 StPO) ist damit gegenstandslos (Meyer-Goßner, aaO, §<br />

464 Rn. 20).<br />

BtmG § 29 Gewinnung von Blütenständen aus Cannabispflanzen noch kein Beginn des Handeltreibens<br />

BGH, Urt. vom 15.03.2012 - 5 StR 559/11 - BeckRS 2012, 08371<br />

1. Zur erfolgreichen Gewinnung von Blütenständen aus Cannabispflanzen sind mannigfache Vorbereitungen<br />

notwendig, die noch nicht als vollendetes oder versuchtes unerlaubtes Handeltreiben zu<br />

bewerten sind.<br />

2. Nicht jede Vorbereitungshandlung darf, bloß weil sie im Hinblick auf ein eventuell späteres Betäubungsmittelumsatzgeschäft<br />

erfolgt, schon allein deshalb in den Bereich der Tatbestandsverwirklichung<br />

"hochgestuft" werden.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 15. Juli 2011 im<br />

Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte im Fall 2 der Urteilsgründe wegen unerlaubter Einfuhr<br />

von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Verabredung des Verbrechens des unerlaubten<br />

Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt ist.<br />

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.<br />

3. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht<br />

geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt <strong>und</strong> ferner einen sichergestellten<br />

Geldbetrag von 940 € eingezogen. Die Revision führt lediglich zu einer <strong>Teil</strong>korrektur des Schuldspruchs.<br />

1. Nach den Feststellungen betrieb der Angeklagte in dem Nebengebäude seines Wohnhauses in W. ab Oktober 2010<br />

eine von dem gesondert verfolgten St. finanzierte Cannabisplantage. Die hierbei gewonnenen Blütenstände sollte St.<br />

, der über Verbindungen in das Drogenmilieu verfügte (UA S. 5), gewinnbringend verkaufen <strong>und</strong> den Erlös nach<br />

Abzug der Aufwendungen mit dem Angeklagten teilen. Die Mitte Januar 2011 erfolgte <strong>und</strong> am 8. Februar 2011<br />

sichergestellte Ernte hatte bei den zum Verkauf vorgesehenen <strong>und</strong> vom Angeklagten verpackten Cannabisblütenständen<br />

eine THC-Gesamtwirkstoffmenge von 653 g. Die übrigen Pflanzenteile (THC-Gehalt: 680 g) hatte der Angeklagte<br />

im Freien gelagert <strong>und</strong> zur Kompostierung bestimmt (UA S. 6, 9; Fall 1 der Urteilsgründe: Freiheitsstrafe<br />

ein Jahr <strong>und</strong> acht Monate). Der Angeklagte fuhr am 8. Februar 2011 mit St. in die Niederlande <strong>und</strong> übernahm von<br />

diesem 551 Cannabissetzlinge mit einer THC-Gesamtwirkstoffmenge von 23 g. Mit den Setzlingen wollte der Angeklagte<br />

die Plantage neu bestücken. Die mit St. getroffene Abmachung hinsichtlich des weiteren Vorgehens galt auch<br />

für die neue Anpflanzung. Auf einem Rastplatz nahe <strong>Hamm</strong> erfolgte die Festnahme des Angeklagten (Fall 2 der<br />

Urteilsgründe: Freiheitsstrafe ein Jahr <strong>und</strong> acht Monate). Noch im Ermittlungsverfahren legte der Angeklagte am 8.<br />

April 2011 ein Geständnis ab <strong>und</strong> offenbarte die Mitwirkung des St. , der daraufhin in Untersuchungshaft genommen<br />

werden konnte (UA S. 8).<br />

2. Während im Fall 1 der Urteilsgründe der Tatbestand des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in<br />

nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG durch das Vorrätighalten zum gewinnbringenden Verkauf<br />

251


erfüllt ist (vgl. BGH, Urteil vom 20. Januar 1982 – 2 StR 593/81, BGHSt 30, 359, 361; Weber, BtMG, 3. Aufl., § 29<br />

Rn. 464 mwN), trifft dies auf die im Fall 2 zu beurteilende Übernahme <strong>und</strong> den Transport der Cannabissetzlinge<br />

durch den Angeklagten nicht zu.<br />

a) Handeltreiben im Sinne des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG ist jede eigennützige auf den Umsatz von Betäubungsmitteln<br />

gerichtete Tätigkeit (BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2005 – GSSt 1/05, BGHSt 50, 252, 256 mwN).<br />

Die Handlungen müssen auf die Ermöglichung oder Förderung eines bestimmten Umsatzgeschäftes mit Betäubungsmitteln<br />

zielen (BGH, Urteil vom 25. Oktober 2001 – 4 StR 208/01, BGHSt 47, 134, 136; Patzak in Körner,<br />

BtMG, 7. Aufl., § 29 <strong>Teil</strong> 4 Rn. 40) <strong>und</strong> dieses nicht nur vorbereiten (vgl. BGHSt 50, 252, 265 f.).<br />

b) Hinsichtlich des in den Setzlingen enthaltenen Wirkstoffs scheidet die Annahme eines Umsatzgeschäftes aus. Der<br />

Angeklagte wollte die Setzlinge nicht verkaufen.<br />

c) Hinsichtlich des von dem Angeklagten geplanten – indes noch nicht näher konkretisierten (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 15. Februar 2011 – 3 StR 491/10, NJW 2011, 1461 mwN) – Umsatzgeschäfts ausschließlich mit den erst am<br />

Ende des Wachstumsprozesses noch zu gewinnenden Blütenständen stellten die Übernahme <strong>und</strong> der Transport der<br />

Setzlinge fernab der Plantage noch keine Ermöglichung oder Förderung eines solchen Geschäfts dar. Es diente lediglich<br />

dessen Vorbereitung.<br />

aa) Zur erfolgreichen Gewinnung von Blütenständen aus Cannabispflanzen sind mannigfache Vorbereitungen notwendig,<br />

die noch nicht als vollendetes oder versuchtes unerlaubtes Handeltreiben zu bewerten sind. So bedarf es<br />

geeigneter Räumlichkeiten (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Februar 2011 – 3 StR 491/10, NJW 2011, 1461 mwN)<br />

sowie der Herbeischaffung <strong>und</strong> Installation der für die Plantage erforderlichen Gerätschaften (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 3. August 2011 – 2 StR 228/11, NStZ 2012, 343). Hinsichtlich der Übernahme der Setzlinge <strong>und</strong> deren Transport<br />

noch fernab der Plantage kann für den hier in Rede stehenden Sachverhalt nichts anderes gelten. Maßgebliches<br />

Unterscheidungsmerkmal insofern ist, dass das später zum Verkauf zu stellende Cannabis noch nicht existiert <strong>und</strong><br />

allenfalls in Setzlingen angelegt ist, die ihrerseits noch nicht angepflanzt wurden. Da mit den Setzlingen selbst kein<br />

Handel betrieben werden sollte, können sie hier als solche nicht den Gegenstand des Handeltreibens bilden. Sie sind<br />

vielmehr – ab dem Zeitpunkt ihrer Anpflanzung – der stoffliche Träger, aus dem sich das Rauschgift in den Blütenständen<br />

entwickelt. Eine andere Auslegung, die einen solchen Sachverhalt als Anwendungsfall des § 29 Abs. 1 Satz<br />

1 Nr. 1 BtMG ansähe, würde den sowieso schon weiten Begriff des Handeltreibens nochmals weiter ausdehnen.<br />

Damit würde nicht nur die Möglichkeit einer tragfähigen Abgrenzung zu Vorbereitungshandlungen zusätzlich erschwert.<br />

Jede weitere Ausdehnung wäre auch mit dem Wortsinn der Formulierung des Gesetzes kaum mehr vereinbar<br />

<strong>und</strong> mithin im Blick auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Art. 103 Abs. 2 GG in hohem Maße problematisch.<br />

Deshalb darf nicht jede Vorbereitungshandlung, bloß weil sie im Hinblick auf ein eventuell späteres Betäubungsmittelumsatzgeschäft<br />

erfolgt, schon allein deshalb in den Bereich der Tatbestandsverwirklichung „hochgestuft“<br />

werden. Eine kriminalpolitische Notwendigkeit für eine solche ausdehnende Auslegung ist auch nicht erkennbar,<br />

weil sowohl der Besitz als auch die Einfuhr des in den Setzlingen vorhandenen Betäubungsmittels umfassend<br />

unter Strafe gestellt ist.<br />

bb) Auch systematische Erwägungen gebieten diese Bewertung. Der vom Angeklagten beabsichtige illegale Rauschgiftumsatz<br />

setzte notwendigerweise zunächst den Anbau der Cannabispflanzen, hier sogar bis zur Ausformung von<br />

Blüten, voraus. Der auf der Konkurrenzebene verdrängte Tatbestand des unerlaubten Anbaus von Betäubungsmitteln<br />

gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2005 – 1 StR 476/04, BGHR BtMG §<br />

29a Abs. 1 Nr. 2 Handeltreiben 4) entfaltet eine Begrenzungsfunktion für den Tatbestand des unerlaubten Handeltreibens<br />

mit den erst noch anzubauenden Produkten, in dem er als Anfangsstadium den Versuch des unerlaubten<br />

Handeltreibens erst mit dem unmittelbaren Ansetzen zum Anpflanzen beginnen lässt (BGH, Beschluss vom 3. August<br />

2011 – 2 StR 228/11, NStZ 2012, 43; Weber, BtMG, 3. Aufl., § 29 Rn. 558). Hierzu kommt es nach dem auch<br />

hier gültigen Maßstab des § 22 <strong>StGB</strong> erst mit Heranschaffen der Setzlinge an die vorbereitete Fläche oder zu den<br />

vorbereiteten Pflanzgefäßen (vgl. BGH aaO mwN; Patzak in Körner, BtMG, 7. Aufl., § 29 <strong>Teil</strong> 2 Rn. 74). Demnach<br />

ist ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung vorliegend noch nicht erreicht; auch im Hinblick auf<br />

den Tatbestand des Anbaus ist damit das Stadium der Vorbereitungshandlung noch nicht verlassen.<br />

3. Auf der Gr<strong>und</strong>lage der fehlerfrei getroffenen, auf dem Geständnis des Angeklagten beruhenden Feststellungen hat<br />

der Angeklagte den Tatbestand der Verabredung eines Verbrechens des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln<br />

in nicht geringer Menge (§ 30 Abs. 2 <strong>StGB</strong>, § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) verwirklicht (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 3. August 2011 – 2 StR 228/11, NStZ 2012, 43, 44). Die Absprache des Angeklagten mit dem gesondert<br />

verfolgten St. , die in der Plantage des Angeklagten zu gewinnenden Cannabisblüten durch den über Kontakte im<br />

Drogenmilieu verfügenden St. zum beiderseitigen Vorteil verkaufen zu lassen, enthält die für die erforderliche Verabredung<br />

mittäterschaftlicher Begehungsweise gebotene genügende Konkretisierung des Verbrechens. Es genügt<br />

252


nämlich, dass die Einzelheiten der in Aussicht genommenen Tat in ihren wesentlichen Gr<strong>und</strong>zügen konkretisiert<br />

sind, ohne dass Zeit, Ort <strong>und</strong> Modalitäten in allen Einzelheiten festliegen müssen (vgl. BGH, Urteile vom 28. Juni<br />

2007 – 3 StR 140/07, BGHR <strong>StGB</strong> § 30 Abs. 2 Verabredung 7, <strong>und</strong> vom 13. November 2008 – 3 StR 403/08, NStZ<br />

2009, 497, 498). So liegt es hier. Der Senat kann ausschließen, dass der Angeklagte diese präsumtive Tat im Sinne<br />

des § 31 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> verhindert hat. Zwar hat er seinen Mittäter St. am 8. April 2011 dergestalt belastet, dass<br />

der bis dahin nicht unter Tatverdacht stehende Tatgenosse in Untersuchungshaft genommen werden konnte (UA S.<br />

8). Hierin ist indes nach den fehlerfrei getroffenen Feststellungen kein freiwilliger Verzicht auf das Verbrechen zu<br />

erkennen, weil dieses nach der am 8. Februar 2011 erfolgten polizeilichen Durchsuchung <strong>und</strong> Beschlagnahme der<br />

Plantage nicht mehr ausführbar war. Die Abstandnahme beruhte demnach vorgreiflich auf äußerem Zwang. Solches<br />

steht der Anwendung des § 31 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 1958 – 2 StR<br />

500/58, BGHSt 12, 306, 308) <strong>und</strong> verhindert auch die Annahme, dass sich der Angeklagte freiwillig im Sinne des §<br />

31 Abs. 2 <strong>StGB</strong> bemüht hat, die Tat zu verhindern.<br />

4. Der Senat kann entsprechend § 354 Abs. 1 StPO ausschließen, dass die wegen der unerlaubten Einfuhr festgesetzte<br />

Freiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> acht Monaten bei bloßer Änderung des tateinheitlich mit ausgeurteilten Verbrechens<br />

milder ausgefallen wäre.<br />

BtMG § 29 Handeltreiben nur bei eigennützigen Motiven<br />

BGH, Beschl. v. 27.03.2012 - 3 StR 64/12 - BeckRS 2012, 11065<br />

Erklärt sich der Täter gegenüber einer anderen Person ernsthaft bereit, bei einem Dritten Betäubungsmittel<br />

zu erwerben <strong>und</strong> diese sodann an den anderen weiterzuveräußern, entfaltet er zwar<br />

eine auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit. Handeltreiben im Sinne des § 29<br />

Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG setzt indes weitergehend auch eigennützige Motive des Täters voraus.<br />

Nicht eigennützig ist ein Umsatzgeschäft, das allein auf die Überlassung von Betäubungsmitteln<br />

zum Selbstkostenpreis oder Einstandspreis gerichtet ist.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 14. Oktober 2011 abgeändert<br />

<strong>und</strong> neu gefasst: Der Angeklagte wird wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln <strong>und</strong> wegen Besitzes von Betäubungsmitteln,<br />

jeweils in zwei Fällen, zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten <strong>und</strong> einer Woche verurteilt.<br />

Die Vollstreckung der Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Im Übrigen wird der Angeklagte freigesprochen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

3. Soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, trägt er die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Im Umfang<br />

des Freispruchs fallen diese Kosten sowie die dem Angeklagten jeweils entstandenen notwendigen Auslagen<br />

der Staatskasse zur Last.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten - unter Freispruch im Übrigen - wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln<br />

in vier Fällen (Fälle I. 2. a, c, e <strong>und</strong> f der Urteilsgründe) sowie wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in zwei Fällen<br />

(Fälle I. 2. b <strong>und</strong> d der Urteilsgründe) zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt,<br />

deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Gegen die Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner<br />

auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel<br />

ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. In den Fällen I. 2. e <strong>und</strong> f der Urteilsgründe tragen die Feststellungen nicht den Schuldspruch wegen Handeltreibens<br />

mit Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG).<br />

a) Der Angeklagte beabsichtigte, von unbekannt gebliebenen Lieferanten Kokain zu beziehen, das er teils selbst<br />

konsumieren, teils gewinnbringend an Dritte weiterveräußern wollte. Zur Erzielung eines günstigeren Einkaufspreises<br />

<strong>und</strong> zur Erhöhung seiner Gewinnspanne verabredete er am 26. <strong>und</strong> erneut am 29. November 2011 mit dem gesondert<br />

verfolgten S. , für diesen 5 bzw. 15 Gramm Kokain mitzubestellen, die er nach Lieferung jeweils zum Einkaufspreis<br />

an S. abgeben sollte. Zu Bestellungen kam es nicht.<br />

b) Erklärt sich der Täter gegenüber einer anderen Person ernsthaft bereit, bei einem Dritten Betäubungsmittel zu<br />

erwerben <strong>und</strong> diese sodann an den anderen weiterzuveräußern, entfaltet er zwar eine auf den Umsatz von Betäubungsmitteln<br />

gerichtete Tätigkeit. Handeltreiben im Sinne des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG setzt indes weitergehend<br />

auch eigennützige Motive des Täters voraus. Nicht eigennützig ist ein Umsatzgeschäft, das allein auf die Über-<br />

253


lassung von Betäubungsmitteln zum Selbstkostenpreis oder Einstandspreis gerichtet ist (Weber, BtMG, 3. Aufl., § 29<br />

Rn. 316 mwN). Davon geht auch das Landgericht aus. Allerdings hält es die erforderliche Eigennützigkeit der Vereinbarungen<br />

mit S. deshalb für gegeben, weil es dem Angeklagten darauf ankam, durch die so mögliche Bestellung<br />

größerer Mengen Kokains auch für sich selbst zu günstigeren Einkaufspreisen <strong>und</strong> höheren Verkaufsgewinnen zu<br />

gelangen. Dies hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Ob der Täter im Sinne eines Handeltreibens nach §<br />

29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG eigennützig handelt, ist bezogen auf das konkret in Frage stehende Umsatzgeschäft zu<br />

beurteilen. Es muss sich gerade aus diesem Umsatzgeschäft ein eigener Nutzen für den Täter ergeben (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 3. Juli 2003 - 1 StR 453/02, NStZ 2004, 457); dass ihm aus den Umständen des Erwerbs der umzusetzenden<br />

Betäubungsmittel Vorteile erwachsen, genügt für sich alleine nicht (Weber aaO Rn. 317, 320 f.). Daher liegt<br />

kein Handeltreiben vor, wenn der Täter zur Erzielung eines günstigeren Einkaufspreises auch für andere Abnehmer<br />

einkauft <strong>und</strong> diesen die Betäubungsmittel dann zum Einkaufspreis überlässt (BGH, Beschlüsse vom 25. September<br />

1985 - 2 StR 521/85, NJW 1986, 794; vom 10. April 1984 - 4 StR 172/84, StV 1984, 248; vom 26. März 1992 - 4<br />

StR 98/92, BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 33). So liegt der Fall hier. Aus den auf den Umsatz von<br />

Betäubungsmitteln gerichteten Geschäften selbst, den mit S. vereinbarten Beschaffungen von Kokain zum Selbstkostenpreis,<br />

versprach sich der Angeklagte keine Vorteile. Vielmehr dienten ihm diese Abreden lediglich der Schaffung<br />

günstigerer Voraussetzungen für den beabsichtigten gleichzeitigen Einkauf von Kokain zu eigenen Zwecken. Aus<br />

den Feststellungen ergeben sich im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte mit seinen Zusagen<br />

gewinnbringende Verkaufsgeschäfte des S. gefördert haben könnte (§ 27 <strong>StGB</strong>).<br />

c) Auf der Gr<strong>und</strong>lage der umfassenden Beweiswürdigung des Landgerichts schließt der Senat aus, dass in einer neuen<br />

Hauptverhandlung weitergehende Feststellungen getroffen werden können. Er spricht den Angeklagten deshalb<br />

(auch) insoweit frei.<br />

2. Die aus den verbleibenden Einzelstrafen - sechs Monate Freiheitsstrafe sowie Geldstrafen in Höhe von einmal 90<br />

<strong>und</strong> zweimal 60 Tagessätzen - neu zu bildende Gesamtstrafe setzt der Senat gemäß § 354 Abs. 1 StPO auf das sich<br />

aus §§ 54, 39 <strong>StGB</strong> hier (zu den Ausnahmen OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. Dezember 1994 - 2 Ss 202/94,<br />

MDR 1995, 404) ergebende Mindestmaß von sechs Monaten <strong>und</strong> einer Woche Freiheitsstrafe fest.<br />

Ebenso holt der Senat hinsichtlich der vom Landgericht ausgesprochenen Geldstrafen die rechtsfehlerhaft unterbliebene<br />

Bestimmung der Tagessatzhöhen nach (vgl. hierzu bereits BGH, Beschluss vom 20. April 1988 - 3 StR 138/88,<br />

BGHR <strong>StGB</strong> § 54 Abs. 3 Tagessatzhöhe 2) <strong>und</strong> setzt diese jeweils auf den Mindestbetrag von einem Euro fest (§ 40<br />

Abs. 2 Satz 3 <strong>StGB</strong>).<br />

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Februar 1996 - 1<br />

Ws 70/96, Rpfleger 1996, 303).<br />

BtMG § 29, <strong>StGB</strong> § 25 BtM-spezifischer Mittäterbegriff<br />

BGH, Beschl. v. 17.04.2012 - 3 StR 131/12 - BeckRS 2012, 11531<br />

Allein der Umstand, dass sich Beteiligte durch gemeinsamen Bezug der von ihnen jeweils zum gewinnbringenden<br />

Weiterverkauf bestimmten Betäubungsmittel günstigere Einkaufsbedingungen<br />

verschaffen, macht diese noch nicht im Sinne des § 25 Abs. 2 <strong>StGB</strong> zu Mittätern des Handeltreibens<br />

des jeweils anderen. Ob ein Beteiligter als Mittäter des anderen handelt, ist vielmehr auch im Betäubungsmittelstrafrecht<br />

nach den allgemeinen Gr<strong>und</strong>sätzen zu beantworten.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 8. Dezember 2011, soweit es<br />

ihn betrifft,<br />

a) im Schuldspruch dahin abgeändert <strong>und</strong> neu gefasst, dass der Angeklagte schuldig ist<br />

- des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln<br />

in nicht geringer Menge <strong>und</strong> mit Erwerb von Betäubungsmitteln,<br />

- des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Erwerb von Betäubungsmitteln<br />

in 5 Fällen,<br />

- des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Erwerb von Betäubungsmitteln in 18 Fällen,<br />

b) aufgehoben in den Aussprüchen über die Einzelstrafen in den Fällen 118, 119, 121, 123, 125, 127, 129, 130, 131<br />

<strong>und</strong> 137 der Urteilsgründe sowie im Gesamtstrafenausspruch; die zugehörigen Feststellungen bleiben aufrechterhal-<br />

254


ten. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten - unter Freisprechung im Übrigen - wegen<br />

- Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in<br />

nicht geringer Menge <strong>und</strong> mit Erwerb von Betäubungsmitteln in drei Fällen (Fälle 138, 139, 141 der Urteilsgründe),<br />

- Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Erwerb von Betäubungsmitteln in<br />

zwölf Fällen (Fälle 119, 121, 123, 125, 127, 129, 130, 131, 135, 136, 137, 140 der Urteilsgründe),<br />

- Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit "gewerbsmäßigem" Handeltreiben mit<br />

Betäubungsmitteln (Fall 118 der Urteilsgründe),<br />

- "gewerbsmäßigen" Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Erwerb von Betäubungsmitteln in acht<br />

Fällen (Fälle 97, 103, 114, 115, 116, 117, 132, 134 der Urteilsgründe) zu der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren<br />

<strong>und</strong> sieben Monaten verurteilt <strong>und</strong> zu seinen Lasten 11.700 € für verfallen erklärt. Die Revision des Angeklagten<br />

rügt die Verletzung materiellen Rechts <strong>und</strong> beanstandet das Verfahren. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den<br />

aus der Beschlussformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Die Schuldsprüche wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Erwerb<br />

von Betäubungsmitteln (§ 29a Abs. 1 Nr. 2, § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG) in den Fällen 119, 121, 123, 125,<br />

127, 129, 130, 131 <strong>und</strong> 137 der Urteilsgründe haben keinen Bestand; der Angeklagte ist insoweit jeweils lediglich<br />

des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Erwerb von Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1<br />

BtMG) schuldig.<br />

a) Der Angeklagte <strong>und</strong> der Mitangeklagte bezogen von einem Verkäufer in Hamburg in "Einkaufsgemeinschaft"<br />

Betäubungsmittel, die sie teils selbst konsumierten, teils weiterveräußerten. In den genannten neun Fällen erwarb -<br />

wovon der Senat nach den Feststellungen ausgeht - der Mitangeklagte auf diese Weise jeweils 200 g Amphetamin,<br />

Wirkstoffgehalt 7,3 % Amphetaminbase, das er in seine Wohnung verbrachte <strong>und</strong> dort hälftig mit dem Angeklagten<br />

teilte. Vorgefasster Absicht entsprechend verwendeten beide jeweils 10 g ihres Anteils für den Eigenkonsum, 90 g<br />

hieraus veräußerten sie - jeder für sich - gewinnbringend weiter. In zwei der Fälle (Fälle 130 <strong>und</strong> 131 der Urteilsgründe)<br />

beschaffte der Mitangeklagte für den Angeklagten zudem jeweils 5 g Kokain, Wirkstoffgehalt 45 % kHC,<br />

wovon dieser wie geplant jeweils 2 g selbst konsumierte <strong>und</strong> 3 g gewinnbringend veräußerte. Damit erreichte die<br />

vom Angeklagten zum gewinnbringenden Verkauf bestimmte Betäubungsmittelmenge in keinem der Fälle den<br />

Grenzwert der nicht geringen Menge im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG (10 g Amphetaminbase; 5 g KHC). In<br />

den Fällen 130 <strong>und</strong> 131 der Urteilsgründe gilt dies auch dann, wenn man die Wirkstoffanteile des Amphetamins <strong>und</strong><br />

des gleichzeitig bezogenen Kokains kumuliert (hierzu Weber, BtMG, 3. Aufl., § 29a Rn. 127 mwN).<br />

b) Soweit das Landgericht in diesen Fällen deshalb zu einem Handeltreiben des Angeklagten mit Betäubungsmitteln<br />

in nicht geringer Menge gelangt ist, weil es ihm auch die Mengen zugerechnet hat, die der Mitangeklagte jeweils aus<br />

seinem eigenen Anteil zur Weiterveräußerung bestimmt hatte, hält dies revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />

Allein der Umstand, dass sich Beteiligte durch gemeinsamen Bezug der von ihnen jeweils zum gewinnbringenden<br />

Weiterverkauf bestimmten Betäubungsmittel günstigere Einkaufsbedingungen verschaffen, macht diese noch nicht<br />

im Sinne des § 25 Abs. 2 <strong>StGB</strong> zu Mittätern des Handeltreibens des jeweils anderen. Ob ein Beteiligter als Mittäter<br />

des anderen handelt, ist vielmehr auch im Betäubungsmittelstrafrecht nach den allgemeinen Gr<strong>und</strong>sätzen zu beantworten.<br />

Hierzu bedarf es einer wertenden Betrachtung aller von der Vorstellung des Beteiligten umfassten Umstände;<br />

wesentliche Anhaltspunkte für (mit-)täterschaftliches Handeln können das eigene Interesse am Taterfolg, der<br />

Umfang der Tatbeteiligung <strong>und</strong> die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille hierzu sein. Verschaffen sich die Beteiligten<br />

die von ihnen jeweils zur Weiterveräußerung bestimmten Betäubungsmittel in Einkaufsgemeinschaft oder im<br />

Wege eines Sammeleinkaufs, gilt nichts anderes (BGH, Beschluss vom 14. August 2002 - 2 StR 249/02, NStZ 2003,<br />

90). Nach diesen Maßstäben begegnet die Annahme mittäterschaftlichen Handeltreibens des Angeklagten <strong>und</strong> des<br />

Mitangeklagten durchgreifenden rechtlichen Bedenken; denn es mangelt an jeglichen Anhaltspunkten dafür, dass der<br />

Angeklagte auf die Gestaltung der vom Mitangeklagten hinsichtlich seines Anteils in Aussicht genommenen Umsatzgeschäfte<br />

Einfluss hätte nehmen können oder an deren Gelingen überhaupt eigenes Interesse gehabt hätte. Überdies<br />

ist, was den Angeklagten betrifft, hinsichtlich der vom Mitangeklagten beabsichtigten Umsatzgeschäfte auch das<br />

für täterschaftliches Handeltreiben bestimmende Merkmal der Eigennützigkeit nicht zu erkennen. Eigennütziges<br />

Handeln setzt ein Anstreben von Vorteilen voraus, die sich aus dem Umsatzgeschäft selbst ergeben; nicht in diesem<br />

Sinne umsatzbezogen ist ein Vorteil, der dem Täter aus einem anderen Umstand, namentlich dem Erwerb, erwächst<br />

(Weber aaO § 29 Rn. 317, 320 mwN). Der vom Angeklagten durch den gemeinsamen Einkauf mit dem Mitange-<br />

255


klagten für sich selbst erstrebte Vorteil erschöpfte sich indes in der günstigeren Gestaltung der Einkaufsbedingungen<br />

<strong>und</strong> damit in Umständen, die seinen eigenen Erwerb betreffen.<br />

Soweit der B<strong>und</strong>esgerichtshof in einem Einzelfall (Urteil vom 9. Oktober 2002 - 1 StR 137/02, NStZ-RR 2003, 57)<br />

mittäterschaftliches Handeltreiben von <strong>Teil</strong>nehmern an einem Sammeleinkauf in Bezug auf die insgesamt zur Weiterveräußerung<br />

bestimmte Menge abweichend hiervon damit begründet hat, der Kauf der Gesamtmenge habe im<br />

gemeinsamen Interesse aller Beteiligten gelegen, ergibt sich im Ergebnis nichts anderes; denn dem lag jedenfalls<br />

zugr<strong>und</strong>e, dass alle Beteiligten Mitbesitzer der gesamten Einkaufsmenge waren. Für Mitbesitz des Angeklagten an<br />

der Gesamtmenge besteht hier indes, wie ausgeführt, kein Anhalt.<br />

2. Keinen Bestand hat darüber hinaus der Schuldspruch wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (§ 29a Abs. 1 Nr. 2, § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG)<br />

im Fall 118 der Urteilsgründe; auch hier ist der Angeklagte lediglich des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in<br />

Tateinheit mit Erwerb von Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG) schuldig. Auf die beschriebene Weise<br />

beschafft - nach den Feststellungen wiederum durch den Mitangeklagten - wurden in diesem Falle 150 g Amphetamin,<br />

Wirkstoffgehalt 7,3 % Amphetaminbase, von denen der Angeklagte 100 g erhielt. 10 g hiervon hatte der Angeklagte<br />

zum Eigenkonsum bestimmt, 90 g zur gewinnbringenden Weiterveräußerung. Dass er über seinen so verwendeten<br />

Anteil hinaus die Verfügungsgewalt über Betäubungsmittel (in nicht geringer Menge) gehabt hätte, hat das<br />

Landgericht nicht festgestellt.<br />

3. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen schließlich die Schuldsprüche (auch) wegen Besitzes von Betäubungsmitteln<br />

in nicht geringer Menge in den Fällen 138 <strong>und</strong> 139 der Urteilsgründe; insoweit ist der Angeklagte<br />

jeweils lediglich des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Erwerb von<br />

Betäubungsmitteln schuldig. Der Mitangeklagte besorgte jeweils 200 g Amphetamin, Wirkstoffgehalt 7,3 % Amphetaminbase,<br />

<strong>und</strong> 15 g Kokain, Wirkstoffgehalt 45 % KHC. Für den Angeklagten bestimmt waren das Kokain <strong>und</strong> die<br />

Hälfte des Amphetamins. Wie beabsichtigt, veräußerte der Angeklagte aus jeder Lieferung 90 g Amphetamin <strong>und</strong> 12<br />

g Kokain; den Rest konsumierte er selbst. Danach überschreiten zwar die vom Angeklagten zur gewinnbringenden<br />

Weiterveräußerung bestimmten Mengen in beiden Fällen bereits in Bezug auf das Kokain den Grenzwert der nicht<br />

geringen Menge im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG. Eine über die jeweils zum Eigengebrauch <strong>und</strong> zur Weiterveräußerung<br />

bestimmten Mengen hinausgehende Verfügungsgewalt des Angeklagten über Betäubungsmittel (in<br />

nicht geringer Menge) hat das Landgericht indes auch hier nicht festgestellt.<br />

4. Der Senat ändert die Schuldsprüche entsprechend ab. § 265 StPO steht dem nicht entgegen, da sich der Angeklagte<br />

bei zutreffender rechtlicher Bewertung des Tatgeschehens nicht wirksamer hätte verteidigen können. Die Änderungen<br />

der Schuldsprüche führen zur Aufhebung des Urteils in den Aussprüchen über die Einzelstrafen in den Fällen<br />

118, 119, 121, 123, 125, 127, 129, 130, 131 <strong>und</strong> 137 der Urteilsgründe sowie im Gesamtstrafenausspruch. Die jeweils<br />

zugehörigen Feststellungen werden von der rechtlich fehlerhaften Bewertung des Tatgeschehens nicht berührt<br />

<strong>und</strong> können aufrechterhalten bleiben. In den Fällen 138 <strong>und</strong> 139 der Urteilsgründe schließt der Senat demgegenüber<br />

aus, dass das Landgericht die Einzelstrafen milder bemessen hätte, wäre es nicht von einem zum Handeltreiben mit<br />

Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge <strong>und</strong> zum Erwerb von Betäubungsmitteln tateinheitlich hinzutretenden<br />

Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge ausgegangen.<br />

5. Die Regelbeispiele des § 29 Abs. 3 BtMG - wie hier die vom Landgericht rechtsfehlerfrei begründete Gewerbsmäßigkeit<br />

- sind keine qualifizierenden Tatbestände, sondern Strafzumessungsregeln <strong>und</strong> deshalb nicht in die Urteilsformel<br />

aufzunehmen (Senat, Beschlüsse vom 27. April 2004 - 3 StR 116/04; vom 10. Mai 2005 - 3 StR 133/05,<br />

NStZ 2006, 172).<br />

256


BtMG § 29 a Unrechtsgehalt Gesamtmenge Einzelstrafen<br />

BGH, Beschl. v. 15.06.2011 - 2 StR 645/10 - BGHR <strong>StGB</strong> § 46 III Handeltreiben 6<br />

Es ist rechtlich bedenklich, wenn das Gericht in Fällen mehrerer Verstöße gegen das BtMG bei der<br />

Bemessung der Einzelstrafen jeweils die Gesamtmenge des Betäubungsmittelumsatzes berücksichtigt.<br />

Zumindest in den Fällen des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG hat der Gesetzgeber der im Einzelfall<br />

gehandelten Betäubungsmittelmenge ein bestimmtes Unrechtsgewicht beigemessen. Vor diesem<br />

Hintergr<strong>und</strong> erscheint es fragwürdig, ob der Gesamtmenge von Betäubungsmitteln, mit denen der<br />

Angeklagte Straftaten begangen hat, bereits eine bestimmende Bedeutung bei der Strafzumessung<br />

im engeren Sinne zur Bestimmung der Einzelstrafen beigemessen werden kann.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Limburg an der Lahn vom 22. September 2010<br />

im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die<br />

Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer<br />

des Landgerichts zurückverwiesen. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in drei Fällen, unerlaubten<br />

Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln in 16 Fällen<br />

<strong>und</strong> Beihilfe zum unerlaubten Erwerb von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem<br />

Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten.<br />

Das Rechtsmittel hat Erfolg, soweit es den Rechtsfolgenausspruch betrifft. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne<br />

des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Das Landgericht hat dem Angeklagten in allen Fällen strafschärfend angelastet, dass es sich nicht um ein "Augenblicksversagen"<br />

gehandelt habe. In den Fällen 4. bis 19. hat es hinzugefügt, dass er sich erst "nach reiflicher Überlegung<br />

bewusst" zur Tatbegehung entschlossen habe. Dies lässt besorgen, dass das Landgericht dem Angeklagten<br />

entgegen § 46 Abs. 3 <strong>StGB</strong> bei der Strafbemessung vorgeworfen hat, er habe vorsätzlich gehandelt. Für die Fälle 1.<br />

bis 3. besteht dieses Bedenken, weil in Fällen des Betäubungsmittelerwerbs ausschließlich zum Eigenkonsum vor<br />

allem das Motiv erhebliche strafmildernde Bedeutung besitzt (vgl. BGHR BtMG § 29 Strafzumessung 11; BGH<br />

Beschluss vom 22. Oktober 1992 - 1 StR 694/92). In den Fällen 4. bis 25. wurde dem Angeklagten auch gewerbsmäßiges<br />

Handeln angelastet, so dass dort erst recht die Überlegung, der Angeklagte habe sich bewusst zur Tatbegehung<br />

entschlossen, keinen bestimmenden Strafschärfungsgr<strong>und</strong> bilden darf. Im Übrigen ist es rechtlich bedenklich, dass<br />

das Landgericht bei der Bemessung der Einzelstrafen jeweils die Gesamtmenge des Betäubungsmittelumsatzes berücksichtigt<br />

hat. Zumindest in den Fällen des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG hat der Gesetzgeber der im Einzelfall gehandelten<br />

Betäubungsmittelmenge ein bestimmtes Unrechtsgewicht beigemessen. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> erscheint es<br />

fragwürdig, ob der Gesamtmenge von Betäubungsmitteln, mit denen der Angeklagte Straftaten begangen hat, bereits<br />

eine bestimmende Bedeutung bei der Strafzumessung im engeren Sinne zur Bestimmung der Einzelstrafen beigemessen<br />

werden kann.<br />

2. Der Rechtsfolgenausspruch begegnet auch insoweit durchgreifenden Bedenken, als das Landgericht davon abgesehen<br />

hat, eine Maßregel nach § 64 <strong>StGB</strong> anzuordnen. Einen Erfahrungssatz des Inhalts, dass bei einem Drogenabhängigen<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich die Gefahr neuer erheblicher Straftaten besteht, gibt es allerdings nicht. Soweit zu erwarten<br />

wäre, dass der Angeklagte künftig Rauschgift nur zum Eigenkonsum erwirbt, könnte dies für sich genommen eine<br />

Unterbringungsanordnung nach § 64 <strong>StGB</strong> nicht rechtfertigen (vgl. BGH NStZ 1994, 280; StV 1996, 880). Da der<br />

Angeklagte aber bisher nicht sicher im Berufsleben Fuß gefasst hat, ist auch künftige Beschaffungskriminalität nicht<br />

fernliegend. Die Maßregelanordnung ist abhängig von der Entwicklung des Angeklagten. Insoweit hat das Landgericht<br />

zwar festgestellt, dass der Angeklagte in der Vergangenheit seinen Konsum reduzieren konnte <strong>und</strong> nach der<br />

vorläufigen Festnahme vom Amphetaminkonsum abgelassen hat, dies aber vor allem, weil auch seine Lieferanten<br />

verhaftet wurden. Den Haschischkonsum hat er trotzdem zunächst fortgesetzt. Danach war der Druck, den seine<br />

Fre<strong>und</strong>in auf ihn ausgeübt hat, der Anlass für den anschließenden Verzicht auch auf Haschischkonsum. Ob es dabei<br />

sein Bewenden haben wird, ist angesichts der drohenden Strafvollstreckung <strong>und</strong> der beruflichen Situation des Ange-<br />

257


klagten fraglich. Die Beteuerung des Angeklagten, nicht mehr mit Betäubungsmittelkonsum <strong>und</strong> -handel zu tun haben<br />

zu wollen, erscheint nicht als zuverlässiger Prognosegesichtspunkt.<br />

BtMG § 29a I Nr. 2, § 30 I Nr. 4 nicht geringe Menge Methamphetaminracemat = 10g Base<br />

BGH, Urt. v. 17.11.2011 - 3 StR 315/10 - NJW 2012, 400<br />

LS: Für Methamphetaminracemat - (RS)-(methyl)(1-phenylpropan-2-yl)azan - beginnt die nicht<br />

geringe Menge im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2, § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG bei 10 g der wirkungsbestimmenden<br />

Base.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Verden vom 18. März 2010 im Strafausspruch<br />

mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu der Freiheitsstrafe<br />

von zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung<br />

materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Urteilsformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg; im<br />

Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Der Strafausspruch hat keinen Bestand.<br />

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

a) Der an der Chemie interessierte Angeklagte betrieb ab 1995 ein häusliches Labor <strong>und</strong> forschte dort unter anderem<br />

an (legalen) Amphetaminderivaten. In einem später eingestellten Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der<br />

Zuwiderhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz stellte die Staatsanwaltschaft im November 1999 die Laboreinrichtung<br />

kurzzeitig sicher. Nach anschließender Pfändung durch einen privaten Gläubiger nahm der Angeklagte sie<br />

2001 wieder in Besitz <strong>und</strong> lagerte sie zunächst im Hause seiner Eltern ein. Nach einem Umzug im Jahre 2009 beschloss<br />

der Angeklagte, der sich zwischenzeitlich einer operativen Behandlung wegen eines Prostatakarzinoms unterzogen<br />

<strong>und</strong> als Dauerfolge u.a. eine erektile Dysfunktion davongetragen hatte, sein Labor wieder aufzubauen. Beim<br />

Sichten der eingelagerten Bestände fiel ihm ein Glaskolben mit einer kristallinen Substanz auf, deren Herkunft das<br />

Landgericht nicht hat klären können. Nach seinen früheren Forschungen hielt es der Angeklagte zumindest für möglich,<br />

dass es sich dabei um Methamphetamin-Hydrochlorid handelte. Er erwärmte eine Probe, inhalierte diese <strong>und</strong><br />

empfand die Wirkung wie erhofft als "angenehm, blutdruck- <strong>und</strong> sinnsteigernd <strong>und</strong> vor allem … erektionsfördernd".<br />

Für den beabsichtigten weiteren Konsum verpackte er die Substanz in Klemmtüten, die er - nebst der Erwärmung<br />

dienender Folienstreifen - versteckt in seinem Schlafzimmer verwahrte. Bei einer Durchsuchung am 13. Mai 2009<br />

fanden sich dort neun Klemmtüten, die insgesamt 915,8 g Methamphetamin-Hydrochlorid-Gemisch mit einem Reinheitsgrad<br />

von 99,5 % enthielten. Die Base bestand stereochemisch aus Methampheta-minracemat - (RS)-(methyl)(1phenylpropan-2-yl)azan<br />

- mit gleichen Anteilen der Enantiomere des Methamphetamins, also des "rechtsdrehenden"<br />

(2S)-N-Methyl-1-phenylpropan-2-amin (auch d-Methamphetamin; gemäß Anl. II zu § 1 BtMG: Methamphetamin),<br />

<strong>und</strong> des "linksdrehenden" (R)-(methyl)(1-phenylpropan-2-yl)azan (auch l-Methamphetamin; gemäß Anl. II zu § 1<br />

BtMG: Levmethamphetamin).<br />

b) Das Landgericht hat das Gewicht des in dem Gemisch enthaltenen Hydrochlorid-Salzes mit 911 g <strong>und</strong> die Menge<br />

der Base hiernach mit 731,96 g errechnet (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 3. Dezember 2008 - 2 StR 86/08, BGHSt 53,<br />

89, 90). Den Grenzwert der nicht geringen Menge der Base im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG hat es, beraten<br />

durch den Sachverständigen Dr. D., Apotheker für experimentelle Pharmakologie <strong>und</strong> Toxikologie beim B<strong>und</strong>eskriminalamt<br />

Wiesbaden, wie bei (2S)-Methamphetamin (vgl. hierzu BGH aaO) mit 5 g angenommen. Im Hinblick auf<br />

das besondere Gefährdungspotential aller drei der in Anlage II zu § 1 Abs. 1 BtMG als verkehrsfähig, aber nicht<br />

verschreibungsfähig aufgeführten stereochemischen Erscheinungsformen sei es nicht angezeigt, das Methamphetamin-Racemat<br />

wegen seines Levmethamphetamin-Anteils insoweit anders zu behandeln, zumal die Stoffe nicht auf<br />

getrennten Märkten gehandelt würden. Zwar liege die Wirksamkeit von Levmethamphetamin unter der von (2S)-<br />

Methamphetamin, was damit zu erklären sei, dass letzteres in höherem Maße geeignet sei, an die maßgeblichen Rezeptoren<br />

im Gehirn anzudocken <strong>und</strong> damit das Zentralnervensystem zu beeinflussen. Jedoch könne Levmethamphetamin<br />

leichter über Rezeptoren etwa in Herz <strong>und</strong> Nieren aufgenommen werden <strong>und</strong> wirke damit stärker auf das peri-<br />

258


pher-sympathische Nervensystem. Im Vergleich zum (2S)-Methamphetamin liege der Wirkungsgrad des Racemats<br />

damit jedenfalls bei "deutlich mehr als 50 %". Letztlich sei dieser Unterschied zu vernachlässigen, denn bei rechtsmissbräuchlichem<br />

Konsum werde in allen Fällen die therapeutisch wirksame Dosis um ein Vielfaches <strong>und</strong> die Grenze<br />

zur Risikodosis bei weitem überschritten.<br />

c) Davon ausgehend hat das Landgericht bei der Bemessung der Strafe zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt,<br />

dass das in seinem Besitz befindliche Gemisch den Grenzwert der nicht geringen Menge "um das 146,329fache"<br />

überschritten habe.<br />

2. Der Senat ermittelt den Grenzwert der nicht geringen Menge von Methamphetamin-Racemat - anders als das<br />

Landgericht - mit 10 g der wirkungsbestimmenden Base. Nach Anhörung der Sachverständigen Dr. D. <strong>und</strong> Prof. Dr.<br />

Da. , Institut für Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Düsseldorf, kann der Senat keine gesicherten wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse feststellen, die es rechtfertigen, den Grenzwert für dieses Amphetaminderivat zu Lasten des<br />

Angeklagten anders zu beurteilen als für den Gr<strong>und</strong>stoff Amphetamin. Im Einzelnen:<br />

a) Durchgreifende rechtliche Bedenken bestehen gegen den methodischen Ansatz des Landgerichts, den Grenzwert<br />

der nicht geringen Menge von Methamphetamin-Racemat ungeachtet im Raum stehender Unterschiede im Wirkungsgrad<br />

deshalb an den für (2S)-Methamphetamin anzugleichen, weil bei rechtsmissbräuchlichem Konsum ohnehin<br />

stets die Grenze zur Risikodosis überschritten werde. Zu Ende gedacht würde dies die Bedeutung des Wirkstoffgehalts<br />

für die Bemessung des Unrechtsgehalts der Tat relativieren, denn die präzise Ermittlung eines Vielfachen der<br />

nicht geringen Menge hätte vor einem Hintergr<strong>und</strong> möglicher nicht unerheblicher Unterschiede im Wirkungsgrad der<br />

einzelnen Substanzen nur noch eine begrenzte Aussagekraft. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt BGH,<br />

Urteil vom 2. November 2010 - 1 StR 581/09, NJW 2011, 1462, 1464 f.) ist der Grenzwert der nicht geringen Menge<br />

eines Betäubungsmittels vielmehr stets in Abhängigkeit von dessen konkreter Wirkungsweise <strong>und</strong> Wirkungsintensität<br />

festzulegen. Maßgeblich ist zunächst die äußerst gefährliche, gar tödliche Dosis des Wirkstoffs. Fehlen hierzu<br />

gesicherte Erkenntnisse, so errechnet sich der Grenzwert als ein Vielfaches der durchschnittlichen Konsumeinheit<br />

eines nicht an den Genuss dieser Droge gewöhnten Konsumenten, das zu bemessen ist nach Maßgabe der Gefährlichkeit<br />

des Stoffes, insbesondere seines Abhängigkeiten auslösenden oder sonst die Ges<strong>und</strong>heit schädigenden Potentials.<br />

Lassen sich auch zum Konsumverhalten keine ausreichenden Erkenntnisse gewinnen, so entscheidet ein Vergleich<br />

mit verwandten Wirkstoffen (BGH, Urteil vom 24. April 2007 - 1 StR 52/07, BGHSt 51, 318, 321 ff.). Nicht<br />

zu verkennen ist, dass sich - etwa wegen des Fehlens getrennter Märkte - ein praktisches Bedürfnis ergeben kann,<br />

zwei oder mehrere Substanzen mit gleicher Wirkungsweise, aber unter-schiedlicher Wirkungsintensität einheitlich zu<br />

behandeln. Dem müsste indes dadurch Rechnung getragen werden, dass insgesamt der Wert für diejenige Erscheinungsform<br />

zugr<strong>und</strong>e gelegt wird, welche die geringste Wirkungsintensität aufweist (vgl. zu den Amphetaminderivaten<br />

MDA, MDMA <strong>und</strong> MDE BGH, Urteil vom 9. Oktober 1996 - 3 StR 220/96, BGHSt 42, 255, 267 f.).<br />

b) Nach diesen Maßstäben hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof den Grenzwert der nicht geringen Menge für Amphetamin mit<br />

10 g Amphetamin-Base bestimmt (Urteil vom 11. April 1985 - 1 StR 507/84, BGHSt 33, 169; vgl. auch Urteil vom<br />

1. September 1987 - 1 StR 191/87, BGHSt 35, 43, 48). Amphetamin ist nach Anl. III zu § 1 Abs. 1 BtMG das Racemat<br />

(RS)-1-phenylpropan-2-ylazan, bestehend aus dem "rechtsdrehenden" Dexamphetamin [(S)-1-phenylpropan-2ylazan;<br />

Anl. III zu § 1 Abs. 1 BtMG] <strong>und</strong> dem "linksdrehenden" Levamphetamin [(R)-1-phenylpropan-2-ylazan;<br />

Anl. II zu § 1 Abs. 1 BtMG]. Im Einzelnen hat sich der B<strong>und</strong>esgerichtshof davon leiten lassen, dass die hohe Dosis<br />

für den nicht Amphetamingewohnten bei 50 mg anzunehmen sei, indes Toleranzentwicklung <strong>und</strong> der Wunsch, stärkere<br />

Effekte zu erleben, zu immer stärkeren Dosen führten. Bei intravenöser Verabreichung könnten so Einzeldosen<br />

von 160 mg bis zu zehnmal täglich oder von 1.000 mg in Abständen von wenigen St<strong>und</strong>en erreicht werden. Bei<br />

oraler Einnahme könne es zu Einzeldosen von 200 mg Amphetamin <strong>und</strong> mehr kommen. Der Missbrauch führe zu<br />

psychischer, wenn auch nicht zu körperlicher Abhängigkeit. Er könne indes nicht nur psychische, sondern auch<br />

schwerwiegende physische Folgeschäden nach sich ziehen. Zu beobachten seien überwache Zustände, ängstliche<br />

Getriebenheit, Aggressivität, Depressionen, illusionäre Verkennungen, Störungen des Urteilsvermögens, Depersonalisationserscheinungen,<br />

Hyperthermie, Kreislaufkollaps oder Herzversagen sowie Gehirnschädigungen. Persönlichkeitsveränderungen<br />

gingen mit beruflichem <strong>und</strong> sozialem Abstieg einher. "Amphetamin-Psychosen" träten nicht nur<br />

als Folge eines chronischen Missbrauchs, sondern auch als akutes Vergiftungssymptom auf. Als psychisches Stimulans<br />

erweise sich Amphetamin häufig als Schrittmacher für eine Polytoxikomanie. Die Gefahr einer Wiederaufnahme<br />

der Missbrauchsgewohnheiten nach einer Entzugsperiode sei hoch. Todesfälle seien andererseits eher selten. In<br />

Abwägung dieser Umstände hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof die nicht geringe Menge schließlich beim 200-fachen der<br />

Einzeldosis von 50 mg als erreicht angesehen (vgl. Urteil vom 1. September 1987 - 1 StR 191/87, BGHSt 35, 43,<br />

48).<br />

259


c) Für (2S)-Methamphetamin hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof den Grenzwert der nicht geringen Menge mit 5 g Methamphetamin-Base<br />

festgelegt (Urteil vom 3. Dezember 2008 - 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89). Ausgehend von einer<br />

Wirkungsweise sowie von physischen <strong>und</strong> psychischen Missbrauchsfolgen, die denen des Amphetamins ähneln, hat<br />

er für ausschlaggebend erachtet, dass die pharmakodynamische Wirkung von (2S)-Methamphetamin bei oraler Aufnahme<br />

etwa eineinhalb- bis zweimal so stark sei wie die von Amphetamin; in der Konsumform des Rauchens - die<br />

bei Amphetamin nicht möglich sei - wirke es mindestens doppelt so stark <strong>und</strong> vor allem erheblich schneller, weil<br />

aufgr<strong>und</strong> höherer Lipophilie die Blut-Hirn-Schranke schneller überw<strong>und</strong>en werde. Auch gelange beim Rauchen das<br />

gesamte aufgenommene Rauschgift unmittelbar zum Gehirn, während beim oralen Konsum mehrere St<strong>und</strong>en bis zur<br />

vollständigen Resorption im Körper vergehen könnten. Für diese gefährlichste <strong>und</strong> heute gängigste Konsumform sei<br />

daher eine Gleichsetzung in der Wirkung mit "Crack" (Kokain-Base) gerechtfertigt; sie falle für die Festlegung des<br />

Grenzwerts erheblich ins Gewicht. Zu demselben Ergebnis führe es, wenn man die nicht geringe Menge - wie bei<br />

Amphetamin - beim 200-fachen einer Konsumeinheit als erreicht annehme, denn für den an Methamphetamin nicht<br />

Gewohnten sei eine Einzeldosis von 25 mg bereits sehr hoch.<br />

d) Der Senat gelangt jedenfalls für das hier in Frage stehende Methamphetamin-Racemat wie beim Amphetamin-<br />

Racemat (Amphetamin) zu einem Grenzwert der nicht geringen Menge von 10 g Base. Nach gegenwärtigem Forschungsstand<br />

finden sich keine Belege dafür, dass die Wirkungsintensität <strong>und</strong> die Gefährlichkeit dieser Substanz<br />

signifikant höher liegen als beim Ausgangsstoff Amphetamin.<br />

aa) Wie schon in den oben genannten Urteilen des B<strong>und</strong>esgerichtshofs beschrieben, sind sich Amphetamin <strong>und</strong> dessen<br />

methyliertes Derivat in ihrer Wirkung weitestgehend ähnlich. Unter anderem in den USA werden beide Stoffe<br />

medizinisch zur Behandlung von Narkolepsie, Aufmerksamkeitsdefiziten, Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) <strong>und</strong><br />

Adipositas eingesetzt. Wegen ihrer stimmungsanhebenden, das Selbstvertrauen, die Konzentrationsfähigkeit, die<br />

Energie <strong>und</strong> die Wachheit steigernden Wirkung werden sie nicht selten missbräuchlich verwendet. Dauerkonsum<br />

<strong>und</strong> Überdosierung können dabei zu Verwirrung, Aggressivität, paranoiden Halluzinationen <strong>und</strong> Panikzuständen<br />

führen. In unmittelbarem Zusammenhang mit der durch eine Dauerstimulation hervorgerufenen körperlichen Erschöpfung<br />

ist auch mit Herzkreislaufbeschwerden bis hin zu lebensbedrohlichen Rhythmusstörungen zu rechnen.<br />

Namentlich Methamphetamin gilt - bei einer geschätzten Jahresproduktion von 290 Tonnen - als die weltweit zweitpopulärste<br />

illegale Droge nach Cannabis, wenngleich es in Deutschland neben Amphetamin bislang nur eine untergeordnete<br />

Rolle spielt. Trotz der hohen Zahl der Konsumenten dieser Droge sind indes Todesfälle weltweit eher<br />

selten zu beobachten.<br />

bb) Zu folgen ist dem Landgericht insoweit, als unterschiedliche Grenzwerte für (2S)- <strong>und</strong> (RS)-Methamphetamin<br />

auch bei Betrachtung der konkreten Wirkintensität nicht gerechtfertigt erscheinen. Wie der Sachverständige Prof. Dr.<br />

Da. dargelegt hat, erbrachten Tierversuche den Nachweis, dass Methamphetamin nach der körperlichen Aufnahme<br />

größtenteils zu Amphetamin metabolisiert, welches dann insbesondere im frontalen Cortex kumuliert. Danach ist zu<br />

vermuten, dass bei chronischem Missbrauch von Methamphetamin die Gesamtwirkung ohnehin wesentlich von der<br />

zentralen Wirkung des im Zentralnervensystem angereicherten Amphetamins bestimmt wird. Zwar dürfte, wie ebenfalls<br />

aus Tierversuchen abzuleiten ist, die Toxizität des (RS)-Methamphetamins nur etwa 30 bis 50 % derjenigen des<br />

(2S)-Methamphetamins betragen. Eine Studie an Konsumenten (Mendelson J. et al., Human Pharmacology of the<br />

Methamphetamine Stereoisomers, Clin Pharmacol Ther 80:403-420; 2006) zeigt jedoch auf, dass gleiche Dosen des<br />

Racemats <strong>und</strong> des (2S)-Methamphetamins insbesondere in Bezug auf das Herzkreislaufsystem vergleichbare pharmakodynamische<br />

Wirkungen hervorrufen; die entsprechende Dosis des (R)-Methamphetamins blieb demgegenüber<br />

wirkungslos. Als Ursache wird vermutet, dass das im Racemat vorhandene (R)-Methamphetamin die beschriebene<br />

Metabolisierung des Anteils an (2S)-Methamphetamin in (S)-Amphetamin fördert.<br />

cc) Indes sieht der Senat nach Anhörung der Sachverständigen keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse,<br />

die es rechtfertigen könnten, den Grenzwert der nicht geringen Menge jedenfalls bei (RS)-Methamphetamin niedriger<br />

anzusetzen als bei (RS)-Amphetamin.<br />

(1) Für die Gleichbehandlung von Amphetamin <strong>und</strong> Methamphetamin spricht zunächst die in den USA zu beobachtende<br />

weitgehend unterschiedslose medizinische Applikation beider Wirkstoffe. Unabhängig davon, ob Amphetamin<br />

oder Methamphetamin zur Anwendung kommt, beträgt die übliche Dosis 5 mg alle 4 bis 6 St<strong>und</strong>en. Die Dosierung<br />

für die Langzeitbehandlung von Kindern mit ADHS ab 6 Jahren wird für Methamphetamin (Desoxyn®) mit 20 bis<br />

25 mg pro Tag <strong>und</strong> für Amphetamin (ADDERALL XR®) mit maximal 30 mg pro Tag empfohlen.<br />

(2) Unter Berücksichtigung des meist erheblich geringeren Körpergewichts von Kindern ergeben sich hieraus zugleich<br />

Bedenken dagegen, 20 bis 30 mg Methamphetamin im Falle missbräuchlicher Einnahme der Substanz bereits<br />

als eine die Bestimmung des Grenzwerts der nicht geringen Menge maßgeblich beeinflussende hohe Dosis anzusehen.<br />

Der Wirkstoffgehalt der in Deutschland bislang sichergestellten illegalen Methamphetamin-Tabletten beträgt<br />

260


demgegenüber durchschnittlich 25 bis 60 mg; in dieser Bandbreite bewegen sich nach bisherigen Erkenntnissen auch<br />

die Dosen, die schon Erstkonsumenten zum Erreichen des gewünschten Rauschzustandes einnehmen. In der medizinischen<br />

Fachliteratur werden Mengen zwischen 5 <strong>und</strong> 30 mg als niedrige, auch für die klinische Erprobung der Substanz<br />

am Menschen verwendete Dosen bezeichnet (Cruickshank et Dyer, A Review of the Clinical Pharmacology of<br />

Methamphetamine, Addiction 104:1085-1099, 1088; 2009). Hart et al. (Acute Physiological and Behavioral Effects<br />

of Intranasal Methamphetamine in Humans, Neuropsychopharmacology 33, 1847-1855, 1848 f; 2008) berichten über<br />

eine klinische Untersuchung der Wirkung von Methamphetamin auf den Menschen, bei der Einzeldosen von bis zu<br />

50 mg/70 kg Körpergewicht verabreicht wurden; die aus Sicherheitsgründen festgelegte Höchstdosis betrug 60 mg.<br />

(3) Auch sonst finden sich in der Fachliteratur keine Belege dafür, dass Methamphetamin im Vergleich zu Amphetamin<br />

einen höheren Wirkungsgrad <strong>und</strong> eine erhöhte Gefährlichkeit aufweist. Die Überlegung, Methamphetamin<br />

verfüge auf Gr<strong>und</strong> der veränderten chemischen Strukturen über eine verbesserte Lipophilie mit der Folge gesteigerter<br />

Bioverfügbarkeit <strong>und</strong> Wirkung, erweist sich letztlich nicht als tragfähig. Zwar stimmten beide vom Senat angehörten<br />

Sachverständigen darin überein, dass die weitere Methylgruppe des Methamphetamins dessen gegenüber Amphetamin<br />

gesteigerte Lipophilie aus organisch-chemischer Sicht geradezu aufdrängt. Die Aussagekraft der von Prof. Dr.<br />

Da. benannten experimentellen Studien, welche diese auf theoretischen Gr<strong>und</strong>annahmen beruhende Erwartung nicht<br />

bestätigten, sondern für beide Substanzen ein annähernd gleiches Verteilungsvolumen - ca. 3,7 bis 4 l/kg - ergaben<br />

(Cook et al., Pharmacokinetiks of Methamphetamine self-administered to human subjects by smoking S-(+)methamphetamine<br />

hydrochloride, Drug Metabolism Disposition 21:717-723; 1993; de la Torre et al., Clinical Pharmacokinetics<br />

of amfetamine and related substances, Clinical Pharmacokinetics 43:157-185; 2004), hat indes auch der<br />

Sachverständige Dr. D. , der den Wirkungsgrad von Methamphetamin bis zu zweimal höher einschätzt, nicht in Frage<br />

gestellt. Ebenso wenig lässt sich eine erhöhte Gefährlichkeit von Methamphetamin überzeugend mit der bei dieser<br />

Substanz verbreiteten Konsumform des Rauchens begründen. Im Vergleich zur oralen Aufnahme kommt es hier -<br />

wie bei der intravenösen Applikation - zwar zu einem bis zu zehnfach schnelleren Wirkungseintritt, jedoch liegt die<br />

dadurch erreichbare maximale Wirkstoffkonzentration im Körper durchschnittlich um etwa die Hälfte niedriger<br />

(Cruickshank et Dyer aaO 1087). Gleichermaßen kann die Bioverfügbarkeit von Methamphetamin beim Rauchen<br />

belastbar lediglich mit 67 % der vom Konsumenten verwendeten Dosis angenommen werden; dieser Wert entspricht<br />

im Wesentlichen dem bei der oralen Aufnahme erzielten <strong>und</strong> liegt deutlich unter dem bei intranasaler Anwendung<br />

erreichbaren Wert (Cruickshank et Dyer aaO; Hart et al., Acute Physiological and Behavioral Effects of Intranasal<br />

Methamphetamine in Humans, Neuropsychopharmacology 33, 1847-1855, 1848; 2008). Im Übrigen dürfte auch die<br />

Annahme, bei Amphetamin scheide eine solche die Anflutung beschleunigende - <strong>und</strong> damit möglicherweise das<br />

Suchtverhalten beeinflussende - Konsumform mangels genügender Flüchtigkeit des Stoffes aus, in dieser Allgemeinheit<br />

nicht zutreffen. Jedenfalls bei Amphetaminhydrochlorid steht die Höhe des Siedepunkts dem Rauchen nicht<br />

entgegen (vgl. http://www.suchtmittel.de/info/amphetamin/000292.php). Aber auch beim Rauchen von Gemischen<br />

des Sulfatsalzes wurden im Kondensat teils nicht unerhebliche Wirkstoffkonzentrationen nachgewiesen (Pawlik et<br />

Mahler, Smoke analysis of adulterated illicit drug preparations, Toxichem Krimtech 78:200-210; 2011). Schließlich<br />

ergeben sich auch Bedenken, die durch die einzelnen Konsumformen von Methamphetamin einerseits <strong>und</strong> Kokain<br />

andererseits erzielbaren Anflutungseffekte gleichzusetzen. Nach der Untersuchung von Hart et al. (aaO 1847, 1850<br />

f.) erreichen bei intranasaler Aufnahme (der jedenfalls in den USA weitaus häufigsten Konsumform), intravenöser<br />

Verabreichung <strong>und</strong> Inhalieren (Rauchen) von Methamphetamin gleichermaßen sowohl die kardiovaskulären Wirkungen<br />

als auch das subjektive Rauschempfinden durchschnittlich innerhalb von 15 Minuten ihren Höhepunkt. Dies<br />

entspricht im Wesentlichen auch den Werten, welche die Studie von Fowler et al. (J Nucl Med 48:1724-1732, 1729;<br />

2007) zur Auswirkung intravenös verabreichten d- <strong>und</strong> l-Methamphetamins auf das Verhalten von Primaten ermittelt<br />

hat. Die von Fowler et al. darüber hinaus angestellten vergleichenden Untersuchungen mit Kokain ergaben demgegenüber<br />

einen Durchschnittswert von 4 Minuten (aaO 1729 f.).<br />

(4) Der Senat sieht sich bei seinem Ergebnis im Einklang auch mit der Rechtslage in der Republik Österreich. Die<br />

Untergrenze der die einzelnen Begehungsweisen des unerlaubten Umgangs mit Suchtstoffen jeweils qualifizierenden<br />

tatbezogenen Menge, die geeignet ist, in großem Ausmaß eine Gefahr für das Leben oder die Ges<strong>und</strong>heit von Menschen<br />

herbeizuführen (§§ 28b, 31b ÖstSMG), wird dort für Amphetamin <strong>und</strong> seine Derivate ohne weitere Differenzierung<br />

ebenfalls einheitlich bestimmt <strong>und</strong> bei 10 g der Reinsubstanz angesetzt (Anhang 3 zur ÖStSuchtgift-<br />

Grenzmengenverordnung; vgl. auch Oberster Gerichtshof, Urteil vom 20. Dezember 1995 - 13 Os 126/95 unter<br />

Verweis auf das Gutachten des Beirats zur Bekämpfung des Missbrauchs von Alkohol <strong>und</strong> anderen Suchtmitteln<br />

vom 10. Mai 1985 [abgedruckt in Foregger/Litzka, Suchtgiftgesetz, 2. Aufl., S. 105 ff.]). In der Schweiz wird zwar<br />

bei der Bestimmung der Menge, welche die Ges<strong>und</strong>heit vieler Menschen in Gefahr bringen kann (Art. 19 Ziff. 2<br />

Buchst. a SchwBetmG), nunmehr für Methamphetamin mit 12 g Methamphetamin-Hydrochlorid (= 9,68 g Base) ein<br />

261


noch schärferer Grenzwert vorgeschlagen als für Kokain (18 g; Stellungnahme der Schweizerischen Gesellschaft für<br />

Rechtsmedizin vom Juni 2010 zur Gefährlichkeit von Methamphetamin). Dieser Vorschlag orientiert sich aber im<br />

Wesentlichen nur am Urteil des (deutschen) B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 3. Dezember 2008 (2 StR 86/08, BGHSt 53,<br />

89) <strong>und</strong> an der darin mitgeteilten Auffassung der angehörten Gutachter. Weiterreichende Forschungsergebnisse liegen<br />

ihm nicht zugr<strong>und</strong>e.<br />

(5) Die vom Sachverständigen Dr. D. im Weiteren als Beleg für eine bessere Bioverfügbarkeit von Methamphetamin<br />

herangezogenen Veröffentlichungen sind für die zu treffende Entscheidung nicht ergiebig. Nichols (in: Cho et Segal,<br />

Amphetamine and its Analogs, 1994, S. 6) greift zwar die These auf, Methamphetamin weise fast die zweifache<br />

Potenz von Amphetamin auf, lässt aber wiederum nicht erkennen, worauf diese Annahme beruht. Die Abhandlung<br />

von Li et al. (Br J Clin Pharmacol 69: 187-192; 2010) enthält keine aussagekräftigen Hinweise auf eine höhere<br />

Bioverfügbarkeit von Methamphetamin im Vergleich zu Amphetamin, sondern befasst sich in erster Linie mit den<br />

Metaboliten, die in Abhängigkeit von der jeweiligen stereochemischen Beschaffenheit des verabreichten Methamphetamins<br />

beim Abbau typischerweise entstehen. Im Übrigen haben weder Hart et al. noch Fowler et al. in ihren<br />

oben angesprochenen Studien Vergleiche zwischen Methamphetamin <strong>und</strong> Amphetamin angestellt.<br />

3. Ob danach für (2S)-Methamphetamin weiterhin der Auffassung gefolgt werden kann, es wirke bis zu zweimal<br />

stärker als Amphetamin (BGH, Urteil vom 3. Dezember 2008 - 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89), kann offen bleiben,<br />

denn der Senat hat nur über den Grenzwert bei (RS)-Methamphetamin zu entscheiden.<br />

BtMG § 30 Bande<br />

BGH, Urt. v. 29.02.2012 - 2 StR 426/11 - BeckRS 2012, 09345<br />

Zwar folgt nicht aus jeglicher Unterstützung einer Gruppierung, etwa durch Strecken von Betäubungsmitteln<br />

oder Kurierfahrten, auch ohne Weiteres Zugehörigkeit zu einer Bande; auch Dienstleistungen<br />

eines Dritten, die einem Täterzusammenschluss zugutekommen, können "selbständig"<br />

erbracht werden, ohne dass darin eine Verbindung zu gemeinsamer künftiger Deliktsbegehung zu<br />

sehen ist. Es ist aber auch in diesen Fällen - wie bei Handelsketten im Betäubungsmittelhandel -<br />

sorgfältig zu prüfen, ob darin eine Verbindung zu gemeinsamer künftiger Deliktsbegehung oder<br />

lediglich eine durch Eigeninteresse gekennzeichnete Geschäftsbeziehung zu Mitgliedern einer Absatzorganisation<br />

zu sehen ist.<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 19. April 2011, soweit<br />

es den Angeklagten E. betrifft, in den Fällen II. 12, 14 <strong>und</strong> 15 der Urteilsgründe <strong>und</strong> im Ausspruch über die Gesamtstrafe<br />

mit den Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge in neun Fällen sowie der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen<br />

in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von fünf Jahren verurteilt. Außerdem hat es den Verfall eines Geldbetrags in Höhe von 37.140 € angeordnet.<br />

Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die sich gegen die Verurteilung<br />

in den Fällen II. 12, 14 <strong>und</strong> 15 richtet, hat Erfolg.<br />

I.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts kamen der seit vielen Jahren Drogen konsumierende Angeklagte <strong>und</strong><br />

der frühere Mitangeklagte I. , der als Kurierfahrer eingesetzt werden sollte, im Jahr 2009 überein, gemeinsam Drogengeschäfte<br />

zu tätigen. Der Angeklagte beabsichtigte, mit den Erlösen aus den Rauschgiftgeschäften seine erheblichen<br />

Geldschulden tilgen. Beginnend ab einem nicht genau zu bestimmenden Zeitpunkt im Sommer 2009 bis Januar<br />

2010 kam es dementsprechend zu insgesamt zehn Rauschgiftgeschäften. Dabei erwarb der Angeklagte Haschisch,<br />

Marihuana oder Amphetamin in unterschiedlichen Mengen zum gewinnbringenden Weiterverkauf, zum <strong>Teil</strong> auch im<br />

Ausland, das er von dort nach Deutschland einführte (Fälle 1-7, 9-11).<br />

2. Im Oktober/November 2009 traf der Angeklagte den ihm schon länger bekannten gesondert Verfolgten M. wieder,<br />

mit dem er in der Folgezeit ebenfalls Drogengeschäfte tätigte. Dabei lieferte der Angeklagte diesem Amphetamin,<br />

262


das er mit ebenfalls vom Angeklagten bereit gestellten Koffein streckte. Von dem aufgestreckten Amphetamin gab<br />

dieser jeweils etwa zwei Drittel an ihn zurück; den Rest erwarb er zum eigenen Weiterverkauf von dem Angeklagten,<br />

der ihm für das Strecken einen Preisnachlass gewährte. Es kam in der Folgezeit zu fünf Geschäften. Am 13.<br />

Januar 2010 holte der frühere Mitangeklagte I. im Auftrag des Angeklagten bei dem gesondert Verfolgten M. mindestens<br />

1 kg Amphetamin ab, das dieser zuvor gestreckt <strong>und</strong> portioniert hatte. Er transportierte es zu einer dritten<br />

Person, die es von dem Angeklagten erworben hatte (Fall 8). Zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt im Januar<br />

2010 erwarb der Angeklagte im deutschniederländischen Grenzgebiet mindestens 1 kg Amphetamin, das der<br />

frühere Mitangeklagte I. von dort durch Deutschland transportierte, bevor es der Angeklagte wieder übernahm <strong>und</strong><br />

dem gesondert Verfolgten M. zur Streckung <strong>und</strong> Portionierung übergab. Dieser stellte zwei Pakete von jeweils 1 kg<br />

gestrecktem Amphetamin zur Weiterveräußerung durch den Angeklagten her <strong>und</strong> behielt zum gewinnbringenden<br />

Weiterverkauf einen Rest von 500 g zum Preis von 2,50 € je Gramm (Fall 12). Am 2. Februar 2010 holte der gesondert<br />

Verfolgte F. , der für den zwischenzeitlich inhaftierten I. die Kurierfahrten übernommen hatte, in Aachen mindestens<br />

1 kg Amphetamin ab <strong>und</strong> transportierte es zu dem Angeklagten, der es zum gesondert Verfolgten M. brachte.<br />

Dieser streckte das Amphetamin <strong>und</strong> portionierte es. Von dieser Menge holte der Angeklagte am 4. Februar 2010 ein<br />

Kilogramm zur Weiterveräußerung ab; 500 g erwarb der gesondert verfolgte M. zum gewinnbringenden Weiterverkauf<br />

(Fall 14). Am 11. Februar 2010 bestellte der gesondert Verfolgte F. bei dem Angeklagten 500 g Amphetamin.<br />

Er holte es in Absprache mit dem Angeklagten bei dem gesondert Verfolgten M. ab, nachdem dieser die bestellten<br />

Drogen zuvor im Auftrag des Angeklagten aufbereitet <strong>und</strong> portioniert hatte (Fall 13). Schließlich bestellte der Angeklagte<br />

am 20. Februar 2010 bei seinem niederländischen Lieferanten zwei Kilogramm Amphetamin <strong>und</strong> drei Kilogramm<br />

Koffein, das der gesondert Verfolgte F. am 23. Februar 2010 dort abholte <strong>und</strong> dies in Kenntnis der Absicht<br />

des Angeklagten, es in Deutschland nach Streckung <strong>und</strong> Portionierung durch den gesondert Verfolgten M. gewinnbringend<br />

zu veräußern, einführte. Hierzu kam es jedoch nicht mehr, da der Angeklagte wie auch der gesondert Verfolgte<br />

F. alsbald festgenommen wurden (Fall 15).<br />

3. Das Landgericht hat den Angeklagten in allen Fällen wegen unerlaubten Handeltreibens in nicht geringer Menge<br />

verurteilt, in einigen Fällen, unter anderem auch im Fall 15, zusätzlich wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln<br />

in nicht geringer Menge. Von einer Verurteilung wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln<br />

in nicht geringer Menge hat es abgesehen, weil sich der Angeklagte <strong>und</strong> der gesondert verfolgte M. jeweils auf<br />

Verkäufer- <strong>und</strong> Erwerberseite gegenübergestanden hätten <strong>und</strong> es insoweit an einer Verbindung zur künftigen gemeinsamen<br />

Tatbegehung gefehlt habe.<br />

4. Die Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet, dass der Angeklagte in den Fällen 12, 14 <strong>und</strong> 15 nicht auch<br />

wegen bandenmäßigen Handeltreibens von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt worden ist. Weiter<br />

wendet sie sich gegen die Strafzumessung des Landgerichts, das rechtsfehlerhaft zu Gunsten des Angeklagten die<br />

gleichzeitige Anordnung von Wertersatzverfall angeordnet habe.<br />

II. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.<br />

1. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf die Verurteilung in den Fällen II. 12, 14 <strong>und</strong> 15 beschränkt.<br />

Die nach der Rechtsmittelbeschränkung nachträglich erhobenen Einwendungen gegen die Strafzumessung<br />

gehen ins Leere, soweit sie sich gegen den Rechtsfolgenausspruch hinsichtlich der Verurteilungen in den anderen<br />

Fällen richten.<br />

2. Das Rechtsmittel hat Erfolg.<br />

a) Das Landgericht hat in den genannten Fällen das Vorliegen bandenmäßigen Betäubungsmittelhandels nach § 30a<br />

Abs. 1 BtMG nicht rechtsfehlerfrei verneint. Nach der neueren Rechtsprechung (vgl. BGHSt 46, 321) setzt der Begriff<br />

der Bande den Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraus, die sich mit dem Willen verb<strong>und</strong>en<br />

haben, künftig für eine gewisse Dauer mehrere selbständige, im Einzelnen noch ungewisse Straftaten des im Gesetz<br />

genannten Deliktstyps zu begehen. Wesentliches Element einer Bande ist danach eine auf eine gewisse Dauer angelegte<br />

Verbindung mehrerer Personen zur zukünftigen gemeinsamen Deliktsbegehung (BGHSt 46, 321, 329), wobei<br />

Mitglied einer Bande auch sein kann, wem nach der - stillschweigend möglichen - Bandenabrede nur Aufgaben<br />

zufallen, die sich bei wertender Betrachtung als Gehilfentätigkeiten darstellen (BGHSt 47, 214). An einer Verbindung<br />

zur gemeinsamen Tatbegehung fehlt es, wenn sich Beteiligte eines Drogengeschäfts - sei es auch in einem<br />

eingespielten Bezugs- <strong>und</strong> Absatzsystem - lediglich jeweils auf der Verkäufer- <strong>und</strong> Erwerberseite gegenüberstehen<br />

(vgl. BGH NStZ 2004, 696). Die Annahme des Landgerichts, es habe zwischen dem Angeklagten <strong>und</strong> dem gesondert<br />

Verfolgten M. keine Verbindung zu gemeinsamer Deliktsbegehung bestanden, weil sie sich jeweils auf Käufer- <strong>und</strong><br />

Verkäuferseite gegenüber gestanden hätten, greift zu kurz. Zwar erwarb M. von dem Angeklagten Amphetamin, das<br />

er auf eigene Rechnung <strong>und</strong> eigenes Risiko weiterveräußerte. Der Angeklagte seinerseits unternahm seine Betäubungsmittelgeschäfte<br />

allein <strong>und</strong> in eigenem Namen, ohne Beteiligung eines Dritten am Gewinn oder Risiko. Dies<br />

263


etrifft sowohl den Verkauf der Drogen an M. wie auch den der übrigen Drogen an weitere Abnehmer. Der Angeklagte<br />

<strong>und</strong> M. standen sich danach insoweit selbständig auf Verkäufer- <strong>und</strong> Käuferseite gegenüber (vgl. Körner,<br />

BtMG, 7. Aufl. 2012, § 30, Rn. 31). Zu berücksichtigen ist aber darüber hinaus, dass M. für den Angeklagten das<br />

ihm angelieferte Amphetamin mit Koffein streckte, portionierte <strong>und</strong> - abzüglich der selbst erworbenen Menge - an<br />

den Angeklagten zurückgab. Dies hätte dem Landgericht Anlass zu näherer Prüfung geben müssen, ob dadurch eine<br />

Einbindung von M. in die Absatzorganisation des Angeklagten, die nach den Feststellungen jedenfalls mit den Kurieren<br />

I. bzw. später F. bestand, erfolgt ist. Zwar folgt nicht aus jeglicher Unterstützung einer Gruppierung, etwa<br />

durch Strecken von Betäubungsmitteln (vgl. Körner, BtMG 7. Aufl. 2012, § 30, Rn. 43) oder Kurierfahrten, auch<br />

ohne Weiteres Zugehörigkeit zu einer Bande; auch Dienstleistungen eines Dritten, die einem Täterzusammenschluss<br />

zugutekommen, können "selbständig" erbracht werden, ohne dass darin eine Verbindung zu gemeinsamer künftiger<br />

Deliktsbegehung zu sehen ist. Es ist aber auch in diesen Fällen - wie bei Handelsketten im Betäubungsmittelhandel -<br />

sorgfältig zu prüfen, ob darin eine Verbindung zu gemeinsamer künftiger Deliktsbegehung oder lediglich eine durch<br />

Eigeninteresse gekennzeichnete Geschäftsbeziehung zu Mitgliedern einer Absatzorganisation zu sehen ist. Eine<br />

solche Prüfung, die nicht allein darauf abzustellen hat, ob diese Dienstleistung mit einem festen Preis entlohnt worden<br />

ist, sondern auch die sonstigen Umstände der Geschäftsbeziehung (wie Art <strong>und</strong> Häufigkeit der Leistung, ihre<br />

äußere Gestaltung oder auch den Einfluss, den die Beteiligten darauf im Einzelnen nehmen) in den Blick nehmen<br />

muss, hat das Landgericht nicht vorgenommen. Insoweit hat das Landgericht seiner Ablehnung einer Bandenmitgliedschaft<br />

einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab zugr<strong>und</strong>e gelegt. Dabei war zwar auch der Umstand zu berücksichtigen,<br />

dass M. selbst auch einen <strong>Teil</strong> der Betäubungsmittel erwarb <strong>und</strong> seine Entlohnung in der Form eines<br />

Preisnachlasses erhielt. Doch steht dies seiner Einbeziehung in eine Bandenabrede nicht von vornherein entgegen.<br />

Die Prüfung wird nachzuholen sein, wobei der neue Tatrichter nicht nur der Frage nachzugehen haben wird, ob <strong>und</strong><br />

inwieweit die Kuriere I. <strong>und</strong> F. Kenntnis von der Tätigkeit des gesondert Verfolgten M. für den Angeklagten hatten<br />

<strong>und</strong> ob insoweit eine (auch nur stillschweigende) Abrede zum Zwecke künftigen gemeinsamen Betäubungsmittelhandels<br />

vorlag, sondern auch, ob M. in den Fällen II. 12, 14 <strong>und</strong> 15, in denen er nach den Feststellungen lediglich<br />

Kontakt mit dem Angeklagten hatte, seinerseits Kenntnis vom Tätigwerden von Kurieren hatte.<br />

b) Die Aufhebung des Schuldspruchs in den genannten Fällen zieht die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs<br />

nach sich.<br />

HeilprG § 5 Strafbarkeit (nur) bei genereller Gefährlichkeit der konkreten Tat<br />

BGH, Urt. v. 22.06.2011 - 2 StR 580/10 – NJW 2011, 3591 Anm. Duttge/Weber JZ 2012, 210<br />

LS: Unter die strafbewehrte Erlaubnispflicht nach § 1 Abs. 1 HeilprG fallen nur solche Behandlungen,<br />

die ges<strong>und</strong>heitliche Schäden verursachen können. Bei dem Straftatbestand des § 5 HeilprG<br />

handelt es sich um ein potentielles Gefährdungsdelikt, bei dem nur eine generelle Gefährlichkeit der<br />

konkreten Tat, nicht aber der Eintritt einer konkreten Gefahr zum Tatbestand gehört.<br />

1. Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 15. Juni 2010 wird als<br />

unbegründet verworfen.<br />

2. Die Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen unerlaubter Ausübung der Heilk<strong>und</strong>e in elf Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe<br />

von 120 Tagessätzen verurteilt <strong>und</strong> in weiteren 20 Fällen freigesprochen. Die gegen ihre Verurteilung gerichtete,<br />

auf die Sachrüge gestützte Revision der Angeklagten hat keinen Erfolg.<br />

I. Nach den Feststellungen des Landgerichts führte die Angeklagte in ihrer Wohnung Behandlungen nach der sog.<br />

Synergetik-Methode durch. Nach der dieser Methode zugr<strong>und</strong>e liegenden Lehre lassen sich bei den zu behandelnden<br />

Klienten in Tiefenentspannung innere Bilder bearbeiten. Hierdurch sollen unverarbeitete Erlebnisse <strong>und</strong> Konflikte<br />

aufgearbeitet werden <strong>und</strong> auf neuronaler Ebene eine Hintergr<strong>und</strong>auflösung von Krankheiten erfolgen. Um K<strong>und</strong>en<br />

zu gewinnen, wandte sich die Angeklagte mit einer eigenen Internetseite <strong>und</strong> mit Flyern u.a. an Menschen mit Ängsten,<br />

Depressionen, Traumata <strong>und</strong> weiteren psychischen Problemen. In ihrem Informationsmaterial erläuterte die<br />

Angeklagte zur Methode der Synergetik, dass diese die wirkungsvollsten Aspekte anderer Therapieformen einbeziehe,<br />

<strong>und</strong> nannte beispielhaft neben anderen auch die psychotherapeutische Methode des katathymen Bilderlebens. Bei<br />

ihren Therapiesitzungen gelangten die Klienten in einen Zustand hypnoid verminderten Bewusstseins, <strong>und</strong> sie erleb-<br />

264


ten Gedächtnisbilder, die sie der Angeklagten mit den damit verb<strong>und</strong>enen Gefühlen beschrieben. Während der mitunter<br />

von Affektzuständen begleiteten Behandlung wurden die Klienten teilweise mit belastenden Erinnerungen<br />

konfrontiert. Eine Besprechung zwischen der Angeklagten <strong>und</strong> ihren Klienten über das zuvor Erlebte fand im Einzelnen<br />

nicht statt. Für ihre Behandlungen, die sie auch zu Heilzwecken ausüben wollte, besaß die Angeklagte keine<br />

Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz. Sie wusste, dass die Ausübung von Heilk<strong>und</strong>e erlaubnispflichtig ist, <strong>und</strong><br />

war darüber informiert, dass aufgr<strong>und</strong> mehrerer Verbotsentscheidungen verschiedener Ges<strong>und</strong>heitsämter auf verwaltungsgerichtlicher<br />

Ebene über die Einordnung der Synergetik-Therapie als Ausübung der Heilk<strong>und</strong>e gestritten wurde.<br />

Elf Klienten suchten die Angeklagte mit Krankheiten bzw. Leiden auf, deren Besserung sie sich erhofften. In<br />

neun dieser elf der Verurteilung zugr<strong>und</strong>e liegenden Behandlungsfälle hatten die behandelten Personen psychische<br />

Leiden; zwei der behandelten Personen litten unter körperlichen Krankheiten. Bei keiner dieser Personen wurden<br />

durch die Behandlung, die einer konfrontativen Psychotherapie entsprach, ges<strong>und</strong>heitliche Schäden verursacht. Allerdings<br />

hat das Landgericht in sämtlichen elf Fällen die Gefahr einer unmittelbaren Ges<strong>und</strong>heitsbeschädigung angenommen.<br />

II. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgr<strong>und</strong> der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der<br />

Angeklagten ergeben. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch.<br />

1. Gemäß § 5 Abs. 1 HeilprG ist strafbar, wer ohne zur Ausübung des ärztlichen Berufs berechtigt zu sein <strong>und</strong> ohne<br />

eine Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 HeilprG zu besitzen, die Heilk<strong>und</strong>e ausübt. Ausübung der Heilk<strong>und</strong>e ist nach der<br />

Legaldefinition des § 1 Abs. 2 HeilprG jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung,<br />

Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen. Wegen der mit dem Erlaubniszwang<br />

verb<strong>und</strong>enen Beschränkung des Gr<strong>und</strong>rechts der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ist nach der ständigen<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichts eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung dieses Begriffs<br />

geboten; danach fallen nur solche Behandlungen unter die Erlaubnispflicht, die ges<strong>und</strong>heitliche Schäden verursachen<br />

können, wobei nach dem Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit ein nur geringfügiges Gefahrenmoment nicht<br />

ausreicht (vgl. BVerwGE 23, 140, 146; 35, 308, 311; BVerwG, Urteil vom 26. August 2010 - 3 C 28/09, NVwZ-RR<br />

2011, 23, zur Erlaubnispflicht der Synergetik-Therapie). Mit dieser Auslegung, nach der allein das Gefährdungspotential<br />

der in Rede stehenden Tätigkeit geeignet ist, die strafbewehrte Erlaubnispflicht nach dem Heilpraktikergesetz<br />

auszulösen (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 2. März 2004 - 1 BvR 784/03, NJW-RR 2004, 705 - "Geistheiler";<br />

Beschluss vom 3. Juni 2004 - 2 BvR 1802/02, NJW 2004, 2890 - "W<strong>und</strong>er-heiler"), soll deren Gesetzeszweck<br />

Rechnung getragen werden, der Bevölkerung einen ausreichenden Schutz gegenüber Ges<strong>und</strong>heitsgefährdungen<br />

durch Unberufene zu geben (vgl. zum Schutzzweck des Heilpraktikergesetzes auch BVerfG, Beschluss vom 10. Mai<br />

1988 - 1 BvR 482/84, 1 BvR 1166/85, BVerfGE 78, 179, 194; BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 2004 - 2 BvR<br />

1802/02, aaO). Die einschränkende Auslegung des von der primären öffentlich-rechtlichen Verhaltensnorm in § 1<br />

HeilprG verwendeten Begriffs "Ausübung der Heilk<strong>und</strong>e" ist auch für die akzessorische strafrechtliche Beurteilung<br />

von Heilbehandlungsfällen nach § 5 HeilprG maßgeblich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 2004 - 2 BvR<br />

1802/02, aaO) <strong>und</strong> wird seit längerem auch in der Rechtsprechung der Strafgerichte vertreten (vgl. BGH, Urteil vom<br />

2. Juni 1981 - 1 StR 220/81, NStZ 1981, 443; BayObLG, NStZ 1982, 474; NStZ-RR 2000, 381; OLG Koblenz,<br />

NStZ 1987, 468; noch offen gelassen von BGH, Urteil vom 13. September 1977 - 1 StR 389/77, NJW 1978, 599).<br />

Danach handelt es sich bei dem Straftatbestand des § 5 HeilprG im Hinblick auf das Erfordernis nennenswerter mittelbarer<br />

oder unmittelbarer Ges<strong>und</strong>heitsgefährdungen als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Erlaubnispflicht<br />

nach § 1 Abs. 1 HeilprG um ein potentielles Gefährdungsdelikt. Bei dieser Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte<br />

gehört nur eine generelle Gefährlichkeit der konkreten Tat, nicht aber der Eintritt einer konkreten Gefahr zum<br />

Tatbestand (vgl. allgemein zum Typus des potentiellen Gefährdungsdelikts BGHSt 46, 212, 218; BGH, Urteil vom<br />

25. März 1999 - 1 StR 493/98, NJW 1999, 2129; Fischer, <strong>StGB</strong> 58. Aufl., Vor § 13 Rn. 19 mwN; s. auch zur systematischen<br />

Einordnung der Gefährdungseignung einer das Leben gefährdenden Behandlung bei § 224 Abs. 1 Nr. 5<br />

<strong>StGB</strong>, Fischer, aaO, § 224 Rn. 12). Der Tatrichter hat dabei zu prüfen, ob die jeweilige Handlung bei genereller<br />

Betrachtung der konkreten Tatumstände gefahrengeeignet ist. Für den Schuldspruch war es in objektiver Hinsicht<br />

damit erforderlich <strong>und</strong> ausreichend, dass die von der Angeklagten angewandte Therapieform nach einer ex ante-<br />

Betrachtung in jedem einzelnen Fall geeignet war, die Ges<strong>und</strong>heit ihrer Patienten nennenswert zu schädigen. Ob sich<br />

diese potentielle Ges<strong>und</strong>heitsgefährdung in einzelnen Fällen konkretisiert oder gar realisiert hatte, war nur für den<br />

Strafausspruch bedeutsam.<br />

2. Das Landgericht ist in den elf der Verurteilung zugr<strong>und</strong>e liegenden Fällen rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis erlangt,<br />

dass die von der Angeklagten bei diesen Patienten jeweils durchgeführte Behandlung als Ausübung der Heilk<strong>und</strong>e<br />

anzusehen ist, bei deren Anwendung eine hinlängliche Wahrscheinlichkeit unmittelbarer Ges<strong>und</strong>heitsgefahren<br />

bestanden hat.<br />

265


a) Die sachverständig beratene Strafkammer hat die Synergetik-Therapie als eine Art Psychotherapie beurteilt <strong>und</strong><br />

dies tragfähig damit begründet, dass sie neben suggestiven Elementen, wie sie bei einer Hypnosetherapie oder beim<br />

autogenen Training eingesetzt würden, auch psychoanalytische Elemente aufweise, indem abgespaltene Persönlichkeitsanteile<br />

bewusst gemacht <strong>und</strong> so wieder in die Persönlichkeit integriert würden. Wiederzufinden sei auch das<br />

psychoanalytische <strong>und</strong> psychotherapeutische Prinzip des Wiedererlebens traumatischer Erfahrungen. Die Synergetik-<br />

Therapie entspreche vor allem der anerkannten psychotherapeutischen Methode des katathymen Bilderlebens. Dabei<br />

nutze der Therapeut Schlummerbilder, wie sie spontan auch in der Einschlafphase auftauchen. Der entspannte Klient<br />

werde ermuntert, Bilder auftauchen zu lassen, um unbewusste Konflikte symbolisch aufzuarbeiten. Weiterhin hat die<br />

Strafkammer Psychotherapie zutreffend als Ausübung der Heilk<strong>und</strong>e i.S.v. § 1 Abs. 2 HeilprG angesehen <strong>und</strong> sich<br />

dabei auf die hierzu gr<strong>und</strong>legende Entscheidung des B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichts (Urteil vom 10. Februar 1983 - 3 C<br />

21/82, BVerwGE 66, 367 = NJW 1984, 1414) gestützt (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 1988 - 1 BvR<br />

482/84, 1 BvR 1166/85, BVerfGE 78, 179; BayObLG, NStZ 1982, 474). Der danach für psychotherapeutische Tätigkeiten<br />

bestehende Erlaubnisvorbehalt nach § 1 Abs. 1 HeilprG ist auch durch das Psychotherapeutengesetz vom<br />

16. Juni 1998 nicht entfallen, sondern nur für den durch die Approbation als Psychologischer Psychotherapeut abgedeckten<br />

Bereich gegenstandslos geworden. Denn nach der Gesetzesbegründung sollte durch das Psychotherapeutengesetz<br />

das im Übrigen unberührt bleibende Heilpraktikergesetz insoweit erweitert werden, als neben Ärzten <strong>und</strong><br />

Heilpraktikern auch den Angehörigen der neuen psychotherapeutischen Heilberufe eine eigenverantwortliche Ausübung<br />

von Heilk<strong>und</strong>e innerhalb des durch ihre Approbation abgedeckten Bereichs gestattet wurde (vgl. BT-Drucks.<br />

13/8035, S. 15 Rn. 15). Ausdrücklich festgehalten wurde in den Gesetzesmaterialien, dass das Verbot der unerlaubten<br />

Ausübung der Heilk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> die Strafvorschrift des § 5 HeilprG fortgelten soll, soweit es um heilk<strong>und</strong>liche<br />

Tätigkeiten außerhalb der durch das Psychotherapeutengesetzes geregelten Psychotherapie geht. Danach handelt<br />

auch nach Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes rechtswidrig <strong>und</strong> macht sich strafbar, wer ohne Approbation<br />

als Arzt oder als Psychotherapeut Psychotherapie betreibt, wenn er nicht im Besitz einer Heilpraktikererlaubnis ist<br />

(vgl. zur unveränderten Strafbarkeit eines unerlaubt psychotherapeutisch Tätigen auch BVerwG, Urteil vom 28.<br />

November 2002 - 3 C 44/01, DVBl. 2003, 677).<br />

b) Die Feststellung der Strafkammer, dass bei Anwendung der Synergetik-Therapie durch die Angeklagte die erforderliche<br />

hinlängliche Wahrscheinlichkeit unmittelbarer Ges<strong>und</strong>heitsgefährdung bestand (vgl. UA S. 9, 20, 28), ist im<br />

Ergebnis in sämtlichen der abgeurteilten Behandlungsfälle nicht zu beanstanden.<br />

aa) Die Strafkammer hat auf der Gr<strong>und</strong>lage eines Sachverständigengutachtens nachvollziehbar dargelegt, dass die<br />

Synergetik-Therapie eine konfrontative Psychotherapie-Methode darstelle, die sich für bestimmte psychisch kranke<br />

Menschen nicht eigne. Bei Personen, die sich bereits in einem veränderten Bewusstseinszustand mit verminderter<br />

Realitätskontrolle befänden, könne das katathyme Bilderleben, das mit einer solchen Therapie verb<strong>und</strong>en sei, zur<br />

Auslösung regressiver Prozesse <strong>und</strong> zum Auftreten von Dekompensationen führen. Nach den Ausführungen des<br />

Sachverständigen waren in dessen langjähriger Berufspraxis solche Fälle mehrfach aufgetreten. Zu dem Patientenkreis,<br />

bei dem eine Synergetik-Therapie kontraindiziert ist, zählen nach den Feststellungen des Landgerichts neben<br />

Personen, die zunächst Psychopharmaka benötigen, um therapiefähig zu werden, auch Menschen mit (latenten) Psychosen<br />

oder Borderlinestörungen. Ob ein Patient zu dem Kreis von Personen zählt, bei dem die Gefahr der Verursachung<br />

psychischer Dekompensationen besteht, lässt sich jedenfalls ohne entsprechende medizinische bzw. psychotherapeutische<br />

Kenntnisse nicht zuverlässig beurteilen. Es mag zwar sein, dass etwa auch eine Befragung des Patienten<br />

durch eine insoweit nicht ausgebildete Person, etwa zur Krankheitsvorgeschichte <strong>und</strong> zu eingenommenen Medikamenten,<br />

Aufschlüsse über gewisse Kontraindizierungen geben kann. Es liegt aber auf der Hand, dass dadurch<br />

allein nicht alle eine Behandlung ausschließenden Krankheitsbilder aufgespürt werden könnten, die wie (latente)<br />

Psychosen oder auch Borderlinestörungen für einen Laien nicht ohne Weiteres erkennbar sind. Insoweit stellt schon -<br />

unabhängig davon, ob es sich bei dem zu behandelnden Patienten um eine Person handelt, bei der tatsächlich ein<br />

solches Risiko besteht - die Gefahr des Nichterkennens einer das katathyme Bilderleben kontraindizierenden psychischen<br />

Krankheit <strong>und</strong> die daran anschließende unmittelbare Verursachung einer psychischen Dekompensation ein<br />

nennenswertes potentielles Risiko bei der Anwendung dieser oder einer damit vergleichbaren psychotherapeutischen<br />

Methode dar. Diese Gefahr lässt sich nur ausräumen, wenn die Behandlung durch einen Therapeuten durchgeführt<br />

wird, der über eine entsprechende ärztliche oder psychotherapeutische Qualifikation oder über eine Ausbildung nach<br />

dem Heilpraktikergesetz verfügt (s. dazu näher unten II. 3.). Nur dann ist entsprechend dem Schutzzweck des Gesetzes,<br />

der Bevölkerung einen ausreichenden Schutz vor Ges<strong>und</strong>heitsgefährdungen durch Unberufene zu geben, gewährleistet,<br />

dass die Therapie nur zur Anwendung kommt, wenn das Vorliegen relevanter psychischer Vorerkrankungen<br />

ausgeschlossen ist. Da die Angeklagte, die im Übrigen keine ausführlichen Vorgespräche mit ihren Patienten<br />

führte <strong>und</strong> insoweit nicht einmal bemüht war, deren Krankheitsvorgeschichte aufzuklären, über eine entsprechende<br />

266


Qualifikation nicht verfügte, war danach in sämtlichen Behandlungsfällen die erforderliche unmittelbare Ges<strong>und</strong>heitsgefährdung<br />

gegeben, ohne dass es auf das Vorliegen einschlägiger Krankheiten im Einzelfall noch ankäme.<br />

bb) Soweit das Landgericht darüber hinaus bei der von der Angeklagten durchgeführten Behandlungsmethode einer<br />

sog. "Innenweltreise" die weitere Gefahr gesehen hat, dass der Patient tiefer in einen regressiven Zustand verfalle<br />

<strong>und</strong> dies nachteilige ges<strong>und</strong>heitliche Folgen habe, wenn die durch die Synergetik-Therapie ausgelösten regressiven<br />

Prozesse nicht in einem Gespräch verarbeitet würden (UA S. 22, 23), kommt es darauf für die Strafbarkeit der Angeklagten<br />

konstitutiv nicht mehr an. Auch insoweit wohnte allerdings ihrer Behandlung, an deren Ende keine nachbereitende<br />

Besprechung über das zuvor Erlebte stand, die Eignung inne, ges<strong>und</strong>heitliche Schädigungen hervorzurufen.<br />

Dabei besteht die Gefahr einer Vertiefung regressiver Prozesse nicht nur beim Wiedererleben traumatischer Erlebnisse<br />

(wie in den Fällen II. 5 <strong>und</strong> II. 6 der Urteilsgründe), sondern auch hinsichtlich des psychoanalytischen Elements<br />

der Konfrontation, die sich nach den Feststellungen des Landgerichts auf die Vorstellung innerer Bilder bezieht<br />

(UA S. 8, 20), mit denen abgespaltene Persönlichkeitsbilder bewusst gemacht werden sollen. Danach kann die<br />

Methode des Bildererlebens auch ohne das Wiedererleben eines Traumas regressive Prozesse auslösen, die in jedem<br />

Fall gesprächsweise verarbeitet werden müssen, um unmittelbare Ges<strong>und</strong>heitsgefahren zu vermeiden. Dabei liegt es<br />

im Übrigen - obwohl sich die Kammer dazu nicht verhält - nahe, dass ein solches Gespräch auch nur von einem<br />

Therapeuten durchgeführt werden kann, der über eine entsprechende Ausbildung verfügt.<br />

3. Der Einwand der Revision, dass eine Erlaubnispflicht hier unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

zur Heilbehandlung von Geist- bzw. W<strong>und</strong>erheilern durch Handauflegen (vgl. BVerfG, Beschluss<br />

vom 2. März 2004 - 1 BvR 784/03, NJW-RR 2004, 705 - "Geist-heiler"; Beschluss vom 3. Juni 2004 - 2 BvR<br />

1802/02, NJW 2004, 2890 - "W<strong>und</strong>erheiler") unverhältnismäßig sei, da einer Ges<strong>und</strong>heitsgefahr auch durch gewerberechtliche<br />

Auflagen, die lediglich die Behandlung bestimmter, mit Ges<strong>und</strong>heitsgefahren verb<strong>und</strong>ener Vorerkrankungen<br />

ausschließt, begegnet werden könne, verfängt nicht. Einerseits sind die in Rede stehenden Fälle des Handauflegens<br />

eines W<strong>und</strong>erheilers, dessen spirituell wirkende <strong>und</strong> auf rituelle Heilung zielende Tätigkeit das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

lediglich unter dem Gesichtspunkt mittelbarer Ges<strong>und</strong>heitsgefährdung durch Verzögerung ärztlicher<br />

Hilfe zu prüfen hatte, nicht mit den hier zu beurteilenden Fällen einer psychotherapeutischen Behandlung vergleichbar;<br />

denn von der Behandlungsmethode der Angeklagten gehen die beschriebenen unmittelbaren Gefahren aus <strong>und</strong><br />

die ihr zugr<strong>und</strong>e liegende Lehre erhebt nach den Feststellungen des Landgerichts den Anspruch, eine alternative,<br />

naturwissenschaftlich begründete Therapieform neben schulmedizinischer Behandlung von Krankheiten zu sein.<br />

Zum anderen würde eine gewerberechtliche Untersagung von Behandlungen bestimmter Vorerkrankungen deren<br />

Erkennung voraussetzen, die entsprechende medizinische bzw. psychologische Kenntnisse erfordern würde. Die<br />

erforderlichen Gr<strong>und</strong>kenntnisse, ob eine Heilmethode gefahrlos angewendet werden kann oder die Grenzen der Fähigkeiten<br />

des Anwenders überschritten sind, werden neben der nötigen charakterlichen Zuverlässigkeit gerade durch<br />

die Überprüfung vor Erteilung einer Heilpraktikererlaubnis sichergestellt. Nach § 2 Abs. 1 Buchst. i der Ersten<br />

Durchführungsverordnung zum Heilpraktikergesetz (zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. Dezember 2002,<br />

BGBl. I S. 4456) wird die Heilpraktikererlaubnis nicht erteilt, wenn sich aus einer Überprüfung der Kenntnisse <strong>und</strong><br />

Fähigkeiten des Antragstellers durch das Ges<strong>und</strong>heitsamt ergibt, dass die Ausübung der Heilk<strong>und</strong>e durch den Betreffenden<br />

eine Gefahr für die Ges<strong>und</strong>heit der Bevölkerung bedeuten würde. Dabei sind Gr<strong>und</strong>kenntnisse von psychischen<br />

Krankheiten, die für deren Diagnose <strong>und</strong> Therapie erforderlich sind, Gegenstand sowohl einer allgemeinen als<br />

auch einer auf das Gebiet der Psychotherapie beschränkten Überprüfung (vgl. etwa Ziff. 6, 7 <strong>und</strong> 8.2 der Richtlinien<br />

des Hess. Sozialministeriums zur Durchführung des HeilprG vom 11. Juli 2007, Hess. StAnz. 2007, S. 1495). Dementsprechend<br />

ist auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren über mehrere Untersagungsbescheide, mit denen u.a.<br />

dem Begründer der die selbständige Ausübung der Synergetik-Therapie als unerlaubte Ausübung der Heilk<strong>und</strong>e<br />

untersagt worden war, diese Einordnung als verhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit angesehen worden, da<br />

kein gleich geeignetes milderes Mittel ersichtlich sei (BVerwG, Urteil vom 26. August 2010 - 3 C 28/09, NVwZ-RR<br />

2011, 23). Dass weitergehende Kenntnisse <strong>und</strong> Fähigkeiten durch eine erfolgreiche Ausbildung nach der B<strong>und</strong>esärzteordnung<br />

oder dem Psychotherapeutengesetz erlangt werden können, macht die Erlaubnispflicht nach dem Heilpraktikergesetz<br />

nicht ungeeignet. Der strafbewehrte Erlaubnisvorbehalt ist jedenfalls geeignet, die vom Landgericht<br />

festgestellten von der Synergetik-Methode ausgehenden Gefahren zu verringern (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 26.<br />

August 2010, aaO).<br />

4. Keinen durchgreifenden Bedenken begegnet schließlich die von der Revision gerügte Annahme des Landgerichts,<br />

dass die Angeklagte vorsätzlich gehandelt habe. Zwar hat die Strafkammer bei ihren diesbezüglichen Ausführungen<br />

nicht ausdrücklich festgestellt, dass sich der bedingte Vorsatz der Angeklagten, wie es die Einstufung des Straftatbestands<br />

des § 5 HeilprG als potentielles Gefährdungsdelikt erfordert, auch auf die Eignung der Synergetik-Therapie<br />

bezog, bei Menschen mit psychischen Leiden ges<strong>und</strong>heitliche Schäden hervorzurufen. Die Angeklagte kannte nach<br />

267


den Feststellungen jedoch sämtliche tatsächlichen Umstände, aus denen sich die potentielle Ges<strong>und</strong>heitsgefährdung<br />

ihrer Patienten ergab. Die Gefährdungseignung, die mit der von ihr angewendeten Methode verb<strong>und</strong>en war, liegt hier<br />

auf der Hand. Es erscheint auch aus der Laiensphäre einsichtig, dass die bei ihrer Behandlung beabsichtigte "Innenweltreise"<br />

<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Konfrontation mit unverarbeiteten Erlebnissen <strong>und</strong> Konflikten auch wegen der<br />

hierdurch mitunter ausgelösten Affektzustände insbesondere für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen<br />

gefährlich sein können (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 26. August 2010, aaO), die entstehenden regressiven Prozesse<br />

aber auch schon bei Patienten mit sonstigen Leiden die Ges<strong>und</strong>heit gefährden können. Diese Einsicht lag für die<br />

Angeklagte umso näher, als ihr nach den Feststellungen des Landgerichts die Verbotsentscheidungen verschiedener<br />

Ges<strong>und</strong>heitsämter bekannt waren, sie sich als Mitglied des Berufsverbands der Synergetiker aktiv am Kampf gegen<br />

eine Untersagung der Synergetik-Therapie beteiligte <strong>und</strong> an Diskussionen um die Erforderlichkeit einer Heilpraktikererlaubnis<br />

teilnahm (UA S. 5, 7, 15). Einer näheren Erörterung, dass die Angeklagte das Gefährdungspotential<br />

ihrer Behandlungsmethode, das deren Erlaubnispflicht nach § 1 Abs. 1 HeilprG begründete, billigend in Kauf nahm,<br />

bedurfte es daher nicht.<br />

268<br />

Verfahrensrecht<br />

GG Art. 1 I, Art. 2 Abs. 1, StPO § 100 f Selbstgespräch unverwertbar, Kernbereich<br />

BGH, Urt. v. 22.12.2011 - 2 StR 509/10 - NJW 2012, 945 = StV 2012, 269 Anm. Allgayer NStZ 2012, 399<br />

LS: Ein in einem Kraftfahrzeug mittels akustischer Überwachung aufgezeichnetes Selbstgespräch<br />

eines sich unbeobachtet fühlenden Beschuldigten ist im Strafverfahren – auch gegen Mitbeschuldigte<br />

– unverwertbar, da es dem durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 absolut geschützten<br />

Kernbereich der Persönlichkeit zuzurechnen ist (im Anschluss an BGH, Urteil vom 10.<br />

August 2005 – 1 StR 140/05, BGHSt 50, 206).<br />

Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 11. Dezember 2009 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel,<br />

an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Hiergegen<br />

richten sich die auf die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten. Die<br />

Rechtsmittel haben mit einer Verfahrensrüge Erfolg.<br />

A. Das Landgericht hat folgendes festgestellt: Die Angeklagten S. <strong>und</strong> I. K. sind Geschwister, der Angeklagte W. K.<br />

ist der Ehemann von I. K., deren Ehe trotz Kinderwunschs kinderlos blieb. Die Angeklagten I. <strong>und</strong> W. K. verfügen<br />

über ein Haus, in dem auch der Angeklagte S. K. nach seiner Übersiedlung aus Chemnitz nach der Wiedervereinigung<br />

Deutschlands eine Wohnung erhielt. Dort nahm der Angeklagte S. K. im Jahre 2001 seine Ehefrau L. auf, die<br />

er auf den Philippinen geheiratet hatte. Am 7. Februar 2002 wurde der Sohn M. der Eheleute geboren. Die Angeklagten<br />

I. <strong>und</strong> W. K. mischten sich in deren Angelegenheiten ein, was L. zunehmend störte. Während der Angeklagte S.<br />

K. sich wenig um sein Kind kümmerte, wurde der Junge von den Angeklagten I. <strong>und</strong> W. K. wie ihr eigenes Kind<br />

behandelt. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> kam es zu Spannungen zwischen den Eheleuten L. <strong>und</strong> S. K.. L. zog am 28.<br />

September 2005 zusammen mit ihrem Sohn aus der Ehewohnung aus <strong>und</strong> bezog eine eigene Wohnung in K.. Der<br />

Angeklagte W. K. bot ihr Geld für den Fall an, dass sie das Kind im Hause K. aufwachsen lassen werde. L. lehnte<br />

dies entschieden ab. Am 18. Januar 2006 einigten sich die Eheleute über den Unterhalt. Am 27. Januar 2006 beantragte<br />

die Angeklagte I. K. ein eigenes Umgangsrecht mit dem Kind; der Antrag blieb jedoch in allen Instanzen erfolglos.<br />

Der Angeklagte S. K. erhielt vom Familiengericht ein Umgangsrecht zugesprochen. Er befürchtete jedoch,<br />

dass seine Ehefrau nach der Scheidung weit wegziehen werde, um seinen Kontakt mit dem Sohn zu vereiteln. Im<br />

Frühjahr 2007 beschlossen die Angeklagten, dass das Problem durch die Tötung von L. gelöst werden solle. Einzelheiten<br />

dazu waren nicht feststellbar. Im März <strong>und</strong> April 2007 renovierte der Angeklagte S. K. das Kinderzimmer in<br />

der Wohnung von L. <strong>und</strong> führte weitere Arbeiten durch. Er wechselte auch das Schloss der Wohnungstür aus. L.<br />

hegte angesichts dieser Arbeiten die Hoffnung auf einen Neubeginn der Beziehung zu ihrem Ehemann, die sich jedoch<br />

nicht realisierte. Am Mittwoch, dem 18. April 2007 telefonierte sie zweimal mit ihrem Ehemann. Ein anschließendes<br />

Telefonat mit einer Fre<strong>und</strong>in beendete sie um 14.45 Uhr mit dem Hinweis, dass ihr Ehemann erscheine. Der


Angeklagte S. K. kam aber nicht alleine, sondern in Begleitung der Mitangeklagten I. <strong>und</strong> W. K.. Er nahm seinen<br />

Sohn in Empfang <strong>und</strong> sagte diesem, er dürfe jetzt 50mal beim Vater schlafen. Dann fuhren die Angeklagten mit dem<br />

Kind davon. Der Angeklagte S. K. suchte später im Einvernehmen mit den Angeklagten I. <strong>und</strong> W. K. seine Ehefrau<br />

in deren Wohnung auf <strong>und</strong> tötete sie, um zu ermöglichen, dass das Kind bei den Angeklagten aufwachsen könne.<br />

Einzelheiten der Tatausführung blieben ungeklärt, da keine Spuren auffindbar waren. Trotz umfangreicher Suche der<br />

Ermittlungsbehörden wurde die Leiche der Getöteten nicht gef<strong>und</strong>en. Das Landgericht hat dies als Mord aus niedrigen<br />

Beweggründen bewertet <strong>und</strong> die Angeklagten jeweils als Mittäter angesehen.<br />

B. Die Revisionen der Angeklagten haben mit einer Verfahrensrüge Erfolg.<br />

I. Im Vorverfahren wurden verschiedene verdeckte Überwachungsmaßnahmen durchgeführt. Unter anderem fand<br />

mit ermittlungsrichterlicher Gestattung gemäß § 100f StPO in Verbindung mit §§ 100b Abs. 1, 100d Abs. 2 StPO<br />

eine elektronische Überwachung im Auto des Angeklagten S. K. statt. Dabei wurden dessen Selbstgespräche, als er<br />

sich alleine im Auto befand, an mehreren Tagen aufgezeichnet <strong>und</strong> später in die Hauptverhandlung eingeführt sowie<br />

im Urteil des Landgerichts verwertet. Am 22. Oktober 2007 war auf den umfangreichen Aufzeichnungen neben<br />

zahlreichen unerheblichen Äußerungen auch die Bemerkung zu hören: "… die L. ist schon lange tot, die wird auch<br />

nicht wieder … kannste natürlich nicht sagen ...". Am 23. Oktober 2007 fielen im Rahmen der Selbstgespräche die<br />

Worte: "Richter" <strong>und</strong> "wie? Mord?", … sowie "oho I kill her … oh yes, oh yes ... and this is my problem …”, ferner<br />

"… ich würde mal sagen, es wird jetzt wohl so sein, dass die Polizei mal auf eure Truppe kommt". Am 26. Oktober<br />

2007 konnte den Selbstgesprächen die Anmerkung entnommen werden: "…ja, was soll ich sagen, die Situation ist<br />

kritisch …". Am 29. Oktober 2007 erklärte der Angeklagte S. K. im Selbstgespräch unter anderem, es sei: "… langweilig,<br />

der das Gehirn rausprügeln … kann ich dir sagen, joh <strong>und</strong> weg damit … werde auch keine mehr wegknallen<br />

… nö I. , wir haben sie tot gemacht …". Schließlich war aus einem weiteren Selbstgespräch am selben Tag zu späterer<br />

St<strong>und</strong>e herauszuhören: "…ist eben lebenslang <strong>und</strong> fertig aus, lebenslang … war nicht alt …". Das Landgericht<br />

hat darin ein geständnisgleiches Indiz für die Tötung von L. durch den Angeklagten S. K. gesehen. Die Bemerkung<br />

"nö I., wir haben sie tot gemacht" deute zudem auf Mittäterschaft hin. Die Schwurgerichtskammer hat angenommen,<br />

die Selbstgespräche seien verwertbar. Der unantastbare Kernbereich der privaten Lebensgestaltung werde dadurch<br />

nicht berührt, denn es liege inhaltlich ein Bezug der Äußerungen zu dem Tötungsverbrechen vor. Dadurch verliere<br />

ein Selbstgespräch den Charakter des Höchstpersönlichen. Die Revisionen der Angeklagten machen demgegenüber<br />

ein Beweisverwertungsverbot geltend.<br />

II. Die Verfahrensrüge ist begründet.<br />

1. Das nichtöffentlich geführte Selbstgespräch unterliegt einem selbständigen Beweisverwertungsverbot von Verfassungs<br />

wegen (vgl. BGH, Urteil vom 10. August 2005 - 1 StR 140/05, BGHSt 50, 206, 210; Dalakouras, Beweisverbote<br />

bezüglich der Achtung der Intimsphäre, 1988, S. 264; LR/Gössel, StPO, 26. Aufl., Einl. L Rn. 88; Jahn, Gutachten<br />

C zum 67. Deutschen Juristentag 2008, C 84; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl., § 36 Rn. 45;<br />

SK/Wolter, StPO, 4. Aufl. 2010, § 100f Rn. 35).<br />

a) Der absolut geschützte Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung wird aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit<br />

Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 1973 - 2 BvR 454/71, BVerfGE 34, 238, 245;<br />

Beschluss vom 14. September 1989 - 2 BvR 1062/87, BVerfGE 80, 367, 373). Sein Schutzbereich wird durch heimliche<br />

Aufzeichnung des nichtöffentlich geführten Selbstgesprächs der Zielperson staatlicher Ermittlungsmaßnahmen<br />

<strong>und</strong> deren Verwertung in der Hauptverhandlung berührt (vgl. BGH, Urteil vom 10. August 2005 - 1 StR 140/05,<br />

BGHSt 50, 206, 212). Ob das nichtöffentlich gesprochene Wort zum absolut geschützten Kernbereich oder zu dem<br />

nur relativ geschützten Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gehört, ist durch Gesamtbewertung aller Umstände<br />

im Einzelfall festzustellen. Aus einer Kumulation von Umständen folgt hier, dass die Selbstgespräche des<br />

Angeklagten S. K. dem Kernbereich zuzurechnen sind. Dazu zählen die Eindimensionalität der "Selbstkommunikation",<br />

die Nichtöffentlichkeit der Äußerungssituation, die mögliche Unbewusstheit der Äußerungen im Selbstgespräch,<br />

die Identität der Äußerung mit den inneren Gedanken beim Selbstgespräch <strong>und</strong> die Flüchtigkeit des gesprochenen<br />

Wortes. Der Gr<strong>und</strong> für den absoluten Schutz eines Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung besteht in der Eröffnung<br />

einer Möglichkeit für Menschen, sich in einem letzten Rückzugsraum mit dem eigenen Ich befassen zu können,<br />

ohne Angst davor haben zu müssen, dass staatliche Stellen dies überwachen (vgl. Senat, Urteil vom 16. März 1983 -<br />

2 StR 775/82, BGHSt 31, 296, 299 f.). Die Gedanken sind gr<strong>und</strong>sätzlich frei, weil Denken für Menschen eine Existenzbedingung<br />

darstellt (vgl. Mahrenholz/Böckenförde/Graßhof/Franßen in BVerfG, Beschluss vom 14. September<br />

1989 - 2 BvR 1062/87, BVerfGE 80, 367, 381). Den Gedanken fehlt aus sich heraus die Gemeinschaftsbezogenheit,<br />

die jenseits des Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung liegt. Gleiches gilt für die Gedankenäußerung im nicht<br />

öffentlich geführten Selbstgespräch (vgl. BGH, Urteil vom 10. August 2005 - 1 StR 140/05, BGHSt 50, 206, 213).<br />

Gedanken werden typischerweise in Form eines "inneren Sprechens" entwickelt (vgl. Tönnies, Selbstkommunikati-<br />

269


on, 1994, S. 16). Denken <strong>und</strong> Sprache, die dem Menschen als einzigem Lebewesen zur Verfügung steht, sind untrennbar<br />

miteinander verb<strong>und</strong>en. Die Gedankeninhalte des inneren Sprechens treten vor allem in Situationen, in<br />

denen der Sprechende sich unbeobachtet fühlt, durch Aussprechen hervor. Das möglicherweise unbewusste "laute<br />

Denken" beim nichtöffentlich geführten Selbstgespräch nimmt sodann an der Gedankenfreiheit teil. Bedeutung für<br />

die Zuordnung zum Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung hat dabei auch die Nichtöffentlichkeit der Äußerungssituation.<br />

Zwar fanden die hier in Rede stehenden Selbstgespräche nicht in einer Wohnung im Sinne von Art. 13<br />

Abs. 1 GG statt, woraus sich eine "Vermutung" hätte ergeben können, "dass der Kernbereich tangiert sein kann"<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 10. August 2005 - 1 StR 140/05, BGHSt 50, 206, 210); dies folgt auch aus dem Zusammenhang<br />

von § 100c Abs. 4 mit § 100f StPO. Hieraus ist aber nicht zu schließen, dass der Schutz des Kernbereichs der<br />

Persönlichkeit in Bezug auf Äußerungen sich ausschließlich auf den räumlichen Bereich von Wohnungen beschränke.<br />

Vielmehr kann auch das "Alleinsein mit sich selbst" in einem Pkw diesen Schutz begründen. Es bestand aus der<br />

Sicht des Angeklagten S. K. nicht die Gefahr, dass andere Personen den Inhalt seiner Äußerungen im Selbstgespräch<br />

erfassten. Der rechtlich geringere Schutz des Aufenthaltsorts im Auto gegenüber der Wohnung im Sinne von Art. 13<br />

Abs. 1 GG (zur Relativierung bei der Äußerung im Krankenzimmer BGH, Urteil vom 10. August 2005 - 1 StR<br />

140/05, BGHSt 50, 206, 212) wird hier deshalb im Einzelfall dadurch kompensiert, dass tatsächlich das Risiko einer<br />

Außenwirkung der spontanen Äußerungen nahezu ausgeschlossen war; das Selbstgespräch konnte nur durch eine<br />

heimliche staatliche Überwachungsmaßnahme erfasst werden. Die Nichtöffentlichkeit der Gesprächssituation war<br />

daher bei einer Gesamtbewertung der Umstände des Einzelfalls derjenigen in einer Wohnung gleichzusetzen.<br />

b) Auf den Inhalt der Gedankenäußerung <strong>und</strong> dessen mehr oder weniger großen Sozialbezug kommt es demgegenüber<br />

bei Selbstgesprächen nicht entscheidend an. Insoweit gilt etwas anderes als bei der Fixierung von Gedanken in<br />

einem Tagebuch oder bei der Erfassung des Gesprächs eines Beschuldigten mit Dritten. Die Tagebuchentscheidung<br />

des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 14. September 1989 - 2 BvR 1062/87, BVerfGE 80, 367,<br />

374), bei der wegen Stimmengleichheit eine Gr<strong>und</strong>rechtsverletzung nicht festgestellt werden konnte, kann nicht ohne<br />

Weiteres auf die Frage der Zuordnung des heimlich abgehörten Selbstgesprächs zum Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung<br />

oder zur allgemeinen Persönlichkeitssphäre übertragen werden. War dort der Raum, in dem die Anfertigung<br />

von Notizen stattfand, für die Frage der Verwertbarkeit der schriftlich fixierten Gedanken im Strafverfahren<br />

ohne Belang, weil die Notizen freiwillig der Sicherstellung preisgegeben wurden, so erlangt im vorliegenden Fall<br />

das Kriterium der Nichtöffentlichkeit des Ortes der Gedankenäußerung erhebliche Bedeutung. Spielte in der Tagebuchentscheidung<br />

die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes keine Rolle, weil der Betroffene seine Gedanken dort im<br />

Tagebuch fixiert <strong>und</strong> bei diesem Schreibvorgang unter Umständen auch noch repetiert hatte, so erlangt die Flüchtigkeit<br />

des gesprochenen Wortes als Abgrenzungskriterium im vorliegenden Fall besonderes Gewicht. In der Tagebuchentscheidung<br />

waren überdies auch präventive Überlegungen für die Annahme der Verwertbarkeit von Bedeutung<br />

(aaO S. 377, 380), weil die dort fraglichen Tagebuchaufzeichnungen vor der Tatbegehung gemacht worden waren<br />

<strong>und</strong> bei rechtzeitiger Erfassung durch die Polizeibehörden theoretisch auch zur Verhinderung der Tat als Maßnahme<br />

der Gefahrenabwehr hätten genutzt werden können. Dagegen spielt die Möglichkeit der Prävention zugunsten anderer<br />

Gr<strong>und</strong>rechtsträger als Frage der Gr<strong>und</strong>rechtskollision hier keine Rolle (vgl. auch BGH, Urteil vom 10. August<br />

2005 - 1 StR 140/05, BGHSt 50, 206, 214). Das "Selbstgespräch" kann auch nicht mit einem Zwiegespräch gleichgesetzt<br />

werden, das regelmäßig nicht dem absolut geschützten Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung zuzuordnen<br />

ist, wenn es mit seinem Inhalt einen Tatbezug <strong>und</strong> damit Sozialbezug aufweist (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. März<br />

2004 - 1 BvR 2378/98, 1084/99, BVerfGE 109, 279, 319; Beschluss vom 12. Oktober 2011 - 2 BvR 236/08 u.a.;<br />

Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 u.a.; vgl. auch § 100c Abs. 4 Satz 3 StPO). Es unterscheidet sich<br />

von einem solchen Gespräch schon dadurch, dass die Äußerungen nicht auf Verständlichkeit angelegt <strong>und</strong> jedenfalls<br />

auch durch unwillkürlich auftretende Bewusstseinsinhalte gekennzeichnet sind (BGH, Urteil vom 10. August 2005 -<br />

1 StR 140/05, BGHSt 50, 206, 213).<br />

c) Der somit gebotene Kernbereichsschutz entfällt nur, wenn der Gr<strong>und</strong>rechtsträger den Bereich der privaten Lebensgestaltung<br />

von sich aus öffnet, bestimmte Angelegenheiten der Öffentlichkeit zugänglich macht <strong>und</strong> damit die<br />

Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft berührt (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 2011 - VI ZR<br />

332/09). Dies geschieht nicht ohne weiteres schon dadurch, dass er sich außerhalb des besonders geschützten Bereichs<br />

seiner Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 GG aufhält, sofern er einen anderen Rückzugsraum wählt, in<br />

dem er sich unbeobachtet fühlen kann. Das war hier hinsichtlich des Pkw der Fall. Nach außen gerichtete Äußerungen<br />

in einem Pkw, in dem die betreffende Person allein ist, können nicht Äußerungen in der Öffentlichkeit gleichgestellt<br />

werden. Es bleibt deshalb bei der Zuordnung der Selbstgespräche des Angeklagten S. K. zum absolut geschützten<br />

Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung mit der Folge ihrer Unverwertbarkeit.<br />

270


2. Das Beweisverbot entfaltet wegen seiner Absolutheit, die ein Beweiserhebungsverbot für die Hauptverhandlung<br />

bezüglich der im Vorverfahren erlangten Informationen einschließt (vgl. Schwaben, Die personelle Reichweite von<br />

Beweisverwertungsverboten, 2005, S. 101 f.), seine Wirkung auch auf die nicht unmittelbar von der akustischen<br />

Überwachung im Vorverfahren betroffenen Mitangeklagten. Die Unverwertbarkeit des Selbstgesprächs von S. K. als<br />

Indiz für <strong>und</strong> gegen alle Angeklagten (zur Frage der "Überkreuzverwertung" Jahn, Gutachten C zum 67. Deutschen<br />

Juristentag 2008, C 114 f.) entspricht den Verboten, die in §§ 100a Abs. 4 Satz 2, 100c Abs. 5 Satz 3 StPO für den<br />

Fall des Eingriffs in den absolut geschützten Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung positivrechtlich geregelt sind.<br />

Der Gesetzgeber hat dort für den Fall, dass tatsächlich der Kernbereich betroffen ist, jede Verwendung der hierüber<br />

erlangten Informationen im Strafverfahren ausgeschlossen. Er ist damit nicht dem Gedanken gefolgt, dass Beweisverwertungsverbote<br />

auch mit Blick auf die Ambivalenz ihrer Beweisbedeutung als Be- oder Entlastungsbeweis ausschließlich<br />

den Bedeutungsgehalt von Belastungsverboten haben sollen (vgl. dazu BGH, Urteil vom 10. August 2005<br />

- 1 StR 140/05, BGHSt 50, 206, 215; Jahn aaO C 112 ff.). Zwar hat der Gesetzgeber in § 100f StPO auf eine entsprechende<br />

Kernbereichsregelung verzichtet, jedoch gilt für das unmittelbar aus der Verfassung abgeleitete Beweisverwertungsverbot<br />

in diesem Zusammenhang nichts anderes. Auch Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG spricht gegen die Verwertbarkeit<br />

der Selbstgesprächsinhalte für oder gegen Dritte, weil insoweit ein selbständiges Beweisverwertungsverbot<br />

begründet wird (vgl. zur ausnahmsweise absoluten Wirkung eines Beweisverbots im Übrigen auch §§ 136a Abs. 3,<br />

69 Abs. 3 StPO).<br />

3. Das Urteil beruht hinsichtlich aller Angeklagten auf der Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1<br />

Abs. 1 GG. Das Selbstgespräch wurde als Indiz für die Tatbegehung überhaupt sowie für die Täterschaft des Angeklagten<br />

S. K. herangezogen. Obwohl eine Reihe von weiteren Indizien für dieses Beweisergebnis spricht, kann der<br />

Senat nicht sicher ausschließen, dass die Verurteilung des Angeklagten S. K. auf der Verwertung seiner Äußerungen<br />

in den überwachten Selbstgesprächen beruht. Das Landgericht hat daraus auch Hinweise auf die Mittäterschaft der<br />

Mitangeklagten I. <strong>und</strong> W. K. entnommen. Auch deren Verurteilung beruht auf der Verwertung der Selbstgespräche.<br />

Ob eine Verurteilung eines Angeklagten oder mehrerer Angeklagten auch ohne die Verwertung der aufgezeichneten<br />

Selbstgespräche des Angeklagten S. K. möglich ist, muss dem neuen Tatrichter vorbehalten bleiben.<br />

GG Art 101 I 2, Gesetzlicher Richter Vorsitz 2. Und 4. Strafsenat BGH<br />

BGH, Beschl. v. 11.01.2012 - 4 StR 523/11 - StV 2012, 209, dazu Bernsmann StV 2012, 274, Sowada NStZ 2012, 353<br />

Das Präsidium des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in Wahrnehmung der ihm § 21e Absatz 1 Satz 1 GVG<br />

obliegenden Aufgabe den Geschäftsverteilungsplan hinsichtlich des Vorsitzes im 2. <strong>und</strong> 4. Senat in<br />

willkürfreier Auslegung des § 21f Absatz 2 Satz 1 GVG <strong>und</strong> unter Berücksichtigung der dazu ergangenen<br />

höchstrichterlichen Rechtsprechung getroffen.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Flensburg vom 29. April 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum<br />

Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels<br />

zu tragen.<br />

Ergänzend bemerkt der Senat:<br />

1. Der Senat ist mit Vorsitzendem Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann, Richterin am B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

Roggenbuck sowie den Richtern am B<strong>und</strong>esgerichtshof Cierniak, Dr. Mutzbauer <strong>und</strong> Bender vorschriftsmäßig besetzt.<br />

Das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Absatz 1 Satz 2 GG) ist gewahrt. Das Präsidium<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in Wahrnehmung der ihm nach § 21e Absatz 1 Satz 1 GVG obliegenden Aufgabe<br />

dem Vorsitzenden Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann – zusätzlich zum Vorsitz im 4. Strafsenat – den<br />

Vorsitz im 2. Strafsenat zugewiesen <strong>und</strong> bestimmt, dass im Kollisionsfall die Tätigkeit im 2. Strafsenat vorgeht. Es<br />

hat diese Regelung in willkürfreier Auslegung des § 21f Absatz 2 Satz 1 GVG <strong>und</strong> unter Berücksichtigung der dazu<br />

ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BGH, Urteil vom 13. September 2005 – VI ZR 137/04, NJW<br />

2006, 154; BSG, Beschluss vom 29. November 2006 – B 6 KA 34/06 B, NJW 2007, 2717; BVerwG, Urteil vom 25.<br />

Juli 1985 – 3 C 4/85, NJW 1986, 1366) getroffen. Vorsitzender Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann nimmt<br />

die Aufgabe als Vorsitzender des 4. Strafsenats weiterhin in dem vom Gesetz vorausgesetzten <strong>und</strong> in der Sache gebotenen<br />

Umfang wahr. Nach der senatsinternen Geschäftsverteilung des 4. Strafsenats steht er allen Spruchgruppen<br />

als Vorsitzender vor. Im Übrigen ergibt sich die Besetzung mit der Richterin am B<strong>und</strong>esgerichtshof Roggenbuck<br />

271


sowie den Richtern am B<strong>und</strong>esgerichtshof Cierniak, Dr. Mutzbauer <strong>und</strong> Bender aus Nr. 7 der senatsinternen Geschäftsverteilung<br />

vom 27. Dezember 2011 in Verbindung mit der senatsinternen Geschäftsverteilung vom 14. Dezember<br />

2010. Ein Fall der Divergenz zu der Entscheidung des 2. Strafsenats vom 11. Januar 2012 – 2 StR 346/11 –<br />

liegt nicht vor, weil der 2. Strafsenat in einem späteren Urteil vom gleichen Tag – 2 StR 482/11 – diese Rechtsprechung<br />

aufgegeben hat.<br />

2. Die Rüge der Verletzung des § 160a StPO greift nicht durch. Es kann dahinstehen, ob das Landgericht durch die<br />

Feststellung, dass der Angeklagte „letztmalig um 02:06 Uhr versucht hatte, seinen Verteidiger per Mobiltelefon zu<br />

erreichen“, gegen § 160a Abs. 1 Satz 5 StPO verstoßen hat. Auf einem eventuellen Verstoß würde das Urteil nicht<br />

beruhen. Das Landgericht hat die retrograden Verbindungsdaten der Mobiltelefone des Angeklagten bei der Beweiswürdigung<br />

sowohl zu der Frage ausgewertet, dass der Angeklagte zur Tatzeit selbst über diese Mobiltelefone<br />

verfügte, als auch zum Tatablauf. Zum Zeitpunkt seiner letzten Telefonate vor der Festnahme wurde der Angeklagte<br />

observiert. Für die Beweiswürdigung war nur von Bedeutung, dass der Angeklagte in Übereinstimmung mit den<br />

Zeitangaben der retrograden Verbindungsdaten für die fraglichen Mobiltelefone telefoniert hat; dass er Kontakt zu<br />

seinem späteren Verteidiger aufnehmen wollte, hat das Landgericht in seiner Beweiswürdigung nicht verwertet.<br />

3. Ein Zirkelschluss des Landgerichts bei der Beweiswürdigung ist entgegen der Auffassung der Revision nicht zu<br />

besorgen. Das Landgericht hat die Feststellung, dass der Angeklagte ein „ausgesprochener Telekommunikations-<br />

Vielnutzer“ ist, in der Beweiswürdigung nicht näher begründet. Dies gefährdet den Bestand des Urteils jedoch nicht.<br />

Der Tatrichter ist nicht gehalten, jede Einzelheit der Beweiswürdigung in den Urteilsgründen zu belegen (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 25. Juni 2009 – 4 StR 610/08 Rn. 27). Die Erkenntnis kann auf Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung<br />

beruhen. Soweit die Revision auch die Erwägung der Kammer UA S. 17 als zirkelschlüssig rügt, übersieht sie, dass<br />

sich die Beweiswürdigung an dieser Stelle mit dem Umstand auseinandersetzt, dass sich beide Mobiltelefone bei<br />

einer Person befanden; dass dies der Angeklagte war, ergibt sich aus der weiteren Beweiswürdigung UA S 20 ff.<br />

GG Art. 101 I 2 Besetzung des Vorsitzenden 2. Strafsenat des BGH<br />

BGH, Urt. v. 08.02.2012 - 2 StR 346/11 - StV 2012, 204 dazu Bernsmann StV 2012, 274, Sowada NStZ 2012, 353<br />

Der Ansicht, Beschlüsse eines gerichtlichen Präsidiums zur Geschäftsverteilung seien regelmäßig<br />

bindend, so dass die Spruchkörper des Gerichts nicht befugt seien, im fachgerichtlichen Verfahren<br />

die Gesetzmäßigkeit ihrer Besetzung zu prüfen <strong>und</strong> darüber zu entscheiden, würde der Senat nicht<br />

folgen: Sie stünde in deutlichem Widerspruch zum Plenumsbeschluss des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

vom 8. April 1997 - 1 PBvU 1/95, wonach jeder Spruchkörper bei auftretenden Bedenke die<br />

Ordnungsmäßigkeit seiner Besetzung von Amts wegen zu prüfen <strong>und</strong> darüber zu entscheiden hat.<br />

Der 2. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 8. Februar 2012 für Recht erkannt: Die Revision der<br />

Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Gera vom 4. April 2011 wird verworfen. Die Kosten des<br />

Rechtsmittels <strong>und</strong> die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen in Tatmehrheit<br />

mit Verbreitung kinderpornographischer Schriften in 113 Fällen in Tatmehrheit mit Besitzverschaffung<br />

kinderpornographischer Schriften in 44 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Gleichzeitig<br />

hat es von der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung abgesehen. Die auf den Rechtsfolgenausspruch<br />

beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützt ist, bleibt<br />

ohne Erfolg.<br />

I.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte mit Urteil des Landgerichts Gera vom 15. November<br />

2007 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 22 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexueller<br />

Nötigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt worden. Dieser Verurteilung<br />

lagen sexuelle Übergriffe auf zwei sieben- bzw. dreizehnjährige Jungen zugr<strong>und</strong>e, an deren Geschlechtsteil der Angeklagte<br />

manipuliert hatte. In einem der Fälle hatte sich der Angeklagte auf einen der Jungen gelegt, dessen Arme<br />

festgehalten <strong>und</strong> es so erreicht, ihn zu küssen. Nach der Haftentlassung in dieser Sache im November 2009 wandte<br />

sich der Angeklagte auf Veranlassung eines früheren Mitgefangenen an dessen ehemalige Lebensgefährtin, um die er<br />

sich kümmern sollte. Mit ihr hatte der Mitgefangene eine gemeinsame fast volljährige Tochter, die ebenso wie der<br />

272


damals zwölfjährige Nebenkläger, der aus einer anderen Beziehung der Frau stammte, in deren Haushalt lebte. Dem<br />

Angeklagten war es im Rahmen der Entscheidung zur Führungsaufsicht zwar untersagt, mit Kindern zu verkehren.<br />

Gleichwohl ließ er sich nicht davon abhalten, Kontakt zur Familie des ehemaligen Mitgefangenen aufzubauen <strong>und</strong><br />

derart zu intensivieren, dass er für den Sohn der Frau bald eine Art Ersatzvater darstellte. Bereits nach kurzer Zeit<br />

übernachtete der Angeklagte im Hause der Familie, wobei er gr<strong>und</strong>sätzlich auf einer Matratze im Zimmer des Jungen,<br />

gelegentlich aber auch neben ihm in dessen Bett schlief. Anlässlich einer solchen Gelegenheit griff der Angeklagte,<br />

der wusste, dass der Nebenkläger noch keine vierzehn Jahre alt war, zu einem nicht mehr genau feststellbaren<br />

Zeitpunkt, jedenfalls vor Weihnachten des Jahres 2009, an dessen Penis <strong>und</strong> manipulierte daran (Fall 1). Dies wiederholte<br />

er bis zur Aufnahme des Jungen in ein Kinderheim am 17. Februar 2010 bei mindestens vier weiteren Gelegenheiten<br />

(Fälle 2-5). Im Zeitraum vom 19. Dezember 2009 bis zum 3. Januar 2010 nutzte der Angeklagte einen<br />

Laptop, den er dem Nebenkläger geschenkt hatte, um über einen Chatraum Bild- <strong>und</strong> Videodateien zu verschicken<br />

bzw. zu erlangen, die pornographische Darstellungen sexueller Handlungen von oder an Personen wiedergaben, die<br />

tatsächlich oder nach ihrem Erscheinungsbild unter 14 Jahre alt waren. Er versandte insgesamt 113 <strong>und</strong> verschaffte<br />

sich 44 solcher Dateien. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellem Missbrauchs gemäß §<br />

176a Abs. 1 <strong>StGB</strong> in fünf Fällen zu Freiheitsstrafen von zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten (Fall 1) <strong>und</strong> viermal jeweils<br />

zwei Jahren (Fälle 2-5), wegen Verbreitens kinderpornographischer Schriften nach § 184b Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> in 113<br />

Fällen zu Freiheitsstrafen von jeweils sechs Monaten <strong>und</strong> wegen Besitzverschaffung kinderpornographischer Schriften<br />

gemäß § 184b Abs. 4 <strong>StGB</strong> in 44 Fällen zu Geldstrafen von 60 Tagessätzen zu 1 € verurteilt <strong>und</strong> eine Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von fünf Jahren gebildet. Von der Anordnung der Sicherungsverwahrung hat es abgesehen, weil der<br />

Angeklagte nicht im Sinne des § 66 Abs. 1 Ziff. 4 <strong>StGB</strong> infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich<br />

zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden, für die Allgemeinheit gefährlich<br />

sei. Es spreche aus Sicht der Kammer nichts dafür, der Angeklagte werde künftig pädophile Delikte unter<br />

Einsatz von Gewalt begehen. Die Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet die Höhe der Einzelstrafen <strong>und</strong> der<br />

Gesamtstrafe. Außerdem rügt sie, dass das Landgericht fehlerhaft von der Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

abgesehen habe.<br />

2. Der Senat hatte die Revisionshauptverhandlung mit Beschluss vom 11. Januar 2012 ausgesetzt. Dies beruhte auf<br />

der Ansicht des Senats, er sei in der Person des Vorsitzenden Richters am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann nicht<br />

ordnungsgemäß besetzt, weil dieser seit 1. Januar 2012 zugleich geschäftsplanmäßiger Vorsitzender des 4. Strafsenats<br />

ist. Der Senat hat daher dem Präsidium des B<strong>und</strong>esgerichtshofs Gelegenheit gegeben, durch eine Änderung<br />

der Geschäftsverteilung Abhilfe zu schaffen. Mitglied des Präsidiums ist auch der Vorsitzende des 2. <strong>und</strong> 4. Strafsenats.<br />

Das Präsidium des B<strong>und</strong>esgerichtshofs, dem die Entscheidung des Senats in vollem Wortlaut vorlag, hat mit<br />

nicht begründetem Beschluss vom 18. Januar 2012 einstimmig entschieden, dass an dem Beschluss vom 15. Dezember<br />

2011, mit dem VRiBGH Dr. Ernemann der Vorsitz des 2. <strong>und</strong> zugleich des 4. Strafsenats übertragen worden ist,<br />

festgehalten wird. Nach der Beschlussfassung hat das Präsidium drei Richter des Senats, die an der Entscheidung<br />

vom 11. Januar 2012 beteiligt waren, jeweils einzeln angehört; von der Anhörung der weiteren Richter wurde abgesehen.<br />

Gegenstand der Befragungen war unter anderem, wie der Senat, aber auch der einzelne Richter mit der mitgeteilten<br />

Entscheidung des Präsidiums umgehen werde.<br />

II. Der Senat gibt dem Verfahren Fortgang. Er ist allerdings weiterhin der Ansicht, dass er nicht ordnungsgemäß<br />

besetzt ist. Insoweit gelten die Gründe aus dem Beschluss vom 11. Januar 2012 unverändert fort. Der Senat sieht<br />

aber nach der Entscheidung des Präsidiums, keine Maßnahmen zur Änderung des Geschäftsverteilungsplans zu ergreifen,<br />

keine rechtliche Möglichkeit, den Verfahrensbeteiligten in überschaubarer Zeit zu einer Entscheidung durch<br />

ein ordnungsmäßig besetztes Revisionsgericht zu verhelfen. Der Senat hat erwogen, wegen der gr<strong>und</strong>sätzlichen Bedeutung<br />

der Sache den Großen Senat für Strafsachen anzurufen, hiervon aber letztlich abgesehen. Das Präsidium hat<br />

seine Entscheidung vom 18. Januar 2012 nicht begründet; daher ist offen geblieben, welche Gründe das Präsidium<br />

bewogen haben, auf Änderungen der Geschäftsverteilung zu verzichten. Sollte dem die Ansicht zugr<strong>und</strong>e liegen,<br />

Beschlüsse eines gerichtlichen Präsidiums zur Geschäftsverteilung seien regelmäßig bindend, so dass die Spruchkörper<br />

des Gerichts nicht befugt seien, im fachgerichtlichen Verfahren die Gesetzmäßigkeit ihrer Besetzung zu prüfen<br />

<strong>und</strong> darüber zu entscheiden, würde dem der Senat nicht folgen. Diese - möglicherweise aus der Entscheidung des<br />

B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichts vom 28. November 1975 – VII C 47.73 (BVerwGE 50, 11) abgeleitete - Ansicht stünde -<br />

worauf der Senat in seinem Beschluss vom 18. Januar 2012 bereits tragend hingewiesen hat - in deutlichem Widerspruch<br />

zum Plenumsbeschluss des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 8. April 1997 - 1 PBvU 1/95, wonach jeder<br />

Spruchkörper bei auftretenden Bedenken die Ordnungsmäßigkeit seiner Besetzung von Amts wegen zu prüfen <strong>und</strong><br />

darüber zu entscheiden hat (BVerfGE 95, 322, 330; vgl. schon BVerwG, Beschluss vom 7. April 1981 - 7 B 80/81,<br />

NJW 1982, 900). Wenn man gleichwohl annähme, die Spruchkörper des Gerichts seien nicht befugt, die Gesetz- <strong>und</strong><br />

273


Verfassungsmäßigkeit ihrer Besetzung im Rahmen des fachgerichtlichen Verfahrens auch mit Blick auf den Geschäftsverteilungsplan<br />

zu prüfen, wäre für das Präsidium auch eine Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen<br />

unbeachtlich. Andere eigene Möglichkeiten, den Verfahrensbeteiligten entsprechend der Rechtsansicht des Senats<br />

Rechtsschutz durch ein ordnungsgemäß besetztes Gericht zu verschaffen, hat der Senat nicht gesehen. Bei dieser<br />

Sachlage, die sich dem Senat in allen bei ihm anhängigen Verfahren gleichermaßen stellt, hält er es für geboten, über<br />

sämtliche bei ihm eingelegte Revisionen in der Sache zu entscheiden, auch wenn er sich weiterhin nicht für ordnungsgemäß<br />

besetzt hält. Maßgebend für diese Entscheidung, die ungeachtet des Ausgangs der Rechtsmittel zu treffen<br />

war, war namentlich die Erwägung, dem rechtsstaatlichen Beschleunigungsgebot Rechnung zu tragen <strong>und</strong> in<br />

angemessener Zeit zu einer - gegebenenfalls mit der Verfassungsbeschwerde überprüfbaren - Entscheidung zu gelangen.<br />

Die Alternative, die Sache bis zu einer weiteren Klärung, etwa durch erneute Vorlage an das Präsidium oder<br />

bis zum vorläufigen Ende der Doppelbesetzung Ende Juni 2012, ruhen zu lassen, würde nicht nur zu einem nicht<br />

hinnehmbaren zeitweiligen, partiellen Stillstand der Strafrechtspflege führen. Sie bedeutete zudem eine nicht in den<br />

Verantwortungsbereich der Betroffenen fallende Rechtsschutzverweigerung, die mit dem verfassungsrechtlichen<br />

Gebot der Rechtsschutzgewährung nicht in Einklang stünde. Dass das Präsidium Rechtsprechung des Senats nicht<br />

umgesetzt hat, darf nicht zu Lasten der Rechtsmittelführer gehen. Aus diesem Gr<strong>und</strong> hatte bei dieser besonderen<br />

Fallkonstellation die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG partiell zurückzustehen. Danach ist zwar<br />

gewährleistet, dass die Richter unabhängig <strong>und</strong> nur dem Gesetz unterworfen sind. Im Bereich richterlicher Tätigkeit<br />

sind Richter demnach an keine Weisungen <strong>und</strong> nur an das Gesetz geb<strong>und</strong>en. Dies bedeutet Freiheit <strong>und</strong> Pflicht jeden<br />

Richters zu eigenverantwortlicher Entscheidung im Rahmen von Gesetz <strong>und</strong> Recht. Diese Freiheit sieht der Senat im<br />

konkreten Fall eingeschränkt, weil er nach der Entscheidung des Präsidiums gehalten ist, in seiner Meinung nach<br />

verfassungswidriger Besetzung zu entscheiden. Er nimmt es nach umfassender Abwägung hin, weil er zum einen<br />

ausdrücklich auf den Fortbestand seiner Rechtsansicht hinweisen kann <strong>und</strong> den Angeklagten zum anderen mit der<br />

Verfassungsbeschwerde eine weitere Rechtsschutzmöglichkeit offen steht.<br />

III. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.<br />

1. Soweit sie sich gegen den Strafausspruch richtet, bleibt sie schon aus dem vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner<br />

Antragsschrift genannten Gründen ohne Erfolg. Die insoweit von der Revision vorgebrachten Einwendungen zeigen<br />

Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten nicht auf. Die Höhe der Strafen selbst ist unter Berücksichtigung des<br />

tatrichterlichen Beurteilungsspielraums nicht zu beanstanden.<br />

2. Die Revision hat aber auch keinen Erfolg, soweit sie sich gegen die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung<br />

wendet. Dabei kann dahin stehen, ob die Begründung, mit der die Kammer von der Anordnung abgesehen hat, an<br />

sich rechtlicher Überprüfung standhielte. Denn der Senat schließt unter Beachtung der Maßgaben des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

zur Weitergeltung der verfassungswidrigen Vorschrift des § 66 <strong>StGB</strong> aus, dass das Urteil auf einem<br />

möglichen Rechtsfehler beruht. Nach dem Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ist die Vorschrift<br />

des § 66 <strong>StGB</strong> verfassungswidrig <strong>und</strong> gilt nur vorläufig bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber weiter. Während<br />

der Dauer seiner Weitergeltung muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung<br />

in ihrer derzeitigen Ausgestaltung um einen verfassungswidrigen Eingriff in das Freiheitsrechtsgr<strong>und</strong>recht<br />

handelt. Nach der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts darf die Regelung der Sicherungsverwahrung<br />

nur nach Maßgabe einer "strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung" angewandt werden. Das gilt insbesondere<br />

im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose <strong>und</strong> die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der<br />

Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz nur gewahrt sein, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten<br />

Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Insoweit gilt in der Übergangszeit<br />

ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Verhältnismäßigkeitsmaßstab (Senat, Urteil<br />

vom 7. Juli 2011 - 2 StR 184/11; Beschluss vom 26. Oktober 2011 - 2 StR 328/11; BGH, Urteil vom 7. Juli 2011 - 5<br />

StR 192/11; Beschluss vom 4. August 2011 - 3 StR 235/11). Unter Beachtung dieses besonderen Maßstabs ist für die<br />

Annahme eines Hangs zur Begehung ausreichend schwerer Straftaten <strong>und</strong> einer daran anknüpfenden Gefährlichkeit<br />

des Angeklagten kein Raum.<br />

a) Eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der Begehung von Straftaten hat das Landgericht in Übereinstimmung mit dem<br />

Sachverständigen nur hinsichtlich solcher Straftaten angenommen, die im vorliegenden Verfahren abgeurteilt worden<br />

sind (UA S. 46). Die Verbreitung <strong>und</strong> der Erwerb kinderpornographischer Schriften gemäß § 184b Abs. 1 <strong>und</strong> 4<br />

<strong>StGB</strong> (vgl. Senat, Beschluss vom 28. Oktober 2011 - 2 StR 328/11) stellen aber keine ausreichend schwere Sexualstraftat<br />

im Sinne der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts dar. Dies gilt unter Berücksichtigung<br />

der Strafdrohungen auch für den sexuellen Missbrauch eines Kindes nach § 176 Abs. 1 <strong>StGB</strong>, mag er auch wiederholt<br />

begangen sein (§ 176a Abs. 1 <strong>StGB</strong>), jedenfalls dann, wenn die Missbrauchshandlungen, wie hier, in ihrer konkreten<br />

Gestalt ein eher geringfügiges Maß nicht überschritten haben (vgl. UA S. 42).<br />

274


) Eine konkrete Gefahr, der Angeklagte könne künftige pädophile Delikte unter Einsatz von Gewalt verwirklichen,<br />

hat das Landgericht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Dass es sich darüber hinaus nicht ausdrücklich mit der Frage<br />

befasst hat, ob es bei dem Angeklagten zu einer relevanten Steigerung der Sexualdelinquenz kommen könnte, ist<br />

vorliegend auch angesichts der Fragen des Angeklagten an das Opfer zu möglichem Oralverkehr jedenfalls im Ergebnis<br />

nicht zu beanstanden (vgl. UA S. 32). Zwar stellen Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern<br />

gemäß § 176a Abs. 2 <strong>StGB</strong> regelmäßig "schwere Sexualstraftaten" im Sinne der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

dar (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Oktober 2011 - 2 StR 328/11; BGH, Beschlüsse vom 2.<br />

August 2011 - 3 StR 208/11 <strong>und</strong> vom 11. August 2011 - 3 StR 221/11), doch liegt hier die Annahme, der Angeklagte<br />

werde gerade solche Delikte begehen, unter Beachtung des nach der Entscheidung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

geltenden strengeren Maßstabs bei der Gefahrenprognose (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2011 - 3 StR 208/11)<br />

nicht hinreichend nahe. Sämtliche Taten des Angeklagten, auch diejenigen aus der Vorverurteilung, beschränkten<br />

sich trotz des Umstands, dass sie sich über einen längeren Zeitraum hinzogen, stets wiederkehrend auf Manipulationen<br />

mit der Hand am Geschlechtsteil des Tatopfers. Demgegenüber geben allein die Fragen des Angeklagten nach<br />

der Möglichkeit von Oralverkehr keinen konkreten Aufschluss darüber, ob <strong>und</strong> gegebenenfalls unter welchen Bedingungen<br />

mit solchen sexuellen Übergriffen gerechnet werden könnte. Dies gilt umso mehr, als der Angeklagte einen<br />

entgegenstehenden Willen des Opfers jederzeit respektiert hat (UA S. 46) <strong>und</strong> es zudem an greifbaren Anhaltspunkten<br />

dafür fehlt, der Angeklagte könne Anreizen zu Straftaten nach § 176a Abs. 2 <strong>StGB</strong> nicht wiederstehen. Eine in<br />

den Fragen des Angeklagten an das Tatopfer zum Ausdruck kommende gewisse Tatgeneigtheit begründet deshalb<br />

nach Maßgabe der verfassungsgerichtlichen Anforderungen an die Feststellung der Wahrscheinlichkeit der Begehung<br />

zukünftiger Straftaten keine hinreichende Gefährlichkeit des Angeklagten.<br />

GG Art. 101 I 2, Gesetzlicher Richter – Vorsitz 2. Strafsenat des BGH 2<br />

BGH, Beschl. v. 11.01.2012 - 2 StR 346/11 – StV 2012, 204, dazu Bernsmann StV 2012, 274, Sowada NStZ 2012,<br />

353<br />

Der Ansicht, Beschlüsse eines gerichtlichen Präsidiums zur Geschäftsverteilung seien regelmäßig<br />

bindend, so dass die Spruchkörper des Gerichts nicht befugt seien, im fachgerichtlichen Verfahren<br />

die Gesetzmäßigkeit ihrer Besetzung zu prüfen <strong>und</strong> darüber zu entscheiden, würde der Senat nicht<br />

folgen: Sie stünde in deutlichem Widerspruch zum Plenumsbeschluss des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

vom 8. April 1997 - 1 PBvU 1/95, wonach jeder Spruchkörper bei auftretenden Bedenken die<br />

Ordnungsmäßigkeit seiner Besetzung von Amts wegen zu prüfen <strong>und</strong> darüber zu entscheiden hat.<br />

Der 2. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 11. Januar 2012 beschlossen:<br />

1. Es wird festgestellt, dass der Senat nicht ordnungsgemäß besetzt ist.<br />

2. Die Hauptverhandlung wird ausgesetzt.<br />

Gründe:<br />

Der Senat ist nicht ordnungsgemäß besetzt. Der Geschäftsverteilungsplan, mit dem Vorsitzender Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

Dr. Ernemann ab 1. Januar 2012 dem 2. Strafsenat als Vorsitzender zugewiesen ist, steht mit Art. 101<br />

Abs. 1 Satz 2 GG nicht in Einklang. Das hat der Senat, auch ohne dass eine ausdrückliche Besetzungsrüge vorliegt,<br />

von Amts wegen zu prüfen. Dies führt zur Aussetzung der Hauptverhandlung.<br />

I. Die Stelle des Vorsitzenden des 2. Strafsenats des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist seit dem ruhestandsbedingten Ausscheiden<br />

der vormaligen Vorsitzenden zum 31. Januar 2011 unbesetzt; der Geschäftsverteilungsplan weist seit diesem<br />

Zeitpunkt den Vorsitz mit "N.N." aus. Die Funktion des Vorsitzenden im Senat, dem im Hinblick auf eine voraussichtlich<br />

längere Vakanz zum 1. Februar 2011 als Ersatz für die ausgeschiedene Vorsitzende Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

Dr. Berger zugeteilt worden ist, hat vom 1. Februar bis 31. Dezember 2011 der stellvertretende Vorsitzende,<br />

Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Prof. Dr. Fischer, wahrgenommen. Die Stelle des Vorsitzenden des 2. Strafsenats<br />

ist weiterhin vakant. Der stellvertretende Vorsitzende dieses Senats, der sich neben anderen um diese Stelle beworben<br />

hat, hat die ihm erteilte Anlassbeurteilung angefochten <strong>und</strong> gegen die beabsichtigte Ernennung eines anderen<br />

Bewerbers Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Mit Beschluss vom 24. Oktober 2011 hat daraufhin das<br />

Verwaltungsgericht Karlsruhe im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, die Stelle zu besetzen, bevor Richter<br />

2 siehe auch 4 StR 523/11; Folgeentscheidung 2 StR 346/11<br />

275


am B<strong>und</strong>esgerichtshof Prof. Dr. Fischer unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu beurteilt worden ist.<br />

Die Entscheidung ist rechtskräftig. Am 11. Januar 2012 ist dem Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Prof. Dr. Fischer eine<br />

neue Beurteilung ausgehändigt worden. Das Besetzungsverfahren, dessen weitere Dauer derzeit nicht absehbar ist,<br />

kann daher seinen Fortgang nehmen. Das Präsidium des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 15. Dezember 2011 mehrere<br />

Mitglieder des 2. Strafsenats zu einer geplanten Änderung des Geschäftsverteilungsplans für das Geschäftsjahr 2012<br />

angehört <strong>und</strong> sodann diese Änderung beschlossen. Danach ist mit Wirkung vom 1. Januar 2012 dem Vorsitzenden<br />

des 4. Strafsenats, Vorsitzender Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann, der zum 30. Juni 2012 in den Ruhestand<br />

treten wird, auch der Vorsitz des 2. Strafsenats übertragen worden; zugleich bestimmt der Geschäftsverteilungsplan,<br />

dass die Tätigkeit im 2. Senat Vorrang gegenüber derjenigen im 4. Strafsenat hat. Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

Prof. Dr. Schmitt, der bisher allein Mitglied des 2. Strafsenats war, wurde mit jeweils 50% seiner Arbeitskraft<br />

dem 2. <strong>und</strong> 4. Strafsenat zugewiesen. Gr<strong>und</strong> für diese Änderung des Geschäftsverteilungsplans war, dass das<br />

Präsidium des B<strong>und</strong>esgerichtshofs eine weitere Wahrnehmung der Aufgaben des Senatsvorsitzenden durch den<br />

Stellvertreter im 2. Strafsenat nicht mehr für zulässig hielt, weil es sich nach Ablauf von elf Monaten der Vakanz<br />

nicht mehr um eine vorübergehende Verhinderung im Sinne des § 21f Abs. 2 GVG handele.<br />

II. Der Geschäftsverteilungsplan, mit dem Vorsitzender Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann ab 1. Januar<br />

2012 zugleich dem 2. <strong>und</strong> dem 4. Strafsenat als Vorsitzender zugewiesen ist, steht nicht mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2<br />

GG in Einklang.<br />

1. Jeder Spruchkörper hat bei auftretenden Bedenken die Ordnungsmäßigkeit seiner Besetzung - von Amts wegen -<br />

zu prüfen <strong>und</strong> darüber in eigener Verantwortung zu entscheiden (vgl. BVerfGE 95, 322, 330). Dies gilt unabhängig<br />

vom Vorliegen eines Besetzungseinwands von Verfahrensbeteiligten. Dem steht auch nicht die Rechtsprechung des<br />

B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichts entgegen, wonach ein Geschäftsverteilungsplan solange als verbindlich anzusehen ist,<br />

bis seine Rechtswidrigkeit (im verwaltungsgerichtlichen Verfahren) festgestellt oder er anderweitig aufgehoben ist<br />

(vgl. BVerwGE 50, 11 ff.). Diese bezieht sich allein auf die Rechtslage bei der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung<br />

eines Geschäftsverteilungsplans durch Richter, die sich durch die Geschäftsverteilung in eigenen Rechten verletzt<br />

sehen. Es entbindet deshalb die Fachgerichte im Rahmen der ihnen obliegenden Pflicht zur Justizgewährung<br />

nicht davon, die Rechtmäßigkeit ihrer Besetzung jeweils eigenständig zu prüfen <strong>und</strong> darüber zu entscheiden (vgl.<br />

BVerwG NJW 1980, 900). Denn ein gesetzwidrig besetztes Gericht ist nicht zur Sachentscheidung berufen (vgl.<br />

etwa auch § 338 Nr. 1 StPO). Zu beachten ist freilich, dass die Überprüfung von Geschäftsverteilungsplänen im<br />

Hinblick auf deren Rechtsnatur Grenzen unterliegt. Geschäftsverteilungspläne werden vom Präsidium eines Gerichts<br />

in Wahrnehmung der ihm nach § 21e GVG übertragenen Aufgabe in richterlicher Unabhängigkeit beschlossen (vgl.<br />

BGHZ 46, 147, 148 f). Die Verteilung der richterlichen Aufgaben liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Präsidiums,<br />

dem dabei ein weiter Einschätzungs- <strong>und</strong> Prognosespielraum eingeräumt ist. Dieser ist nach ständiger Rechtsprechung<br />

der Verwaltungsgerichte erst überschritten, wenn für die Entscheidungen kein sachlicher Gr<strong>und</strong> ersichtlich ist<br />

<strong>und</strong> die Verteilung der Geschäfte maßgeblich durch sachfremde Erwägungen geprägt, also die Grenze zur objektiven<br />

Willkür überschritten ist (vgl. BVerwG NJW 1982, 2274; s. auch BVerfG NJW 2008, 909). Dies führt naturgemäß<br />

dazu, dass der Geschäftsverteilungsplan insoweit nur einer beschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich ist, die<br />

sich nicht darauf zu erstrecken hat, ob sich die getroffene Regelung als die zweckmäßigste darstellt oder sich bessere<br />

Alternativen angeboten hätten. Davon unberührt bleibt aber die Prüfung, ob im Rahmen des Geschäftsverteilungsplans<br />

der Gr<strong>und</strong>satz des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG mit seinen Gewährleistungen hinreichende<br />

Beachtung gef<strong>und</strong>en hat (vgl. BVerfGE 95, 322, 330).<br />

2. Schon angesichts des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs stellt der Senat die Ausgangsüberlegung des Präsidiums,<br />

der Vorsitz im 2. Strafsenat könne nach elf Monaten der Vakanz nicht länger von dem geschäftsplanmäßigen Vertreter<br />

wahrgenommen werden, nicht in Frage. Die Ansicht, es liege angesichts der Dauer des Besetzungsverfahrens eine<br />

nicht nur vorübergehende Verhinderung des Vorsitzenden vor, die eine Vertretung durch den Stellvertreter gemäß §<br />

21f Abs. 2 Satz 1 GVG nicht mehr erlaube, ist nach Ansicht des Senats zwar nicht zwingend, aber jedenfalls vertretbar<br />

<strong>und</strong> ersichtlich frei von Willkür (vgl. hierzu BGH NJW 2006, 154; BFHE 190, 47; BVerwG NJW 2001, 3493;<br />

BSG NJW 2007, 2717). Soweit der Senat anderer Auffassung ist <strong>und</strong> im Falle einer Vakanz bei Durchführung eines<br />

gesetzlich geregelten Konkurrentenstreitverfahrens, an dessen Ende - anders etwa als bei unabsehbarer Erkrankung,<br />

die auch mit dauernder Dienstunfähigkeit enden kann - in jedem Fall eine Besetzung der ausgeschriebenen Stelle<br />

erfolgt, in der Regel eine nur vorübergehende Verhinderung des Vorsitzenden annehmen will, steht dies zu der Entscheidung<br />

des Präsidiums <strong>und</strong> zu den genannten Entscheidungen anderer B<strong>und</strong>esgerichte nicht in Widerspruch. Die<br />

zitierte Rechtsprechung hat eine solche Fallkonstellation nicht zum Gegenstand, ist einzelfallbezogen ergangen <strong>und</strong><br />

wollte ausdrücklich starre Fristen <strong>und</strong> allgemein geltende Regeln für die Auslegung des Begriffs der "vorübergehenden"<br />

Verhinderung im Sinne von § 21f Abs. 2 GVG nicht aufstellen. Zudem besteht in der zugr<strong>und</strong>eliegenden Kons-<br />

276


tellation, in der Gerichte zur Klärung von im Zusammenhang mit der eingeleiteten Stellenbesetzung entstandenen<br />

Rechtsfragen aufgerufen sind, nicht die Gefahr, die Exekutive könne durch unvertretbares oder sachlich nicht begründetes<br />

Zuwarten mit der Stellenbesetzung Einfluss auf die konkrete Besetzung des Gerichts nehmen (vgl. BVerfGE<br />

18, 423, 426; BayVerfGH NJW 1986, 1326). Gegenstand der Prüfung durch den Senat ist daher nicht etwa die<br />

Frage, ob das Präsidium überhaupt hätte tätig werden können oder müssen, sondern allein, ob die aufgr<strong>und</strong> der vom<br />

Präsidium vertretbar angenommenen Pflicht zum Tätigwerden konkret getroffene Entscheidung, den 2. <strong>und</strong> den 4.<br />

Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs mit demselben Richter als Vorsitzenden zu besetzen, mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2<br />

GG in Einklang steht.<br />

3. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet das Recht auf den gesetzlichen Richter. Ziel der Verfassungsgarantie ist<br />

es, der Gefahr einer möglichen Einflussnahme auf den Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung vorzubeugen, die<br />

durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter eröffnet sein könnte (BVerfGE<br />

95, 322, 327). Damit sollen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt <strong>und</strong> das Vertrauen der Rechtssuchenden<br />

<strong>und</strong> der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit <strong>und</strong> Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden. Deshalb<br />

verpflichtet Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zunächst den Gesetzgeber dazu, eine klare <strong>und</strong> abstrakt-generelle Zuständigkeitsordnung<br />

zu schaffen, die für jeden denkbaren Streitfall im Voraus den Richter bezeichnet, der für die Entscheidung<br />

zuständig ist. Normen, die gerichtliche Zuständigkeiten bestimmen, sind so zu fassen, dass aus ihnen der im<br />

Einzelfall zuständige Richter möglichst eindeutig erkennbar wird. Das Gebot der normativen Vorausbestimmung<br />

wendet sich aber auch an die Judikative, die neben den Organen von Legislative <strong>und</strong> Exekutive ebenfalls Adressat<br />

der Garantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist (BVerfGE 82, 286, 298). Daher sind sowohl das Präsidium eines<br />

Gerichts beim Beschluss der Geschäftsverteilungspläne als auch die gerichtlichen Spruchkörper in ihren Mitwirkungsregelungen<br />

von Verfassungs wegen gehalten, hinreichend bestimmte Regelungen zur Zuständigkeit des einzelnen<br />

Richters zu schaffen. Nach ständiger Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts hat Art. 101 Abs. 1 Satz 2<br />

GG darüber hinaus einen materiellen Gewährleistungsgehalt. Die Verfassungsnorm garantiert, dass der Rechtssuchende<br />

im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig <strong>und</strong> unparteilich ist <strong>und</strong> die Gewähr für Neutralität <strong>und</strong><br />

Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (BVerfGE 82, 286, 298; 89, 28, 36). Der Normgeber einer Zuständigkeits-<br />

oder Besetzungsregelung hat deshalb Vorsorge dafür zu treffen, dass die Richterbank im Einzelfall mit<br />

Richtern besetzt ist, die dem zur Entscheidung anstehenden Streitfall mit der erforderlichen professionellen Distanz<br />

gegenüberstehen <strong>und</strong> ihr Amt in inhaltlicher Unabhängigkeit sachgerecht ausüben können. Art. 101 Abs. 1 Satz 2<br />

GG ist somit nicht nur als formale Bestimmung zu verstehen, die schon erfüllt ist, wenn die Richterzuständigkeit<br />

abstrakt-generell für alle anhängig werdenden Verfahren geregelt ist. "Ungesetzlich" ist auch derjenige Richter, der<br />

in seiner Person nicht den materiellen Anforderungen des Gr<strong>und</strong>gesetzes entspricht (vgl. BVerfGE 82, 286, 298).<br />

a) Der vom Präsidium des B<strong>und</strong>esgerichtshofs mit Wirkung ab 1. Januar 2012 beschlossene Geschäftsverteilungsplan,<br />

durch den dem Vorsitzenden Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann der Vorsitz in zwei Strafsenaten<br />

zugleich übertragen worden ist, scheint auf den ersten Blick dem Gebot der normativen Vorausbestimmung zu genügen.<br />

Zwar fehlt - anders als bei Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Prof. Dr. Schmitt, der beiden Senaten jeweils mit der<br />

Hälfte seiner Arbeitskraft zugewiesen ist - eine ausdrückliche Bestimmung darüber, wie die Arbeitskraft des Vorsitzenden<br />

Richters am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann auf die Senate zu verteilen ist. Bei Auslegung der getroffenen<br />

Regelungen für den 2. <strong>und</strong> 4. Strafsenat ergibt sich aber, dass ihm - ohne dass es insoweit auf die Frage der Verteilung<br />

seiner Arbeitskraft ankäme - jeweils allein <strong>und</strong> eigenverantwortlich, somit in vollem Umfang, die Wahrnehmung<br />

des Vorsitzes in beiden Senaten obliegt. Damit erfährt die Zuweisung des Vorsitzenden im Ausgangspunkt<br />

eine hinreichend bestimmte Regelung, die auch in der Vergangenheit - etwa bei zusätzlicher Übertragung eines Vorsitzes<br />

in einem Spezialsenat - verfassungsrechtlich unbeanstandet geblieben ist. Zu berücksichtigen ist hier freilich<br />

die Besonderheit, dass dem Vorsitzenden Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann der Vorsitz in zwei voll ausgelasteten<br />

Strafsenaten des B<strong>und</strong>esgerichtshofs übertragen worden ist, die für sich, wie bisher unbezweifelt geblieben<br />

ist, jeweils die volle Arbeitskraft eines Vorsitzenden Richters beanspruchen. Daher könnten Zweifel aufkommen,<br />

wie der im Geschäftsverteilungsplan vorgesehene, allerdings nicht näher erläuterte Vorrang des Vorsitzes im 2.<br />

Strafsenat zu verstehen ist <strong>und</strong> ob er dem Gebot der normativen Vorausbestimmung hinsichtlich gleichzeitiger Anforderungen<br />

durch den 2. <strong>und</strong> 4. Strafsenat entspricht. Denn es liegt auf der Hand, dass es im Geschäftsablauf zweier<br />

Strafsenate - bezogen auf den Vorsitz - ständig zu Kollisionen hinsichtlich unterschiedlicher zu erfüllender Aufgaben<br />

kommen kann. Dies gilt unabhängig davon, dass beide Senate in ihren Mitwirkungsgr<strong>und</strong>sätzen jeweils alternierende<br />

Beratungswochen vorgesehen haben. Gleichwohl können Organisations- <strong>und</strong> Verwaltungsangelegenheiten, Beratungs-<br />

<strong>und</strong> Verhandlungstermine des einen Senats zeitgleich mit Aufgaben im anderen Senat zusammentreffen. Ob<br />

jede Form einer dienstlichen Beanspruchung im 2. Strafsenat, etwa auch die Auslastung mit Verwaltungsangelegenheiten,<br />

es rechtfertigt, die Wahrnehmung des Vorsitzes im 4. Strafsenat zurückzustellen, lässt sich der Vorrangrege-<br />

277


lung nicht eindeutig entnehmen; diese könnte auch auf Terminskollisionen hinsichtlich aller oder einzelner richterlicher<br />

Aufgaben beschränkt sein. Insoweit spricht Einiges dafür, dass im Geschäftsverteilungsplan ein vermeidbarer<br />

Spielraum verbleibt, weil er offen lässt, in welchen Fällen möglicher dienstlicher Verhinderung im 2. Strafsenat die<br />

richterliche Tätigkeit im 4. Strafsenat zurücktreten darf. Der Senat braucht dies nicht zu entscheiden, da nach seiner<br />

Ansicht die Übertragung eines Doppelvorsitzes jedenfalls mit der materiell-rechtlichen Gewährleistung des Art. 101<br />

Abs. 1 Satz 2 GG nicht in Einklang zu bringen ist.<br />

b) Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG stellt - wie oben dargelegt - materielle Anforderungen an den gesetzlichen Richter, die<br />

auch das Präsidium bei der Aufstellung seiner Geschäftsverteilungspläne zu beachten hat. Nur der neutrale, unparteiliche<br />

<strong>und</strong> unabhängige Richter ist "gesetzlicher Richter" im Sinne der Verfassungsnorm. Herausragende Bedeutung<br />

kommt dabei der durch Art. 97 GG geschützten Unabhängigkeit des Richters zu, die ihrerseits nicht nur zu den<br />

gr<strong>und</strong>legenden verfassungsgestaltenden Strukturprinzipien des Gr<strong>und</strong>gesetzes zählt, sondern vor allem auch notwendige<br />

Voraussetzung für die Verwirklichung des Justizgewährungsanspruchs ist (vgl. Papier NJW 1990, 8, 9). Gr<strong>und</strong>rechtlich<br />

garantierter effektiver Rechtsschutz ist (unter anderem) nur durch sachlich <strong>und</strong> persönlich unabhängige<br />

Richter möglich. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sind sie prinzipiell unabsetzbar <strong>und</strong> unversetzbar (BVerfGE 14, 156, 193; 17,<br />

252, 259). Darin aber erschöpft sich die Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit nicht; sie fordert auch<br />

Minimalbedingungen für die freie Ausübung der richterlichen Tätigkeit. So wenig ein Richter durch Maßnahmen der<br />

Geschäftsverteilung aus seinem Amt verdrängt werden darf (vgl. BVerfGE 17, 252, 259; BVerfG, Beschluss der 1.<br />

Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 2007 - 2 BvR 1431/07 - NJW 2008, 909), indem ihm durch den<br />

Geschäftsverteilungsplan praktisch kaum noch Aufgaben zugewiesen werden, so wenig darf er mit unerfüllbaren<br />

Aufgaben beauftragt werden, indem ihm ein Pensum auferlegt wird, das sich in sachgerechter Weise nicht mehr<br />

erledigen lässt (vgl. BGH, Urt. vom 3. Dezember 2009 - RiZ(R) 1/09 - juris). Eine sichere oder auch nur in Kauf<br />

genommene dauerhafte Überlastung eines Richters beeinträchtigt ohne Weiteres die gleichmäßige Verwirklichung<br />

des Justizgewährungsanspruchs der Rechtssuchenden (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. November<br />

2005 - 1 A 494/05 - juris) <strong>und</strong> stellt damit die Unabhängigkeit des Richters bei der Erledigung der ihm übertragenen<br />

Aufgaben in Frage (vgl. BVerwGE 78, 211 ff.). Maßgeblich für die Beurteilung, ob das übertragene Pensum<br />

sich (noch) sachgerecht erledigen lässt, ist ein abstrakt-genereller Maßstab. Es ist nicht auf die individuelle Belastbarkeit<br />

des einzelnen Richters abzustellen (vgl. BGH, Urt. vom 3. Dezember 2009 - RiZ(R) 1/09 - juris), erst Recht<br />

nicht darauf, ob ein Richter bereit <strong>und</strong> subjektiv willens ist, ein beliebiges, gegebenenfalls weit überdurchschnittliches<br />

Pensum zu leisten. Vielmehr ist zu fragen, ob es sich um ein Arbeitspensum handelt, das sich allgemein - nach<br />

der Lebenserfahrung, den für Fälle der betreffenden Art üblichen Maßstäben <strong>und</strong> den Anforderungen, welche an<br />

Richter in der entsprechenden Funktion nach allgemeiner Erfahrung gestellt werden können - auf Dauer erledigen<br />

lässt, oder ob es diese Grenze überschreitet. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei, dass ein Richter - obgleich er<br />

keiner festen Arbeitszeitregelung unterliegt - nicht zur zeitlich unbegrenzten Erfüllung dienstlicher Angelegenheiten<br />

verpflichtet ist. Seine Arbeitsleistung orientiert sich unter Beachtung dienstlicher Notwendigkeiten, die vorübergehend<br />

einen höheren Arbeitseinsatz erfordern können, an der für Beamte geltenden Regelarbeitszeit <strong>und</strong> an dem von<br />

Richtern in vergleichbarer Position in dieser Zeit geleisteten Arbeitspensum (BVerwGE 78, 211 ff.). Nur im Rahmen<br />

dieser Verpflichtung ist er zur Wahrnehmung dienstlicher Belange verpflichtet; nur in diesem Rahmen kann auch der<br />

Rechtssuchende davon ausgehen, dass der Richter seinen <strong>Teil</strong> zur Erfüllung des gr<strong>und</strong>rechtlich garantierten Justizgewährungsanspruchs<br />

beiträgt.<br />

c) Legt man diesen Maßstab zugr<strong>und</strong>e, stellt sich die Frage, ob die Übertragung eines Doppelvorsitzes in zwei Strafsenaten<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ein Arbeitspensum beinhaltet, das sich nach abstrakt-genereller Betrachtung sachgerecht<br />

von einem Vorsitzenden so bewerkstelligen lässt, dass der Justizgewährungsanspruch rechtsuchender Beschwerdeführer<br />

dadurch nicht beeinträchtigt wird. Der Senat verneint dies.<br />

aa) Für diese Einschätzung ist es nicht entscheidend, wie an anderen B<strong>und</strong>esgerichten verfahren wird. Sowohl die<br />

Arbeitsweise wie auch die tatsächliche Belastungssituation an den verschiedenen B<strong>und</strong>esgerichten mit jeweils unterschiedlichen<br />

Verfahrensordnungen weichen so stark voneinander ab, dass aus der Handhabung dort (zwingende)<br />

Rückschlüsse auf die Belastungssituation in den Strafsenaten des B<strong>und</strong>esgerichtshofs nicht gezogen werden können.<br />

So können sich sowohl aus der von einem Senat zu bearbeitenden Anzahl von Verfahren als auch aus der konkreten<br />

Bearbeitungsweise erhebliche Unterschiede ergeben. Die Arbeit der Strafsenate des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist dadurch<br />

geprägt, dass der weitaus größte <strong>Teil</strong> der Verfahren - mehr als 90% - im Beschlussverfahren nach § 349 Abs. 1 bis 4<br />

StPO erledigt werden. In diesen Verfahren werden die Sachen nicht vorvotiert, sondern vom Berichterstatter in der<br />

Beratung vorgetragen. Dies stellt an die Leitungs- <strong>und</strong> Überwachungsfunktion des Vorsitzenden hohe Anforderungen,<br />

die nicht dadurch umgangen oder gemindert werden können, dass durch Bestellung eines "Zweitberichterstatters"<br />

das so genannte "Vier-Augen-Prinzip" ohne Beteiligung des Vorsitzenden gewahrt wird. Eine sachgerechte<br />

278


Ausübung der Leitungsfunktion durch den Vorsitzenden - als regelmäßig besonders erfahrenen, qualifizierten <strong>und</strong><br />

leistungsstarken Richter - setzt voraus, dass dieser die im Senat zu entscheidenden Fälle kennt, die inmitten stehenden<br />

Rechtsprobleme wahrnimmt <strong>und</strong> überdenkt, mögliche Lösungen ins Auge fasst <strong>und</strong> die Beratung ggf. entsprechend<br />

lenkt (zum normativ begründeten richtungsweisenden Einfluss des Vorsitzenden auf die Rechtsprechung, die<br />

sich auch auf seine Vorbereitung auszuwirken hat; vgl. BGH NJW 2009, 931; s. auch BVerfG NJW 2004, 3482).<br />

Dies ist ohne vertiefte Fallkenntnis nicht möglich; entsprechende Kenntnisse können dem Vorsitzenden auch nicht<br />

zuverlässig durch bloßen mündlichen Vortrag eines anderen Richters in einem Maß vermittelt werden, das eine inhaltliche<br />

"Leitung" der Beratung ermöglicht. Kern der Tätigkeit der Strafsenate des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist die rechtliche<br />

Überprüfung schriftlicher, oft umfangreicher Urteilsgründe anhand ebenfalls schriftlicher - teilweise sehr umfangreicher,<br />

komplexer <strong>und</strong> differenzierter, oft auch wenig strukturierter <strong>und</strong> problematisch abgefasster - Revisionsschriftsätze.<br />

Diese Aufgabe kann sachgerecht nur erfüllt werden, wenn die in den sog. "Senatsheften" - die mitunter<br />

viele h<strong>und</strong>ert Seiten umfassen können - enthaltenen Revisionsunterlagen sorgfältig durchgearbeitet werden. So verlangt<br />

beispielsweise oft schon die Auslegung von - umfangreichen - Revisionsrügen <strong>und</strong> das Erkennen von darin<br />

enthaltenen Rechtsproblemen eine vertiefte Kenntnis der Problematik oder lang zurück reichender Rechtsprechungs-<br />

Entwicklung. All dies kann dem Vorsitzenden nicht durch den Vortrag eines - unter Umständen weniger erfahrenen -<br />

Berichterstatters vermittelt werden.<br />

bb) Unerheblich für die hier zu entscheidende Konstellation ist auch, dass an Landgerichten, auch an Oberlandesgerichten,<br />

ein Doppel- oder sogar Mehrfachvorsitz durchaus vorkommt (vgl. etwa BGHSt 8, 17; OLG Koblenz MDR<br />

1966, 1023; Hans. OLG Hamburg StV 2003, 11; VGH Kassel, ESVGH 48, 241; s. auch die einen Sonderfall betreffende<br />

Entscheidung BGH NJW 1967, 1566, 1567 = BGHZ 47, 289 in Widerspruch zu BGHZ 37, 210 <strong>und</strong> ohne<br />

Hinweis auf eine tatsächliche Belastung des Vorsitzenden). Gr<strong>und</strong>lage dafür ist, dass an diesen Gerichten häufig<br />

Spruchkörper gebildet sind oder von Gesetzes wegen zu bilden sind, denen in der gerichtlichen Praxis nur eine geringe<br />

Geschäftsaufgabe zufällt. Das kann im Bereich der Strafrechtspflege etwa Auffangkammern oder Strafkammern<br />

für besondere Geschäftsaufgaben nach §§ 74 Abs. 2, 74a, 74b, 74c GVG betreffen. In solchen Spruchkörpern<br />

kann ein Vorsitzender Richter den Vorsitz je nach konkretem Zuschnitt mit einem so geringen <strong>Teil</strong> seiner gesamten<br />

Arbeitskraft ausfüllen, dass er daneben noch einen anderen Vorsitz wahrnehmen kann. Dies ist in den Strafsenaten<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs nicht der Fall. Diese sind sämtlich voll ausgelastet. Der 4. Strafsenat hatte im Jahr 2011 682<br />

Neueingänge, der 2. Strafsenat 623, zusätzlich 325 Beschwerden <strong>und</strong> Gerichtsstandsbestimmungen. Der 4. Strafsenat<br />

ist für das Geschäftsjahr 2012 für die OLG-Bezirke Rostock <strong>und</strong> Saarbrücken entlastet worden; dies wird zu einer<br />

Reduzierung der Geschäftslast um ca. 120 Revisionen führen.<br />

cc) Für die Beurteilung des Senats ist auch die individuelle Leistungsfähigkeit <strong>und</strong> Leistungsbereitschaft des Vorsitzenden<br />

Richters am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann nicht entscheidungserheblich. Dies entspricht der Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zur Beurteilung des Leistungsverhaltens von Richtern, ergibt sich aber auch aus Folgendem:<br />

Abgesehen davon, dass sich eine formelle Dokumentation seiner Leistungsbereitschaft weder im Geschäftsverteilungsplan<br />

noch in den Mitwirkungsgr<strong>und</strong>sätzen der betroffenen Senate noch an anderer Stelle findet,<br />

sind schon im Vorfeld der Änderung der Geschäftsverteilung zum 1. Januar 2012, aber auch danach Gestaltungsmöglichkeiten<br />

erörtert worden, die zu einer Reduzierung der Arbeitslast des Vorsitzenden führen können. Umfang<br />

<strong>und</strong> Ausmaß dessen, was der Vorsitzende über seine rechtliche Verpflichtung hinaus zu leisten bereit <strong>und</strong> imstande<br />

ist, können aber auf diese Weise insbesondere aus Sicht des rechtssuchenden Bürgers im Voraus weder bestimmt<br />

noch auch nur erkannt werden. Der Umfang überobligatorischer Arbeitsleistung bis an die Grenze des Möglichen<br />

kann jederzeit - aus beliebigen Gründen - eingeschränkt oder verändert werden, ohne dass ihre Erfüllung von dem<br />

Vorsitzenden rechtlich verlangt werden oder er auch nur zu einer verbindlichen Auskunft angehalten werden könnte.<br />

dd) Die Übertragung eines Doppelvorsitzes bei zwei Strafsenaten des B<strong>und</strong>esgerichtshofs stellt ein Arbeitspensum<br />

dar, das dem Vorsitzenden - unabhängig von seiner konkreten Person - nicht mehr die verantwortungsvolle Ausübung<br />

der richterlichen Tätigkeit in beiden Senaten ermöglicht (vgl. zum gleichzeitigen Vorsitz in mehreren Strafkammern<br />

beim Landgericht BGHSt 2, 71, 73, wo der BGH aber - wie bei BGHSt 8, 17, 18 - nicht auf die damit<br />

verb<strong>und</strong>ene Belastung des Vorsitzenden <strong>und</strong> den Einfluss auf dessen Unabhängigkeit, sondern auf dessen fehlenden<br />

richtungsgebenden Einfluss zur Leitung der Spruchkörper abstellt). Das gilt auch unter Berücksichtigung von denkbaren,<br />

rechtlich zulässigen Entlastungen. Dies führt zu einer die Unabhängigkeit beeinträchtigenden Überbelastung<br />

<strong>und</strong> dazu, dass der überbelastete Vorsitzende Richter nicht mehr der "gesetzliche Richter" im Sinne von Art. 101<br />

Abs. 1 Satz 2 GG ist. Mit der Übertragung eines weiteren Vorsitzendenamts wird dem Richter - ungeachtet der konkreten<br />

Belastung im einzelnen Senat - ein über dem bisherigen Maß voller Belastung liegendes Arbeitspensum auferlegt,<br />

das sich nicht nur gegenüber früherer Belastung, sondern auch im Verhältnis zu anderen Vorsitzenden von<br />

Strafsenaten beim B<strong>und</strong>esgerichtshof im Januar 2012 einer doppelten Belastung annähern dürfte. Es ist bislang nicht<br />

279


in Frage gestellt worden, dass bereits die Leitung eines Strafsenats beim B<strong>und</strong>esgerichtshof die Arbeitskraft eines<br />

Vorsitzenden im Wesentlichen ausschöpft. Es liegt demnach auf der Hand, dass der gleichzeitige Vorsitz in zwei voll<br />

belasteten Strafsenaten nicht ohne gravierende, den Justizgewährungsanspruch substanziell einschränkende Qualitätseinbußen<br />

ausgeübt werden kann. Dies gilt auch, soweit man davon ausginge, dass Vorsitzender Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

Dr. Ernemann durch die Vorrangregelung zu Gunsten des 2. Strafsenats im Ergebnis eine bis zu 25%<br />

reichende Entlastung der Aufgaben im 4. Strafsenat (vgl. BGHZ 37, 210, 216; zur möglichen Vertretung auch<br />

BGHSt 28, 290, 293) erfahren könnte (insoweit allerdings fraglich; vgl. dazu Hans. OLG Hamburg StV 2003, 11,<br />

wonach dann, wenn dem Vorsitzenden eines Spruchkörpers zusätzliche Aufgaben - insbesondere der Vorsitz in einem<br />

weiteren Spruchkörper - übertragen werden, die er in Folge ohnehin bestehender Arbeitsbelastung voraussehbar<br />

nicht erbringen kann, in Bezug auf die zusätzlichen Aufgaben ein Fall der Verhinderung nach § 21f Abs. 2 GVG<br />

nicht vorliegen soll). Auch ein Arbeitspensum, das "nur" 175% desjenigen eines durchschnittlichen Vorsitzenden<br />

Richters ausmacht, ist ohne eine exorbitante Steigerung der Arbeitsleistung nicht zu bewältigen. Ein solches Maß an<br />

Arbeitsaufwand schuldet der Richter, wenn überhaupt, allenfalls bei ganz besonderer, nicht vorhersehbarer dienstlicher<br />

Notwendigkeit, <strong>und</strong> dies auch nur "vorübergehend". Keinesfalls ist er aber verpflichtet, planmäßig <strong>und</strong> für einen<br />

längeren Zeitraum, der hier angesichts der Unabsehbarkeit des Besetzungsverfahrens bis zu sechs Monaten (bis zur<br />

Pensionierung des Vorsitzenden Richters am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann) dauern kann, gleichzeitig nahezu<br />

zwei volle Stellen als Vorsitzender auszufüllen.<br />

ee) Ein anderes Ergebnis könnte sich ergeben, wenn es - rechtlich zulässig im Hinblick auf Aufgaben <strong>und</strong> Funktion<br />

eines Vorsitzenden Richters - Möglichkeiten gäbe, ihn ohne Beeinträchtigung des Justizgewährungsanspruchs von<br />

gewissen Aufgaben freizustellen, um ihm so Freiräume für den gleichzeitigen Vorsitz in zwei Senaten des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

zu schaffen. Bereits im Vorfeld der Änderung der Geschäftsverteilung zum 1. Januar 2012, insbesondere<br />

auch im Rahmen der Anhörung durch das Präsidium am 15. Dezember 2011, sind mögliche organisatorische Maßnahmen<br />

erörtert worden, die zu einer Reduzierung der Arbeitslast des Vorsitzenden führen <strong>und</strong> es ihm so überhaupt<br />

erst ermöglichen könnten, den Vorsitz in zwei Strafsenaten zugleich zu führen (weil Einigkeit bestand, dass eine<br />

Verdopplung der Arbeitsleistung durch Leitung von zwei Senaten mit insgesamt mehr als 1.300 Revisionssachen im<br />

Jahr nicht möglich ist, wenn nach "normalen" Regeln gearbeitet werde). Der Senat sieht solche Möglichkeiten nicht.<br />

Sie ergeben sich insbesondere nicht aus einem teilweisen Verzicht auf das Studium des Revisionsheftes (vgl. schon<br />

oben). Nach § 21f Abs. 1 GVG führt der Vorsitzende Richter in den Senatsspruchkörpern den Vorsitz, er nimmt<br />

prinzipiell an allen Verfahren teil. Der Vorsitzende leitet die Beratung, er stellt die Fragen <strong>und</strong> sammelt die Stimmen<br />

(§ 194 Abs. 1 GVG). Er übernimmt in der Regel keine eigenen Berichterstattungen <strong>und</strong> beschränkt sich regelmäßig -<br />

ohne besondere Gestaltung in einzelnen Verfahren - darauf, durch die Leitung von Beratung <strong>und</strong> Hauptverhandlung<br />

die Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Senats sicherzustellen. Die Begleitung <strong>und</strong> Kontrolle des Berichterstatters<br />

durch den Vorsitzenden erweist sich als notwendig, um einen gr<strong>und</strong>rechtlich garantierten effektiven Rechtsschutz<br />

durch den erforderlichen substanziellen Zugriff auf die inmitten stehenden Rechtsfragen sicherzustellen. Würde man<br />

hierauf verzichten, so wäre das Amt eines Senatsvorsitzenden insgesamt überflüssig, da es auf eine "Lenkung der<br />

Rechtsprechung" durch einen besonders qualifizierten Richter nicht mehr ankäme. Daher hat sich in langjähriger<br />

Praxis des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ein bisher auch nicht in Frage gestelltes Verständnis herausgebildet, wonach es<br />

selbstverständliche Pflicht eines Strafsenatsvorsitzenden ist, selbst jedes Senatsheft zu lesen <strong>und</strong> sich aufgr<strong>und</strong> dessen<br />

eine (der Auffassung des Berichterstatters gegenüberzustellende <strong>und</strong> in die Rechtsprechung des Senats einzuordnende)<br />

Ansicht von den in dem jeweiligen Verfahren anfallenden Rechtsfragen zu bilden. Eine Delegation dieser<br />

Aufgabe, etwa an den stellvertretenden Vorsitzenden oder an einen Zweitberichterstatter, verträgt sich mit einem<br />

solchen Verständnis nicht; die Lektüre etwa der Zuschriften des Generalb<strong>und</strong>esanwalts kann zwar einen allgemeinen<br />

Überblick über die inmitten stehenden Rechtsfragen verschaffen, keinesfalls aber die eigene Kenntnis des Senatshefts<br />

ersetzen. Zudem wäre eine Selbststeuerung der Arbeitslast durch den Vorsitzenden Richter auch kein legitimer<br />

Gr<strong>und</strong> für ein daran orientiertes Verständnis von Zuständigkeits- oder Mitwirkungsregeln (vgl. BVerfGE 54, 277,<br />

295). Die Effektivität der Kontrolle <strong>und</strong> damit des gerichtlichen Rechtsschutzes in Strafsachen mit ihrer hohen Eingriffsintensität<br />

hängt mangels Kenntnis der Revisionsunterlagen der übrigen Mitglieder des Senats in Beschlussberatungen<br />

stark von der Maßstabslenkung <strong>und</strong> Erörterungsleitung durch den Vorsitzenden ab. Die Kenntnis des in den<br />

Akten zugr<strong>und</strong>e liegenden Streitstoffs ist <strong>und</strong> bleibt angesichts der derzeitigen Handhabung gr<strong>und</strong>sätzlich vom Justizgewährungsanspruch<br />

geforderte <strong>und</strong> damit rechtstaatlich unabdingbare Voraussetzung für die Leitung <strong>und</strong> Führung<br />

eines Strafsenats beim B<strong>und</strong>esgerichtshofs (vgl. auch VGH Kassel ESVGH 48, 241 zur Wahrnehmung eines<br />

Vorsitzes bei einem Verwaltungsgerichtshof, bei dem - nicht zuletzt im Interesse einer sachgerechten <strong>und</strong> verantwortungsvollen<br />

Ausübung der Leitungsfunktion - von einem Vorsitzenden die Übernahme von Berichterstattertätigkeiten<br />

erwartet wird).<br />

280


d) Dieses Ergebnis wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die vom Präsidium des B<strong>und</strong>esgerichtshofs beschlossene<br />

Einrichtung eines Doppelvorsitzes in der vorliegenden Form als einzig denkbare Lösung des oben unter<br />

Ziff. II. 2 dargestellten Problems in Betracht käme. Dies ist nämlich nicht der Fall. Vielmehr sind Alternativen denkbar,<br />

die bei entsprechender Ausgestaltung nicht Gefahr laufen, mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG voraussichtlich in<br />

Konflikt zu geraten. Dies könnte etwa eine vorübergehende Verkleinerung der Geschäftsaufgabe des 2. <strong>und</strong>/oder 4.<br />

Strafsenats auf ein Maß sein, welches einen Doppelvorsitz ermöglicht. Denkbar wäre auch eine Zuweisung des Vorsitzenden<br />

des 4. Strafsenats allein an den 2. Strafsenat - unter Inkaufnahme einer vorübergehenden Vakanz im 4.<br />

Strafsenat -; schließlich, auf der Gr<strong>und</strong>lage der Senatsmeinung zu § 21f Abs. 2 GVG, auch eine weitere Fortführung<br />

der Vertretung.<br />

III. Die Feststellung der Unvereinbarkeit der Geschäftsverteilungsregelung mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, die nicht<br />

gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Vorlage an das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht zwingt, hat der Senat von Amts wegen zu<br />

berücksichtigen. Sie führt zur Aussetzung der Revisionshauptverhandlung, um dem Präsidium Gelegenheit zu geben,<br />

eine mit der Verfassung in Einklang stehende Regelung herbeizuführen.<br />

GG 101 I 2 Doppelvorsitz 2. BGH-Strafsenat<br />

BVerfG, Beschl v. 23.05.2012 - 2 BvR 610/12 - 2 BvR 625/12 – NJW 2012, 2334, Bespechungsaufsatz Fischer/Krehl<br />

demnächst in StV<br />

Gesetzliche Richter im 2. Strafsenat?<br />

Der Antrag des Beschwerdeführers zu 2) auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe <strong>und</strong> Beiordnung von Rechtsanwalt<br />

S. wird abgelehnt.<br />

Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.<br />

Gründe:<br />

I. 1 Die Verfassungsbeschwerden betreffen im Wesentlichen die Frage, ob die seit dem 1. Januar 2012 vorgesehene<br />

Besetzung des 2. <strong>und</strong> 4. Strafsenats des B<strong>und</strong>esgerichtshofs mit dem Vorsitzenden Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr.<br />

E. den Gewährleistungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG genügt.<br />

1. Nachdem die frühere Vorsitzende des 2. Strafsenats zum 31. Januar 2011 ruhestandsbedingt ausgeschieden war,<br />

nahm der stellvertretende Vorsitzende des 2. Strafsenats, Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Prof. Dr. F., den Vorsitz im<br />

2. Strafsenat vom 1. Februar 2011 bis zum 31. Dezember 2011 kommissarisch wahr. Aufgr<strong>und</strong> des bisher nicht abgeschlossenen<br />

Verfahrens über die Wiederbesetzung der vakanten Stelle einer Vorsitzenden Richterin oder eines<br />

Vorsitzenden Richters am B<strong>und</strong>esgerichtshof ist die Stelle weiterhin unbesetzt. Das Präsidium des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

beschloss am 15. Dezember 2011 über die Geschäftsverteilung für das Jahr 2012 <strong>und</strong> wies dem Vorsitzenden<br />

Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. E. - bis dahin <strong>und</strong> weiterhin Vorsitzender des 4. Strafsenats - zusätzlich den Vorsitz<br />

des 2. Strafsenats zu. Gleichzeitig wurde Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Prof. Dr. S., der zuvor allein dem<br />

2. Strafsenat zugeteilt war, mit 50 % seiner Arbeitskraft dem 4. Strafsenat zugewiesen.<br />

2. a) Der Beschwerdeführer zu 1) wurde am 12. August 2011 durch das Landgericht Frankfurt am Main wegen Verstoßes<br />

gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten, der Beschwerdeführer<br />

zu 2) am 29. September 2011 durch das Landgericht Kassel wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von<br />

sieben Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt.<br />

b) Die Revisionen der Beschwerdeführer verwarf der 2. Strafsenat jeweils unter Vorsitz des Vorsitzenden Richters<br />

am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. E. am 16. Februar 2012 nach § 349 Abs. 2 StPO durch unbegründeten Beschluss. Zu<br />

seiner Besetzung verwies der Senat auf seine Entscheidungen vom 11. Januar 2012 (2 StR 482/11) <strong>und</strong> 8. Februar<br />

2012 (2 StR 346/11).<br />

II. 1. Die Beschwerdeführer rügen im Wesentlichen eine Verletzung des materiellen Gewährleistungsgehalts des<br />

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG <strong>und</strong> des Justizgewährungsanspruchs, die insoweit einen Anspruch auf einen unabhängigen<br />

<strong>und</strong> unparteilichen Richter begründeten. Die Zuweisung eines Doppelvorsitzes an den Vorsitzenden Richter am<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. E., der nach dem Geschäftsverteilungsplan sowohl den Vorsitz des 2. als auch des 4. Strafsenats<br />

innehabe, beeinträchtige wegen der dadurch hervorgerufenen Überbelastung den Anspruch auf den gesetzlichen<br />

Richter. Es liege - so der Beschwerdeführer zu 1) - nahe, dass der Schutzzweck des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG<br />

auch dann verfehlt werde, wenn der Rechtssuchende vor einem Richter stehe, der aus faktischen <strong>und</strong> rechtlichen<br />

Gründen nicht in der Lage sei, die ihm überantwortete Aufgabe verantwortungsvoll wahrzunehmen. Der Beschwer-<br />

281


deführer zu 2) stellt - letztlich durch einen Gesamtverweis auf die Entscheidung des 2. Strafsenats vom 11. Januar<br />

2012 - 2 StR 346/11 - hierzu im Wesentlichen darauf ab, dass die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 GG Minimalbedingungen<br />

für eine freie Ausübung der richterlichen Tätigkeit fordere <strong>und</strong> dies sowohl Maßnahmen entgegenstehe,<br />

die den Richter faktisch aus seiner Tätigkeit verdrängten, als auch solchen, die ihm ein Arbeitspensum<br />

zuwiesen, das sich in sachgerechter Weise nicht mehr erledigen lasse.<br />

Der danach erforderlichen sachgerechten beziehungsweise verantwortungsvollen Wahrnehmung der übertragenen<br />

Aufgaben werde der Vorsitzende Richter nur gerecht, wenn er dem gesetzlichen Leitbild entsprechend richtunggebenden<br />

Einfluss auf die Rechtsprechung des ihm anvertrauten Spruchkörpers nehmen könne. Mit diesen Anforderungen<br />

lasse sich der Doppelvorsitz in zwei voll ausgelasteten Strafsenaten nicht vereinbaren. So setze ein richtunggebender<br />

Einfluss nach der auf das Strafrecht zu übertragenden zivilgerichtlichen Rechtsprechung voraus, dass der<br />

Vorsitzende mindestens 75 % der Aufgaben als Vorsitzender seines Spruchkörpers selbst wahrnehme. Gleichzeitig<br />

erfordere die übliche Arbeitsweise der Strafsenate in Revisionssachen - bei der überwiegend nicht schriftlich votiert<br />

werde, sondern der Berichterstatter den zu entscheidenden Fall mündlich vortrage -, dass der Vorsitzende die (häufig<br />

umfangreichen) Senatshefte selbst lese, um sich dadurch eine eigene Ansicht von dem Verfahren <strong>und</strong> den anfallenden<br />

Rechtsfragen zu bilden <strong>und</strong> so in der Lage zu sein, den Berichterstatter kritisch zu hinterfragen. Bei zwei voll<br />

ausgelasteten Senaten begründeten diese Vorgaben ein theoretisches Arbeitspensum von wenigstens 150 %. Das<br />

überschießende Arbeitspensum werde weder durch die geringfügige Entlastung im 4. Strafsenat kompensiert noch<br />

könne es durch einen teilweisen Verzicht des Vorsitzenden auf das vollständige Studium der Senatshefte <strong>und</strong> eine<br />

Delegation an einen Zweitberichterstatter reduziert werden. Die Kenntnis des gesamten Streitstoffs sei unabdingbare<br />

Voraussetzung für die Leitung <strong>und</strong> Führung eines Strafsenats beim B<strong>und</strong>esgerichtshof.<br />

Mit nachgereichtem Schriftsatz rügt der Beschwerdeführer zu 1) überdies eine zusätzliche Verletzung des materiellen<br />

Gewährleistungsgehalts des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dadurch, dass die richterliche Unabhängigkeit infolge<br />

einer Anhörung von (letztlich) drei Mitgliedern des 2. Strafsenats durch das Präsidium am 18. Januar 2012 nicht<br />

mehr gewährleistet sei.<br />

2. Der Beschwerdeführer zu 2) beantragt weiter die Bewilligung von Prozesskostenhilfe <strong>und</strong> Beiordnung von<br />

Rechtsanwalt S.<br />

III. Die Verfassungsbeschwerden sind nicht zur Entscheidung anzunehmen, da die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2<br />

BVerfGG nicht vorliegen. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind beantwortet (§ 93a Abs. 2 Buchstabe<br />

a BVerfGG). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der<br />

Beschwerdeführer angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), denn die Verfassungsbeschwerden haben keine<br />

Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 ).<br />

1. Der im Geschäftsverteilungsplan des B<strong>und</strong>esgerichtshofs seit dem 1. Januar 2012 dem Vorsitzenden Richter am<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. E. zugewiesene Vorsitz des 2. <strong>und</strong> 4. Strafsenats verletzt weder den Anspruch der Beschwerdeführer<br />

auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG noch das Gebot effektiven Rechtsschutzes.<br />

a) aa) Mit der Garantie des gesetzlichen Richters will Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Gefahr vorbeugen, dass die<br />

Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. Es soll vermieden<br />

werden, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das<br />

Ergebnis der Entscheidung beeinflusst werden kann, gleichgültig, von welcher Seite eine solche Manipulation ausgeht<br />

(vgl. BVerfGE 17, 294 ; 48, 246 ; 82, 286 ; 95, 322 ). Damit soll die Unabhängigkeit<br />

der Rechtsprechung gewahrt <strong>und</strong> das Vertrauen der Rechtssuchenden <strong>und</strong> der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit<br />

<strong>und</strong> Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden (vgl. BVerfGE 4, 412 ; 95, 322 ). Dieses Vertrauen<br />

nähme Schaden, müsste der rechtssuchende Bürger befürchten, sich einem Richter gegenüberzusehen, der mit Blick<br />

auf seinen Fall <strong>und</strong> seine Person bestellt worden ist. Aus diesem Zweck heraus ergibt sich, dass von Verfassungs<br />

wegen allgemeine Regelungen darüber bestehen müssen, welches Gericht, welcher Spruchkörper <strong>und</strong> welcher Richter<br />

zur Entscheidung des Einzelfalls berufen sind (BVerfGE 2, 307 ; 19, 52 ; 21, 139 ; 95, 322<br />

).<br />

bb) Darüber hinaus hat Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nach der ständigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

auch einen materiellen Gewährleistungsgehalt, der dem rechtssuchenden Bürger im Einzelfall garantiert, vor<br />

einem unabhängigen <strong>und</strong> unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität <strong>und</strong> Distanz gegenüber den<br />

Verfahrensbeteiligten bietet (BVerfGE 4, 412 ; 21, 139 ; 23, 321 ; 82, 286 ; 89, 28<br />

). Die sachliche Unabhängigkeit der Richter wird durch die in Art. 97 Abs. 1 GG ausgesprochene Weisungsfreiheit<br />

verfassungsrechtlich garantiert (dazu BVerfGE 3, 213 ; 14, 56 ; 26, 186 ; 27, 312 ;<br />

31, 137 ; 36, 174 ) <strong>und</strong> mit der in Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten persönlichen Unabhängig-<br />

282


keit durch prinzipielle Unabsetzbarkeit <strong>und</strong> Unversetzbarkeit abgesichert (BVerfGE 4, 331 ; 14, 56 ;<br />

14, 156 ; 17, 252 ; 87, 68 ).<br />

b) Die verfassungsgerichtliche Prüfung ist vorliegend nicht darauf beschränkt, ob die Anwendung <strong>und</strong> Auslegung<br />

von Zuständigkeitsnormen willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist (BVerfGE 29, 45, ; 29, 198 ; 82,<br />

159 ; 82, 286 ; BVerfGK 7, 325 ; 11, 62 ) oder die angegriffenen Entscheidungen Bedeutung<br />

<strong>und</strong> Tragweite der Verfassungsgarantie gr<strong>und</strong>legend verkennen (BVerfGE 82, 286 ; BVerfGK 7, 325<br />

; 11, 62 ). Vielmehr sind die die Überprüfung des Geschäftsverteilungsplans selbst betreffenden Rügen<br />

unmittelbar an den Gewährleistungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen (vgl. BVerfG, Beschluss der<br />

3. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Februar 2005 - 2 BvR 581/03 -, juris, Rn. 22).<br />

c) Nach diesen Maßstäben betrifft eine Überbeanspruchung eines einzelnen Richters oder eines Spruchkörpers -<br />

unabhängig davon, ob eine solche tatsächlich vorliegt - nicht den Anspruch auf den gesetzlichen Richter. Soweit dem<br />

Richter gestützt auf seine richterliche Unabhängigkeit aus Art. 97 Abs. 1 <strong>und</strong> Abs. 2 Satz 1 GG ein Abwehrrecht<br />

gegen eine über- oder unterfordernde Einflussnahme bei der Zuweisung des Arbeitspensums eingeräumt wird, ist<br />

dieser Abwehranspruch von den subjektiven Gewährleistungen zugunsten des Rechtssuchenden aus Art. 101 Abs. 1<br />

Satz 2 GG zu unterscheiden.<br />

aa) Die Unabhängigkeit des Richters wird zum einen dadurch gesichert, dass der Richter durch die Tätigkeitszuweisung<br />

des Geschäftsverteilungsplans nicht gegen seinen Willen faktisch aus dem Amt verdrängt werden kann (vgl.<br />

BVerfGE 17, 252 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 2007 - 2 BvR<br />

1431/07 -, juris, Rn. 17). In entsprechender Weise kann sich der Richter gegen eine Überbeanspruchung wehren.<br />

bb) Die Überbeanspruchung eines Richters führt jedoch gr<strong>und</strong>sätzlich nicht zu einem Verstoß gegen den materiellen<br />

Gewährleistungsgehalt des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Dem steht entgegen, dass eine dienstliche Überbelastung den<br />

Richter nicht dazu zwingt, ein überobligatorisches Arbeitspensum zu erfüllen.<br />

(1) Der vom Richter zu leistende Arbeitseinsatz bestimmt sich gr<strong>und</strong>sätzlich nach dem ihm verliehenen konkreten<br />

Richteramt <strong>und</strong> den ihm in der richterlichen Geschäftsverteilung zugewiesenen Aufgaben (BVerwGE 78, 211<br />

). Allerdings sind auch Richter nicht verpflichtet, sämtliche ihnen nach dem Geschäftsverteilungsplan übertragenen<br />

Aufgaben in vollem Umfang sofort <strong>und</strong> ohne Beschränkung ihres zeitlichen Einsatzes zu erledigen (vgl. OVG<br />

Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. November 2005 - 1 A 494/04 -, juris, Rn. 20; OVG Saarland, Beschluss<br />

vom 24. Februar 1992 - 1 W 2/92 -, juris, Rn. 11). Die Möglichkeit, die Arbeitszeit als Ausfluss der richterlichen<br />

Unabhängigkeit selbst zu gestalten - soweit die Anwesenheit in der Dienststelle nicht durch bestimmte Tätigkeiten<br />

(Beratungen, Sitzungsdienst, Bereitschaftsdienst usw.) geboten ist -, bedeutet nämlich nicht, dass ein Richter zeitlich<br />

unbeschränkt zur Arbeitsleistung verpflichtet ist (BVerwG, Beschluss vom 21. September 1982 - 2 B 12/82 -, juris,<br />

Rn. 3). Vielmehr orientiert sich die von einem Richter zu erbringende Arbeitsleistung pauschalierend an dem Arbeitspensum,<br />

das ein durchschnittlicher Richter vergleichbarer Position in der für Beamte geltenden regelmäßigen<br />

wöchentlichen Arbeitszeit bewältigt (vgl. BVerwGE 78, 211 ; BVerwG, Beschluss vom 21. September 1982<br />

- 2 B 12/82 -, nach juris, Rn. 3; vgl. auch BGH, Urteil vom 3. Dezember 2009 - RiZ(R) 1/09 -, juris, Rn. 38).<br />

Überschreitet das zugewiesene Arbeitspensum die so zu bestimmende Arbeitsleistung - auch unter Berücksichtigung<br />

zumutbarer Maßnahmen wie zum Beispiel eines vorübergehenden erhöhten Arbeitseinsatzes - erheblich, kann der<br />

Richter nach pflichtgemäßer Auswahl unter sachlichen Gesichtspunkten die Erledigung der ein durchschnittliches<br />

Arbeitspensum übersteigenden Angelegenheiten zurückstellen. Die richterliche Unabhängigkeit bleibt dabei gewährleistet,<br />

indem der Richter - nach entsprechender Anzeige der Überlastung - für die nach pflichtgemäßer Auswahl<br />

zurückgestellten Aufgaben <strong>und</strong> die dadurch begründete verzögerte Bearbeitung dienstaufsichtsrechtlich nicht zur<br />

Verantwortung gezogen werden kann (vgl. OVG Saarland, Beschluss vom 24. Februar 1992 - 1 W 2/92 -, juris,<br />

Rn. 11; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. November 2005 - 1 A 494/04 -, juris, Rn. 22 ff.; vgl. auch<br />

BGH, Urteil vom 3. Dezember 2009 - RiZ(R) 1/09 -, juris, Rn. 35).<br />

(2) Ob sich ein überdurchschnittlich leistungsfähiger oder leistungsbereiter Richter letztlich darauf beruft, nur mit<br />

einem durchschnittlichen Arbeitspensum belastet zu werden, oder sein erhöhtes Leistungsvermögen beziehungsweise<br />

seine erhöhte Leistungsbereitschaft zur Bewältigung etwaiger überobligatorischer Aufgaben einsetzt, ist diesem<br />

überlassen <strong>und</strong> seinerseits Ausfluss der richterlichen Unabhängigkeit. Auch wenn Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dem<br />

Rechtssuchenden die materielle Gewähr eines unabhängigen Richters bietet, macht ihn das nicht zum Interessenwalter<br />

des Richters <strong>und</strong> er kann nicht eine aus dessen Arbeitsbelastung abgeleitete Beeinträchtigung der richterlichen<br />

Unabhängigkeit geltend machen.<br />

cc) Zu trennen ist dieser Aspekt der richterlichen Unabhängigkeit von etwaigen Ansprüchen, die sich aus belastungsbedingten<br />

Erledigungsverzögerungen ergeben. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, der aus dem allgemeinen<br />

Justizgewährungsanspruch oder aus Art. 19 Abs. 4 GG herzuleiten ist <strong>und</strong> einen Anspruch auf Rechtsschutz<br />

283


in angemessener Zeit umfasst (vgl. BVerfGE 54, 39 ; 88, 118 ; Papier, in: HdStR VIII, 3. Aufl. 2010,<br />

§ 176 Rn. 18, 21 f.; § 177 Rn. 90, 93; Sachs, in: Sachs, Gr<strong>und</strong>gesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 19 Rn. 143 ff.), ist mit den<br />

dafür in der Rechtsordnung vorgesehenen Mitteln durchzusetzen.<br />

d) Soweit die Beschwerdeführer ihre verfassungsrechtlichen Einwände darauf stützen, dass der richtunggebende<br />

Einfluss des Vorsitzenden Richters am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. E. infolge des ihm zugewiesenen Doppelvorsitzes<br />

nicht mehr gewährleistet sei, kann dem nicht gefolgt werden.<br />

aa) Es bedarf keiner Entscheidung, ob <strong>und</strong> inwieweit die Forderung nach richtunggebendem Einfluss des Vorsitzenden<br />

eines richterlichen Spruchkörpers verfassungsrechtlich gewährleistet oder lediglich dem einfachen Recht zuzuordnen<br />

ist (offen lassend auch BVerfGK 3, 192 , m.w.N.). Denn die Beschwerdeführer verkennen bereits die<br />

mögliche Tragweite eines entsprechenden Verfassungsgebots. Die Verfassungsbeschwerden fußen auf der Prämisse,<br />

dass zur Gewährleistung eines richtunggebenden Einflusses bestimmte qualitative Anforderungen an die Beratungsvorbereitung<br />

des Vorsitzenden zu stellen seien, die es erforderten, dass der Vorsitzende neben dem Berichterstatter<br />

die unter Umständen viele h<strong>und</strong>ert Seiten umfassenden Revisionsunterlagen sorgfältig durcharbeite. Diese Prämisse<br />

vermischt die Anforderungen an die Berichterstattung, die Beratung <strong>und</strong> den Entscheidungsprozess in einem<br />

Spruchkörper einerseits mit der Leitungs- <strong>und</strong> Lenkungsfunktion des Vorsitzenden andererseits.<br />

(1) Bei der Rechtsfindung im konkreten Fall sind Aufgabe, Leistung <strong>und</strong> Verantwortung aller Mitglieder des erkennenden<br />

Gerichts völlig gleich (BVerfGE 26, 72 ). Voraussetzung für jede Beratung <strong>und</strong> Entscheidung einer<br />

Kammer oder eines Senats ist deshalb, dass alle zur Entscheidung berufenen Mitglieder des Spruchkörpers - <strong>und</strong><br />

nicht etwa nur der Berichterstatter <strong>und</strong> der Vorsitzende - Kenntnis des Streitstoffs haben.<br />

Erfordert die Entscheidung im Kollegialorgan danach uneingeschränkt, dass bei der Beratung <strong>und</strong> Entscheidungsfindung<br />

alle Mitglieder des Spruchkörpers vollständig über den Sach- <strong>und</strong> Streitstand informiert sind, ist nicht ersichtlich,<br />

warum der Vorsitzende nicht auf dieser Informationsgr<strong>und</strong>lage seinen richtunggebenden Einfluss, durch den<br />

eine zusätzliche Gewähr für Güte <strong>und</strong> Stetigkeit der Rechtsprechung innerhalb der Spruchkörper geboten wird<br />

(BGHSt 2, 71 ; 21, 131 ; 25, 54 ; BGHZ 37, 210 ), einbringen könnte. Ein Vorsitzender soll<br />

aufgr<strong>und</strong> seiner Sachk<strong>und</strong>e, Erfahrung <strong>und</strong> Menschenkenntnis in der Lage sein, den richtunggebenden Einfluss durch<br />

geistige Überzeugungskraft auszuüben (vgl. BGHZ 37, 210 ; HessVGH, Beschluss vom 26. November 1992 -<br />

1 TG 1792/92 -, juris, Rn. 16). Die Fähigkeit des Vorsitzenden, auf die Rechtsprechung des ihm anvertrauten<br />

Spruchkörpers richtunggebenden Einfluss auszuüben, kann demgegenüber nicht von einer überlegenen inhaltlichen<br />

Kenntnis des konkret zur Entscheidung stehenden Falles abhängen.<br />

(2) Davon zu unterscheiden ist die Frage, wie die einzelnen Mitglieder des Spruchkörpers die erforderliche Kenntnis<br />

des Streitstoffs erlangen. Hierzu enthalten weder das Verfahrens- noch das Verfassungsrecht nähere Vorgaben. Die<br />

Entscheidung, ob der Spruchkörper sich mit Blick auf die Arbeitsteilung im Kollegium darauf beschränkt, durch den<br />

Berichterstatter über den maßgeblichen Sach- <strong>und</strong> Streitstand informiert zu werden, oder die Vollständigkeit <strong>und</strong><br />

Richtigkeit des Berichterstattervortrags - allein darum geht es an diesem Punkt - dadurch sichert <strong>und</strong> verstärkt, dass<br />

ein, mehrere oder alle Mitglieder des Spruchkörpers sich den Streitstoff aus den Akten selbst erarbeiten, ist ihm<br />

überlassen <strong>und</strong> insoweit Ausfluss der richterlichen Unabhängigkeit. Diese gewährleistet die Freiheit von äußeren<br />

Einflüssen sowohl für die Entscheidung als auch den Entscheidungsprozess (vgl. Hillgruber, in: Maunz/Dürig,<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz (Mai 2008), Art. 97 Rn. 21; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Gr<strong>und</strong>gesetz, 2. Aufl. 2008, Art. 97 Rn. 30;<br />

Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Gr<strong>und</strong>gesetz, 11. Aufl. 2011, Art. 97 Rn. 3; auch BGHZ 42, 163 ). Dabei ist es<br />

jedem Richter in Ausübung seiner Unabhängigkeit <strong>und</strong> persönlichen Verantwortung jederzeit unbenommen, sich<br />

selbst unmittelbar aus den Akten k<strong>und</strong>ig zu machen, wenn er dies für seine Überzeugungsbildung für erforderlich<br />

hält <strong>und</strong> nicht allein auf den Vortrag des Berichterstatters zurückgreifen möchte.<br />

bb) (1) Soweit die fachgerichtliche Rechtsprechung für einen nicht nur formellen, sondern tatsächlichen richtungweisenden<br />

Einfluss des Vorsitzenden fordert, dass dieser mindestens 75 % der Aufgaben als Vorsitzender des Senats<br />

selbst wahrnehme (BGHZ 37, 210 ; 88, 1 ; vgl. auch Kissel/Mayer, GVG, 6. Aufl. 2010, § 59 Rn. 12)<br />

<strong>und</strong> daher im Regelfall im Interesse der Güte <strong>und</strong> Stetigkeit der Rechtsprechung des einzelnen Spruchkörpers die<br />

Mitwirkung des ordentlichen Vorsitzenden zu verlangen sei <strong>und</strong> nicht die Mitwirkung seines Vertreters (BGHZ 37,<br />

210 ), lässt auch insoweit der beanstandete Doppelvorsitz keine Beeinträchtigung des richtunggebenden<br />

Einflusses des Vorsitzenden erkennen.<br />

Die sich in dieser Rechtsprechung niederschlagende Gegenüberstellung zwischen der Wahrnehmung der richterlichen<br />

Aufgaben durch den Vorsitzenden einerseits <strong>und</strong> ihrer Wahrnehmung durch dessen Vertreter andererseits (vgl.<br />

BGHSt 2, 71 ; BGHZ 37, 210 ; HessVGH, Urteil vom 27. April 1998 - 6 UE 745/98.A -, juris,<br />

Rn. 30) zeigt, dass die 75 %-Grenze die quantitative Mitwirkung des ordentlichen Vorsitzenden betrifft. Dass der<br />

Vorsitzende Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. E. infolge des ihm übertragenen Doppelvorsitzes an der Mitwirkung<br />

284


ei den Entscheidungen der Strafsenate in erheblichem Umfang verhindert gewesen sei <strong>und</strong> der Vorsitz stattdessen<br />

von einem Vertreter habe wahrgenommen werden müssen, ist nicht ersichtlich <strong>und</strong> wird von den Beschwerdeführern<br />

auch nicht behauptet.<br />

(2) Die Beschwerdeführer ziehen die fachgerichtliche 75 %-Rechtsprechung vielmehr in einem qualitativen Zusammenhang<br />

heran, indem sie eine bestimmte Art <strong>und</strong> Weise der Aufgabenwahrnehmung durch den Vorsitzenden einfordern.<br />

Dabei vernachlässigen sie zum Einen, dass bereits die Präsenz des Vorsitzenden <strong>und</strong> die Mitwirkung an der<br />

Entscheidung es ihm ermöglichen, seine Überlegungen, seine Sachk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> seine Erfahrung in den Spruchkörper<br />

einzubringen (vgl. Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren, S. 409). Zum Andern steht es auch nach dieser<br />

Rechtsprechung allein im Verantwortungsbereich des Vorsitzenden, wie er seine Arbeitskraft bei der Erfüllung<br />

seiner richterlichen Aufgaben im Einzelnen einsetzt (BGHZ 37, 210 ; vgl. auch Kissel/Mayer, GVG, 6. Aufl.<br />

2010, § 59 Rn. 12).<br />

2. Die Anhörung von drei Mitgliedern des 2. Strafsenats durch das Präsidium im Vorfeld der angegriffenen Entscheidungen<br />

verletzt ebenfalls nicht den Anspruch der Beschwerdeführer auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101<br />

Abs. 1 Satz 2 GG.<br />

Dabei kann es dahinstehen, inwieweit der konkrete Ablauf der Anhörung der Stellung <strong>und</strong> Aufgabe des Präsidiums<br />

in seiner besonderen Verantwortung für die Funktionsfähigkeit des gesamten Gerichts einerseits <strong>und</strong> der Stellung der<br />

Richter andererseits gerecht wurde. Jedenfalls lässt sich in der vorliegenden Konstellation eine unabhängigkeitsbeeinträchtigende<br />

Einflussnahme auf die angehörten Richter - oder den 2. Strafsenat insgesamt - ausschließen. Insbesondere<br />

sind von Seiten des Präsidiums in Bezug auf das künftige Entscheidungsverhalten keine direkten oder indirekten<br />

Sanktionen ausgesprochen oder angedeutet worden, die zu einem Verlust der Unabhängigkeit hätten führen<br />

können.<br />

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.<br />

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.<br />

GVG § 184, StPO § 200 I - Gerichtssprache deutsch gilt auch für Anklageschrift<br />

BGH, Urt. v. 09.11.2011 - 1 StR 302/11 - BeckRS 2011, 29860<br />

Gemäß § 184 GVG ist die Gerichtssprache deutsch. Die Regelung betrifft auch Zuschriften an das<br />

Gericht <strong>und</strong> namentlich staatsanwaltschaftliche Anklageschriften.<br />

1. Auf die Revisionen der Generalstaatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 19. Januar 2011<br />

jeweils mit den zugr<strong>und</strong>eliegenden Feststellungen aufgehoben<br />

a) im Schuldspruch zu den Taten II. 1. bis 3. des Urteils (Nr. 1 <strong>und</strong> 2 der Anklageschrift vom 23. August 2010),<br />

b) im gesamten Rechtsfolgenausspruch.<br />

2. Die weitergehende Revision hinsichtlich des Angeklagten H. wird verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtsmittel, an eine Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Dresden zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht Leipzig hat den Angeklagten H. wegen Bestechlichkeit in drei Fällen (II. 1. bis 3. der Urteilsgründe<br />

= Nr. 1 b, 1 c <strong>und</strong> 2 b der Anklageschrift vom 23. August 2010), Untreue (II. 4. der Urteilsgründe = Nr. 3 der Anklageschrift),<br />

Bilanzfälschung in drei Fällen (II. 5. bis 7. der Urteilsgründe = Nr. 4 bis 6 der Anklageschrift) <strong>und</strong> Steuerhinterziehung<br />

in vier Fällen (II. 8. bis 11. der Urteilsgründe = Nr. 7 bis 10 der Anklageschrift) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von vier Jahren <strong>und</strong> elf Monaten sowie die Angeklagten B. <strong>und</strong> S. jeweils wegen Bestechung in drei Fällen<br />

(II. 1. bis 3. der Urteilsgründe = Nr. 1 b, 1 c <strong>und</strong> 2 b der Anklageschrift) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei<br />

Jahren <strong>und</strong> vier Monaten bzw. von drei Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt. Betreffend allein den Angeklagten H.<br />

hat es einen Wertersatzverfall in Höhe von 2.561.874,26 € nur deshalb nicht angeordnet, weil dem Ansprüche von<br />

Verletzten entgegenstehen. An einer Aburteilung der von der Generalstaatsanwaltschaft darüber hinaus erhobenen<br />

Vorwürfe der in zwei Fällen durch den Angeklagten H. (tateinheitlich jeweils mit einer - verurteilten - Bestechlichkeit)<br />

begangenen Untreue bzw. der durch die Angeklagten B. <strong>und</strong> S. hierzu geleisteten Beihilfe (Nr. 1 a <strong>und</strong> 2 a der<br />

Anklageschrift) hat sich das Landgericht jeweils gehindert gesehen, weil die Anklageschrift insofern unwirksam sei<br />

<strong>und</strong> sich der staatsanwaltschaftliche Verfolgungswille bei der zweiten Tat nicht auf die genannten Vorwürfe beziehe.<br />

Mit ihrer Revision wendet sich die Generalstaatsanwaltschaft gegen die Annahme fehlender Verfahrensvorausset-<br />

285


zungen, die Verurteilung wegen Untreue im Fall II. 4. der Urteilsgründe, die Strafzumessung insgesamt <strong>und</strong> die<br />

Nichtanordnung des Verfalls betreffend die Angeklagten B. <strong>und</strong> S. . Das vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertretene<br />

Rechtsmittel hat im tenorierten Umfang bereits mit der Sachrüge Erfolg. Auf die zudem erhobenen Verfahrensrügen<br />

kommt es danach nicht mehr an; zu ihnen hat jedoch der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift vom 10. Juni<br />

2011 zutreffend Stellung genommen.<br />

I. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen: Der Angeklagte H. war im Tatzeitraum kaufmännischer<br />

Geschäftsführer der K. W. L. GmbH (KWL), die - wie auch die Mitangeklagten B. <strong>und</strong> S. wussten - ausschließlich<br />

im Bereich der Daseinsvorsorge, vor allem der Wasserversorgung <strong>und</strong> der Abwasserbeseitigung tätig ist. Die beiden<br />

Mitangeklagten waren wirtschaftlich Berechtigter (B.) bzw. Geschäftsführer (S.) der Fa. V. P. G. (VPG). Unter Vermittlung<br />

der VPG wurde Ende Januar 2005 ein Leasingvertrag zwischen der Bayerischen Landesbank <strong>und</strong> der KWL<br />

über <strong>Teil</strong>e von deren Abwassernetz abgeschlossen. Ein <strong>Teil</strong> des von der KWL für die Vertragsvermittlung zu zahlenden<br />

Provisionsbetrages in Höhe von 1.295.000 britische Pf<strong>und</strong> (GBP) floss vor dem 12. Mai 2005 an die im Frühjahr<br />

desselben Jahres von den Angeklagten B. <strong>und</strong> S. gegründete Fa. A. S. L. (ASL). Bereits im März 2005 hatte der<br />

Angeklagte H. - ohne hierauf einen entsprechenden Anspruch zu haben - von den Mitangeklagten die Hälfte der an<br />

die ASL zu zahlenden Provision gefordert. Diese hatten ihm daraufhin eine Zuwendung in Höhe von 945.945 € zugesagt,<br />

die der Angeklagte H. am 12. Mai 2005 in Vaduz (Lichtenstein) bar erhielt <strong>und</strong> auf ein Konto der Fa. F. ,<br />

deren wirtschaftlich Berechtigter er war, bei der Volksbank Vaduz einzahlte. Die Zuwendung erfolgte nach der Vorstellung<br />

der drei Beteiligten für die erfolgreiche Leasing-Transaktion; darüber hinaus sollte der Angeklagte H., dem<br />

dies klar war, im Zusammenhang mit dem Abschluss künftiger Verträge im Rahmen des ihm als KWL-<br />

Geschäftsführer zustehenden weiten Ermessens zugunsten der VPG beeinflusst werden (Fall II. 1. der Urteilsgründe<br />

= Nr. 1 b der Anklageschrift). Auf Vermittlung der Angeklagten B. <strong>und</strong> S. übernahm die durch den Angeklagten H.<br />

vertretene KWL durch am 8. Juni <strong>und</strong> 8. September 2006 sowie am 28. März 2007 abgeschlossene Verträge (Collateralized<br />

Debt Obligations – CDO) Kreditausfallrisiken im dreistelligen Millionenbereich. Der Angeklagte H. sorgte<br />

dafür, dass die Vertragsschlüsse ohne die eigentlich erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrates erfolgten. Hierfür<br />

hatte er schon spätestens im Juni 2006 wiederum eine Beteiligung an der für die Vermittlung an die VPG zu zahlenden<br />

Provision gefordert. Ein Anteil wurde ihm von den beiden Mitangeklagten zugesagt <strong>und</strong> am 21. Juni 2006 auf<br />

deren Veranlassung in Höhe von 3.243.700 US-$ (= 2.567.843 €) auf das bereits zuvor verwendete Konto der Fa. F.<br />

in Vaduz eingezahlt (Fall II. 3. der Urteilsgründe = Nr. 2 b der Anklageschrift). Weiterhin forderte der Angeklagte H.<br />

ebenfalls für vergangene bzw. künftige pflichtwidrige Diensthandlungen im Zusammenhang mit Transaktionen von<br />

den beiden Mitangeklagten eine Zahlung von 150.000 € an den Fußballverein FC L., dessen Aufsichtsratsmitglied er<br />

war. Der Betrag wurde am 9. Mai, 24. Mai <strong>und</strong> 10. Juni 2005 in drei Raten à 50.000 € jeweils als Spende deklariert<br />

von Konten der VPG auf ein Konto eines vom Angeklagten H. benannten Rechtsanwalts überwiesen; von dort wurden<br />

bis 10. August 2005 141.000 € auf ein Spendenkonto des genannten Vereins weitergeleitet (Fall II. 2. der Urteilsgründe<br />

= Nr. 1 c der Anklageschrift). Der Angeklagte H. verwendete außerdem ein Verrechnungskonto bei der<br />

UBS-Bank in London, welches auf seine Veranlassung im Zusammenhang mit in den Jahren 2006 <strong>und</strong> 2007 für die<br />

KWL GmbH abgeschlossenen Finanzgeschäften (CDO) eingerichtet worden war, als sog. schwarze Kasse. Die vom<br />

28. März 2007 bis Ende September 2008 dort eingegangenen Gelder in Höhe von insgesamt 10.635.146,29 € waren -<br />

wie das Konto selbst - bei der KWL GmbH niemandem außer dem Angeklagten bekannt, so dass dieser sie nach<br />

seinen Vorstellungen verwenden <strong>und</strong> zwischen Oktober 2008 bis Juni 2009 vollständig verbrauchen konnte (Fall II.<br />

4. der Urteilsgründe = Nr. 3 der Anklageschrift). Die CDO-Geschäfte fanden in den Jahren 2006 bis 2008 zudem<br />

keinen Eingang in die vom Angeklagten H. unterzeichneten Bilanzen der KWL GmbH, <strong>und</strong> zwar weder die gezahlten<br />

Prämien noch die entstandenen Überschüsse in Höhe von 7.600.000 € sowie 34.700.000 US-$. Dennoch versicherte<br />

er wahrheitswidrig, derivative Finanzinstrumente seien in den Büchern der Gesellschaft vollständig erfasst<br />

<strong>und</strong> den Wirtschaftsprüfern offen gelegt worden (Fälle II. 5. bis 7. der Urteilsgründe = Nr. 4 bis 6 der Anklageschrift).<br />

Der Angeklagte H. erklärte schließlich weder die aus den Provisionen erlangten Beträge als sonstige Einkünfte<br />

noch die daraus in den Jahren 2005 bis 2008 erzielten Kapitalerträge in seinen Einkommensteuererklärungen<br />

für die betreffenden Jahre <strong>und</strong> verursachte hierdurch einen vom Landgericht im Einzelnen dargelegten Hinterziehungsschaden<br />

von insgesamt 1.644.195 € (Fälle II. 8. bis 11. der Urteilsgründe = Nr. 7 bis 10 der Anklageschrift).<br />

II. Der Senat ist für die Entscheidung über die Revision zuständig (1.). Die danach eröffnete Prüfung des Urteils<br />

ergibt, dass sich das Landgericht weder wegen Unwirksamkeit der Anklageschrift (2.) noch wegen fehlenden staatsanwaltschaftlichen<br />

Verfolgungswillens (3.) an einer Aburteilung der in der Anklageschrift unter Nr. 1 a <strong>und</strong> 2 a erhobenen<br />

Untreue-Vorwürfe gehindert sehen durfte. Es hätte daher über diese bzw. den Vorwurf der Beteiligung<br />

hieran entscheiden müssen. Indem es dies nicht getan hat, hat es seiner Kognitionspflicht (§ 264 StPO) nicht entsprochen<br />

<strong>und</strong> die angeklagten Taten nicht erschöpfend gewürdigt; dies stellt zugleich einen sachlich-rechtlichen Mangel<br />

286


dar (vgl. BGH, Urteil vom 9. August 2011 - 1 StR 194/11 mwN). Dem steht auch nicht entgegen, dass das Landgericht<br />

in seinem Eröffnungsbeschluss vom 9. November 2010 insoweit einen hinreichenden Tatverdacht verneint hat,<br />

weil hierdurch die Eröffnung des Hauptverfahrens <strong>und</strong> Zulassung der Anklageschrift die beiden prozessualen Taten<br />

insgesamt betreffend nicht gehindert wurde. Während der Schuldspruch wegen der als Fall II. 4. der Urteilsgründe<br />

festgestellten Untreue des Angeklagten H. (4.) <strong>und</strong> die Strafzumessung für sich genommen nicht zu beanstanden sind<br />

(5.), wäre die unterbliebene Prüfung des Verfalls hinsichtlich der Angeklagten B. <strong>und</strong> S. ebenfalls rechtlich geboten<br />

gewesen (6.). Die Rechtsfehler führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils im tenorierten Umfang (7.).<br />

1. Nach einem entsprechenden Hinweis des Senats hat der Verteidiger des Angeklagten B. schriftlich <strong>und</strong> - ebenso<br />

wie der Verteidiger des Angeklagten S. - in der Hauptverhandlung die Zuständigkeit des Senats gerügt. Der Einwand<br />

greift nicht durch.<br />

a) Der Senat ist zur Entscheidung über die den Angeklagten H. betreffende Revision zuständig, denn ihm sind nach<br />

dem Geschäftsplan des B<strong>und</strong>esgerichtshofs für das Jahr 2011 (vgl. www.b<strong>und</strong>esgerichtshof.de) namentlich die Revisionen<br />

in Steuerstrafsachen zugewiesen. Allerdings hat der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift vom 10.<br />

Juni 2011 zutreffend dargelegt, dass der - bei Zweifeln über den Umfang einer Revision maßgeblichen (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 23. August 2011 – 1 StR 153/11) - Begründung der Revision trotz des umfassenden Aufhebungsantrages<br />

zu entnehmen ist, dass die Generalstaatsanwaltschaft die Verurteilung des Angeklagten H. wegen der Bilanzfälschungs-<br />

<strong>und</strong> Steuerhinterziehungsdelikte nicht angreifen möchte (vgl. BGH, Urteil vom 14. April 2011 - 4 StR<br />

571/10 = StV 2011, 453). Die Auslegung des Rechtsmittels ergibt, dass jedoch die insofern verhängten Einzelstrafen<br />

angefochten sind. Denn die Generalstaatsanwaltschaft hat im Rahmen der Rüge sachlichen Rechts näher dargelegt,<br />

weshalb das Landgericht nach ihrer Ansicht im Urteil rechtsfehlerhaft nicht alle für seine Strafzumessung bestimmenden<br />

Umstände angeführt hat. Der geltend gemachte Einwand, das Landgericht habe durch - außerhalb einer<br />

formgerechten Absprache - zugesicherte Strafobergrenzen „den gesetzlichen Strafrahmen nicht ausschöpfen“ können,<br />

bezieht sich auf die verhängten Einzelstrafen insgesamt, also auch auf die wegen der Steuerhinterziehungen<br />

ausgesprochenen. Da somit die deliktsspezifische Strafzumessung <strong>und</strong> nicht lediglich noch die Bildung einer Gesamtstrafe<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2010 - 1 StR 614/10) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist,<br />

handelt es sich bei dem eingelegten Rechtsmittel um ein solches in einer Steuerstrafsache. In diesem Zusammenhang<br />

kommt es nicht darauf an, ob die Rüge mit Aussicht auf Erfolg vorgetragen wird (hierzu 5.).<br />

b) Aus der Zuständigkeit des Senats für die Revision hinsichtlich des Angeklagten H. folgt wegen des bestehenden<br />

Sachzusammenhangs (§ 3 StPO; vgl. Ullenbruch in Radtke/Hohmann, StPO, § 3 Rn. 7 f.) auch seine Zuständigkeit<br />

für die Entscheidung über die Revisionen gegen das angefochtene Urteil, soweit dieses die Angeklagten B. <strong>und</strong> S.<br />

betrifft.<br />

c) Der Senat bemerkt, dass - zumal bei einer Revision der Generalstaatsanwaltschaft - der Revisionsantrag deckungsgleich<br />

mit den Ausführungen zur Revisionsbegründung sein sollte. Das Revisionsverfahren wird nicht unerheblich<br />

erleichtert, wenn der Umfang der Anfechtung nicht erst durch Auslegung der Revisionsbegründung ermittelt<br />

werden muss (BGH, Urteil vom 8. November 2006 - 1 StR 441/06 mwN).<br />

2. Das Landgericht hat hinsichtlich der von ihm nicht geprüften Untreuedelikte bzw. der hierzu geleisteten Beihilfe<br />

zu Unrecht das Verfahrenshindernis einer insoweit unwirksamen Anklageschrift angenommen.<br />

a) Die Generalstaatsanwaltschaft hat dem Angeklagten H. mit ihrer Anklageschrift vom 23. August 2010 einerseits<br />

(dort Nr. 1 a) zur Last gelegt, als Geschäftsführer der KWL <strong>Teil</strong>e des Abwassernetzes durch vom 31. Januar bis 15.<br />

Juni 2005 geschlossene Verträge in ein sog. UK-Lease eingebracht <strong>und</strong> dabei dem Aufsichtsrat pflichtwidrig insbesondere<br />

die Zwischengesellschaften - die als Briefkastenfirmen fungierenden „Hu. “ <strong>und</strong> „Co. “ - einbeziehende<br />

Leasingstruktur <strong>und</strong> den Umstand verheimlicht zu haben, dass in die Transaktion ein überflüssiger „Credit Default<br />

Swap“ eingeb<strong>und</strong>en war, mit dem die KWL gegenüber der Bayerischen Landesbank für einen Ausfall der Hu. , deren<br />

Zahlungsverpflichtungen wenigstens 134.000.000 GBP betrugen, bürgte. Aus den Verträgen an sich der KWL<br />

als sog. Barwertvorteil zustehende Gelder von 5.140.560 € seien bis Mitte 2005 über ein als „schwarze Kasse“ dienendes<br />

Transaktionskostenkonto der „Co. “ auf Konten anderer Firmen „umgeleitet“ worden. Hinter den beiden<br />

Briefkastenfirmen hätte die von den Angeklagten B. <strong>und</strong> S. beherrschte VPG gestanden. Zum anderen hat die Generalstaatsanwaltschaft<br />

dem Angeklagten H. vorgeworfen (Nr. 2 a der Anklageschrift), die für die KWL höchst risikobehafteten,<br />

mit dem Unternehmenszweck nicht vereinbaren CDO-Verträge am 8. Juni <strong>und</strong> 8. September 2006 sowie<br />

am 28. März 2007 satzungswidrig, nämlich ohne vorherige Zustimmung der Gesellschafterversammlung <strong>und</strong> des<br />

Aufsichtsrats abgeschlossen, ferner eine „Wette“ auf einen geringen Risikoausfall zulasten der KWL in mehrstelliger<br />

Millionenhöhe eingegangen sowie am 14. Juni 2006 völlig überhöhte Provisionen von 21,1 Millionen US-$ <strong>und</strong> 6,4<br />

Millionen € vereinbart <strong>und</strong> diese Summen an der KWL vorbei am 9. Juni bzw. 12. September 2006 auf zwei Konten<br />

der Wilmington-Trust-Bank in die USA geleitet zu haben. Auf diese Konten hätten die Angeklagten B. <strong>und</strong> S., die<br />

287


eim Abschluss der CDO-Verträge beratend <strong>und</strong> unterstützend tätig geworden seien, aufgr<strong>und</strong> einer u.a. von ihrem<br />

Mitangeklagten unterschriebenen Vollmacht ungehindert Zugriff gehabt. Letztlich sei der KWL allein durch die<br />

Provisionsvereinbarungen ein Schaden von umgerechnet mindestens 13.662.900 € entstanden. Das Verhalten des<br />

Angeklagten H. hat die Generalstaatsanwaltschaft als jeweils in Tateinheit mit den unter Nr. 1 b <strong>und</strong> c bzw. 2 b der<br />

Anklageschrift beschriebenen <strong>und</strong> vom Landgericht festgestellten Bestechlichkeitstaten begangene Untreuehandlungen<br />

bewertet. Hierzu hätten die Angeklagten B. <strong>und</strong> S. - tateinheitlich zu ihren Bestechungen - Beihilfe geleistet.<br />

b) Hinsichtlich der bezeichneten Untreuevorwürfe liegt nach Auffassung des Landgerichts „wegen Verstoßes gegen<br />

§ 184 GVG keine wirksame Anklage“ vor. Da die Gerichtssprache deutsch sei, dürften „keinem Angeklagten Beweismittel<br />

in einer fremden Sprache … aufgezwungen werden …, auch nicht durch fremdsprachige Urk<strong>und</strong>en“, die<br />

daher „mit der Anklageerhebung … in deutscher Sprache vorzuliegen“ hätten. Eine Anklageschrift, die Passagen<br />

fremdsprachiger Schriftstücke enthalte oder sich zumindest teilweise auf nicht übersetzte fremdsprachige Schriftstücke<br />

stütze, sei mit einem Verfahrensmangel behaftet. Dieser „funktionale Mangel“ führe jedenfalls dann zu einem<br />

Verfahrenshindernis, wenn sich die Anklageschrift mit dem Inhalt der Urk<strong>und</strong>en auseinandersetze oder dieser von<br />

hohem Belang für die Bewertung der Vorwürfe sei, also wenn „die Staatsanwaltschaft aus dem Inhalt <strong>und</strong> dem Wortlaut<br />

der Urk<strong>und</strong>en selbst die Unrechtsvorwürfe herleiten“ wolle. Diese Voraussetzungen hat das Landgericht vorliegend<br />

als erfüllt angesehen. Die Unterlagen zu dem Leasinggeschäft sowie zu den Provisionsvereinbarungen seien<br />

ausschließlich in englischer Sprache vorgelegt worden (Nr. 1 a der Anklageschrift). Von den in den Jahren 2006 <strong>und</strong><br />

2007 abgeschlossenen CDO-Verträgen habe die Staatsanwaltschaft nur zwei in die deutsche Sprache übersetzen<br />

lassen. Jedoch seien auch die englischsprachigen Verträge „in der Auflistung der Beweismittel enthalten, die nur die<br />

für die Aufklärung des Sachverhaltes <strong>und</strong> für die Beurteilung des Angeklagten wesentlichen Beweismittel aufführen<br />

soll (vgl. Nr. 111 Abs. 1 RiStBV)“.<br />

c) Diese Bewertung war rechtsfehlerhaft. Denn die Anklageschrift wird nicht nur ihrer Umgrenzungsfunktion gerecht,<br />

sondern sie leidet auch sonst an keinem zu einem Verfahrenshindernis führenden Mangel. Ein Verfahrenshindernis<br />

wegen Nichterfüllung der Umgrenzungsfunktion liegt nicht vor. Nach der den Anforderungen des § 200 Abs.<br />

1 StPO entsprechenden Anklage stehen die angeschuldigten Personen <strong>und</strong> die historischen Geschehen, die Gegenstand<br />

der gerichtlichen Untersuchung sein sollen, <strong>und</strong> damit der Prozessgegenstand hinreichend deutlich fest (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98 = BGHSt 44, 153, 154 f.; Urteil vom 9. August 2011 - 1 StR 194/11<br />

mwN). Das gilt insbesondere für die wesentlichen Abläufe der verschiedenen Taten <strong>und</strong> deren zeitliche Eingrenzung.<br />

Insofern verweist der Senat auf die oben zu a) dargelegten Einzelheiten, die sämtlich dem noch weitaus ausführlicheren<br />

konkreten Anklagesatz (dort S. 5 f., 7 f.) der Anklageschrift vom 23. August 2010 entnommen sind. Einer Anklageschrift<br />

kommt darüber hinaus eine Informationsfunktion zu. Im Hinblick darauf wäre es vorliegend beispielsweise<br />

geboten gewesen, die näheren Umstände der Abschlüsse der Verträge, insbesondere deren genaue Ausgestaltung<br />

darzulegen. Es ist jedoch anerkannt, dass insoweit bestehende Defizite gr<strong>und</strong>sätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis<br />

führen, diese vielmehr im weiteren Verfahrensverlauf insbesondere durch gerichtliche Hinweise zur<br />

Gewährung rechtlichen Gehörs behoben werden können (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98 = BGHSt<br />

44, 153, 156).<br />

Sonstige Mängel, etwa im Aufbau, in der Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen oder im Äußeren<br />

der Anklageschrift machen diese ebenfalls nicht unwirksam <strong>und</strong> begründen deshalb kein Verfahrenshindernis<br />

(vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 200 Rn. 27). Aber auch gemessen an den Anforderungen des - vom Landgericht<br />

als verletzt angesehenen - § 184 GVG leidet die vorliegende Anklageschrift unter keinem Mangel, der zudem<br />

von besonderem Gewicht sein müsste, um die Annahme eines Verfahrenshindernisses rechtfertigen <strong>und</strong> damit dem<br />

Fortgang des Verfahrens insgesamt entgegenstehen zu können. Gemäß § 184 GVG ist die Gerichtssprache deutsch.<br />

Die Regelung betrifft auch Zuschriften an das Gericht <strong>und</strong> namentlich staatsanwaltschaftliche Anklageschriften (vgl.<br />

Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 184 GVG Rn. 3). Die Generalstaatsanwaltschaft hat jedoch dieser gesetzlichen<br />

Vorgabe hinreichend entsprochen. Die Anklageschrift vom 23. Oktober 2010 ist in allen maßgeblichen <strong>Teil</strong>en in<br />

deutscher Sprache verfasst worden. Dies gilt speziell für den gesamten Anklagesatz <strong>und</strong> das wesentliche Ergebnis<br />

der Ermittlungen. In diese werden weder nichtdeutsche Texte durch ausdrückliche Bezugnahme quasi integriert noch<br />

enthalten sie gar eigenständig englisch- oder sonst fremdsprachige Passagen. Soweit die drei folgenden Ausnahmen<br />

bestehen, stellen diese unter dem Gesichtspunkt des § 184 GVG keinen Mangel der Anklageschrift dar: Bei den an<br />

den diversen relevanten Verträgen <strong>und</strong> Vorgängen Beteiligten handelt es sich häufig um im englischen Sprachraum<br />

angesiedelte Firmen. Soweit sie in der Anklageschrift ausdrücklich benannt werden, wird der von ihnen gewählte<br />

Name verwendet (z.B. „G. “, „V. P. G. “, „Co. “, „F. “). Es versteht sich - wie bei in Anklagen bezeichneten Privatpersonen,<br />

deren Name schon zur Vermeidung von Missverständnissen nicht übersetzt werden muss (z.B. „Blackwood“<br />

oder „Whitehouse“) - von selbst, dass es insofern selbst dann keiner Übersetzung ins Deutsche bedurfte,<br />

288


wenn diese möglich gewesen wäre. Nichts anderes gilt für in der Anklageschrift erwähnte Ortsangaben (etwa „British<br />

Virgin Islands“), die zweckmäßigerweise unübersetzt bleiben durften. Schließlich wird ein <strong>Teil</strong> der durchgeführten<br />

Geschäfte bzw. der dabei verwendeten Papiere mit englischen Bezeichnungen beschrieben (z.B. „Cross-Border-<br />

Leasing“, „UK-Lease“, „Credit Default Swap“, „Collateralized Debt Obligations“). Insoweit kann offen bleiben, ob<br />

es sich bei den verwendeten Begriffen nicht schon um im deutschen Wirtschafts- <strong>und</strong> Bankbereich ohnehin gängige<br />

Bezeichnungen handelt, deren Übersetzung bereits deshalb nicht geboten oder gar zu vermeiden war. Jedenfalls<br />

werden sämtliche relevanten Vorgänge schon im konkreten Anklagesatz in deutscher Sprache unmissverständlich<br />

klar erläutert, so dass keiner der - bezüglich der vom Landgericht festgestellten Taten im Übrigen geständigen - Angeklagten<br />

über die Art der in Rede stehenden wirtschaftlichen Vorgänge <strong>und</strong> über die vor diesem Hintergr<strong>und</strong> erhobenen<br />

Vorwürfe im Zweifel <strong>und</strong> in seiner Verteidigung beeinträchtigt sein konnte (zu diesem Gesichtspunkt BGH,<br />

Urteil vom 17. August 2000 - 4 StR 245/00 = BGHSt 46, 130, 134). Ist die Anklageschrift somit in allen wesentlichen<br />

<strong>Teil</strong>en in Deutsch verfasst, so verstößt es nicht gegen § 184 GVG, wenn sie inhaltlich auf in einer fremden<br />

Sprache errichteten Urk<strong>und</strong>e fußt. Diese werden hierdurch nicht etwa zu ihrem „integralen Bestandteil“ mit der Folge,<br />

dass die Anklageschrift wegen eines „funktionalen“ Mangels als Prozessvoraussetzung unwirksam ist (vgl.<br />

Eschelbach, HRRS 2007, 466, 469 f.). Die Bestimmung betrifft vielmehr außerhalb des Verfahrens entstandene, ggf.<br />

als Beweismittel in Betracht kommende Schriftstücke gerade nicht (Wickern in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl., § 184<br />

GVG Rn. 5). Sie zwingt die Staatsanwaltschaft insbesondere nicht dazu, derartige Urk<strong>und</strong>en bei Erhebung der Anklage<br />

nicht nur in der Ursprungssprache, sondern zudem in deutscher Übersetzung vorzulegen (vgl. Wickern in Löwe/<br />

Rosenberg, 26. Aufl., § 184 GVG Rn. 5 <strong>und</strong> 17 a.E.; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, 3. Aufl., § 184<br />

GVG Rn. 5). Dies wäre in vielen Fällen zudem wenig prozessökonomisch. Denn zu diesem Zeitpunkt ist es offen, ob<br />

sie im Wege des Strengbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt werden müssen. Häufig wird das Tatgericht<br />

aufgr<strong>und</strong> der (namentlich geständigen) Angaben des Angeklagten oder auf der Basis der im Übrigen erzielten Beweislage<br />

gar nicht oder nur zu einem <strong>Teil</strong> auf die den erhobenen Vorwurf betreffenden Urk<strong>und</strong>en zurückgreifen<br />

müssen. Erst wenn dies von der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) geboten wird, sind sie von einem Sachverständigen<br />

zu übersetzen (Wickern in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl., § 184 GVG Rn. 5; s. auch BGH, Urteil vom 29.<br />

Mai 1985 - 2 StR 804/84 = NStZ 1985, 466; BGH, Urteil vom 9. Juli 1991 - 1 StR 666/90; jeweils zur - erst - in der<br />

Hauptverhandlung erfolgten Übersetzung von Mitschnitten in ausländischer Sprache geführten Telefonaten). § 184<br />

GVG selbst verlangt jedenfalls nicht, sämtliche anfallenden Aktenteile von Amts wegen in die deutsche Sprache<br />

übersetzen zu lassen (BGH, Urteil vom 22. Juli 1980 - 1 StR 804/79; s. auch OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19.<br />

März 1986 - 1 Ws 182/86 = JZ 1986, 508). Daraus folgt zugleich, dass fremdsprachige Urk<strong>und</strong>en - wie hier - in ihrer<br />

Originalbezeichnung in der Liste der Beweismittel aufgeführt werden dürfen. Denn die Aufnahme eines Beweismittels<br />

zeigt nur, dass die Staatsanwaltschaft es als entscheidungserheblich ansieht, <strong>und</strong> gewährleistet nicht seine spätere<br />

Verwendung in der mündlichen Hauptverhandlung. Allerdings werden in anderen Prozessordnungen <strong>und</strong> anderen<br />

strafprozessualen Verfahrensarten an ein Gericht adressierte Schriftsätze wegen Verstoßes gegen § 184 GVG als<br />

unzulässig angesehen, wenn sie auf ihnen beigefügte nichtdeutsche Urk<strong>und</strong>en verweisen. Dies findet aber seinen<br />

Gr<strong>und</strong> in den abweichenden Verfahrensregelungen. Diese Handhabung lässt sich folglich auf die Anklageschrift<br />

nicht übertragen. Denn diese zielt auf die spätere, insbesondere durch das Mündlichkeitsprinzip <strong>und</strong> die gerichtliche<br />

Pflicht zu umfassender Aufklärung geprägte Hauptverhandlung ab. Hierin besteht ein wesentlicher Unterschied beispielsweise<br />

zum Klageerzwingungsverfahren, das mit einem Beschluss endet (§§ 174, 175 StPO). In diesem herrscht<br />

zudem - wie insbesondere auch im Zivilprozessverfahren, in dem das Gericht von einer Partei eine Übersetzung<br />

verlangen kann (§ 142 Abs. 3 ZPO) - der Beibringungsgr<strong>und</strong>satz mit der Folge, dass ein Antrag auf gerichtliche<br />

Entscheidung unzulässig ist, wenn zur Ergänzung des Sachvortrags nicht in Deutsch verfasste Urk<strong>und</strong>en in Bezug<br />

genommen werden (vgl. ausdrücklich OLG Stuttgart, Beschluss vom 21. Februar 2007 - 1 Ws 47/07 = NStZ 2007,<br />

664).<br />

3. Darüber hinaus hat das Landgericht zu Unrecht angenommen, es brauche nicht zu entscheiden, ob es sich bei den<br />

unter Nr. 2 a der Anklageschrift angesprochenen zwei Konten bei der Wilmington-Trust-Bank um eine vom Angeklagten<br />

H. mit Hilfe der beiden Mitangeklagten eingerichtete „schwarze Kasse“ handele <strong>und</strong> die Angeklagten<br />

dadurch eine Untreue begangen bzw. hierzu Beihilfe geleistet haben. Denn das die Einrichtung <strong>und</strong> Nutzung dieser<br />

Konten betreffende Geschehen war vom staatsanwaltschaftlichen Verfolgungswillen umfasst. Im konkreten Anklagesatz<br />

wird dargelegt (S. 8 der Anklageschrift), dass die „im Zusammenhang mit dem Abschluss der ersten beiden<br />

CDS/CDO-Transaktionen entstandenen Überschüsse … komplett als Provisionen von 21,1 Mio. US-$ am<br />

09.06.2006 <strong>und</strong> von 6,4 Mio. EUR am 12.09.2006 auf zwei Konten der Wilmington-Trust-Bank in den USA“ geflossen<br />

seien. Für diese „formal“ der KWL zugeordneten Konten hätten die Angeklagten B. <strong>und</strong> S. eine umfangreiche<br />

Vollmacht u.a. des Angeklagten H. besessen, „mit der sie beliebig <strong>und</strong> unkontrolliert über die Gelder verfügen konn-<br />

289


ten“. Der KWL sei „allein durch die Provisionsvereinbarungen ein Schaden … zwischen 13.662.900 EUR <strong>und</strong><br />

22.868.900 EUR“ entstanden. Mit der Aufnahme eines tatsächlichen Geschehens in den Anklagesatz bringt die<br />

Staatsanwaltschaft regelmäßig zum Ausdruck, dieses Geschehen verfolgen zu wollen. Die gesamten im Anklagesatz<br />

beschriebenen geschichtlichen Vorgänge bilden daher den Gegenstand der gerichtlichen Untersuchung. Etwas anderes<br />

gilt namentlich dann, wenn dem Anklagesatz oder den Ausführungen zum wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen<br />

eindeutig entnehmen lässt, dass die Staatsanwaltschaft ein bestimmtes, als selbständige prozessuale Tat (§ 264<br />

StPO) zu wertendes Geschehen gerade nicht der Kognition des Gerichts unterwerfen will (vgl. BGH, Urteil vom 21.<br />

Juni 1995 - 2 StR 157/95 = NStZ 1995, 500). Ein derartiger Ausnahmefall ist nicht gegeben. Er lässt sich entgegen<br />

der landgerichtlichen Ansicht (UA S. 38 f.) insbesondere nicht aus der für den Anklagepunkt 2 a) gewählten Überschrift<br />

„CDS-/CDO-Transaktionen - Provisionen“ ableiten. Denn die in der Überschrift durch den Gedankenstrich<br />

vorgenommene Differenzierung zwischen den bezeichneten Transaktionen einer- <strong>und</strong> den Provisionen andererseits<br />

deutet vielmehr darauf hin, dass es der Generalstaatsanwaltschaft auf die Verfolgung beider Komplexe ankommt.<br />

Dafür spricht außerdem, dass die Vorgänge um die Provisionen im konkreten Anklagesatz nahezu ebenso ausführlich<br />

dargestellt werden wie die Umstände <strong>und</strong> Folgen der CDS-/CDO-Transaktionen. Gegen den Verfolgungswillen der<br />

Generalstaatsanwaltschaft spricht schließlich nicht, dass sie bei der von ihr im Rahmen des wesentlichen Ergebnisses<br />

der Ermittlungen vorgenommenen rechtlichen Würdigung der Untreuedelikte lediglich zwei andere Konten, nicht<br />

aber diejenigen bei der Wilmington-Trust-Bank als „schwarze Kassen“ (s. hierzu BGH, Beschluss vom 11. November<br />

2004 - 5 StR 299/03 = BGHSt 49, 317; BGH, Urteil vom 29. August 2008 - 2 StR 587/07 = BGHSt 52, 323;<br />

BGH, Urteil vom 27. August 2010 - 2 StR 111/09 = NStZ 2010, 700) kategorisiert hat. Denn abgesehen davon, dass<br />

es Aufgabe des Gerichts ist, die ihm zur Beurteilung unterbreitete Tat rechtlich umfassend zu würdigen (§§ 155 Abs.<br />

2, 264 Abs. 2 StPO), ließen die staatsanwaltschaftlichen Rechtsausführungen nicht den Schluss zu, das im konkreten<br />

Anklagesatz ausführlich dargelegte Geschehen um die Konten bei der Wilmington-Trust-Bank solle nicht verfolgt<br />

werden. Denn dieses wurde dort nicht nur beiläufig oder lediglich zum besseren Verständnis geschildert, sondern<br />

betraf den verschleiernden Fluss der Provisionen <strong>und</strong> damit einen wesentlichen <strong>Teil</strong> des verwirklichten Unrechts. In<br />

Übereinstimmung hiermit beziffert die Generalstaatsanwaltschaft nicht nur am Ende des konkreten Anklagesatzes zu<br />

2 a) den der KWL durch die Provisionsvereinbarungen - <strong>und</strong> nicht nur durch die vor- <strong>und</strong> nachher durchgeführten<br />

„CDS-/CDO-Transaktionen“ - (tatsächlich) zugefügten finanziellen Nachteil, sondern bezeichnet diesen im Rahmen<br />

des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen, das zur Ergänzung <strong>und</strong> Auslegung des Anklagesatzes herangezogen<br />

werden darf (vgl. BGH, Urteil vom 9. August 2011 - 1 StR 194/11 mwN), ausdrücklich als „Untreueschaden“ (S. 21<br />

f.). Unabhängig davon wäre das Landgericht aber schon deshalb verpflichtet gewesen, die Vorgänge - hinsichtlich<br />

derer von § 154a Abs. 2 StPO nicht Gebrauch gemacht worden war - um die Provisionszahlungen rechtlich umfassend<br />

zu würdigen, weil diese ihm jedenfalls zur Begründung einer Strafbarkeit wegen Bestechlichkeit bzw. Bestechung<br />

zur Beurteilung unterbreitet worden waren (Nr. 2 b der Anklageschrift). Dementsprechend hat es das Fordern<br />

einer Provision durch den Angeklagten H. „spätestens im Juni 2006“ <strong>und</strong> deren durch die Mitangeklagten veranlassten<br />

Eingang auf einem ihm zugänglichen Konto am 21. Juni 2006 festgestellt <strong>und</strong> rechtsfehlerfrei als Bestechlichkeit<br />

bzw. Bestechung verurteilt. Zu diesem Lebenssachverhalt gehörten aber auch die Wege, auf denen diese Zuwendung<br />

erfolgt ist. Insofern teilt die Anklageschrift mit, es seien am 9. Juni 2006 zunächst 21,1 Mio. US-$ auf die bei der<br />

Wilmington-Trust-Bank geführten Konten gelangt (Nr. 2 a der Anklageschrift). Angesichts dieser engen sachlichen<br />

<strong>und</strong> zeitlichen Verknüpfung handelte es sich bei den bezeichneten Abläufen um eine Tat im prozessualen Sinn. Deren<br />

einheitliche Untersuchung <strong>und</strong> Aburteilung war daher nicht nur - wie das Landgericht selbst einräumt - „sinnvoll“<br />

(UA 40), sondern geboten, weil eine prozessuale Tat nicht nach Tatbeständen differenziert, sondern umfassend,<br />

hier also auch unter dem Gesichtspunkt der Untreue, zu würdigen ist, um dem verwirklichten Unrechts- <strong>und</strong> Schuldgehalt<br />

gerecht zu werden. Dies gilt in besonderem Maße dann, wenn die in Betracht kommenden Delikte - wovon die<br />

Anklageschrift naheliegend ausgeht (vgl. BGH, Urteil vom 11. Mai 2001 - 3 StR 549/00 = BGHSt 47, 22, 26) - aus<br />

materiell-rechtlicher Sicht in Tateinheit zueinander verwirklicht worden sein könnten, so dass sich eine Aburteilung<br />

in getrennten Verfahren ohnehin verbieten würde (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juli 2001 - 2 StR 513/00 = BGHSt 47,<br />

68, 82).<br />

4. Der von der Generalstaatsanwaltschaft ohne Begründung angegriffene Schuldspruch wegen der als Fall II. 4. der<br />

Urteilsgründe festgestellten Untreue des Angeklagten H. hält rechtlicher Überprüfung stand. Die Verfahrensrügen<br />

betreffen diesen <strong>Teil</strong> des Urteils nicht.<br />

5. Die Strafzumessung weist für sich genommen keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf. Soweit die Revisionsführerin<br />

im Rahmen der Begründung ihrer Sachrüge vorbringt, das Landgericht habe, nachdem Verständigungsbemühungen<br />

gemäß § 257c StPO an fehlender Mitwirkung der Staatsanwaltschaft gescheitert waren, den drei Angeklagten<br />

jeweils eigenständig Strafobergrenzen zugesagt <strong>und</strong> dadurch die Obergrenzen der anzuwendenden Strafrahmen zu<br />

290


Unrecht verringert, veranlasst dies den Senat zu folgendem Hinweis: Eine derartige „informelle“, d.h. außerhalb des<br />

gesetzlich geregelten, insbesondere eine Mitwirkung der Staatsanwaltschaft vorsehenden Verfahrens getroffene<br />

„Verständigung“ allein zwischen Gericht <strong>und</strong> Angeklagten widerspräche der Strafprozessordnung. Sie könnte weder<br />

eine gerichtliche Bindung an die in Aussicht gestellte Strafobergrenze noch einen durch den fair-trial-Gr<strong>und</strong>satz<br />

geschützten Vertrauenstatbestand bei den Angeklagten hervorrufen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2011 - 1 StR<br />

274/11 mwN). Das gerügte gerichtliche Vorgehen lässt sich jedoch ausschließlich dem staatsanwaltschaftlichen<br />

Revisionsvorbringen, nicht aber dem mit der Sachrüge dem Senat allein zur Prüfung unterbreiteten schriftlichen<br />

Urteil entnehmen. Eine Verfahrensrüge ist insoweit nicht ausdrücklich erhoben worden. Einer gr<strong>und</strong>sätzlich möglichen<br />

Umdeutung der Sachrüge in eine entsprechende Verfahrensrüge steht entgegen, dass diese bereits unzulässig<br />

wäre, weil der diesbezügliche Vortrag nicht alle zur revisionsgerichtlichen Prüfung notwendigen Tatsachen mitteilen<br />

<strong>und</strong> daher den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht entsprechen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 23.<br />

August 2011 - 1 StR 153/11; Hanack in Löwe/Rosenberg, 25. Aufl., § 344 Rn. 72). Beispielsweise wird nicht vorgetragen,<br />

mit welcher Begründung die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung den ursprünglichen, dem nunmehr<br />

gerügten Procedere vorausgehenden landgerichtlichen Verständigungsvorschlag abgelehnt hat.<br />

6. Die Revision rügt dagegen zu Recht, dass das Landgericht nicht umfassend geprüft hat, ob auch hinsichtlich der<br />

Angeklagten B. <strong>und</strong> S. die Voraussetzungen des Verfalls bzw. des Wertersatzverfalls vorliegen. Denn das Landgericht<br />

hat sich dabei infolge seiner - unzutreffenden - Annahme von Verfahrenshindernissen bezüglich der angeklagten<br />

Untreuetaten auf die Prüfung der Frage beschränkt, ob die Angeklagten B. <strong>und</strong> S. durch ihre an den Mitangeklagten<br />

geleisteten Bestechungszahlungen unmittelbar „etwas“ i.S.d. § 73 Abs. 1 Satz 1 <strong>StGB</strong> erlangt haben, <strong>und</strong> dies<br />

verneint (UA S. 51). Damit aber hat es jedenfalls die Möglichkeit außer Betracht gelassen, dass die beiden Angeklagten<br />

durch die dem Angeklagten H. zur Last gelegten Untreuehandlungen „etwas“, nämlich zumindest <strong>Teil</strong>e der<br />

von diesem gezahlten Provisionen erlangt haben; nach der Anklageschrift sollen sie hierzu - in Tateinheit zu zwei<br />

ihrer Bestechungstaten stehend (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 11. Mai 2001 - 3 StR 549/00 = BGHSt 47, 22, 26; s.<br />

auch BGH, Urteil vom 2. Dezember 2005 - 5 StR 119/05 = BGHR <strong>StGB</strong> § 299 Abs. 1 Konkurrenzen 1) - Beihilfe<br />

geleistet haben.<br />

7. Die bezeichneten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Urteils, soweit das Landgericht über die Beteiligung der<br />

Angeklagten an den ihnen zur Last gelegten Untreuedelikten nicht entschieden hat (Nr. 1 a <strong>und</strong> 2 a der Anklageschrift).<br />

Daher waren auch die - für sich genommen rechtlich nicht zu beanstandenden - Schuldsprüche zu den unter<br />

II. 1. bis 3. festgestellten Bestechlichkeits- bzw. Bestechungstaten <strong>und</strong> die zugr<strong>und</strong>eliegenden Feststellungen aufzuheben,<br />

da insofern - wie oben dargelegt - von zwei einheitlichen prozessualen Taten auszugehen ist. Dies zieht die<br />

Aufhebung der hierfür verhängten Einzelstrafen, der gegen den Angeklagten H. ausgesprochenen Verfallsentscheidung<br />

sowie der Gesamtstrafen nach sich. Ferner wird das Urteil aufgehoben, soweit eine Entscheidung nach den §§<br />

73 ff. <strong>StGB</strong> betreffend die Angeklagten B. <strong>und</strong> S. unterblieben ist. Darüber hinaus hebt der Senat die gegen den<br />

Angeklagten H. für die drei Bilanzfälschungsdelikte (Taten II. 5. bis 7. der Urteilsgründe), die vier Steuerhinterziehungen<br />

(Taten II. 8. bis 11. der Urteilsgründe) sowie die zu II. 4. festgestellte Untreue an sich rechtsfehlerfrei festgesetzten<br />

Einzelstrafen wegen des zwischen sämtlichen Taten bestehenden inneren Zusammenhangs auf, um dem neuen<br />

Tatgericht eine umfassende <strong>und</strong> in sich stimmige neue Rechtsfolgenentscheidung zu ermöglichen (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 13. Februar 2002 - 2 StR 10/02 = NStZ-RR 2002, 165).<br />

III. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354<br />

Abs. 2 Satz 1 Hs. 2 StPO). Das neue Tatgericht wird Gelegenheit haben, bei seiner Entscheidung die weiteren vom<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift vom 10. Juni 2011 (S. 7 ff.) erörterten Gesichtspunkte zu beachten <strong>und</strong><br />

im Übrigen die der Anklageschrift - ungeachtet der oben zur Frage eines Verfahrenshindernisses gemachten Ausführungen<br />

- anhaftenden Mängel hinsichtlich ihrer Informationsfunktion durch entsprechende Hinweise zu beheben.<br />

Sollte die Beweislage, wie sie den Urteilsgründen zu entnehmen ist, unverändert bleiben, wird die Aufklärungspflicht<br />

die Übersetzung der entscheidungserheblichen Urk<strong>und</strong>en ins Deutsche erfordern. Im Übrigen bemerkt der<br />

Senat, dass es zweckmäßig gewesen wäre, wenn die Generalstaatsanwaltschaft bereits bei der Anklageerhebung<br />

zumindest die zentralen Schriftstücke ins Deutsche übersetzt mit vorgelegt hätte.<br />

291


StPO § 24 Besetzungsproblem 2. Strafsenat des BGH � keine Befangenheit<br />

BGH, Beschl. v. v. 09.05.2012 - 2 StR 620/11 - BeckRS 2012, 10585<br />

Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs im Hinblick auf die Besetzungsproblematik im 2. Strafsenat.<br />

Die Ablehnungsgesuche des Angeklagten gegen den Vorsitzenden Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann<br />

sowie die Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Prof. Dr. Fischer <strong>und</strong> Prof. Dr. Krehl werden als unbegründet zurückgewiesen.<br />

Gründe:<br />

I. Der Beschwerdeführer, der auch die vorschriftswidrige Besetzung des 2. Strafsenates gerügt hat, macht geltend, es<br />

gebe Anhaltspunkte dafür, dass die abgelehnten Richter nicht in der ihnen durch das Gr<strong>und</strong>gesetz eingeräumten<br />

Unabhängigkeit entscheiden, sondern sich bei ihren Entscheidungen durch einen durch das Präsidium des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

ausgeübten Druck bestimmen lassen. Dies ergebe sich aus folgenden Tatsachen: Die abgelehnten Richter<br />

hätten als Mitglieder der Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenates mit Beschluss vom 11. Januar 2012 (2 StR 346/11)<br />

festgestellt, dass der Senat nicht ordnungsgemäß besetzt sei <strong>und</strong> das Verfahren ausgesetzt, weil die Zuweisung des<br />

Senatsvorsitzes an den abgelehnten Vorsitzenden Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann durch den Geschäftsverteilungsplan<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs mit Verfassungsrecht nicht in Einklang stehe (anders die Spruchgruppe 1 des<br />

2. Strafsenates, vgl. Urteil vom 11. Januar 2012 - 2 StR 482/11). Am 8. Februar 2012 hätten sie gleichwohl in demselben<br />

Verfahren durch Urteil in der Sache entschieden. Aus Presseveröffentlichungen gehe hervor, dass ein Mitglied<br />

des Senats in der mündlichen Verhandlung über die Strafsache 2 StR 346/11 am 8. Februar 2012 dem Präsidium<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vorgeworfen habe, in dieser Sache auf die Rechtsprechung des Senates Einfluss genommen<br />

zu haben. Da unter der Beteiligung der abgelehnten Mitglieder des 2. Strafsenates an demselben Tag eine Sachentscheidung<br />

ergangen sei, obwohl sie weiterhin davon überzeugt seien, für diese nicht zuständig zu sein, müsse der<br />

Beschwerdeführer befürchten, dass diese mit den Gr<strong>und</strong>lagen des juristischen Denkens nicht vereinbare Handlungsweise<br />

auf einer Druckausübung durch das Präsidium beruhe, sich mithin die abgelehnten Richter erfolgreich unter<br />

Druck hätten setzen lassen <strong>und</strong> so ihre Unabhängigkeit selbst aufgegeben hätten. Der Beschwerdeführer müsse auch<br />

befürchten, dass Richter, die bereits einmal hierzu bereit gewesen seien, sich auch weiterhin dem durch das Präsidium<br />

ausgeübten Druck beugen würden. Da der Beschwerdeführer auf Gr<strong>und</strong> des Beratungsgeheimnisses nicht wissen<br />

könne, wie die Richter abgestimmt hätten, lehne er sämtliche Richter ab, die Mitglieder derjenigen Spruchgruppe<br />

waren, die die Entscheidungen vom 11. Januar 2012 <strong>und</strong> vom 8. Februar 2012 im Verfahren 2 StR 346/11 getroffen<br />

hätten, soweit diese nunmehr auch zur Entscheidung über die vorliegende Sache vorgesehen seien.<br />

II. Die Ablehnungsgesuche haben keinen Erfolg.<br />

1. Wegen Besorgnis der Befangenheit findet eine Ablehnung statt, wenn ein Gr<strong>und</strong> vorgebracht wird, der geeignet<br />

ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen (§ 24 Abs. 2 StPO). Die Vorschrift ist einfachgesetzlicher<br />

Ausdruck der verfassungsrechtlichen Prinzipien des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2<br />

GG) <strong>und</strong> der Unabhängigkeit der Gerichte (Art. 97 Abs. 1 GG), die garantieren, dass der Rechtsuchende im Einzelfall<br />

vor einem Richter steht, der unabhängig <strong>und</strong> unparteilich ist <strong>und</strong> der die Gewähr für Neutralität <strong>und</strong> Distanz<br />

gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl. BVerfG 2 BvR 958/06 vom 27. Dezember 2006 = NJW 2007, 1670<br />

mwN; 2 BvR 115/95 vom 19. August 1996 = NJW 1996, 3333). Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters ist<br />

gerechtfertigt, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der<br />

Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (BVerfG NJW 1995, 1277; BVerfGE 88, 1, 4; BGH, Beschluss<br />

vom 27. April 1972 - 4 StR 149/72, BGHSt 24, 336, 338; Meyer-Goßner StPO 54. Aufl. 2011 § 24 Rn. 8 mwN). Ob<br />

nach § 24 Abs. 2 StPO die Ablehnung eines Richters wegen der Besorgnis der Befangenheit stattfindet, beurteilt sich<br />

stets im Hinblick auf das konkrete Verfahren; ist ein Bezug zum konkreten Verfahrensgegenstand gegeben, kann<br />

nicht von einer verfahrensübergreifenden Generalablehnung die Rede sein, die gesetzlich nicht vorgesehen ist<br />

(BVerfG 2 BvR 115/95 vom 19. August 1996 = NJW 1996, 3333).<br />

2. Nach diesen Maßstäben sind die Ablehnungsgesuche gegen den Vorsitzenden Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr.<br />

Ernemann sowie die Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Prof. Dr. Fischer <strong>und</strong> Prof. Dr. Krehl als unbegründet zurückzuweisen.<br />

Der Beschwerdeführer hat bei vernünftiger Würdigung aller Umstände, unter besonderer Berücksichtigung<br />

der Gründe der Entscheidung vom 8. Februar 2012, keinen Anlass, an der Unabhängigkeit <strong>und</strong> Unparteilichkeit der<br />

abgelehnten Richter zu zweifeln. Unerheblich ist der von einem der abgelehnten Richter in seiner dienstlichen Erklärung<br />

aus seiner subjektiven Wahrnehmung geschilderte Ablauf seiner Anhörung am 18. Januar 2012 vor dem Präsi-<br />

292


dium. Ebenso kann dahinstehen, ob ansonsten durch das Präsidium - wie ein anderer abgelehnter Richter, der am 18.<br />

Januar 2012 nicht angehört wurde, dienstlich erklärt hat - nach seinem subjektiven Eindruck <strong>und</strong> Empfinden ein<br />

hoher Druck aufgebaut wurde, die Rechtsprechung der Spruchgruppe 2 des Senates zu ihrer Besetzung aufzugeben.<br />

Weiterer Aufklärung, etwa durch Anhörung der Mitglieder des Präsidiums, bedarf es daher nicht. Selbst wenn die<br />

Behauptung, das Präsidium - das, mit Ausnahme des Präsidenten, aus von allen Richtern am B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

gewählten Richtern am B<strong>und</strong>esgerichtshof besteht - habe wie auch immer gearteten Druck auf die abgelehnten Richter<br />

ausgeübt, zutreffen sollte, bezog sich dieser Druck auch nach den dienstlichen Erklärungen der abgelehnten Richter<br />

nicht etwa inhaltlich auf die Entscheidung über das Rechtsmittel des Angeklagten, sondern ausschließlich darauf,<br />

dass den bei der Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenates anhängigen Verfahren - also auch dem den Angeklagten betreffenden<br />

- Fortgang gegeben wird. Misstrauen in die Unabhängigkeit <strong>und</strong> Unparteilichkeit der abgelehnten Richter<br />

ergibt sich bei vernünftiger Würdigung auch nicht daraus, dass die Spruchgruppe 2 des Senates am 8. Februar 2012<br />

durch Urteil - anders als noch am 11. Januar 2012 - dennoch in der Sache entschieden hat, wobei aufgr<strong>und</strong> des Beratungsgeheimnisses<br />

offen bleiben muss, welcher Richter wie abgestimmt hat. Nach den Gründen des Beschlusses<br />

vom 11. Januar 2012 ist die Revisionshauptverhandlung deshalb ausgesetzt worden, um dem Präsidium Gelegenheit<br />

zu geben, eine mit der Verfassung in Einklang stehende Regelung herbeizuführen (BA 19 f.). Nachdem das Präsidium<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs in seiner Entscheidung vom 18. Januar 2012 an der Geschäftsverteilung für den 2. Strafsenat<br />

mit Vorsitzendem Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann als Vorsitzendem festgehalten hat, hat der<br />

Senat unter Mitwirkung der abgelehnten Richter in dem genannten Urteil ausgeführt, dass die Rechtslage zu der<br />

Frage nicht eindeutig sei, ob ein Präsidiumsbeschluss zur Geschäftsverteilung regelmäßig bindend sei, mithin die<br />

Spruchkörper des Gerichts nicht befugt seien, im fachgerichtlichen Verfahren ihre Besetzung zu überprüfen. Mit<br />

Rücksicht darauf, dass es andernfalls zu einem partiellen Stillstand der Rechtspflege käme, hat die Spruchgruppe 2<br />

des Senates es für geboten gehalten, in allen bei ihr anhängigen Revisionen - also auch der vorliegenden - in der<br />

Sache zu entscheiden, auch wenn sie sich weiterhin nicht für ordnungsgemäß besetzt hält. Der Senat hat dies mit<br />

dem rechtsstaatlichen Beschleunigungsgebot <strong>und</strong> dem Gebot der Rechtsschutzgewährung begründet <strong>und</strong> ausdrücklich<br />

darauf hingewiesen, dass es nicht zu Lasten der Rechtsmittelführer gehen dürfe, dass das Präsidium des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

die Rechtsprechung der Spruchgruppe 2 des Senates nicht umgesetzt habe. Damit hat der Senat seiner<br />

Entscheidung unter Mitwirkung der abgelehnten Richter aus der Verfassung abgeleitete Prinzipien zugr<strong>und</strong>e gelegt,<br />

die gewährleisten sollen, dass über die Revision eines Angeklagten zügig <strong>und</strong> ohne unangemessene Verzögerung<br />

entschieden wird. Die die Entscheidung im Ergebnis leitenden Verfassungsgr<strong>und</strong>sätze wirken vor allem zu Gunsten<br />

des rechtsuchenden Bürgers; der Senat hat bei seiner Abwägung auch bestimmend auf die Interessen der jeweiligen<br />

Rechtsmittelführer abgestellt. Es liegt aus Sicht eines vernünftigen Angeklagten fern, bei der gegebenen, von der<br />

betreffenden Spruchgruppe des Senats als unklar gewerteten Rechtslage <strong>und</strong> mit Rücksicht auf die für die Entscheidung<br />

angeführten, maßgeblich die Interessen der jeweiligen Revisionsführer in den Blick nehmenden Gründe, zu<br />

besorgen, dass die abgelehnten Richter ihm bei der Entscheidung seines konkreten Falles nicht mit der gebotenen<br />

Neutralität <strong>und</strong> Distanz gegenübertreten. Auch soweit es im Urteil vom 8. Februar 2012 heißt, dass "die richterliche<br />

Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG partiell zurückstehen" müsse <strong>und</strong> der Senat "nach der Entscheidung des<br />

Präsidiums gehalten" sei, "in seiner Meinung nach verfassungswidriger Besetzung zu entscheiden", rechtfertigt dies<br />

bei vernünftiger Würdigung kein Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der abgelehnten Richter. Die betreffenden<br />

Formulierungen sind - ungeachtet des auch an dieser Stelle wegen des Beratungsgeheimnisses offen bleibenden<br />

Abstimmungsverhaltens der einzelnen Richter - erkennbar in den dargelegten argumentativen Zusammenhang des<br />

Urteils eingebettet. Sie beschreiben insofern lediglich die Konsequenz mit Rücksicht auf die in der konkreten Situation<br />

als höherrangig bewerteten Gebote der Beschleunigung <strong>und</strong> der Rechtsschutzgewährung in der Sache zu entscheiden,<br />

obwohl sich die Spruchgruppe 2 des Senates nicht für ordnungsgemäß besetzt hält. Schließlich ist auch im<br />

Übrigen nichts dafür erkennbar oder vorgetragen, dass jenseits der Besetzungsfrage in der Sache selbst ein Gr<strong>und</strong><br />

vorliegen könnte, der Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der abgelehnten Richter rechtfertigt.<br />

293


StPO § 24 Befangenheit nach Dealgesprächen<br />

BGH, Beschl. v. 10.01.2012 - 3 StR 400/11 - StraFo 2012, 134<br />

Wenn mehrere Personen angeklagt sind, als Mitglieder einer Bande eine Betäubungsmittelstraftat<br />

begangen zu haben, ist es im Hinblick auf die Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) regelmäßig<br />

sachgerecht <strong>und</strong> erforderlich, gegen alle Angeklagten aufgr<strong>und</strong> einer einheitlichen, alle Beweismittel<br />

umfassenden Beweisaufnahme zu entscheiden. Denn es ist nicht fernliegend, dass der aussagebereite<br />

Angeklagte zu Lasten der Mitangeklagten seine eigenen Tatbeiträge beschönigende Angaben<br />

macht, die anschließend das Gericht nach einer nur rudimentären Beweisaufnahme dem Urteil<br />

gegen diesen zugr<strong>und</strong>e legt. Unter Berücksichtigung der Pflicht zur Amtsaufklärung kann die Abtrennungsentscheidung<br />

mit der Begründung, das Verfahren sei insoweit entscheidungsreif, aus der<br />

Sicht der schweigenden Angeklagten den Eindruck erwecken, das Gericht werde auch in ihrem<br />

Verfahren von dem Tathergang ausgehen, den der aussagebereite Angeklagte geschildert hatte.<br />

Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 5. Mai 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel,<br />

an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten H. des Bandenhandels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in<br />

sechs Fällen, der Beihilfe zum Bandenhandel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei weiteren Fällen<br />

sowie der Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln<br />

in nicht geringer Menge schuldig gesprochen, gegen ihn eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren <strong>und</strong><br />

zehn Monaten verhängt sowie Wertersatz in Höhe von 26.100 € für verfallen erklärt. Den Angeklagten S. hat es<br />

wegen Beihilfe zum Bandenhandel mit Betäubungsmitteln in acht Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier<br />

Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt <strong>und</strong> ihn vom Vorwurf der Beihilfe zum Bandenhandel mit Betäubungsmitteln in<br />

nicht geringer Menge in einem weiteren Fall freigesprochen. Außerdem hat es "die Einziehung der beschlagnahmten<br />

Betäubungsmittel <strong>und</strong> der beschlagnahmten Handys" angeordnet. Die Revisionen der Angeklagten haben jeweils mit<br />

der Verfahrensrüge nach § 24 Abs. 2, § 338 Nr. 3 StPO Erfolg, weil ihr Befangenheitsantrag vom 23. März 2011<br />

gegen die erkennenden Berufsrichter <strong>und</strong> Schöffen zu Unrecht zurückgewiesen worden ist.<br />

1. Dem liegt folgender Verfahrensablauf zugr<strong>und</strong>e:<br />

a) Im vorliegenden Verfahren angeklagt waren die Angeklagten H. <strong>und</strong> S. sowie der frühere Mitangeklagte B. , u.a.<br />

wegen des Vorwurfs einer von ihnen am 11. Februar 2008 als Bande begangenen Betäubungsmittelstraftat. Im<br />

Hauptverhandlungsprotokoll des ersten Verhandlungstages vom 8. Dezember 2010 ist zu Gesprächen über eine Verständigung<br />

Folgendes festgehalten: "Es hat ein ausführliches Rechtsgespräch gegeben. Hinsichtlich des Angeklagten<br />

B. wurde seitens der Verteidigung eine Erklärung angekündigt. Es bestand zwischen den Verfahrensbeteiligten Einigkeit,<br />

dass bei einer Aussage - auch zu den hier anwesenden weiteren Angeklagten - eine Einstellung des Verfahrens<br />

gem. § 154 StPO in Betracht kommt. Im Übrigen ist im Rahmen des Rechtsgesprächs zuvor für den Angeklagten<br />

B. eine Straferhöhung der bisherigen Verurteilung (Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren) von bis zu einem<br />

Jahr einverständlich erörtert worden im Hinblick auf ein entsprechendes Aussageverhalten. Für den Angeklagten H.<br />

hat es keine Verständigung gegeben. Die Kammer hatte bei einem umfassenden Geständnis eine Strafobergrenze von<br />

bis zu fünf Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten vorgeschlagen. Hinsichtlich des Angeklagten S. wurde Einigkeit erzielt, dass<br />

bei einem umfassenden Geständnis eine Strafe bis zu vier Jahren in Betracht kommt." Im Hauptverhandlungstermin<br />

vom 15. Dezember 2010 erklärten die Angeklagten H. <strong>und</strong> S. , sich derzeit zur Sache nicht äußern zu wollen. Der<br />

Verteidiger des Angeklagten B. gab für seinen Mandanten mündlich Erklärungen zur Sache ab, zu denen sich dieser<br />

auf Befragen äußerte. Mit Beschluss vom 16. Dezember, der außerhalb der Hauptverhandlung erging, trennte die<br />

Strafkammer das Verfahren gegen den Angeklagten B. gemäß § 4 Abs. 1 StPO mit der Begründung ab, die Sache sei<br />

insoweit entscheidungsreif. Am 22. Dezember 2010 wurde die Beweisaufnahme im Verfahren gegen die Angeklagten<br />

H. <strong>und</strong> S. fortgesetzt, am 5. Januar 2011 die Hauptverhandlung im Verfahren gegen den Angeklagten B.. Mit<br />

Urteil vom 5. Januar 2011 wurde der frühere Mitangeklagten B. wegen bandenmäßiger Einfuhr von Betäubungsmitteln<br />

in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln in nicht<br />

geringer Menge unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einem rechtskräftigen Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

294


von sieben Jahren <strong>und</strong> drei Monaten verurteilt. In der am 12. Januar 2011 fortgesetzten Hauptverhandlung gegen die<br />

Angeklagten H. <strong>und</strong> S. wurden auf Beschluss der Strafkammer aus dem Protokoll vom 5. Januar 2011 Angaben des<br />

Angeklagten B. zur Sache verlesen, die dieser in seinem Verfahren gemacht hatte <strong>und</strong> durch die er die Angeklagten<br />

H. <strong>und</strong> S. belastete.<br />

b) Anschließend stellten die Verteidiger der Angeklagten einen Befangenheitsantrag gegen die Berufsrichter <strong>und</strong> die<br />

Schöffen. Zur Begründung führten sie im Wesentlichen aus: Aus Sicht der Angeklagten sei an der Unparteilichkeit<br />

<strong>und</strong> Unvoreingenommenheit der erkennenden Richter zu zweifeln, weil die Besorgnis bestehe, sie hätten sich bereits<br />

eine vom Ergebnis der weiteren Beweisaufnahme nicht mehr beeinflussbare Meinung gebildet. Bei der mündlichen<br />

Begründung des gegen den Angeklagten B. ergangenen Urteils habe der Vorsitzende die Überzeugung der Strafkammer<br />

dargelegt, dieser habe am 11. Februar 2008 vom Angeklagten H. gekauftes, zum gewinnbringenden Weiterverkauf<br />

bestimmtes Kokain im bandenmäßigen Zusammenwirken mit den Angeklagten H. <strong>und</strong> S. aus den Niederlanden<br />

in die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland eingeführt. Für die Angeklagten müsse hieraus der Eindruck erwachsen,<br />

die Kammer habe sich allein aufgr<strong>und</strong> der geständigen Einlassung des Angeklagten B. von einem bandenmäßigen<br />

Zusammenwirken überzeugt <strong>und</strong> sich insoweit vor Abschluss der Beweisaufnahme im hiesigen Verfahren festgelegt.<br />

Alle Mitglieder des erkennenden Gerichts gaben daraufhin dienstliche Erklärungen mit dem Inhalt ab, es sei ausdrücklich<br />

erörtert worden, dass im Verfahren gegen die Angeklagten allein auf der Gr<strong>und</strong>lage der in diesem Verfahren<br />

durchgeführten Beweisaufnahme zu entscheiden sei, <strong>und</strong> zwar unabhängig vom Beweisergebnis des gegen den<br />

Angeklagten B. gerichteten Verfahrens. In der folgenden Hauptverhandlung vom 2. Februar 2011 wurde ein - ohne<br />

Mitwirkung der abgelehnten Richter gefasster - Beschluss des Landgerichts vom 28. Januar 2011 verkündet, durch<br />

den die Befangenheitsanträge im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen wurden: Es bestehe kein<br />

vernünftiger Gr<strong>und</strong>, an der Unparteilichkeit der abgelehnten Richter zu zweifeln. Der Angeklagte B. habe vor der<br />

Abtrennung seines Verfahrens keine die früheren Mitangeklagten belastenden Angaben gemacht. Seine Einlassung<br />

nach der Abtrennung sei im Verfahren gegen die Angeklagten H. <strong>und</strong> S. nicht der Urteilsfindung zugr<strong>und</strong>e zu legen,<br />

wie die Berufsrichter den Schöffen verdeutlicht hätten.<br />

c) In der Hauptverhandlung vom 16. März 2011 wurde den Verteidigern der Angeklagten eine Kopie des gegen den<br />

früheren Mitangeklagten B. ergangenen Urteils vom 5. Januar 2011 ausgehändigt. In den Urteilsgründen ist zur Tat<br />

vom 11. Februar 2008 Folgendes feststellt: "Der Angeklagte (B. ) sowie H. <strong>und</strong> S. schlossen sich spätestens Ende<br />

2007 zusammen, um arbeitsteilig regelmäßig Betäubungsmittel aus den Niederlanden nach Deutschland zu schmuggeln<br />

<strong>und</strong> hier gewinnbringend zu verkaufen. ... Es wurde geplant, dass H. alleine oder zusammen mit S. die Drogen<br />

in den Niederlanden beschafft <strong>und</strong> dass der Angeklagte B. diese vor der Grenze zum Zwecke der Einfuhr in seinem<br />

Pkw übernimmt. ... am 11. Februar 2008 erwarb H. zum Zwecke des Handeltreibens in Rotterdam eine nicht geringe<br />

Menge Kokain, zumindest 40 - 250 Gramm. S. begleitete <strong>und</strong> unterstützte ihn bei dieser Fahrt. Gegen 18.40 Uhr<br />

übergaben sie in der Nähe von Hoogeveen/Niederlande wie zuvor vereinbart das erworbene Rauschgift an den Angeklagten<br />

B. , der planmäßig das Rauschgift in seinem Fahrzeug deponierte <strong>und</strong> es unter Absicherung des Grenzübertritts<br />

<strong>und</strong> des weiteren Transportes durch H. <strong>und</strong> S. über die grüne Grenze nach Deutschland einführte. ..."<br />

d) Im folgenden Hauptverhandlungstermin vom 23. März 2011 lehnten die Verteidiger der Angeklagten die Berufsrichter<br />

<strong>und</strong> die Schöffen erneut wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zur Begründung führten sie im Wesentlichen<br />

aus: Bei verständiger Würdigung der Gründe des gegen den früheren Mitangeklagten B. ergangenen Urteils müssten<br />

die Angeklagten besorgen, die erkennenden Richter hätten sich zumindest hinsichtlich der Tat vom 11. Februar 2008<br />

eine abschließende Meinung gebildet, obwohl die Beweisaufnahme in dem gegen sie geführten Verfahren noch nicht<br />

abgeschlossen sei. In der Beweiswürdigung habe die Strafkammer die geständige Einlassung des Angeklagten B. ,<br />

die in Widerspruch zu den schriftlichen Einlassungen der Angeklagten stehe, als glaubhaft <strong>und</strong> das Ermittlungsergebnis<br />

der Polizei als plausibel <strong>und</strong> keine andere Deutung zulassend bezeichnet. Sie habe dabei fehlerhaft auf die<br />

angebliche Aussage der Zeugin KHK'in He. abgestellt, die nicht in dem abgetrennten Verfahren gegen den Angeklagten<br />

B., sondern erst nach Abtrennung im hiesigen Verfahren vernommen worden sei. Deshalb müsse von den<br />

Angeklagten besorgt werden, die Kammer differenziere nicht zwischen den in beiden Verfahren erhobenen Beweisen.<br />

Bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände müssten die Angeklagten den Eindruck gewinnen, die Verfahrensabtrennung<br />

habe nur dazu gedient, den Angeklagten B. durch einen geringen Strafaufschlag zu konkreten, die Angeklagten<br />

H. <strong>und</strong> S. belastenden Aussagen zu bewegen. Die abgelehnten Richter erklärten in ihren dienstlichen Stellungnahmen,<br />

sie fühlten sie nicht befangen, sie würden zwischen den Beweisaufnahmen in beiden Verfahren differenzieren.<br />

In der Hauptverhandlung vom 31. März 2011 wurde ein - wiederum ohne Mitwirkung der abgelehnten<br />

Richter gefasster - Beschluss des Landgerichts vom 29. März 2011 verkündet, durch den die Befangenheitsanträge<br />

im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen wurden: Die bloße Mitwirkung der abgelehnten Richter<br />

in dem abgetrennten Verfahren reiche nicht aus, um eine Befangenheit anzunehmen. Auch die weiteren aufgeführten<br />

295


Umstände könnten aus Sicht eines verständigen Angeklagten nicht die Annahme begründen, die Richter würden<br />

nicht mit der gebotenen Unparteilichkeit <strong>und</strong> Unvoreingenommenheit urteilen. Die Feststellungen sowie die Beweiswürdigung<br />

in dem Urteil gegen den Angeklagten B. ließen keine Rückschlüsse auf eine festgelegte Überzeugung<br />

der Kammer im Verfahren gegen die Angeklagten H. <strong>und</strong> S. zu. Diese habe durch die Fortsetzung der Beweisaufnahme<br />

an acht weiteren Verhandlungstagen für die Angeklagten deutlich gemacht, dass sie ihre Aufgabe, zu einer<br />

von dem abgetrennten Verfahren losgelösten, unabhängigen Entscheidung zu finden, sehr ernst nehme. An dieser<br />

Einschätzung könne auch nichts der Umstand ändern, dass die Kammer in dem gegen den Angeklagten B. ergangenen<br />

Urteil ihre Überzeugung rechtsfehlerhaft auch auf die Vernehmung der tatsächlich in dem Verfahren gegen B.<br />

nicht vernommenen Zeugin KHK'in He. gestützt habe. Daraus könne nicht geschlossen werden, dass sie im hiesigen<br />

Verfahren Beweismittel berücksichtigen könnte, die allein im abgetrennten Verfahren erhoben worden seien. Die<br />

Abtrennung des Verfahrens habe ausschließlich der Beschleunigung des gegen B. geführten, entscheidungsreifen<br />

Verfahrens gedient, eine Absprache mit ihm, dass er ein geringeres Strafmaß erwarten dürfe, wenn er die Angeklagten<br />

H. <strong>und</strong> S. belaste, habe es nicht gegeben. Auch die Gesamtschau aller Umstände rechtfertige nicht die Besorgnis<br />

der Befangenheit.<br />

2. Die zulässige Verfahrensrüge ist begründet. Bei der gebotenen objektiven Beurteilung aus der Sicht eines verständigen<br />

Angeklagten konnten die Angeklagten H. <strong>und</strong> S. durch die Verfahrensweise des Gerichts den Eindruck gewinnen,<br />

die abgelehnten Richter stünden ihnen bei der Entscheidung über die Vorwürfe der Anklage, insbesondere zu<br />

der entscheidenden Frage einer Bandenbildung bei der Tat vom 11. Februar 2008 nicht mehr mit der gebotenen Unvoreingenommenheit<br />

gegenüber (§ 24 Abs. 2 StPO).<br />

a) Eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vortätigkeit eines erkennenden Richters ist, soweit sie nicht den Tatbestand<br />

eines Ausschlussgr<strong>und</strong>es gemäß § 23 StPO erfüllt, nach ständiger Rechtsprechung regelmäßig nicht geeignet,<br />

die Besorgnis der Befangenheit des Richters im Sinne von § 24 Abs. 2 StPO zu begründen, wenn nicht besondere<br />

Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen (vgl. BGH, Urteil vom 9. September 1966 - 4 StR<br />

261/66, BGHSt 21, 142; BGH, Urteil vom 10. November 1967 - 4 StR 512/66, BGHSt 21, 334; BGH, Beschluss<br />

vom 27. April 1972 - 4 StR 149/72, BGHSt 24, 336, 337; BGH, Urteil vom 30. Juni 2010 - 2 StR 455/09, NStZ<br />

2011, 44; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 24 Rn. 12 f. mwN). Das betrifft nicht nur die Vorbefassung mit Zwischenentscheidungen<br />

im selben Verfahren, insbesondere etwa die Mitwirkung am Eröffnungsbeschluss oder an<br />

Haftentscheidungen, sondern auch die Mitwirkung eines erkennenden Richters in Verfahren gegen andere Beteiligte<br />

derselben Tat. Nach diesen Kriterien gr<strong>und</strong>sätzlich unbedenklich ist auch die Mitwirkung an einem Urteil über dieselbe<br />

Tat gegen einen anderen Beteiligten in einem abgetrennten Verfahren. Dies gilt auch dann, wenn Verfahren<br />

gegen einzelne Angeklagte zur Verfahrensbeschleunigung abgetrennt werden <strong>und</strong> in dem abgetrennten Verfahren ein<br />

Schuldspruch wegen einer Tat ergeht, zu der sich das Gericht im Ursprungsverfahren gegen den oder die früheren<br />

Angeklagten später ebenfalls noch eine Überzeugung zu bilden hat (BGH, Urteil vom 29. Juni 2006 - 5 StR 485/05,<br />

NJW 2006, 2864, 2866). Da eine solche Beteiligung an Vorentscheidungen im nämlichen oder in einem anderen<br />

damit zusammenhängenden Verfahren von Strafprozessordnung <strong>und</strong> Gerichtsverfassungsgesetz ausdrücklich vorgesehen<br />

<strong>und</strong> vorausgesetzt wird, kann die Vorbefassung als solche - abgesehen von den in § 22 Nr. 4 <strong>und</strong> 5, § 23 <strong>und</strong> §<br />

148a Abs. 2 Satz 1 StPO genannten Ausschließungstatbeständen - die Besorgnis der Befangenheit aus normativen<br />

Erwägungen im Allgemeinen nicht begründen. Anders verhält es sich lediglich beim Hinzutreten besonderer Umstände,<br />

die über die Tatsache bloßer Vorbefassung als solcher <strong>und</strong> die damit notwendig verb<strong>und</strong>enen inhaltlichen<br />

Äußerungen hinausgehen. Dies wird etwa angenommen, wenn Äußerungen in früheren Urteilen unnötige <strong>und</strong> sachlich<br />

unbegründete Werturteile über einen der jetzigen Angeklagten enthalten oder wenn ein Richter sich bei seiner<br />

Vorentscheidung in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil des Angeklagten geäußert hat (BGH, Beschluss vom 10.<br />

August 2005 - 5 StR 180/05, BGHSt 50, 216, 221; BGH, Urteil vom 30. Juni 2010 - 2 StR 455/09, NStZ 2011, 44).<br />

b) Vorliegend waren solche besonderen Umstände gegeben. Es lag eine Vielzahl von Faktoren vor, die zwar isoliert<br />

für sich betrachtet noch nicht die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigte aber in ihrer Kumulation waren die Einzelaspekte<br />

geeignet, aus der Sicht der Angeklagten bei der gebotenen objektiven Beurteilung Misstrauen gegen die<br />

Unparteilichkeit der abgelehnten Richter zu begründen. Denn für ihre Befürchtung, die Strafkammer differenziere<br />

nicht ausreichend zwischen den getrennt geführten Verfahren <strong>und</strong> sei hinsichtlich der Tat vom 11. Februar 2008 auf<br />

eine bandenmäßige Begehung festgelegt, bestanden nachvollziehbare Gründe. Bereits das protokollierte, formell<br />

rechtsfehlerfreie Rechtsgespräch über eine Verständigung am ersten Hauptverhandlungstag konnte bei den Angeklagten<br />

den Eindruck erwecken, die Strafkammer sage dem früheren Mitangeklagten B. eine Einstellung des Verfahrens<br />

gemäß § 154 Abs. 2 StPO oder eine nur moderate Erhöhung der bereits rechtskräftigen Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von sieben Jahren nur zu, um ihn zu einer die Angeklagten H. <strong>und</strong> S. belastenden Aussage zu veranlassen. Gegenstand<br />

der Vereinbarung mit dem Angeklagten B. war ausdrücklich eine Aussage auch zu den Mitangeklagten, wäh-<br />

296


end bei diesen die vorgeschlagene Strafobergrenze nur von einem umfassenden Geständnis abhängig gemacht wurde.<br />

In der hier gegebenen Verfahrenssituation, in der der frühere Mitangeklagte B. entsprechend der getroffenen, für<br />

ihn günstigen Absprache in erster Linie über seinen Verteidiger Angaben zur Sache gemacht hatte, während sich die<br />

Angeklagten in der Hauptverhandlung noch nicht eingelassen hatten, war die Abtrennungsentscheidung mit der Begründung,<br />

das Verfahren gegen B. sei entscheidungsreif, für sich betrachtet zwar noch nicht ermessensfehlerhaft,<br />

bewegte sich jedoch im Grenzbereich zu einem Ermessensfehler. Wenn mehrere Personen angeklagt sind, als Mitglieder<br />

einer Bande eine Betäubungsmittelstraftat begangen zu haben, ist es im Hinblick auf die Amtsaufklärungspflicht<br />

(§ 244 Abs. 2 StPO) regelmäßig sachgerecht <strong>und</strong> erforderlich, gegen alle Angeklagten aufgr<strong>und</strong> einer einheitlichen,<br />

alle Beweismittel umfassenden Beweisaufnahme zu entscheiden. Denn es ist nicht fernliegend, dass der aussagebereite<br />

Angeklagte zu Lasten der Mitangeklagten seine eigenen Tatbeiträge beschönigende Angaben macht, die<br />

anschließend das Gericht nach einer nur rudimentären Beweisaufnahme dem Urteil gegen diesen zugr<strong>und</strong>e legt.<br />

Unter Berücksichtigung der Pflicht zur Amtsaufklärung kann die Abtrennungsentscheidung mit der Begründung, das<br />

Verfahren sei insoweit entscheidungsreif, aus der Sicht der schweigenden Angeklagten den Eindruck erwecken, das<br />

Gericht werde auch in ihrem Verfahren von dem Tathergang ausgehen, den der aussagebereite Angeklagte geschildert<br />

hatte. Die weitere Gestaltung beider Verfahren sowie der Inhalt des gegen den Angeklagten B. ergangenen Urteils<br />

waren geeignet, die dargestellten Befürchtungen der Angeklagten von einer Befangenheit der erkennenden<br />

Richter zu verstärken. In dem abgetrennten Verfahren gegen B. stellte die Strafkammer zwei angeklagte Taten gemäß<br />

§ 154 Abs. 2 StPO ein <strong>und</strong> verurteilte diesen nach einer kurzen Beweisaufnahme unter Einbeziehung der Strafen<br />

aus seiner rechtskräftigen Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren <strong>und</strong> drei Monaten<br />

<strong>und</strong> damit zu einer um lediglich drei Monate erhöhten Gesamtfreiheitsstrafe. In den schriftlichen Gründen des Urteils<br />

vom 5. Januar 2011 stellte die Kammer zu der Tat vom 11. Februar 2008 nicht nur eine bandenmäßige Begehung<br />

fest, sondern ging entsprechend der Einlassung des Angeklagten B. davon aus, dass dieser lediglich als Kurier vom<br />

Angeklagten H. gekauftes, für dessen Betäubungsmittelhandel bestimmtes Kokain nach Deutschland einführte. In<br />

der Beweiswürdigung bezeichnete sie die Einlassung des Angeklagten B., die im Gegensatz zu den späteren Einlassungen<br />

der Angeklagten H. <strong>und</strong> S. stand, als glaubhaft sowie das Ermittlungsergebnis der Polizei als plausibel <strong>und</strong><br />

keine andere Deutung zulassend, obwohl die Beweisaufnahme in dem gegen die Angeklagten geführten Verfahren<br />

noch andauerte. Dadurch, dass in der Beweiswürdigung darüber hinaus KHK'in He. als Zeugin angeführt wird, obwohl<br />

diese nach der Abtrennung des Verfahrens gegen B. ausschließlich in dem Verfahren gegen die Angeklagten<br />

vernommen worden war, verstärkten die erkennenden Richter letztlich in entscheidender Weise die Besorgnis, sie<br />

vermischten die Beweisergebnisse der beiden getrennt geführten Verfahren <strong>und</strong> behandelten diese entgegen ihren<br />

Beteuerungen als eine Einheit. Dieser Eindruck war auch schon zuvor hervorgerufen worden, weil in der Hauptverhandlung<br />

gegen die Angeklagten H. <strong>und</strong> S. die protokollierte, die Angeklagten H. <strong>und</strong> S. belastende Einlassung des<br />

Angeklagten B. aus dessen Verfahren gemäß § 251 Abs. 1 StPO verlesen worden war, ohne dass hierfür die Voraussetzungen<br />

dieser Vorschrift vorlagen oder eine andere Rechtsgr<strong>und</strong>lage erkennbar ist. Über die Anklagevorwürfe ist<br />

daher neu zu verhandeln <strong>und</strong> zu entscheiden.<br />

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:<br />

a) Sollen nach § 154 StPO eingestellte Straftaten bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden, ist in der Regel<br />

der Angeklagte zuvor darauf hinzuweisen (Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 154 Rn. 25, § 154a Rn. 2).<br />

b) Die Ausübung eines Auskunftsverweigerungsrechts nach § 55 StPO muss ausdrücklich erklärt werden. Das bloße<br />

Nichterscheinen eines geladenen Zeugen kann daher regelmäßig nicht als Ausübung dieses Rechts gewertet werden<br />

(BGH, Beschluss vom 9. August 1988 - 4 StR 326/88, StV 1989, 140).<br />

c) In Fällen, in denen der Täter Betäubungsmittel zum <strong>Teil</strong> zum Eigenverbrauch <strong>und</strong> zum <strong>Teil</strong> zum gewinnbringenden<br />

Weiterverkauf erwirbt, besteht zwischen dem Erwerb <strong>und</strong> dem Handel Tateinheit (vgl. Weber, BtMG, 3. Aufl., §<br />

29 Rn. 726). Erwirbt ein Betäubungsmittelkonsument Rauschgift, liegt es nicht fern, dass ein <strong>Teil</strong> davon zum Eigenkonsum<br />

bestimmt ist.<br />

d) Bei Verurteilung wegen Beihilfe drängt sich regelmäßig die ausdrückliche Prüfung auf, ob dieser vertypte Strafmilderungsgr<strong>und</strong><br />

geeignet ist, im Zusammenwirken mit den allgemeinen Strafmilderungsgründen einen minder<br />

schweren Fall zu begründen.<br />

e) Einzuziehende Gegenstände sind in der Urteilsformel so konkret zu bezeichnen, dass für die Beteiligten <strong>und</strong> die<br />

Vollstreckungsbehörde Klarheit über den Umfang der Einziehung besteht (Fischer, <strong>StGB</strong>, 54. Aufl., § 74 Rn. 4).<br />

297


StPO § 24, § 257c Befangenheit Absprache mit Mittäter im Parallelverfahren<br />

BGH, Beschl. v. 09.02.2012 - 1 StR 438/11 – StraFo 2012, 157<br />

Bei einer Hauptverhandlung gegen mehrere Angeklagte können im Gr<strong>und</strong>satz Verständigungsgespräche<br />

mit allen Angeklagten (bzw. deren Verteidigern) zugleich durchgeführt werden.<br />

Die Gr<strong>und</strong>sätze zur Offenlegung von Verständigungsgesprächen können nicht gelten, soweit es,<br />

unabhängig von der Wahrheitsfindung, um die Vermeidung des Anscheins geht, der Richter sei<br />

nicht gegenüber allen Angeklagten gleich unvoreingenommen <strong>und</strong> unparteiisch.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 30. März 2011 wird verworfen. Der<br />

Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Der Angeklagte wurde wegen Steuerdelikten im Zusammenhang mit geschmuggelten Zigaretten zu einer Freiheitsstrafe<br />

verurteilt. Seine Revision ist auf zwei Verfahrensrügen, von denen sich eine allein gegen den Strafausspruch<br />

richtet, <strong>und</strong> die nicht ausgeführte Sachrüge gestützt. Sie bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

1. Zurückweisung eines Ablehnungsantrags gegen die (Berufs-)Richter wegen Besorgnis der Befangenheit:<br />

a) Folgendes liegt zu Gr<strong>und</strong>e:<br />

(1) Wegen Verdachts der Beteiligung an den abgeurteilten Taten hatte die Staatsanwaltschaft zwei Anklagen vor<br />

derselben Strafkammer erhoben, die Hauptverhandlungen liefen (zumindest teilweise) zeitlich parallel <strong>und</strong> mit denselben<br />

Berufsrichtern.<br />

(2) Die hier als Zeugen vorgeladenen Angeklagten des Parallelverfahrens machten unter Berufung auf § 55 StPO<br />

keine Angaben zur Sache.<br />

(3) Danach beantragte die Verteidigung dienstliche Äußerungen der Berufsrichter zu näher bezeichneten Fragen über<br />

den Ablauf der parallelen Hauptverhandlung <strong>und</strong> dabei geführter Verständigungsgespräche. Als nach etwa zwei<br />

Wochen hierauf noch keine Reaktion erfolgt war, wurden die Richter abgelehnt. Gestützt auf deren dienstliche Erklärungen,<br />

über den genannten Antrag wegen Überlastung noch nicht entschieden zu haben, wurde der Ablehnungsantrag<br />

zurückgewiesen. Schon ein Anspruch auf die dienstlichen Äußerungen sei zweifelhaft. Nachteile für den Angeklagten<br />

im Rahmen der voraussehbar noch länger andauernden Hauptverhandlung durch die wegen Überlastung<br />

bisher unterbliebene Bearbeitung des Antrags seien nicht erkennbar. Sie begründe daher nicht die Besorgnis der<br />

Befangenheit.<br />

b) Die Revision meint, Absprachen mit anderen Tatbeteiligten begründeten ohne weiteres die Besorgnis der Befangenheit,<br />

wenn sie nicht von Amts wegen „unaufgefordert“ <strong>und</strong> „unverzüglich“, spätestens aber alsbald auf entsprechende<br />

Aufforderung hin offen gelegt würden. Dies folge aus der hier entsprechend geltenden Rechtsprechung des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs zu Verständigungsgesprächen mit nur einem Angeklagten (bzw. dessen Verteidigung) bei einer<br />

gegen mehrere Angeklagte geführten Hauptverhandlung (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10,<br />

StV 2011, 72, 73 mwN). Außerdem wäre die geforderte Unterrichtung problemlos möglich gewesen, was sich daran<br />

zeige, dass im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung die Niederschrift der einschlägigen Vorgänge aus dem Protokoll<br />

der Hauptverhandlung gegen die Zeugen verlesen wurde.<br />

c) Der Senat sieht keinen Rechtsfehler. Die Gr<strong>und</strong>sätze der genannten Rechtsprechung zur Offenlegung von Verständigungsgesprächen<br />

sind auf Fälle der vorliegenden Art nur übertragbar, soweit es um die Sicherung bestmöglicher<br />

Wahrheitsfindung geht. Sie können nicht in gleicher Weise gelten, soweit es, unabhängig von der Wahrheitsfindung,<br />

um die Vermeidung des Anscheins geht, der Richter sei nicht gegenüber allen Angeklagten gleich unvoreingenommen<br />

<strong>und</strong> unparteiisch.<br />

(1) Bei einer Hauptverhandlung gegen mehrere Angeklagte können im Gr<strong>und</strong>satz Verständigungsgespräche mit allen<br />

Angeklagten (bzw. deren Verteidigern) zugleich durchgeführt werden. Werden sie nicht mit allen Angeklagten geführt,<br />

besteht Anlass, dem genannten Anschein gegenüber den nicht an den Gesprächen beteiligten Angeklagten<br />

durch alsbaldige Offenlegung der Gespräche in der Hauptverhandlung entgegenzuwirken. Gleichzeitige Gespräche<br />

mit den Angeklagten einer laufenden Hauptverhandlung <strong>und</strong> Angeklagten einer künftigen oder auch parallelen<br />

Hauptverhandlung sind dagegen schon wegen des nicht gleichen Verfahrensstandes <strong>und</strong> des damit naheliegend verb<strong>und</strong>enen<br />

nicht gleichen Kenntnisstandes der Beteiligten kaum sinnvoll. Ein einheitlicher Kenntnisstand fehlt auch<br />

in Fällen, bei denen dieselben (Berufs-)Richter mitwirken, jedenfalls den in die Gespräche ebenfalls einzubeziehenden<br />

Schöffen, die bei noch nicht terminierten Sachen sogar noch nicht einmal feststehen. Daher kann ein „verständi-<br />

298


ger“, zumal anwaltlich beratener Angeklagter eines anderen Verfahrens, anders als möglicherweise ein Mitangeklagter<br />

desselben Verfahrens, allein daraus, dass solche Gespräche ohne ihn stattgef<strong>und</strong>en haben, nicht die Besorgnis<br />

ableiten, der Richter sei ihm gegenüber in irgend einer Weise voreingenommen.<br />

(2) Dies ändert nichts an der Notwendigkeit, auch in solchen Fällen in die Würdigung einer entscheidungserheblichen<br />

(Zeugen-)Aussage eines Tatbeteiligten eine vorangegangene Verständigung in dem gegen ihn wegen derselben<br />

Tat durchgeführten Verfahren einzubeziehen (st. Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 29. November 2011 - 1 StR<br />

287/11 Rn. 14 mwN). Dies beruht nicht auf der Sorge, er könne dabei in irgendeiner Weise zu künftiger Falschbelastung<br />

anderer Tatverdächtiger aufgefordert worden sein. Es geht vielmehr um etwaige Anhaltspunkte dafür, ob er im<br />

Blick auf eine vorangegangene oder im Raum stehende Verständigung in seinem Verfahren irrig glauben könnte,<br />

eine Falschaussage zu Lasten des Angeklagten sei für ihn besser als eine wahre Aussage zu dessen Gunsten. Da die<br />

Möglichkeit eines solchen Irrtums nicht davon abhängt, ob die Verfahren gegen ihn <strong>und</strong> den jetzigen Angeklagten<br />

verb<strong>und</strong>en sind oder waren oder getrennt wurden, ist eine gebotene Würdigung von Verständigungsgesprächen mit<br />

dem Zeugen von derartigen Fragen unabhängig. Was zu würdigen ist, ist auch in die Hauptverhandlung einzuführen.<br />

Geht es um Verständigungsgespräche in einer anderen, sei es auch unter Mitwirkung derselben Richter durchgeführten<br />

Hauptverhandlung, kann dies nicht in Anwendung von § 243 Abs. 4 StPO geschehen. Soweit es um die Klärung<br />

etwaiger Fehlvorstellungen des Zeugen geht, wird dies vielmehr sinnvollerweise vor allem durch dessen Befragung<br />

geschehen. Ohne dass es hier darauf ankäme, könnte es dabei zweckmäßig sein, ihm Vorhalte aus dem einschlägigen<br />

<strong>Teil</strong> der Niederschrift der gegen ihn geführten Hauptverhandlung (§ 273 Abs. 1a StPO) zu machen (vgl. auch BGH,<br />

Beschluss vom 6. November 2007 - 1 StR 370/07 Rn. 14, StV 2008, 60, insoweit in BGHSt 52, 78, 81 nicht abgedruckt),<br />

sodass es die Vorbereitung der Vernehmung fördern könnte, wenn das Gericht den Verfahrensbeteiligten<br />

schon vorab entsprechende Ablichtungen überlässt.<br />

(3) Hier bestand zu einer entsprechenden Befragung der Zeugen oder gar einer weitergehenden Klärung aber kein<br />

Anlass; nachdem keiner der in dem Parallelverfahren angeklagten Tatbeteiligten Angaben zur Sache gemacht hatte -<br />

anders als der Angeklagte, dessen Strafe wegen seiner Zeugenaussage im Parallelverfahren gemäß § 46b <strong>StGB</strong> gemildert<br />

wurde -, waren auch keine den (geständigen) Angeklagten belastenden Aussagen dieser Zeugen zu würdigen.<br />

Anhaltspunkte für eine berechtigte Besorgnis der Befangenheit sind nach alledem unter keinem Blickwinkel erkennbar.<br />

2. Der Schuldspruch ist ohne Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten.<br />

3. Die Rüge der Verletzung von § 267 Abs. 3 Satz 4 StPO geht fehl, da mehr als zwei Jahre Freiheitsstrafe verhängt<br />

wurden. Über die sachlich-rechtliche Begründungspflicht hinaus löst ein Antrag auf Bewährung eine verfahrensrechtliche<br />

Begründungspflicht gemäß § 267 Abs. 3 Satz 4 StPO nur aus, wenn Bewährung rechtlich möglich gewesen<br />

wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2008 - 4 StR 534/07, StV 2008, 345 ). Da bei einer Strafe von<br />

über zwei Jahren Bewährung nach dem Gesetz nicht möglich ist, wäre in diesen Fällen eine Begründung der Versagung<br />

von Bewährung sinnlos. Ebenso wenig führt bei einer Strafe von mehr als zwei Jahren ein Antrag auf eine<br />

Bewährungsstrafe zu einer gesonderten formalen Pflicht zur Begründung, warum es nicht mit einer solchen Strafe<br />

sein Bewenden hätte haben können.<br />

4. Sachlich-rechtlich ist der Strafausspruch nicht zu beanstanden.<br />

StPO § 27 I Richterablehnung Besetzung<br />

BGH, Beschl. v. 27.10.2011 - 5 StR 376/11 - NStZ 2012, 45<br />

Beruht eine Ablehnungsgesuch darauf, die abgelehnten Richter hätten einen zuvor geltend gemachten<br />

Ablehnungsgr<strong>und</strong> gegen einen weiteren Richter falsch bewertet, so darf der zuvor abgelehnte<br />

Richter – ungeachtet der Erfolglosigkeit des ersten Antrags <strong>und</strong> ohne Rücksicht auf eine inhaltliche<br />

Bewertung der Richterablehnungen – an der Beschlussfassung über den zweiten Antrag offensichtlich<br />

nicht mitwirken.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 21. April 2011 nach § 349 Abs. 4<br />

StPO mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die<br />

Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

299


G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung<br />

zu sechs Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Revision des Angeklagten kann wegen einer Verfahrensrüge<br />

nach § 338 Nr. 3 StPO der Erfolg nicht versagt werden, mit der die Mitwirkung des Schwurgerichtsvorsitzenden<br />

an der Entscheidung über ein gegen die beisitzenden Richter gerichtetes Ablehnungsgesuch beanstandet<br />

wird.<br />

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugr<strong>und</strong>e: Das Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers knüpfte<br />

an die Mitwirkung der abgelehnten Richter an der Zurückweisung eines vorangegangenen Ablehnungsgesuchs gegen<br />

den Vorsitzenden wegen einer beanstandeten Äußerung an, die dieser während einer Vorbesprechung zwischen Berufsrichtern,<br />

Staatsanwaltschaft, Verteidigung <strong>und</strong> Nebenklagevertretung abgegeben hatte (Iranern sitze „das Messer<br />

zu locker“). Aus der Begründung des Zurückweisungsbeschlusses der nach § 27 Abs. 1 StPO besetzten Strafkammer,<br />

in dem die Äußerung des Vorsitzenden als erkennbar scherzhaft in gelockerter Gesprächsatmosphäre bewertet worden<br />

ist, wurde nunmehr, namentlich mit der Behauptung der Vernachlässigung einer abweichenden Bewertung durch<br />

einen beim Vorgespräch anwesenden Verteidiger <strong>und</strong> einer daraus vom Beschwerdeführer geschlossenen Billigung<br />

der zuvor beanstandeten Äußerung des Vorsitzenden, die Besorgnis der Befangenheit auch der beisitzenden Richter<br />

abgeleitet. Ungeachtet dessen, dass seitens der Strafkammer wiederholte Richterablehnungen – für den Senat nachvollziehbar<br />

– als besonders lästig <strong>und</strong> aufhältlich empf<strong>und</strong>en worden sein mögen, hat das Landgericht auch diesen<br />

zweiten Antrag zutreffend nicht als unzulässig bewertet. Daher haben die abgelehnten beisitzenden Richter an der<br />

Beschlussfassung nach § 27 Abs. 1 StPO auch nicht mitgewirkt. Der Beschluss über das zweite Ablehnungsgesuch<br />

erging nun aber unter dem Vorsitz des in dem zuvor gestellten Gesuch abgelehnten Schwurgerichtsvorsitzenden.<br />

2. Das wird von der Revision mit Recht als unvertretbar erachtet. Auch der Vorsitzende hätte wegen des engen sachlichen<br />

Zusammenhangs beider Ablehnungsanträge nach zutreffendem Verständnis des § 27 Abs. 1 StPO – <strong>und</strong> zwar<br />

ungeachtet der Erfolglosigkeit des ersten Antrags <strong>und</strong> ohne Rücksicht auf eine inhaltliche Bewertung der Richterablehnungen<br />

– an der Beschlussfassung über den zweiten Antrag offensichtlich nicht mitwirken dürfen (BGH, Beschluss<br />

vom 26. Januar 2006 – 5 StR 500/05, BGHR StPO § 27 Entscheidung 3). Denn im Zentrum der Entscheidungsfindung<br />

stand weiterhin die Bewertung seiner Äußerung in der Vorbesprechung, die Anlass für die erste Ablehnung<br />

gewesen war. Unter Bedacht auf das Gebot, dass ein „Entscheiden in eigener Sache" zu vermeiden ist (vgl.<br />

BVerfG [Kammer], NJW 2005, 3410), liegt hierin ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Ablehnungsverfahren.<br />

Dies aber begründet – nicht anders als ein entsprechender Besetzungsmangel im Rahmen unvertretbarer<br />

Anwendung des § 26a StPO (BGH, Beschluss vom 10. August 2005 – 5 StR 180/05, BGHSt 50, 216) – die Revision<br />

nach § 338 Nr. 3 StPO (vgl. schon BGH, Urteil vom 12. Februar 1998 – 1 StR 588/97, BGHSt 44, 26, 28).<br />

3. Der Senat weist ausdrücklich auf die Bedenken im Aufhebungsantrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts hin, der die bislang<br />

gegebene Begründung für den Tötungsvorsatz als unzureichend erachtet.<br />

StPO § 52 Kindliche Zeugen<br />

BGH, Beschl. v. 17.04.2012 - 1 StR 146/12 - BeckRS 2012, 09847<br />

Die Beurteilung der Strafkammer, den minderjährigen Kindern der Angeklagten fehle eine genügende<br />

Vorstellung von der Bedeutung des Zeugnisverweigerungsrechts i.S.v. § 52 Abs. 2 Satz 1<br />

StPO, ist als tatrichterliche Ermessensentscheidung revisionsrechtlicher Überprüfung nur eingeschränkt<br />

zugänglich.<br />

Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 3. November 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die den Nebenklägern im Revisionsverfahren<br />

entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung<br />

hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Ergänzend zu<br />

den zutreffenden Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts in seiner Antragsschrift vom 20. März 2012, die durch<br />

die Gegenerklärung der Revision vom 30. März 2012 nicht entkräftet werden, bemerkt der Senat: Die Verurteilung<br />

der Angeklagten wegen Mordes an ihrem Ehemann zu lebenslanger Freiheitsstrafe wird von den auf rechtsfehlerfreier<br />

Beweiswürdigung basierenden Feststellungen getragen. Die Beurteilung der Strafkammer, den minderjährigen<br />

Kindern der Angeklagten fehle eine genügende Vorstellung von der Bedeutung des Zeugnisverweigerungsrechts<br />

i.S.v. § 52 Abs. 2 Satz 1 StPO (eingefügt durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 9. De-<br />

300


zember 1974, BGBl. I, 3393), weist keinen Rechtsfehler auf. Sie ist als tatrichterliche Ermessensentscheidung revisionsrechtlicher<br />

Überprüfung nur eingeschränkt zugänglich (vgl. Senge in Karlsruher Kommentar, <strong>StGB</strong>, 6. Aufl., §<br />

52 Rn. 48 mwN). Die Ausführungen der Strafkammer zu den freibeweislichen Erhebungen durch den Berichterstatter<br />

einerseits <strong>und</strong> zu Angaben der Kinder vor der Hauptverhandlung gegenüber Polizei, Ermittlungsrichter <strong>und</strong> Kinderdorfmutter<br />

andererseits machen hinreichend deutlich, dass die Strafkammer von einem zutreffenden Beurteilungsmaßstab<br />

ausgeht. Sie prüft, ob die minderjährigen Kinder der Angeklagten - unbeschadet ihres Alters <strong>und</strong> der<br />

möglichen Erkenntnis, dass ihrer Mutter aufgr<strong>und</strong> des Vorwurfs, Unrechtes getan zu haben, eine Strafe droht - über<br />

die erforderliche geistige Reife verfügen, eine mögliche Konfliktlage zwischen der Pflicht zu wahrheitsgemäßer<br />

Aussage <strong>und</strong> den familiären Rücksichten (Hilfestellung für die Mutter) verstandesmäßig genügend erfassen zu können.<br />

Schon die Zweifel der Strafkammer hierüber mussten sie veranlassen, von fehlender Verstandesreife auszugehen<br />

(BGH, Urteil vom 8. März 1979 - 4 StR 634/78; Huber in BeckOK-StPO, § 52 Rn. 20 mwN). Ohnedies musste<br />

sich die Strafkammer nach der durchgeführten Beweisaufnahme <strong>und</strong> eingedenk der Besonderheiten des vorliegenden<br />

Einzelfalls nicht gedrängt sehen (§ 244 Abs. 2 StPO), die Kinder der Angeklagten auch noch persönlich zu hören.<br />

Die in die Hauptverhandlung eingeführten Angaben der Kinder außerhalb der Hauptverhandlung hat die Strafkammer<br />

mit rechtsfehlerfreier Begründung als unglaubhaft bewertet.<br />

StPO § 53 Nicht alle „Zeugenhelfer“ haben Zeugnisverweigerungsrecht – Beschränkung der Verteidigung,<br />

Amoklauf Winnenden<br />

BGH, Beschl. v. 22.03.2012 - 1 StR 359/11 - BeckRS 2012, 09450<br />

Erfolgreiche Rüge, die Möglichkeit der Verteidigung, eine für die Beweiswürdigung der Strafkammer<br />

wesentliche Zeugin zu befragen, sei durch die Zubilligung eines Auskunftsverweigerungsrechts<br />

rechtfehlerhaft eingeschränkt worden: Wie sich aus der Aufzählung der aussageverweigerungsberechtigten<br />

Personen in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3-3b StPO ergibt, steht nach gesetzlicher Wertung<br />

nicht jedem Berater, der berufsmäßig oder ehrenamtlich in schwierigen Situationen Hilfe leistet, ein<br />

Zeugnisverweigerungsrecht zu. Diese Wertentscheidung des Gesetzgebers kann nicht im Wege extensiver<br />

Auslegung des Gesetzes geändert werden.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 10. Februar 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben; ausgenommen hiervon sind die Feststellungen zum Geschehen vom 11. März 2009 in der A.<br />

schule in Winnenden <strong>und</strong> den nachfolgenden Ereignissen dieses Tages.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

I.<br />

1. Die Strafkammer hat festgestellt: Der damals 17 Jahre alte Sohn des Angeklagten, T. K., hatte am 11. März 2009<br />

insgesamt 15 Personen erschossen <strong>und</strong> 14 Personen durch Schüsse verletzt. Die meisten Opfer waren Schülerinnen,<br />

Schüler <strong>und</strong> Lehrerinnen seiner ehemaligen Schule, der A. schule in Winnenden; T. K. hatte auf sie in Klassenzimmern<br />

<strong>und</strong> darüber hinaus im ganzen Schulgebäude geschossen („Amoklauf von Winnenden“). Anschließend flüchtete<br />

er zunächst auf das Gelände der psychiatrischen Klinik in Winnenden, wo er einen zufällig anwesenden Monteur<br />

erschoss. Danach zwang er einen ihm bis dahin unbekannten Kraftfahrer, ihn nach W. zu fahren, wo er sich schließlich<br />

auf dem Gelände eines Autohauses eine Schießerei mit der Polizei lieferte, durch die ein Angestellter <strong>und</strong> ein<br />

K<strong>und</strong>e des Autohauses zu Tode kamen <strong>und</strong> mehrere Polizeibeamte verletzt wurden. Am Ende erschoss sich T. K.<br />

selbst. Die Tatwaffe <strong>und</strong> die Munition stammten aus dem Besitz des Angeklagten, eines passionierten Sportschützen.<br />

T. K. hatte unter im Detail nicht feststellbaren Umständen jedenfalls im Zeitraum zwischen Herbst 2008 <strong>und</strong> dem 11.<br />

März 2009 vom Angeklagten unbemerkt insgesamt 285 Schuss von verschiedenen Herstellern stammender Munition<br />

an sich gebracht. Diese hatte der Angeklagte an unterschiedlichen Orten innerhalb der Wohnung unverschlossen<br />

verwahrt. Ebenso unbemerkt vom Angeklagten hatte T. K. zu einem nicht mehr genauer feststellbaren Zeitpunkt,<br />

spätestens am Morgen des 11. März 2009, die dem Angeklagten gehörende Pistole Beretta entwendet, die der Angeklagte<br />

nicht ständig verschlossen, sondern (aus Angst vor Einbrechern) häufig unverschlossen in einem Schlafzimmerschrank<br />

verwahrt hatte. T. K. war psychisch auffällig. Seit 2004 hatte er sich immer mehr zu einem Einzelgänger<br />

301


entwickelt. Er beschäftigte sich oft mit Computerspielen, insbesondere mit solchen, in denen er auf virtuelle Personen<br />

schoss. Anfang 2008 äußerte er gegenüber seiner Mutter nach entsprechenden Internetrecherchen selbst den<br />

Verdacht, dass seine Stimmungsschwankungen <strong>und</strong> schlechten Schulnoten auf „bipolare Störungen beziehungsweise<br />

manisch-depressive Erkrankungen“ zurückzuführen seien. Daraufhin veranlassten seine Eltern über den Hausarzt<br />

eine ambulante psychotherapeutische Behandlung in der psychiatrischen Klinik in Wei. (Klinikum We.). Schon zu<br />

Beginn der Behandlung äußerte er dabei gegenüber der Therapeutin (Fremd-)Tötungsphantasien, worüber diese die<br />

Eltern unterrichtete. Im August 2008 wurde T. K. nach fünf ambulanten Gesprächsterminen aus der Behandlung des<br />

Klinikums entlassen. Die Klinik bewertete seinen Zustand zwar als deutlich verbessert, empfahl jedoch, dass er auch<br />

künftig ambulant psychologisch betreut werden sollte. Da T. K. keine weitere therapeutische Betreuung mehr wollte,<br />

unternahmen die Eltern in dieser Richtung nichts, sondern setzten sich über die Empfehlung hinweg. Dabei blieb es<br />

selbst dann noch, als sich der psychische Zustand T. K. s wieder deutlich verschlechterte. Dies war für die Familie<br />

auch sichtbar, wie sich insbesondere aus dem Inhalt des Chat-Verkehrs der jüngeren Schwester T. K.s mit ihrem<br />

Fre<strong>und</strong> ergibt. Statt jedoch für therapeutische Betreuung seines Sohnes zu sorgen, ermöglichte ihm der Angeklagte<br />

Schießübungen in seinem Schützenverein.<br />

2. Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieser Feststellungen wurde der Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung in 15 tateinheitlichen<br />

Fällen in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in 14 tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit fahrlässigem<br />

Überlassen einer erlaubnispflichtigen Schusswaffe <strong>und</strong> erlaubnispflichtiger Munition an Nichtberechtigte, jeweils<br />

begangen durch Unterlassen, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung<br />

zur Bewährung ausgesetzt wurde.<br />

3. Die Revision des Angeklagten ist auf die näher ausgeführte Sachrüge <strong>und</strong> auf Verfahrensrügen gestützt. Sie hat<br />

mit einer Verfahrensrüge weitgehend Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), mit der geltend gemacht ist, dass die Möglichkeit<br />

der Verteidigung, eine für die Beweiswürdigung der Strafkammer wesentliche Zeugin zu befragen, durch die Zubilligung<br />

eines Auskunftsverweigerungsrechts rechtsfehlerhaft eingeschränkt worden sei.<br />

a) Folgendes liegt zugr<strong>und</strong>e: Der Angeklagte hat sich darauf berufen, dass ihm die Intensität der Erkrankung seines<br />

Sohnes, insbesondere dessen Tötungsphantasien, unbekannt gewesen seien. Die Strafkammer hält diese Angabe<br />

aufgr<strong>und</strong> der Aussage der Zeugin L. für widerlegt. Diese ist als Mitglied des bei der Johanniter Unfallhilfe angegliederten<br />

Kriseninterventionsteams Stuttgart ehrenamtlich tätig. Sie war noch am Tag des Amoklaufs von der Polizei<br />

gebeten worden, der Familie K. als Krisenbetreuerin zur Seite zu stehen, nachdem sämtliche Polizeikräfte, die derartige<br />

Aufgaben wahrnehmen konnten, für die Betreuung der überlebenden Tatopfer <strong>und</strong> von Angehörigen der Tatopfer<br />

eingesetzt waren. Frau L. kam der Bitte der Polizei nach. Zwischen ihr <strong>und</strong> der Familie K. entwickelte sich ein<br />

Vertrauensverhältnis, das dazu führte, dass sie (auf Honorarbasis) ihre Tätigkeit für die Familie K. auch noch fortsetzte,<br />

als sie nicht mehr auf die Bitte der Polizei hin tätig war. Die Vernehmung der Zeugin L. in der Hauptverhandlung<br />

gestaltete sich wie folgt: Im Hauptverhandlungstermin vom 11. November 2010 gab sie an, der Angeklagte<br />

habe ihr bereits am dritten Tag nach dem Amoklauf berichtet, dass er im Jahre 2008 im Klinikum We. über Tötungsphantasien<br />

seines Sohnes unterrichtet worden sei. Nachdem das Gericht, der Vertreter der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong><br />

einige Nebenklägervertreter die Zeugin befragt hatten, wurde die Vernehmung am Nachmittag des 11. November<br />

2010 bis zum 23. November 2010 unterbrochen. Den Verteidigern war das Fragerecht bis zu diesem Zeitpunkt noch<br />

nicht weitergegeben worden. Zu Beginn der Fortsetzung ihrer Vernehmung im Hauptverhandlungstermin vom 23.<br />

November 2010 verlas die Zeugin eine von ihr mitgebrachte, vorgefertigte schriftliche Erklärung. Danach habe sie<br />

nicht durch den Angeklagten, sondern erst durch ein Sachverständigengutachten im August 2009 von den Tötungsphantasien<br />

T. K. s erfahren. Nach kurzer Unterbrechung der Hauptverhandlung gab der Vertreter der Staatsanwaltschaft<br />

bekannt, dass er soeben ein Ermittlungsverfahren gegen die Zeugin, unter anderem wegen des Verdachts der<br />

versuchten Strafvereitelung, eingeleitet habe. Daraufhin gewährte der Vorsitzende der Zeugin - unter entsprechender<br />

Belehrung - ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht. Die Vernehmung wurde erneut bis zum 16. Dezember<br />

2010 unterbrochen. Zu Beginn dieses Fortsetzungstermins widerrief die Zeugin nach erneuter Belehrung ihre Angaben<br />

vom 23. November 2010 <strong>und</strong> bestätigte die Richtigkeit ihrer ursprünglichen Aussage vom 11. November 2010.<br />

Weitere Angaben machte sie nicht <strong>und</strong> berief sich auf das Auskunftsverweigerungsrecht. Neben weiterem, hier nicht<br />

entscheidungserheblichem Prozessgeschehen widersprachen die Verteidiger im Termin vom 16. Dezember 2010 der<br />

Verwertung der Angaben der Zeugin L. wegen des Fehlens jeder Möglichkeit zur Fragestellung an die Zeugin L..<br />

Den Widerspruch der Verteidiger wies das Gericht mit Beschluss vom 21. Dezember 2010 zurück. Zur Begründung<br />

führte das Gericht aus, die Belehrung über das Auskunftsverweigerungsrecht sei erfolgt, weil der Vertreter der<br />

Staatsanwaltschaft zureichende Anhaltspunkte für eine Straftat (hier: der versuchten Strafvereitelung) gesehen <strong>und</strong><br />

ein Ermittlungsverfahren gegen die Zeugin eingeleitet habe; das Gericht sei zur korrekten Belehrung verpflichtet<br />

gewesen. Zu dieser Belehrungspflicht hatte die Kammer bereits am 16. Dezember 2010 in anderem Zusammenhang<br />

302


ausgeführt, die Zeugin sei verdächtig, die Erklärung nach dem Beginn ihrer Vernehmung am 11. November 2010 als<br />

<strong>Teil</strong> einer Strafvereitelungshandlung angefertigt zu haben. Weil die Zeugin L. zu diesem Zeitpunkt bereits benannt<br />

gewesen sei, könnte durch die Anfertigung der Erklärung die Grenze zum strafbaren Versuch bereits überschritten<br />

sein. Die Verteidigung hatte zu keiner Zeit Gelegenheit, die Zeugin L. zu befragen.<br />

b) Dies beanstandet die Revision zu Recht. Straftaten, die erst durch die Aussage selbst begangen wurden, können<br />

ein Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen gemäß § 55 StPO nicht begründen (h.M., vgl. BGHSt 50, 318 ff.;<br />

BGH bei Dallinger, MDR 1958, 14; Ignor/Bertheau in LR-StPO, 26. Aufl., § 55 Rn. 12). Dies hat die Strafkammer<br />

an sich auch nicht verkannt. Ihre Auffassung, hier gelte anderes, weil die Zeugin durch die Anfertigung der schriftlichen<br />

Erklärung den Versuch einer Strafvereitelung zugunsten des Angeklagten begangen habe, hält rechtlicher<br />

Überprüfung nicht stand. Die Herstellung eines schriftlichen Textes, den der Zeuge als seine Aussage bei seiner<br />

Vernehmung verlesen will <strong>und</strong> abliest, enthält keinen über die falsche Aussage hinausgehenden Unrechtsgehalt. Bei<br />

der Anfertigung der Erklärung handelt es sich also um eine straflose Vorbereitungshandlung (vgl. BGH, Urteil vom<br />

17. März 1982 - 2 StR 314/81, BGHSt 31, 10 ff.; BGH, Urteil vom 18. März 1982 - 4 StR 565/81, JZ 1982, 434 f.).<br />

Die Entscheidungen, auf die sich die Strafkammer zum Beleg ihrer gegenteiligen Auffassung beruft, ergeben nichts<br />

anderes. In einem Fall (BayObLG, Beschluss vom 1. April 1999 - 5 St RR 49/99) hatte nicht der Zeuge selbst seine<br />

Falschaussage vorbereitet, sondern ein außenstehender Dritter versucht, einen Zeugen zu einer Falschaussage zu<br />

veranlassen. In einer weiteren von der Strafkammer herangezogenen Entscheidung (OLG Karlsruhe, Beschluss vom<br />

25. November 1992 - 2 Ss 195/92, MDR 1993, 368) hatte ein Bekannter des Angeklagten schriftliche Falscherklärungen<br />

angefertigt <strong>und</strong> diese über die gutgläubige Verteidigerin zu den Akten gegeben, um seine Benennung als<br />

Zeuge zu erreichen. Hier liegt der Unterschied zur vorherigen Fallgestaltung darin, dass der Zeuge durch seine inhaltlich<br />

falsche schriftliche Erklärung seine Vernehmung erst herbeigeführt hat, während die Zeugin L. ihre ohnehin<br />

vorgesehene Vernehmung vorbereitet hat. Die schriftliche Erklärung der Zeugin war für ihre Vernehmung nicht<br />

kausal. Eine versuchte Strafvereitelung könnte daher allenfalls in der Aussage der Zeugin selbst liegen, die, wie<br />

dargelegt, ein Auskunftsverweigerungsrecht nicht begründen kann. Auf die Frage, ob die Zeugin durch ihre Aussage<br />

vom 16. Dezember 2010 von einem etwaigen Versuch der Strafvereitelung zurückgetreten sein könnte, kommt es<br />

daher nicht mehr an.<br />

c) Ob die Rüge der Verletzung des Fragerechts rechtlich an § 338 Nr. 8 StPO oder - wie die Revision meint - an Art.<br />

6 MRK i.V.m. Art. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG zu messen ist, bedarf keiner Entscheidung, da jedenfalls<br />

die Voraussetzungen beider Rügen im Hinblick auf § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vollständig vorgetragen worden<br />

sind.<br />

d) Der Frage, ob das der Zeugin zu Unrecht zugebilligte Auskunftsverweigerungsrecht rechtlich anders zu gewichten<br />

wäre, wenn die Strafkammer, die dies geprüft hat, ihr zu Unrecht ein generelles Zeugnisverweigerungsrecht verweigert<br />

hätte, brauchte der Senat nicht nachzugehen. Die Feststellungen der Kammer haben keine zureichenden Anhaltspunkte<br />

für eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung oder eine Zugehörigkeit der Zeugin zu den durch § 53 Abs. 1<br />

Satz 1, § 53a StPO privilegierten Berufsgruppen ergeben. Wie sich aus der Aufzählung der aussageverweigerungsberechtigten<br />

Personen in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3-3b StPO ergibt, steht nach gesetzlicher Wertung nicht jedem Berater,<br />

der berufsmäßig oder ehrenamtlich in schwierigen Situationen Hilfe leistet, ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Diese<br />

Wertentscheidung des Gesetzgebers kann nicht im Wege extensiver Auslegung des Gesetzes abgeändert werden (s.a.<br />

Huber in Graf (Hrsg.), BeckOK, Edit. 13, § 53a Rn. 7).<br />

e) Der aufgezeigte Mangel führt zur weitgehenden Aufhebung des Urteils. Ein Zusammenhang zwischen der für die<br />

Verteidigung fehlenden Möglichkeit, die Zeugin L. zu befragen, <strong>und</strong> den Feststellungen zum Geschehen vom 11.<br />

März 2009 in der A. schule in Winnenden <strong>und</strong> den nachfolgenden Ereignissen dieses Tages (Tenor) ist jedoch denknotwendig<br />

ausgeschlossen. Auch die sonstigen Verfahrensrügen haben keinen Bezug zu diesen Feststellungen. Da<br />

sie auch sonst fehlerfrei getroffen sind, können diese bestehen bleiben (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

II. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:<br />

1. Zur Beanstandung der Revision, die Strafkammer habe die „Epikrise“ des Klinikums „We.“ zu Unrecht nicht<br />

verwertet:<br />

a) Die „Epikrise“ ist ein erst nach dem Tatgeschehen verfasster Abschlussbericht des Klinikums „We.“ über die<br />

Behandlung von T. K.. Er gelangte zu den Verfahrensakten, nachdem die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren<br />

das Klinikum um dessen Übersendung gebeten hatte. Dabei hatte die Staatsanwaltschaft mitgeteilt, die Eltern von<br />

T. K. hätten vor der Einleitung des Ermittlungsverfahrens eine „Schweigepflichtentbindung“ erteilt, die bislang nicht<br />

zurückgenommen worden sei. Eine solche Entbindungserklärung ist nicht aktenk<strong>und</strong>ig. In der Hauptverhandlung<br />

stellte die Verteidigung - nicht leicht verständlich - sowohl Anträge, die auf der Behauptung beruhten, eine entsprechende<br />

Entbindung sei erteilt worden, also auch auf der Behauptung, eine Entbindung sei nicht erteilt worden.<br />

303


) Die Strafkammer ist im Ergebnis davon ausgegangen, dass keine Entbindung erteilt worden ist. Sie hat die<br />

„Epikrise“ als solche nicht verwertet <strong>und</strong> zur Begründung ausgeführt: Die Verwertung sei unzulässig, weil die Ärzte<br />

<strong>und</strong> Therapeuten des Klinikums im Verfahren inzwischen von ihrem Recht, die Aussage zu verweigern (§ 53 Abs. 1<br />

Satz 1 Nr. 3 StPO) Gebrauch machten. Für die Frage der Verwertbarkeit der vorher zu den Akten gelangten „Epikrise“<br />

sei daher eine Abwägung (§ 160a Abs. 2 StPO) zwischen dem postmortalen Persönlichkeitsschutz T. K.s <strong>und</strong><br />

dem Interesse an der Tataufklärung vorzunehmen. Weil es sich bei der Straftat des Angeklagten nur um ein - wenngleich<br />

in den Auswirkungen erhebliches - fahrlässiges Delikt handele, die Eltern T. K.s als Hinterbliebene mit einer<br />

Offenbarung der „Epikrise“ tatsächlich nicht einverstanden waren <strong>und</strong> die Ärzte der Verwertung des Berichts inzwischen<br />

widersprochen hatten, überwiege letztlich der postmortale Persönlichkeitsschutz T. K.s.<br />

c) Diese Ausführungen begegnen Bedenken (aa, bb). Darüber hinaus sind gewichtige Gesichtspunkte nicht angesprochen<br />

(cc).<br />

aa) Die Strafkammer ist im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass nach dem Tode des Patienten die verbindliche<br />

Entscheidung über die Verwertbarkeit von ihn betreffenden ärztlichen Unterlagen nicht auf die Erben übergeht<br />

(vgl. hierzu BGH, Urteil vom 31. Mai 1983 - VI ZR 259/81, NJW 1983, 2627 ff.). Ob die (hier bereits aktenk<strong>und</strong>igen)<br />

Unterlagen verwertbar sind, ist nach Maßgabe des § 160a Abs. 2 StPO abzuwägen. Das Ergebnis der Abwägung<br />

ist vom Revisionsgericht nur auf seine Vertretbarkeit hin zu überprüfen (vgl. BGHSt 41, 30; Meyer-Goßner,<br />

StPO, 54. Aufl., § 160a Rn. 18); jedoch unterliegen die der Abwägung zugr<strong>und</strong>e gelegten rechtlichen Maßstäbe<br />

revisionsrichterlicher Kontrolle. Im Rahmen dieser Abwägung kann es freilich eine Rolle spielen, ob der (die) Erbe(n)<br />

des Patienten mit der Verwertung der den Patienten betreffenden Unterlagen einverstanden ist (sind). In diesem<br />

Zusammenhang kann gegebenenfalls auch zu berücksichtigen sein, dass der Angeklagte einerseits geltend macht, die<br />

Heranziehung der „Epikrise“ sei zu seiner Entlastung geboten, andererseits aber ihrer Heranziehung im Rahmen<br />

seiner rechtlichen Möglichkeiten dadurch gleichwohl entgegenwirkt, dass er die Frage nach einer „Schweigepflichtentbindung“<br />

nicht nur offen lässt, sondern die Klärung durch widersprüchlichen Vortrag erschwert.<br />

bb) Während dieser Gesichtspunkt sich im Ergebnis eher gegen eine Heranziehung der „Epikrise“ auswirken könnte,<br />

bestehen andererseits gegen die Gewichtung der Taten, die die Strafkammer zur Begründung der Ablehnung der<br />

Verwertung herangezogen hat (§ 160a Abs. 2 Satz 1 StPO), rechtliche Bedenken. Die Strafkammer meint, es liege<br />

keine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ vor, <strong>und</strong> stellt entscheidend darauf ab, dass es sich nur um eine fahrlässig<br />

begangene Straftat handele. Damit legt die Strafkammer hinsichtlich des Begriffs „erhebliche Bedeutung“ einen<br />

unzutreffenden Maßstab an. Eine Straftat hat „erhebliche Bedeutung“, wenn sie mindestens dem Bereich der mittleren<br />

Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört <strong>und</strong> geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit<br />

der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 109, 279, 344; 103, 21, 34; BT-Drucks. 16/5846,<br />

S. 40). Der Bereich mittlerer Kriminalität bestimmt sich maßgeblich nach den abstrakten Strafrahmen des materiellen<br />

Strafrechts, nicht nach der Schuldform. Bei entsprechend hohen Strafrahmen kann daher auch eine fahrlässige<br />

Straftat eine solche von „erheblicher Bedeutung“ sein. Selbst eine fahrlässige Körperverletzung kann nach den Umständen<br />

des Einzelfalls noch ausreichen (vgl. BVerfG NJW 2009, 2431; vgl. auch Rieß, GA 2004, 623, 638 ff.<br />

mwN). Hieran gemessen ist die Annahme, fahrlässige Tötungen (Höchststrafe fünf Jahre) seien, zumal unter den hier<br />

vorliegenden konkreten Umständen, schon im Ansatz keine erheblichen Straftaten, nicht tragfähig.<br />

cc) Die neue Strafkammer wird deutlicher als bisher im Ansatz auch Gelegenheit haben, Folgendes zu berücksichtigen:<br />

Der Persönlichkeitsschutz des Geheimnisinhabers (Patienten) wird durch dessen Tod in einen allgemeinen, der<br />

Abwehr von Angriffen auf die Menschenwürde dienenden Achtungsanspruch umgewandelt; dessen Schutzwirkung<br />

reicht jedenfalls weniger weit als das allgemeine Persönlichkeitsrecht eines Lebenden (vgl. BGH, Beschluss vom 19.<br />

Juni 1998 - 2 StR 189/98). Diesem Interesse des Geheimnisinhabers (Patienten) steht das Interesse des Angeklagten<br />

gegenüber, nicht unschuldig verurteilt bzw. nicht schärfer als schuldangemessen bestraft zu werden (vgl. OLG Celle<br />

NJW 1965, 362). Darüber, zu welchem Ergebnis die aufgeführten gegenläufigen Gesichtspunkte <strong>und</strong> die sonstigen,<br />

in diesem Zusammenhang von der Strafkammer angestellten Erwägungen letztlich führen, hat der Senat hier nicht zu<br />

befinden.<br />

2. Zum Schuldspruch bemerkt der Senat: Die Strafkammer hat auf der Gr<strong>und</strong>lage der bisher getroffenen Feststellungen<br />

zutreffend neben den Verstößen gegen das Waffengesetz auch fahrlässige Tötung <strong>und</strong> fahrlässige Körperverletzung<br />

bejaht. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte hätte voraussehen<br />

können, dass sein Sohn als Folge der unzulänglichen Sicherung von Waffen <strong>und</strong> Munition auf Menschen<br />

schießen wird, nicht notwendig davon abhängig sein muss, wie präzise die Kenntnis des Angeklagten über das Maß<br />

der psychischen Erkrankung seines Sohnes war. Schon diese unzulängliche Sicherung von Waffen <strong>und</strong> Munition<br />

unter Verstoß gegen die spezifischen waffenrechtlichen Aufbewahrungspflichten kann den Vorwurf der Fahrlässigkeit<br />

für Straftaten begründen, die vorhersehbare Folge einer ungesicherten Verwahrung sind. Für die Vorhersehbar-<br />

304


keit könnte hier zudem die - für sich gesehen bislang rechtsfehlerfrei getroffene - Feststellung sprechen, dass der<br />

Angeklagte entgegen dem Rat des Klinikums nicht für eine Weiterbehandlung seines Sohnes sorgte, dies selbst dann<br />

noch nicht, als sich dessen psychischer Zustand wieder deutlich verschlechterte. Stattdessen ermöglichte der Angeklagte<br />

seinem, wie ihm jedenfalls bekannt war, psychisch sehr labilen Sohn, der seit Jahren in Computerspielen auf<br />

andere schoss, sich im Schützenverein im Umgang mit realen Schusswaffen zu üben.<br />

StPO § 111i II 4 Nr. 1; StPO § 111i II 4 Nr. 2; StPO § 111i V - Rückgewinnungshilfe <strong>und</strong> Schadensersatz<br />

BGH, Beschl. v. 22.06.2011 - 5 StR 109/11 - StV 2012, 133 = wistra 2011, 430<br />

Schadensersatzleistungen der Angeklagten schmälern nach § 111i Abs. 5 StPO zugleich die Höhe<br />

des Verfallsbetrags (Nr. 1), selbst wenn diese nicht durch die Verwertung von beschlagnahmten<br />

Vermögen erbracht wurden (Nr. 2). Zu welchem Zeitpunkt diese Leistungen erfolgt sind, ist dabei<br />

unerheblich. Der verbindlichen Klärung, ob <strong>und</strong> in welchem Umfang die Ansprüche der Verletzten<br />

erfüllt sind, dient - soweit überhaupt verbliebene Vermögenswerte vorhanden sein können - das<br />

Feststellungsverfahren nach § 111i Abs. 6 StPO.<br />

Die Revisionen der Angeklagten Z. <strong>und</strong> H. B. gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 3. November 2010<br />

werden nach § 349 Abs. 2 StPO mit der Maßgabe (§ 349 Abs. 4 StPO) als unbegründet verworfen, dass der von<br />

diesen Angeklagten aus der Tat erlangte Betrag von 4.083.566,42 € dem Verfall unterliegt <strong>und</strong> nur deshalb nicht auf<br />

den Verfall von Wertersatz erkannt wurde, weil Ansprüche von Verletzten entgegenstehen. Der anders lautende<br />

Ausspruch zum Verfall wird insgesamt aufgehoben. Die Revision des Angeklagten H. F. B. gegen das vorbezeichnete<br />

Urteil wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines<br />

Rechtsmittels <strong>und</strong> die dadurch den Adhäsionsklägerinnen entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

G r ü n d e<br />

Die Revisionen der Angeklagten sind aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts unbegründet im<br />

Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Lediglich der ausgeurteilte Verfallsbetrag bedarf der Korrektur, weil nach den Urteilsfeststellungen<br />

509.244,29 € an Rückzahlungen an die Anleger geleistet worden sind, die keine Berücksichtigung<br />

gef<strong>und</strong>en haben. Nach § 111i Abs. 2 Satz 4 Nr. 1 <strong>und</strong> 2 StPO sind aber solche Leistungen der Schadenswiedergutmachung<br />

zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteil vom 28. Oktober 2010 – 4 StR 215/10, BGHSt 56, 39 Rn. 10). Insoweit<br />

besteht für das Tatgericht kein Raum für ein Ermessen. Ein Ermessen im Sinne eines weiteren Abzugs auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Härtefallregelung des § 73c <strong>StGB</strong> (vgl. BGH aaO Rn. 14 f.) wollte das Landgericht ersichtlich nicht<br />

anwenden. Damit ist über den Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts hinaus zugunsten der Angeklagten auf die um die<br />

Rückzahlungen gekürzte Summe durchzuentscheiden. Allein dieser Betrag ist im Urteilstenor anzugeben (BGH aaO<br />

Rn. 13). Eine Aufzählung der Geschädigten im Einzelnen hat zu unterbleiben. Dementsprechend hat der Senat den<br />

Tenor hinsichtlich des Verfallsausspruchs neu gefasst. Soweit der Generalb<strong>und</strong>esanwalt eine Zurückverweisung<br />

weiterhin zur Ermittlung im Urteil nicht festgestellter zusätzlicher Zahlungen zu erwägen gegeben hat, vermag der<br />

Senat dem nicht zu folgen. Schadensersatzleistungen der Angeklagten schmälern nach § 111i Abs. 5 StPO zugleich<br />

die Höhe des Verfallsbetrags (Nr. 1), selbst wenn diese nicht durch die Verwertung von beschlagnahmtem Vermögen<br />

erbracht wurden (Nr. 2). Zu welchem Zeitpunkt diese Leistungen erfolgt sind, ist dabei unerheblich. Der verbindlichen<br />

Klärung, ob <strong>und</strong> in welchem Umfang die Ansprüche der Verletzten erfüllt sind, dient – soweit überhaupt verbliebene<br />

Vermögenswerte vorhanden sein können – das Feststellungsverfahren nach § 111i Abs. 6 StPO. In diesem<br />

Verfahren wird dann zugleich der Umfang des staatlichen Rechtserwerbs bestimmt. Nur dieses Ergebnis ist letztlich<br />

praktikabel, weil so verhindert wird, dass das Tatgericht einzelnen Vollstreckungsversuchen einer (wie hier) Vielzahl<br />

von Gläubigern nachgehen muss, deren Erfolgsaussicht häufig unklar ist. Dies würde eine mit dem Zügigkeitsgebot<br />

in Strafsachen nicht zu vereinbarende Verzögerung des Hauptverfahrens nach sich ziehen. Der Senat schließt aus,<br />

dass eventuell weitere feststellbare Rückzahlungen Einfluss auf die Strafzumessung bei den beiden Angeklagten<br />

haben könnten, zumal die Strafkammer sich mit den sichergestellten Vermögenswerten sehr detailliert auseinandergesetzt<br />

hat.<br />

305


StPO § 111i, <strong>StGB</strong> § 73a - Verfall Gesamtschuldner "gemeinsamer Topf"<br />

BGH, Beschl. v. 23.11.2011 - 4 StR 516/11 - wistra 2012, 147<br />

Anders als bei einer Anordnung nach § 111i Abs. 2 StPO, bei der insbesondere wegen des erst erhebliche<br />

Zeit später gegebenenfalls eintretenden Auffangrechtserwerbs des Staates <strong>und</strong> der während<br />

dieses Zeitraums möglicherweise eintretenden Veränderungen (etwa durch <strong>Teil</strong>zahlungen oder<br />

das Bekanntwerden eines Mittäters) eine gesamtschuldnerische Haftung mehrerer Täter oder<br />

<strong>Teil</strong>nehmer nicht in den Urteilstenor aufgenommen, sondern erst in der Entscheidung nach § 111i<br />

Abs. 6 StPO ausgesprochen werden muss (BGH aaO), bedarf es bei der Anordnung von Wertersatzverfall<br />

nach § 73a <strong>StGB</strong> des Ausspruchs über die gesamtschuldnerische Haftung mehrerer Täter<br />

oder <strong>Teil</strong>nehmer schon im tatrichterlichen Urteil.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten F. wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 15. Juni 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben, soweit<br />

a) hinsichtlich dieses Angeklagten der Verfall von Wertersatz in Höhe eines Betrages von 40.000 € angeordnet wurde<br />

<strong>und</strong><br />

b) hinsichtlich des früheren Mitangeklagten G. wegen der Taten II.1. bis 12. der Urteilsgründe der Verfall von Wertersatz<br />

angeordnet wurde.<br />

2. Die weiter gehende Revision des Angeklagten F. wird verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in jeweils mehreren<br />

Fällen verurteilt <strong>und</strong> beim Angeklagten F. den Verfall von Wertersatz in Höhe eines Betrages von 40.000 € <strong>und</strong> beim<br />

früheren Mitangeklagten G. in Höhe von 30.000 € angeordnet. Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte F. mit<br />

seiner auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung der Verfallsanordnungen.<br />

1. Die Revision des Angeklagten F. ist aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt in der Antragsschrift vom 12. Oktober<br />

2011 dargelegten Gründen erfolglos, soweit sie sich gegen den Schuld- <strong>und</strong> den Strafausspruch richtet (§ 349 Abs. 2<br />

StPO).<br />

2. Jedoch hat die Anordnung von Wertersatzverfall keinen Bestand. Insofern bestehen zwar keine Bedenken dagegen,<br />

dass die Strafkammer nach § 73a <strong>StGB</strong> die von den Angeklagten durch den Verkauf der Drogen erzielten Erlöse<br />

abschöpfen wollte. Die Strafkammer hat es aber versäumt darzulegen, warum sie insofern nicht von einer - zumindest<br />

teilweisen - gesamt-schuldnerischen Haftung der beiden Angeklagten ausgeht. Dies war vorliegend unerlässlich,<br />

da sie beim Angeklagten F. 23 Taten <strong>und</strong> beim Angeklagten G. 13 Taten festgestellt <strong>und</strong> abgeurteilt hat, wobei die<br />

Angeklagten 12 Taten gemeinsam begangen haben. Dem Hinweis der Strafkammer im Rahmen der Ausführungen zu<br />

§ 73c <strong>StGB</strong> auf den Verkauf des mit den Drogengeldern von den Angeklagten zunächst gemeinsam gekauften Pkw<br />

Mercedes entnimmt der Senat, dass das Landgericht die Verfallsanordnung zumindest auch auf die von beiden Angeklagten<br />

gemeinsam begangenen Taten II. 1. bis 12. der Urteilsgründe bezogen hat, in denen die Angeklagten die<br />

durch die Drogengeschäfte erzielten Erlöse in einen "gemeinsamen Topf" einbezahlt haben <strong>und</strong> - nahe liegend - als<br />

Mittäter (Mit-)Verfügungsmacht an dem Geld hatten. In einem solchen Fall haften die Angeklagten beim Verfall<br />

(von Wertersatz) für diesen (<strong>Teil</strong>-)Betrag aber nur als Gesamtschuldner (vgl. BGH, Urteil vom 28. Oktober 2010 - 4<br />

StR 215/10, BGHSt 56, 39, 52). Anders als bei einer Anordnung nach § 111i Abs. 2 StPO, bei der insbesondere<br />

wegen des erst erhebliche Zeit später gegebenenfalls eintretenden Auffangrechtserwerbs des Staates <strong>und</strong> der während<br />

dieses Zeitraums möglicherweise eintretenden Veränderungen (etwa durch <strong>Teil</strong>zahlungen oder das Bekanntwerden<br />

eines Mittäters) eine gesamtschuldnerische Haftung mehrerer Täter oder <strong>Teil</strong>nehmer nicht in den Urteilstenor aufgenommen,<br />

sondern erst in der Entscheidung nach § 111i Abs. 6 StPO ausgesprochen werden muss (BGH aaO), bedarf<br />

es bei der Anordnung von Wertersatzverfall nach § 73a <strong>StGB</strong> des Ausspruchs über die gesamtschuldnerische Haftung<br />

mehrerer Täter oder <strong>Teil</strong>nehmer schon im tatrichterlichen Urteil. Denn der Staat erwirbt bei der Anordnung von<br />

Wertersatzverfall nicht nur einen Zahlungsanspruch (vgl. SSW-<strong>StGB</strong>/Burghart, § 73e Rn. 2), er kann diesen vielmehr<br />

nach § 459g Abs. 2 StPO wie eine Verurteilung, die zu einer Geldzahlung verpflichtet, also nach den §§ 459 ff.<br />

StPO, vollstrecken. Dies erfordert - nicht anders als in einem zivilgerichtlichen Urteil <strong>und</strong> entsprechend den dort<br />

306


verwendeten Formulierungen - die Aufnahme einer (im Urteilszeitpunkt bekannten) gesamtschuldnerischen Haftung<br />

schon in den "Titel" (vgl. auch BGH, Beschluss vom 6. Juli 2007 - 2 StR 189/07).<br />

3. Da dem Landgericht bei der Anordnung des Wertersatzverfalls mithin ein nicht auf "individuellen" Erwägungen<br />

beruhender sachlich-rechtlicher Fehler unterlaufen ist, der den nicht Revision führenden Angeklagten G. ebenso<br />

betrifft, ist die Urteilsaufhebung auf diesen zu erstrecken (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Mai 2009 - 4 StR 102/09,<br />

StV 2010, 19; vom 27. April 2010 - 3 StR 112/10, NStZ 2010, 568, 569 m.Anm. Spillecke). Die Erstreckung erfasst<br />

allerdings nicht eine (etwaige) Anordnung eines Wertersatzverfalls im Fall II.13. der Urteilsgründe. Diese Tat wurde<br />

vom Angeklagten G. alleine begangen <strong>und</strong> bezieht sich auf eine beim Angeklagten F. weder angeklagte noch abgeurteilte<br />

prozessuale Tat, so dass insofern eine Erstreckung nach § 357 StPO ausscheidet (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54.<br />

Aufl., § 357 Rn. 13 mwN).<br />

StPO § 112 Î S. 2, § 70 Ges<strong>und</strong>heitszustand kann gegen U-Haft oder Beugehaft sprechen<br />

BGH, Beschl. v. 10.01.2012 - StB 20/11 - StraFo 2012, 58<br />

1. Bei der Untersuchungshaft ist nach - soweit ersichtlich - einhelliger Auffassung der Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

des Beschuldigten im Rahmen der nach Maßgabe des § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO anzustellenden<br />

Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits bei der Anordnung der Haft von Bedeutung.<br />

2. Dies gilt auch für die Beugehaft.<br />

Auf die Beschwerde der Zeugin E. wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 1. Dezember 2011 (6 -<br />

2 StE 2/10) aufgehoben. Der Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts, Beugehaft bis zur Dauer von sechs Monaten anzuordnen<br />

<strong>und</strong> der Zeugin die durch ihre Auskunftsverweigerung entstandenen Kosten aufzuerlegen, wird zurückgewiesen.<br />

Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die der Beschwerdeführerin dadurch entstandenen notwendigen<br />

Auslagen zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat gegen die Beschwerdeführerin nach § 70 Abs. 1 Satz 1 <strong>und</strong> Abs. 2 StPO Ordnungs-<br />

<strong>und</strong> Beugemaßnahmen wegen Weigerung der Zeugnisleistung angeordnet. Das hiergegen gerichtete Rechtsmittel<br />

hat Erfolg.<br />

I. Vor dem Oberlandesgericht findet derzeit die Hauptverhandlung in dem Strafverfahren gegen die Angeklagte B.<br />

statt. Gegenstand dieses Verfahrens ist der am 7. April 1977 von Mitgliedern der "Rote Armee Fraktion" verübte<br />

Anschlag auf den damaligen Generalb<strong>und</strong>esanwalt Buback sowie dessen Begleiter Göbel <strong>und</strong> Wurster. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

wirft der Angeklagten vor, an dieser Tat als Mittäterin beteiligt gewesen zu sein. Die Beschwerdeführerin<br />

sollte im Verfahren gegen die Angeklagte B. in der Hauptverhandlung am 22. September 2011 als Zeugin vernommen<br />

werden. Aufgr<strong>und</strong> der Mitteilung, die Zeugin müsse sich einer stationären Krankenhausbehandlung unterziehen,<br />

hob das Oberlandesgericht diesen Termin auf. Die Zeugin wurde sodann am 23. November 2011 in einem<br />

Krankenhaus durch einen beauftragten Richter vernommen. Sie sollte insbesondere Auskunft geben über den Inhalt<br />

von Gesprächen, die sie im Jahre 2008 bei einem Treffen mit der Angeklagten führte. Die Zeugin verweigerte die<br />

Aussage <strong>und</strong> berief sich auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO. Daraufhin hat das Oberlandesgericht<br />

auf Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts mit Beschluss vom 1. Dezember 2011 Haft zur Erzwingung des<br />

Zeugnisses bis zur Dauer von sechs Monaten angeordnet <strong>und</strong> der Zeugin die durch die Auskunftsverweigerung verursachten<br />

Kosten auferlegt. Nach seiner Auffassung hat die Zeugin die Aussage ohne gesetzlichen Gr<strong>und</strong> verweigert,<br />

da ihr ein entsprechendes Recht aus § 55 StPO unter keinem Gesichtspunkt zustehe. Der Umstand, dass die Zeugin<br />

stationär im Krankenhaus behandelt werden müsse, führe im Ergebnis nicht zu einer anderen Beurteilung, denn die<br />

Haftunfähigkeit hindere nur den Vollzug, nicht aber die Anordnung der Erzwingungshaft. Hiergegen hat die Zeugin<br />

mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2011 Beschwerde eingelegt <strong>und</strong> beantragt, den Vollzug der Beugehaft bis zur<br />

Rechtskraft des Beschlusses auszusetzen. Sie hat weiterhin die Auffassung vertreten, ihr stehe ein Auskunftsverweigerungsrecht<br />

nach § 55 StPO zu; die Anordnung der Beugehaft sei jedenfalls nicht verhältnismäßig. Mit Schriftsatz<br />

vom 13. Dezember 2011 hat sie ein ärztliches Attest vom 9. Dezember 2011 vorgelegt, das von dem Chefarzt <strong>und</strong><br />

einer Oberärztin der Abteilung der Klinik, in der sie sich zur Behandlung befindet, ausgestellt ist. Danach werde die<br />

Zeugin dort seit September 2011 wegen einer akuten lymphatischen Leukämie behandelt. Die Therapie erfordere die<br />

Gabe wiederkehrender Block-Chemotherapien mit hochdosierten Chemotherapeutika. Sowohl die Erkrankung als<br />

auch die Therapie mit ihren Nebenwirkungen <strong>und</strong> Komplikationen seien lebensbedrohend <strong>und</strong> erforderten die Be-<br />

307


handlung in einer spezialisierten hämatoonkologischen Abteilung mit Intensivstation; diese lasse sich keinesfalls in<br />

einer anderen Einrichtung durchführen. In der nächsten Zeit seien in zeitlich kurzen Abständen - im Einzelnen aufgeführte<br />

- komplexe medizinische Maßnahmen erforderlich, deren Auswirkungen ständig kontrolliert werden müssten.<br />

Jede Zeitverzögerung erhöhe das Rezidivrisiko <strong>und</strong> führe zu lebensbedrohlichen Komplikationen. Die Verlegung in<br />

ein Gefängnis oder ein Gefängniskrankenhaus, wo die Therapie in der geschilderten Art ganz sicher nicht durchführbar<br />

sei, bringe das Leben der Zeugin in große Gefahr. Mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2011 hat der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

beantragt, zurzeit von der Vollstreckung des Beugehaftbeschlusses abzusehen, der gegen diesen eingelegten<br />

Beschwerde aber nicht abzuhelfen. Mit Beschluss vom 15. Dezember 2011 hat das Oberlandesgericht die Vollziehung<br />

der Beugehaft nach § 307 Abs. 2 StPO ausgesetzt <strong>und</strong> die Ladung zum Haftantritt aufgehoben, da die -<br />

nunmehr konkret dargelegten - der Zeugin drohenden schwerwiegenden Nachteile die Vollstreckung der Haft für sie<br />

unzumutbar machten <strong>und</strong> das Interesse an der sofortigen Vollziehung der Beugehaftanordnung überwögen. Unter<br />

dem 19. Dezember 2011 hat der Senatsvorsitzende mitgeteilt, das Oberlandesgericht helfe der Beschwerde nicht ab.<br />

Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.<br />

II. Die Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Anordnung der Beugehaft richtet, zulässig (§ 304 Abs. 4 Satz 2<br />

Halbsatz 2 Nr. 1 StPO) <strong>und</strong> begründet. Dies führt hier auch zur Aufhebung der Anordnung, die Zeugin habe die<br />

durch die Auskunftsverweigerung verursachten Kosten zu tragen (hierzu unten III.). Es kann dahinstehen, ob die<br />

Zeugin die Beantwortung der gestellten Fragen ohne gesetzlichen Gr<strong>und</strong> verweigert hat oder ob ihr ein Auskunftsverweigerungsrecht<br />

nach § 55 StPO zusteht <strong>und</strong> welchen Umfang dieses gegebenenfalls hat. Die Anordnung von<br />

Beugehaft ist jedenfalls unverhältnismäßig.<br />

1. Die Anordnung der Beugehaft steht - anders als die der Maßnahmen nach § 70 Abs. 1 StPO - im Ermessen des<br />

Gerichts. Dabei sind sowohl die Aufklärungspflicht als auch der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.<br />

Diesem kommt - da § 70 StPO keine speziellen materiellen Voraussetzungen zum Schutz des Freiheitsgr<strong>und</strong>rechts<br />

des Zeugen vorsieht - besondere Bedeutung zu. Danach muss die Beugehaft nach den Umständen des Falles unerlässlich<br />

sein <strong>und</strong> darf zur Bedeutung der Strafsache <strong>und</strong> der Aussage für den Ausgang des Verfahrens nicht außer<br />

Verhältnis stehen (BVerfG, Beschlüsse vom 25. Januar 2007 - 2 BvR 26/07, NJW 2007, 1865, 1868; vom 9. September<br />

2005 - 2 BvR 431/02, NJW 2006, 40, 41; vom 21. August 2000 - 2 BvR 1372/00, NJW 2000, 3775, 3776;<br />

BGH, Beschlüsse vom 4. August 2009 - StB 32/09, NStZ 2010, 44; vom 7. Juli 2005 - StB 12/05, NStZ-RR 2005,<br />

316, 317). Bei seiner Abwägung muss das Gericht auch die Bedeutung besonderer gr<strong>und</strong>rechtlicher Gewährleistungen,<br />

die im Einzelfall berührt sein können, berücksichtigen (BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2007 - 2 BvR 26/07,<br />

NJW 2007, 1865, 1868). Auch die Fürsorgepflicht gegenüber dem Zeugen kann ausschlaggebend sein (vgl. für den<br />

Fall eines gefährdeten Zeugen BGH, Urteil vom 16. Juni 1983 - 2 StR 4/83, NStZ 1984, 31).<br />

2. Nach diesen Maßstäben ist die Anordnung der Beugehaft ermessensfehlerhaft, da sie den Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit<br />

unter Berücksichtigung insbesondere des Freiheitsgr<strong>und</strong>rechts der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs.<br />

2 Satz 2, Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG sowie ihres Rechts auf Leben <strong>und</strong> körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2<br />

Satz 1 GG verletzt. Die Abwägung ergibt, dass die dem Eingriff entgegenstehenden Interessen der Zeugin ersichtlich<br />

wesentlich schwerer wiegen als diejenigen Belange, deren Wahrung die Anordnung der Beugehaft dienen soll. Im<br />

Einzelnen:<br />

a) Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit ist vor allem mit Blick auf die schwere Erkrankung der Zeugin <strong>und</strong> die<br />

nachteiligen Folgen für ihr körperliches Wohl, die mit der Beugehaft verb<strong>und</strong>en wären, nicht gewahrt.<br />

aa) Das Oberlandesgericht ist in seiner Entscheidung vom 15. Dezember 2011 zu Recht zu dem Ergebnis gelangt,<br />

dass die Vollziehung der Beugehaft derzeit für die Zeugin aufgr<strong>und</strong> deren Erkrankung unzumutbar sei. Entgegen<br />

seiner Auffassung <strong>und</strong> derjenigen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts sind die Auswirkungen der verhängten Beugehaft auf<br />

die Ges<strong>und</strong>heit der Zeugin bis hin zu einer Bedrohung ihres Lebens hier allerdings bereits bei der Anordnung <strong>und</strong><br />

nicht erst bei der Vollziehung der Maßnahme zu berücksichtigen.<br />

(1) Dies ergibt sich zunächst bei einer sinngemäßen Übertragung derjenigen Gr<strong>und</strong>sätze auf die Beugehaft, die bei<br />

anderen Haftarten allgemein anerkannt sind. Danach ist die Haftfähigkeit als solche zwar - der Rechtslage bei der<br />

Straf- <strong>und</strong> Untersuchungshaft entsprechend - erst bei der Vollziehung der Beugehaft von Belang (vgl. etwa Meyer-<br />

Goßner, StPO, 54. Aufl., § 112 Rn. 3). Hiervon zu trennen ist jedoch die Frage, ob bereits die Anordnung <strong>und</strong> sodann<br />

gegebenenfalls die Vollziehung der Maßnahme Auswirkungen auf die Ges<strong>und</strong>heit des Betroffenen haben kann.<br />

Im Rahmen der Strafzumessung ist der Ges<strong>und</strong>heitszustand als <strong>Teil</strong> der persönlichen Verhältnisse des Täters nach §<br />

46 Abs. 2 <strong>StGB</strong> in die Abwägung der für <strong>und</strong> gegen diesen sprechenden Umstände einzustellen. So ist etwa die Erwägung<br />

rechtsfehlerhaft, eine Erkrankung falle bei der Strafzumessung durch das Tatgericht nicht ins Gewicht, weil<br />

Nachteile im Strafvollzug ausgeglichen werden können (BGH, Urteil vom 9. November 1989 - 4 StR 542/89, BGHR<br />

<strong>StGB</strong> § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 19). Bei der Untersuchungshaft ist nach - soweit ersichtlich - einhelliger Auffas-<br />

308


sung der Ges<strong>und</strong>heitszustand des Beschuldigten im Rahmen der nach Maßgabe des § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO anzustellenden<br />

Verhältnismäßigkeitsprüfung ebenfalls bereits bei der Anordnung der Haft von Bedeutung (Meyer-Goßner<br />

aaO § 112 Rn. 11; KK-Graf, 6. Aufl., § 112 Rn. 48; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 112 Rn. 57). Hinreichende Gründe<br />

dafür, von diesen Gr<strong>und</strong>sätzen im Falle der Beugehaft abzuweichen, sind nicht ersichtlich.<br />

(2) Dafür, die Auswirkungen der Anordnung <strong>und</strong> gegebenenfalls der Vollziehung von Beugehaft auf den Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

des Zeugen in die Bewertung der Verhältnismäßigkeit einzubeziehen, spricht auch der verfassungsrechtliche<br />

Kontext, in dem die Verhängung der Maßnahme steht. Die Beugehaft greift in den Schutzbereich des Freiheitsgr<strong>und</strong>rechts<br />

des Zeugen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG ein, das unter den gr<strong>und</strong>rechtlich verbürgten<br />

Rechten einen besonders hohen Rang einnimmt (BVerfG, Beschluss vom 9. September 2005 - 2 BvR<br />

431/02, NJW 2006, 40, 41 mwN). Nach diesen Verfassungsnormen ist die persönliche Bewegungsfreiheit besonders<br />

abgesichert. Diese Wertentscheidung garantiert die Einhaltung eines fairen <strong>und</strong> rechtsstaatlichen Verfahrens <strong>und</strong><br />

verpflichtet die zur Entscheidung über eine Freiheitsentziehung berufenen Gerichte, dem Freiheitsgr<strong>und</strong>recht auf<br />

allen Verfahrensstufen angemessen Rechnung zu tragen. Dieser verfassungsrechtliche Maßstab ist auch im Verfahren<br />

gemäß § 70 Abs. 2 StPO zu beachten (BVerfG, Beschluss vom 21. August 2000 - 2 BvR 1372/00, NJW 2000,<br />

3775, 3776 mwN). Dies gilt in noch stärkerem Maße dann, wenn wie im vorliegenden Fall das Gr<strong>und</strong>recht des Zeugen<br />

auf Leben <strong>und</strong> körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem ebenfalls eine besonders hohe Bedeutung<br />

zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. März 2010 - 2 BvR 3012/09, juris Rn. 25), betroffen ist.<br />

bb) Die Zeugin ist derzeit schwer erkrankt. Die von ihr vorgelegte fachärztliche Stellungnahme belegt eindeutig, dass<br />

angesichts ihres derzeitigen Zustands <strong>und</strong> der durchzuführenden Behandlungsmaßnahmen bei einer Verbringung in<br />

eine Justizvollzugsanstalt oder ein Justizkrankenhaus ernsthaft zu befürchten ist, dass sie ihr Leben einbüßen oder<br />

zumindest einen noch weiter gehenden schwerwiegenden Schaden an ihrer Ges<strong>und</strong>heit nehmen wird (vgl. für den<br />

Fall eines Strafgefangenen BVerfG, Beschluss vom 9. März 2010 - 2 BvR 3012/09, juris Rn. 25). Unter diesen Umständen<br />

liegt es auf der Hand, dass auch bereits die Anordnung der Beugehaft mit höchster Wahrscheinlichkeit einen<br />

negativen Einfluss auf das ges<strong>und</strong>heitliche Befinden der Zeugin hat; denn die Zeugin hat eine bis zu sechs Monaten<br />

andauernde Inhaftierung zu gewärtigen, die zwar keine Strafe für Verletzungen der Zeugenpflicht darstellt, wohl<br />

aber vor dem Hintergr<strong>und</strong> ihres auf die Erzwingung normgerechten Verhaltens gerichteten Zwecks eine rechtliche<br />

<strong>und</strong> soziale Missbilligung <strong>und</strong> damit ein Unwerturteil voraussetzt, das geeignet ist, das Ansehen der Zeugin in der<br />

Öffentlichkeit herabzusetzen (BVerfG, Beschluss vom 9. September 2005 - 2 BvR 431/02, NJW 2006, 40, 41).<br />

b) Diesem besonders schwer wiegenden Gesichtspunkt stehen keine hinreichend gewichtigen Umstände gegenüber,<br />

welche die Anordnung der Beugehaft im Ergebnis gleichwohl als verhältnismäßig erscheinen lassen. Insbesondere<br />

vermögen weder die Bedeutung des Strafverfahrens noch diejenige der Aussage - soweit diese überhaupt zuverlässig<br />

beurteilt werden kann - vor dem Hintergr<strong>und</strong> der das Gericht treffenden Aufklärungspflicht mit Blick auf die mit der<br />

Beugehaft für die Zeugin verb<strong>und</strong>enen nachteiligen Folgen die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu begründen.<br />

Der Angeklagten liegt mit der Beteiligung an der Ermordung von drei Menschen eine sehr schwere Straftat zur Last.<br />

Die Ermittlung des wahren Sachverhalts ist das zentrale Anliegen des Strafprozesses. Die Aufklärungspflicht des<br />

Gerichts begründet deshalb für die Prozessbeteiligten einen unverzichtbaren Anspruch darauf, dass die Beweisaufnahme<br />

auf alle Tatsachen <strong>und</strong> alle tauglichen <strong>und</strong> erlaubten Beweismittel erstreckt wird, die für die Entscheidung<br />

von Bedeutung sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 17. Oktober 1983 - GSSt 1/83, BGHSt 32, 115, 122 f.). Sie<br />

kann gr<strong>und</strong>sätzlich auch Aussagen von Zeugen umfassen, die - wie hier - nach dem Ergebnis der Ermittlungen zum<br />

Tathergang selbst keine eigenen Wahrnehmungen zu bek<strong>und</strong>en in der Lage sind, sondern allenfalls als Zeugen vom<br />

Hörensagen qualifiziert werden können, <strong>und</strong> das Tatgericht verpflichten, gegen Zeugen, die ohne gesetzlichen Gr<strong>und</strong><br />

die Aussage verweigern, die in der Strafprozessordnung vorgesehenen Zwangsmittel zu verhängen <strong>und</strong> zu vollstrecken<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 1998 - 2 StR 173/98, NStZ 1999, 46). Der Senat lässt offen, wie groß die Bedeutung<br />

der Beantwortung der vom Oberlandesgericht gestellten Fragen für den Ausgang des Verfahrens sein kann,<br />

insbesondere wie wahrscheinlich es ist, dass die Angeklagte gerade bei dem Zusammentreffen mit der Zeugin etwa<br />

31 Jahre nach der Tat ihr möglicherweise bekannte Einzelheiten bezüglich der Tatbegehung preisgegeben hat. Denn<br />

die gerichtliche Fürsorgepflicht gegenüber der Zeugin (vgl. BGH, Urteil vom 16. Juni 1983 - 2 StR 4/83, NStZ 1984,<br />

31, 32) gebietet es, hier von der Anordnung der Beugehaft abzusehen. Die besondere Bedeutung der Aufgabe des<br />

Strafverfahrens, die wichtigsten Individual- <strong>und</strong> Gemeinschaftsrechtsgüter zu schützen, darf auch in Fällen schwerer<br />

<strong>und</strong> schwerster Kriminalität nicht den Blick darauf verstellen, dass die Strafverfolgung stets mit Eingriffen in die<br />

Rechte der vom Verfahren Betroffenen einhergeht <strong>und</strong> Rechtsgüter der Gemeinschaft beeinträchtigen kann. Auch<br />

deren Schutz ist dem Staat aufgegeben. Der Zweck des Strafverfahrens würde daher verfehlt, wenn es den Strafverfolgungsorganen<br />

zur Aufdeckung <strong>und</strong> Ahndung einer Rechtsgutsverletzung gestattet wäre, unbegrenzt in andere<br />

Individual- oder Gemeinschaftsrechtsgüter einzugreifen. Das Wertesystem der Verfassung, das zu schützen Zweck<br />

309


des Strafverfahrens ist, setzt diesem daher gleichzeitig auch Schranken. Deshalb gilt - auch in Fällen terroristisch<br />

motivierter Tötungsdelikte - der Gr<strong>und</strong>satz, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis - hier: um den Preis der hohen<br />

Gefährdung des Lebens einer schwer erkrankten Zeugin - erforscht werden darf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.<br />

Oktober 1983 - 2 BvR 859/83, NStZ 1984, 82; LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 187).<br />

III. Die dargelegten Gründe hindern auch die Auferlegung der durch die Auskunftsverweigerung verursachten Kosten.<br />

Diese Maßnahme steht hier in untrennbarem Zusammenhang mit der angeordneten Beugehaft. Daher hat der<br />

Senat seine Entscheidung auf die genannte Anordnung erstreckt (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juni 2011 - StB 8<br />

<strong>und</strong> 9/11, NStZ-RR 2011, 316, 318 mwN).<br />

StPO § 140 II RVG § 51 I, II; VV Nrn. 4130, 4132 Verteidigerbestellung Pauschgebühr Revison -<br />

Fall Wörz<br />

BGH, Beschl. v. 25.10.2011 - 1 StR 254/10 - NJW 2012, 167<br />

Die Verteidigerbestellung durch den Vorsitzenden der Strafkammer des Landgerichts gilt bis zum<br />

rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens, einschließlich des Revisionsverfahrens. Ausgenommen<br />

ist allein die Revisionshauptverhandlung <strong>und</strong> deren Vorbereitung.<br />

Dem gerichtlich bestellten Verteidiger, Rechtsanwalt Prof. Dr. N., wird für die Revisionshauptverhandlung anstelle<br />

der gesetzlichen Gebühr eine Pauschvergütung in Höhe von 1.300,00 Euro bewilligt. Der Antrag auf Festsetzung<br />

einer Pauschgebühr anstelle der gesetzlichen Verfahrensgebühr für das Revisionsverfahren durch den B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

wird zurückgewiesen.<br />

Gründe:<br />

Der Angeklagte W. war vom Landgericht Mannheim freigesprochen worden. Dagegen richteten sich die Revisionen<br />

der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der Nebenklägerin. Über diese Revisionen wurde in der Hauptverhandlung vor dem B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

am 15. Dezember 2010 verhandelt. Die Revisionen wurden verworfen. Der Antragsteller begehrt als<br />

Pflichtverteidiger die Festsetzung einer Pauschgebühr für seine Tätigkeit während des Revisionsverfahrens anstelle<br />

der gesetzlich bestimmten Gebühren gemäß Nr. 4130 (Verfahrensgebühr für das Revisionsverfahren) in Höhe von<br />

1.236,00 € <strong>und</strong> Nr. 4132 (Terminsgebühr im Revisionsverfahren) in Höhe von 456,00 €, insgesamt in Höhe von<br />

1.692,00 €. Zur Festsetzung einer Pauschvergütung anstelle der gesetzlich bestimmten Verfahrensgebühr ist der<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshof allerdings nicht befugt (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2007 - 5 StR 461/06, Rn. 5;<br />

BGH, Beschluss vom 8. September 1970 - 5 StR 704/68 -, BGHSt 23, 324). Für die Entscheidung über die Bewilligung<br />

einer Pauschvergütung ist der B<strong>und</strong>esgerichtshof nämlich nur zuständig, soweit er den Rechtsanwalt bestellt<br />

hat (§ 51 Abs. 2 Satz 2 RVG). Die Verteidigerbestellung durch den Vorsitzenden der Strafkammer des Landgerichts<br />

gilt bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens, einschließlich des Revisionsverfahrens. Ausgenommen<br />

ist allein die Revisionshauptverhandlung <strong>und</strong> deren Vorbereitung (vgl. Lüderssen/Jahn in Löwe-Rosenberg, StPO,<br />

26. Aufl., § 140 Rn. 117, § 141 Rn. 28 ff.). Die Bestellung des Antragstellers als Pflichtverteidiger gemäß § 140 Abs.<br />

2 StPO mit Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 24. September 2010 erstreckte sich deshalb ausdrücklich nur auf<br />

die <strong>Teil</strong>nahme an der Hauptverhandlung vor dem B<strong>und</strong>esgerichtshof. Hinsichtlich der Verfahrensgebühr (damit soll<br />

etwa die Fertigung einer Revisionsbegründung abgegolten werden, vgl. Uher in Bischof, RVG, 3. Aufl., S. 1452, Rn.<br />

93a) ist der Antrag auf Festsetzung einer Pauschgebühr deshalb hier zurückzuweisen. Für die Beteiligung an der<br />

Hauptverhandlung <strong>und</strong> deren Vorbereitung ist dem Antragsteller dagegen eine Pauschvergütung durch den B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

zu bewilligen, weil die gesetzlich bestimmte Gebühr in Höhe von 228,00 Euro gemäß Nr. 4132 des Vergütungsverzeichnisses<br />

(für einen Verhandlungstag unter fünf St<strong>und</strong>en Dauer bei einem nicht in Haft befindlichen<br />

Angeklagten) in Anbetracht des besonderen Umfangs <strong>und</strong> der besonderen Schwierigkeit der Sache nicht zumutbar<br />

ist. Bei der hier gegebenen Verfahrenskonstellation lag der maßgebliche Aufwand der Verteidigung in der Vorbereitung<br />

der Hauptverhandlung. Hierauf stellt auch die Antragsbegründung ab. Der Antragsteller hatte sich zur Vorbereitung<br />

seines Plädoyers mit weit überdurchschnittlich umfangreichen Revisionsbegründungen der Staatsanwaltschaft<br />

<strong>und</strong> der Nebenklägerin sowie mit der schriftlichen Stellungnahme des Generalb<strong>und</strong>esanwalts hierzu auseinanderzusetzen.<br />

Der Senat hält die insgesamt beantragte Pauschvergütung in Höhe von 1.692,00 € - mit dem Vertreter der<br />

B<strong>und</strong>eskasse - gr<strong>und</strong>sätzlich für gerechtfertigt. Allerdings wird berücksichtigt, dass dem Pflichtverteidiger die gesetzlich<br />

bestimmte Verfahrensgebühr für das Revisionsverfahren in Höhe von 412,00 € (Nr. 4130 des Vergütungsverzeichnisses)<br />

auf jeden Fall zusteht. Der Senat hat deshalb die pauschale Terminsgebühr auf 1.300,00 € festgesetzt.<br />

310


(Die Mehrwertsteuer wird als <strong>Teil</strong> der Auslagen gesondert erstattet). Über den Antrag auf Festsetzung einer Pauschvergütung<br />

anstelle der gesetzlich bestimmten Gebühr für das Revisionsverfahren wird - sofern der Antragsteller dazu<br />

noch Bedarf sehen sollte - das Oberlandesgericht Karlsruhe (zu dessen Zuständigkeit vgl. § 51 Abs. 2 Satz 1 RVG)<br />

zu befinden haben, bei dem schon der Antrag auf Festsetzung einer Pauschvergütung für die Tatsacheninstanz anhängig<br />

ist.<br />

StPO § 141, § 350 Pflichtverteidigung für Revisionsverfahren<br />

BGH, Beschl. v. 02.02.2012 - 4 StR 541/11 - BeckRS 2012, 04069<br />

Für den Antrag eines Angeklagten, ihm nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils bis zum Abschluss<br />

des Revisionsverfahrens anstelle des bisherigen einen anderen Pflichtverteidiger beizuordnen, ist<br />

der Vorsitzende des Gerichts zuständig, dessen Urteil angefochten worden ist, es sei denn, der Beiordnungsantrag<br />

beträfe die Terminwahrnehmung in der Revisionshauptverhandlung.<br />

Der Antrag des Angeklagten S., ihm Rechtsanwalt F. als weiteren Pflichtverteidiger beizuordnen, wird abgelehnt.<br />

Gründe:<br />

I. Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung unter<br />

Einbeziehung zweier jugendgerichtlicher Verurteilungen zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> neun<br />

Monaten verurteilt <strong>und</strong> Anordnungen gemäß §§ 69, 69a <strong>StGB</strong> getroffen. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte S.<br />

durch den ihm ursprünglich als Pflichtverteidiger beigeordneten Rechtsanwalt Fi. rechtzeitig Revision eingelegt <strong>und</strong><br />

diese gleichzeitig mit der nicht näher ausgeführten Sachrüge <strong>und</strong> der im Einzelnen nicht begründeten Rüge der Verletzung<br />

formellen Rechts begründet. Nach Widerruf der anwaltlichen Zulassung von Rechtsanwalt Fi., die am 14.<br />

Oktober 2011 bestandskräftig wurde, ist Rechtsanwältin R. durch Anordnung des Vorsitzenden der Strafkammer<br />

vom 14. November 2011 dem Angeklagten als neue Pflichtverteidigerin beigeordnet worden. Mit Schriftsatz vom<br />

20. November 2011 hat Rechtsanwalt F. unter Vorlage einer Vollmacht des Angeklagten beantragt, gemäß § 140<br />

Abs. 1 Nr. 1 StPO als Pflichtverteidiger des Angeklagten beigeordnet zu werden <strong>und</strong> für den Fall der Beiordnung die<br />

Niederlegung des Wahlmandates angekündigt. Ferner hat er um Akteneinsicht nachgesucht. Rechtsanwältin R. hat<br />

daraufhin auf Anfrage mitgeteilt, der Angeklagte habe ihr gegenüber in einem Telefonat im Anschluss an ihren Besuch<br />

bei ihm in der Untersuchungshaft mitgeteilt, er wolle „im Weiteren“ von Rechtsanwalt F. vertreten werden. Die<br />

Frist zur Begründung der Revision ist am 6. Oktober 2011 abgelaufen.<br />

II.<br />

1. Für die Entscheidung über den Antrag von Rechtsanwalt F. ist der Vorsitzende des für die Entscheidung über die<br />

Revision des Angeklagten zuständigen Strafsenats des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zuständig. Zwar ist für den Antrag eines<br />

Angeklagten, ihm nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils bis zum Abschluss des Revisionsverfahrens anstelle des<br />

bisherigen einen anderen Pflichtverteidiger beizuordnen, der Vorsitzende des Gerichts zuständig, dessen Urteil angefochten<br />

worden ist (Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 141 Rn. 6), es sei denn, der Beiordnungsantrag beträfe die<br />

Terminwahrnehmung in der Revisionshauptverhandlung (vgl. Kuckein in KK-StPO, 6. Aufl., § 350 Rn. 11). Im<br />

vorliegenden Fall hat Rechtsanwalt F. seinen Beiordnungsantrag nach Kenntnisnahme von der sich auch auf das<br />

Revisionsverfahren erstreckenden wirksamen Bestellung von Rechtsanwältin R. als Pflichtverteidigerin durch das<br />

Landgericht aufrechterhalten. Sein Gesuch ist daher als Antrag auf Beiordnung als weiterer Pflichtverteidiger aufzufassen.<br />

2. Die Voraussetzungen für die Beiordnung von Rechtsanwalt F. als weiteren Pflichtverteidiger im Revisionsverfahren<br />

gegen den Angeklagten liegen nicht vor.<br />

a) Das Rechtsmittel ist vom ursprünglichen Pflichtverteidiger des Angeklagten rechtzeitig mit der allgemeinen, nicht<br />

näher ausgeführten Sachrüge begründet <strong>und</strong> damit in vollem Umfang zur Überprüfung des Senats gestellt worden.<br />

Die Frist zur Begründung der Revision ist seit dem 6. Oktober 2011 abgelaufen; für ein Nachschieben von etwaigen<br />

Verfahrensbeschwerden ist wegen Ablaufs der Begründungsfrist des § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO kein Raum. Es ist<br />

nicht erkennbar, dass bei der Entscheidung über das Rechtsmittel des Angeklagten ungewöhnlich schwierige tatsächliche<br />

oder rechtliche Fragen aufgeworfen werden. Besonderheiten im Ablauf des Revisionsverfahrens, die die Bestellung<br />

eines weiteren Pflichtverteidigers notwendig machen könnten, sind ebenfalls weder vorgetragen noch ersichtlich.<br />

311


) Nur ergänzend wird darauf hingewiesen, dass der ohne nähere Begründung geäußerte Wunsch des Angeklagten,<br />

nunmehr von einem anderen Rechtsanwalt im Revisionsverfahren vertreten zu werden, eine Rücknahme der vom<br />

Vorsitzenden der Strafkammer angeordneten Bestellung von Rechtsanwältin R. nicht rechtfertigt. Im Hinblick auf<br />

den in Haftsachen besonders zu beachtenden Gr<strong>und</strong>satz der Beschleunigung ist dem Verfahren nunmehr durch baldige<br />

Entscheidung über das Rechtsmittel des Angeklagten Fortgang zu geben.<br />

StPO § 153a I; <strong>StGB</strong> § 266a; AEntG; OWi-Verfolgung trotz endgültiger Einstellung<br />

BGH, Beschl. v. 15.03.2012 – 5 StR 288/11- NJW 2012, 2051<br />

LS: Sieht die Staatsanwaltschaft nach der Erfüllung von Auflagen von der Verfolgung eines Vergehens<br />

des Vorenthaltens <strong>und</strong> der Veruntreuung von Beiträgen (§ 266a <strong>StGB</strong>) nach § 153a Abs. 1<br />

StPO endgültig ab, so steht § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO der Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit<br />

nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF (nunmehr § 23 Abs. 1 Nr. 1 AEntG) wegen der Unterschreitung von<br />

Mindestlöhnen (§ 1 Abs. 1 AEntG aF) nicht entgegen.<br />

Sieht die Staatsanwaltschaft nach der Erfüllung von Auflagen von der Verfolgung eines Vergehens des Vorenthaltens<br />

<strong>und</strong> der Veruntreuung von Beiträgen (§ 266a <strong>StGB</strong>) nach § 153a Abs. 1 StPO endgültig ab, so steht § 153a Abs.<br />

1 Satz 5 StPO der Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF (nunmehr § 23 Abs. 1 Nr. 1<br />

AEntG) wegen der Unterschreitung von Mindestlöhnen (§ 1 Abs. 1 AEntG aF) nicht entgegen.<br />

G r ü n d e<br />

I. Dem Vorlegungsverfahren liegt Folgendes zugr<strong>und</strong>e:<br />

1. Die 1973 geborene polnische Staatsangehörige S. war Inhaberin eines an ihrer Familienwohnanschrift ansässigen<br />

Gewerbebetriebes, der sich mit dem Innenausbau als Trocken- <strong>und</strong> Akustikbau, Hausmeisterei als Hausverwaltung,<br />

Holz- <strong>und</strong> Bautenschutz, Garten- <strong>und</strong> Landschaftsbau sowie Erd- <strong>und</strong> Baggerarbeiten befasste. Das operative Geschäft<br />

besorgte ihr deutscher Ehemann. Das Hauptzollamt Braunschweig ermittelte bei den Arbeitnehmern des Unternehmens<br />

eine Unterschreitung des Mindestlohns in Höhe von 5.939,43 €. Hieraus errechnete es nicht abgeführte<br />

Sozialversicherungsbeiträge von 3.110,75 € (Bl. 67 Bd. II). Die Staatsanwaltschaft stellte das wegen des Verdachts<br />

einer Straftat nach § 266a <strong>StGB</strong> geführte Ermittlungsverfahren nach Bezahlung einer Geldauflage von 400 € am 7.<br />

Juli 2009 endgültig ein (Bl. 73, 75, 78 Bd. II). Am 18. Juni 2009 erließ die Bußgeldbehörde wegen je einer vorsätzlichen<br />

Unterlassung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 <strong>und</strong> 6 AEntG aF einen Bußgeldbescheid gegen die Betroffene. Dieser<br />

erfasste folgende Vorwürfe:<br />

Bei vier Arbeitnehmern, für die auch keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt worden sind, sind in der Zeit vom<br />

1. Januar 2005 bis 31. Mai 2007 die Mindestlöhne in Höhe von 4.435,43 € unterschritten worden (§ 5 Abs. 1 Nr. 1<br />

AEntG aF: Geldbuße 15.000 €). Entgegen § 1 Abs. 3 Satz 3 AEntG aF ist es von der Betroffenen unterlassen worden,<br />

die bei ihr tätigen Arbeitnehmer in der Zeit von Oktober 2003 bis März 2007 bei der Zusatzversorgungskasse<br />

des Baugewerbes AG – Einzugsstelle der Sozialkassen der Bauwirtschaft – anzumelden; bei einem Beitragsschaden<br />

von 3.168,44 € ist deren <strong>Teil</strong>nahme am Urlaubskassenverfahren unterblieben (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AEntG aF: Geldbuße<br />

11.000 €). Schließlich hat die Betroffene entgegen § 2 Nr. 2 lit. a AEntG aF nicht für jeden Beschäftigten Aufzeichnungen<br />

über Beginn, Ende <strong>und</strong> Dauer der tatsächlichen Arbeitszeit erstellt <strong>und</strong> gegen die Aufbewahrungspflicht<br />

verstoßen (§ 5 Abs. 1 Nr. 6 AEntG aF: Geldbuße 7.500 €).<br />

2. Auf Einspruch der Betroffenen hat das Amtsgericht Braunschweig mit Urteil vom 14. Februar 2011 gegen die<br />

Betroffene wegen fahrlässigen Verstoßes gegen § 5 Abs. 1 Nr. 6 AEntG aF in fünf Fällen eine Geldbuße von 500 €<br />

festgesetzt. Hinsichtlich der Verstöße gegen § 5 Abs. 1 Nr. 1 <strong>und</strong> 2 AEntG aF hat es das Verfahren hingegen gemäß<br />

§ 46 OWiG, § 206a StPO wegen des sich aus der endgültigen Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 153a<br />

Abs. 1 StPO ergebenden Strafklageverbrauchs eingestellt. Hiergegen richtet sich die auf die Verfahrenseinstellung<br />

beschränkte Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, das amtsgerichtliche<br />

Urteil in diesem Umfang aufzuheben <strong>und</strong> die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen (Bl. 37, 40 Bd. II). Mit<br />

der Rüge der Verletzung materiellen Rechts macht sie geltend, dass die Beweiswürdigung des Amtsgerichts widersprüchlich<br />

<strong>und</strong> unklar sei, soweit es – der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Oldenburg in dessen Beschluss<br />

vom 9. April 2009 (Nds. Rpfl. 2009, 395 f.) folgend – als Gr<strong>und</strong> für die Annahme einer einheitlichen prozessualen<br />

Tat im Sinne des § 264 StPO hinsichtlich der Straftat nach § 266a Abs. 1 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> der Ordnungswidrigkeit nach § 5<br />

Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF auf die durchgängige Unkenntnis der Betroffenen in Bezug auf die Mindestlohnzahlungs-<br />

312


pflicht abgestellt habe. Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig ist der Staatsanwaltschaft beigetreten. Sie vertritt<br />

– Beschlüssen des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 23. Juli 2010 (Ss (B) 50/10) sowie des Landgerichts<br />

Braunschweig vom 11. Januar 2011 (Nds. Rpfl. 2009, 395 f.) folgend – die Auffassung, dass selbst bei Vorliegen<br />

einer persönlichen <strong>und</strong> zeitlichen Koinzidenz zwischen dem Gegenstand der Verfahrenseinstellung nach § 153a<br />

StPO <strong>und</strong> den Verstößen gegen § 5 Abs. 1 Nr. 1 <strong>und</strong> 2 AEntG aF von verschiedenen prozessualen Taten im Sinne<br />

des § 264 Abs. 1 StPO auszugehen sei.<br />

3. Das Oberlandesgericht Braunschweig will dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft entsprechen. Es sieht sich<br />

daran durch Beschlüsse des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 9. April 2009 (aaO) sowie des Thüringer Oberlandesgerichts<br />

vom 27. August 2009 (wistra 2010, 39) gehindert <strong>und</strong> hat die Sache zur Entscheidung folgender Rechtsfrage<br />

dem B<strong>und</strong>esgerichtshof vorgelegt: Führt eine nach § 153a StPO erfolgte endgültige Einstellung eines wegen<br />

Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a <strong>StGB</strong>) geführten Ermittlungsverfahrens zu einem Verfahrenshindernis<br />

wegen Strafklageverbrauchs gegenüber einem wegen Nichtzahlung des Mindestlohns gesondert geführten<br />

Bußgeldverfahren, wenn die Verkürzung der Sozialversicherungsbeiträge allein auf der Unterschreitung des<br />

Mindestlohns beruht?<br />

II. Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 121 Abs. 2 GVG, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG liegen vor.<br />

1. Die Auffassung des Oberlandesgerichts, es komme für seine Entscheidungen auf die vorgelegte Rechtsfrage an, ist<br />

zutreffend.<br />

a) Die Vorlegungsfrage ist nicht deswegen obsolet, weil – wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift vom<br />

9. November 2011 meint – das Verfahren ohne deren Beantwortung mangels Vorliegens einer Arbeitgeberstellung<br />

der Betroffenen im Sinne eines Durchentscheidens auf Freispruch entscheidungsreif ist. Zwar haben weder das<br />

Amtsgericht noch das Oberlandesgericht die für eine Verurteilung erforderliche Arbeitgebereigenschaft der Betroffenen<br />

ausdrücklich erörtert. Das Oberlandesgericht durfte sie aber – wie geschehen – inzident für den weiteren<br />

Verfahrensgang bejahen, weil der Angriff der Rechtsbeschwerde gerade auch die tatsächlichen Feststellungen mit<br />

erfasst, so dass im weiteren Verfahren zumindest zu jedem rechtlich relevanten Aspekt der Arbeitgebereigenschaft<br />

ausreichende Feststellungen zu erwarten sind. Die Annahme, dass die Betroffene wenigstens neben ihrem das operative<br />

Geschäft betreibenden Ehemann ebenfalls Arbeitgeberin gewesen ist, liegt im Übrigen nahe. Sie könnte namentlich<br />

darauf gestützt werden, dass die Betroffene gegenüber Behörden, dem Steuerberater <strong>und</strong> den Arbeitnehmern im<br />

schriftlichen Verkehr als Betriebsinhaberin aufgetreten ist, sie sich hierzu sogar bekannt hat <strong>und</strong> Gründe der Rechtssicherheit<br />

dies erfordern (vgl. zur Eigenschaft eines „Strohmanns“ als Arbeitgeber auch SG Hildesheim, Beschluss<br />

vom 14. Oktober 2010 – S 14 R 383/10; SG Frankfurt a.M., Urteil vom 13. August 1986 – S 1 bis 9, KR 136/86).<br />

Jedenfalls ist die vom Oberlandesgericht in dieser Vorfrage vertretene Rechtsauffassung plausibel. Der Senat hat sie<br />

deshalb im Vorlegungsverfahren zugr<strong>und</strong>ezulegen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. Februar 2004 – 5 ARs (Vollz)<br />

78/03, BGHSt 49, 61, 63 <strong>und</strong> vom 11. Oktober 2005 – 5 ARs (Vollz) 54/05, BGHSt 50, 234, 236). Gleiches gilt für<br />

die weiteren Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF.<br />

b) Der Vorlagebeschluss (wie auch die amtsgerichtliche Entscheidung) leidet allerdings unter dem Mangel, dass<br />

weder die Tatzeiten der im Raum stehenden Verstöße gegen § 266a <strong>StGB</strong> bzw. § 5 Abs. 1 AEntG aF konkret benannt<br />

werden noch mitgeteilt wird, welche tatbestandlichen Varianten des § 266a Abs. 1 bis 3 <strong>StGB</strong> Gegenstand des<br />

staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens waren. Es ist deshalb vorab klarzustellen, dass – was die Generalstaatsanwaltschaft<br />

auch in Zweifel zu ziehen scheint – die Vorenthaltung von Beiträgen gemäß § 266a <strong>StGB</strong>, die vom staatsanwaltschaftlichen<br />

Ermittlungsverfahren erfasst worden sind, nicht zugleich Gegenstand eines Bußgeldverfahrens<br />

wegen Verstößen nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AEntG aF sein können. Insoweit bestünde kein Abweichungsfall (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 11. Oktober 2005 – 5 ARs (Vollz) 54/05, BGHSt 50, 234, 237). Soweit ersichtlich gehen sämtliche<br />

Oberlandesgerichte davon aus, dass § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO wegen der hiermit verb<strong>und</strong>enen Sachentscheidung<br />

die Vorschrift des § 21 Abs. 2 OWiG ausschließt (OLG Nürnberg NJW 1977, 1787, 1788; OLG Frankfurt NJW<br />

1985, 1850; OLG Oldenburg StV 2002, 240; vgl. auch Beulke in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 153a Rn. 27<br />

mwN; Bohnert/Mitsch, KK-OWiG, 3. Aufl., § 21 Rn. 27 mwN; Kindhäuser, JZ 1997, 101, 103).<br />

c) Auf das Verhältnis von § 266a <strong>StGB</strong> zu § 5 Abs. 1 Nr. 2 AEntG aF kommt es hier nicht an. Die Nichtverfolgung<br />

von Ordnungswidrigkeiten nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AEntG aF ist von der Staatsanwaltschaft nämlich nicht angegriffen<br />

worden. Ersichtlich bezieht sich der Vorlagebeschluss dementsprechend nur auf die Ordnungswidrigkeit nach § 5<br />

Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF.<br />

d) Das Ordnungswidrigkeitsverfahren hinsichtlich eines Verstoßes gegen § 5 Abs. 1 Nr. 6 AEntG aF ist durch das<br />

amtsgerichtliche Urteil rechtskräftig abgeschlossen.<br />

III. Der Senat hält die Rechtsauffassung des vorlegenden Oberlandesgerichts (ebenso Saarländisches Oberlandesgericht,<br />

Beschluss vom 23. Juli 2010 – Ss (B) 50/2010) für zutreffend. Zwischen den Taten nach § 266a <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> der<br />

313


Nichtzahlung des – für die Höhe der Beiträge maßgeblichen – Mindestlohns (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF) besteht<br />

weder materiell-rechtliche Tateinheit noch liegt eine Tat im prozessualen Sinn (§ 264 StPO) vor.<br />

1. Ausgangspunkt der Bewertung ist die materiell-rechtliche Betrachtung. Zwar ist der prozessuale Tatbegriff im<br />

Verhältnis zum materiellen Recht selbständig (BGH, Beschluss vom 24. Juli 1987 – 3 StR 86/87, BGHSt 35, 14, 19;<br />

BGH, Urteil vom 16. März 1989 – 4 StR 60/89, BGHSt 36, 151, 154). Jedoch sind materiell-rechtlich selbständige<br />

Taten in der Regel auch prozessual selbständig (BGHSt aaO), falls nicht weitergehende Umstände die Annahme<br />

einer Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO rechtfertigen (BGH, Urteile vom 16. März 1989 – 4 StR 60/89, BGHSt 36,<br />

151, <strong>und</strong> vom 29. September 1987 – 4 StR 376/87, BGHSt 35, 60, 64). Letzteres wird angenommen, wenn die Handlungen<br />

innerlich so verknüpft sind, dass nur ihre gemeinsame Würdigung erlaubt ist, eine getrennte Würdigung sowie<br />

Aburteilung in verschiedenen Verfahren mithin als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs<br />

empf<strong>und</strong>en würden (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 24. November 2004 – 5 StR 206/04, BGHSt 49, 359, 362<br />

mwN).<br />

a) Die Vorwürfe nach § 266a <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> der Mindestlohnunterschreitung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF stehen im<br />

Verhältnis der Tatmehrheit zueinander (§ 53 <strong>StGB</strong>). Dies gilt für sämtliche tatbestandliche Varianten des § 266a<br />

<strong>StGB</strong>. Mit Ausnahme von § 266a Abs. 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> sind in § 266a <strong>StGB</strong> durchgehend echte Unterlassungsdelikte<br />

normiert. Sie knüpfen – wie zum <strong>Teil</strong> auch der Bußgeldtatbestand des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF – häufig an ein<br />

Unterlassen des Arbeitgebers an. Auch für Unterlassungen ist die Frage, ob Tateinheit gegeben ist, an den allgemeinen<br />

Regeln zu messen. Danach ist entscheidend, ob die mehrfachen Gesetzesverletzungen durch eine einheitliche<br />

Unterlassung begangen worden sind. Dabei kann es wie bei positivem Tun auf die bloße Gleichzeitigkeit nicht entscheidend<br />

ankommen. Ob „ein <strong>und</strong> dieselbe Unterlassung“ zu mehreren Gesetzesverletzungen geführt hat, kann<br />

vielmehr nur im Hinblick auf die Handlungspflichten beurteilt werden, die durch die Unterlassung verletzt worden<br />

sind. Sind mehrere Pflichten durch „ein <strong>und</strong> dieselbe Handlung“ zu erfüllen, so wird in ihrer Unterlassung regelmäßig<br />

nur eine Handlung – im weiteren Sinne – gesehen werden können. Sind hingegen mehrere Handlungen erforderlich,<br />

um mehreren – selbst gleichartigen – Pflichten nachzukommen, so sind in ihrer Nichtvornahme in aller Regel<br />

mehrere Unterlassungen zu finden; es ist also Tatmehrheit gegeben (BGH, Beschluss vom 30. Mai 1963 – 1 StR<br />

6/63, BGHSt 18, 376, 379 mwN). So liegt es hier. Auch wenn man, wofür viel spricht, für den Fall der Auszahlung<br />

zu geringen Lohns den sozialen Handlungsschwerpunkt in der Tätigkeit des Auszahlens <strong>und</strong> damit in einem positiven<br />

Tun sieht, ergibt sich nichts anderes. Denn dann liegt die relevante Handlung in einer den gesetzlichen Mindestarbeitsbedingungen<br />

nicht genügenden Leistung an den Arbeitnehmer. Sie fällt gleichfalls nicht mit Tathandlungen<br />

nach § 266a <strong>StGB</strong> zusammen, die in den Fällen der Absätze 1 <strong>und</strong> 2 Pflichten des Arbeitgebers im Verhältnis zur<br />

Einzugsstelle, in den Fällen des Absatzes 3 dessen Obliegenheiten zur Abführung von Lohnbestandteilen zugunsten<br />

Dritter betreffen. Die Betroffene war aufgr<strong>und</strong> der dem öffentlichen Recht zugehörigen Vorschrift des § 28e Abs. 1<br />

SGB IV gegenüber den Einzugsstellen als Schuldnerin originär zur Leistung der Sozialversicherungsbeiträge verpflichtet<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 28. Mai 2002 – 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318, 319). Diese Pflicht besteht unabhängig<br />

von ihrer aus dem Arbeitsverhältnis entsprungenen Lohnzahlungsverpflichtung (vgl. BGH aaO). Die Betroffene<br />

war damit jedem Gläubiger gegenüber zu unabhängig voneinander vorzunehmenden Zahlungen verpflichtet,<br />

die lediglich in ihrer Höhe durch gesetzliche Vorgaben beeinflusst waren (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Mai 1963 –<br />

1 StR 6/63, BGHSt 18, 376, 379 f.). Dies begründet das Vorliegen von Tatmehrheit (vgl. zum in gleicher Weise zu<br />

beurteilenden Verhältnis zwischen Nichtabführen von Lohnsteuer <strong>und</strong> dem Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen<br />

BGH, Beschluss vom 24. Juli 1987 – 3 StR 86/87, BGHSt 35, 14, 17, <strong>und</strong> Urteil vom 13. Mai 1992 – 5 StR<br />

38/92, BGHSt 38, 285, 286; vgl. auch Saarländisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 23. Juli 2010 – Ss (B)<br />

50/10). Sollte – was nach den dem Senat vorliegenden bruchstückhaften Unterlagen allerdings nicht sehr wahrscheinlich<br />

ist – von der Einstellung eine strafbare Handlung nach § 266a Abs. 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> erfasst worden sein, so<br />

läge ebenfalls keine einheitliche Handlung vor. Denn die danach maßgeblichen Falschangaben können nicht mit<br />

einem Pflichtenverstoß im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 AEntG aF zusammentreffen.<br />

b) Der aus der materiell-rechtlichen Realkonkurrenz folgende Begründungsansatz für die Annahme unterschiedlicher<br />

prozessualer Taten wird durch keine weitergehenden Umstände widerlegt (vgl. BGH, Beschluss vom 24. November<br />

2004 – 5 StR 206/04, BGHSt 49, 359, 363). Soweit das Amtsgericht der Betroffenen – indes von der Rechtsbeschwerde<br />

angegriffen – eine Unkenntnis der Pflicht zur Zahlung von Mindestlöhnen als Gr<strong>und</strong>lage für die Nichterfüllung<br />

beider Pflichten zugebilligt hat, rechtfertigt dieses subjektive Element nicht die Annahme einer inneren Verknüpfung<br />

der beiden Unterlassungen. Solches wurde nicht einmal in der subjektiv viel stärker ausgeprägten Fallkonstellation<br />

anerkannt, in der es der Täter im Rahmen eines Gewerbebetriebs von Anfang an auf derartige Verstöße<br />

planmäßig angelegt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 1987 – 3 StR 86/87, BGHSt 35, 14). Das Erfordernis, die<br />

Mindestlohnunterschreitung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF auch bei fahrlässigem Unterlassen als Ordnungswid-<br />

314


igkeit sanktionieren zu können, spricht vielmehr gegen die Annahme einer inneren Verknüpfung. Gerade die getrennte<br />

Würdigung von Straftat <strong>und</strong> Ordnungswidrigkeit in getrennten Verfahren ist im Gesetz angelegt. Auch der<br />

Umstand, dass die auszuzahlenden Löhne <strong>und</strong> die danach abzuführenden Sozialversicherungsbeiträge gleichermaßen<br />

in einem Steuerberatungsbüro – wenn auch mit einem im Verhältnis zur Betroffenen unklar gebliebenen Hinweis auf<br />

die Mindestlohnverpflichtung – errechnet worden sind, führt als bloße gemeinsame Vorbereitungshandlung nicht zur<br />

Annahme prozessualer Tatidentität (vgl. BGHSt 35, 14, 18, 20).<br />

2. Aspekte des sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ergebenden Vertrauensschutzes (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 26. August 2003 – 5 StR 145/03, BGHSt 48, 331, 334) gebieten keine andere Bewertung. Das gemäß<br />

§ 153a Abs. 1 StPO endgültig eingestellte Ermittlungsverfahren hat ausschließlich das Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen<br />

nach § 266a <strong>StGB</strong> zum Gegenstand. Der in der hier maßgeblichen Fallkonstellation nicht gezahlte<br />

Mindestlohn ist zwar zugleich eine Gr<strong>und</strong>lage für die Berechnung dieser Beiträge. Er stellt indes lediglich einen<br />

Anknüpfungspunkt der strafrechtlichen Subsumtion dar, ohne hierdurch seine Selbständigkeit für weitere Subsumtionen<br />

in anderen rechtlichen Zusammenhängen zu verlieren. Die Mindestlohnunterschreitung nimmt deshalb<br />

nicht an einem mit der Einstellungsentscheidung verb<strong>und</strong>enen Vertrauen teil, dass der gewürdigte Sachverhalt einer<br />

weiteren nachteiligen Bewertung in einem anderen Verfahren entzogen sei. Für einen Vertrauenstatbestand ermangelte<br />

es auch tatsächlich jeglicher Gr<strong>und</strong>lage. Wie das Oberlandesgericht zutreffend bemerkt, war der Betroffenen<br />

aufgr<strong>und</strong> Akteneinsicht bekannt, dass das Hauptzollamt zum Straf- <strong>und</strong> zum Ordnungswidrigkeitsverfahren getrennte<br />

Schlussberichte vorgelegt hatte; hierdurch wurde sie von dem eigenständig durchzuführenden Ordnungswidrigkeitsverfahren<br />

wegen Mindestlohnunterschreitung unterrichtet.<br />

StPO § 200, 264 Umgrenzungsfunktion der Anklage bei Bandentaten<br />

BGH, Urt. v. 24.01.2012 - 1 StR 412/11 - NJW 2012, 867<br />

LS: Die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift gebietet auch bei Bandentaten oder "uneigentlichen<br />

Organisationsdelikten" nicht, dass für die Bestimmtheit des Anklagevorwurfs i.S.d. § 200 Abs.<br />

1 Satz 1 StPO mehr an Substanz verlangt wird als materiell-rechtlich für einen Schuldspruch erforderlich<br />

ist.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 24. Januar 2012 für Recht erkannt: Auf die Revisionen<br />

der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 5. April 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an<br />

eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat durch das angefochtene Urteil das Verfahren gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt <strong>und</strong> festgestellt,<br />

dass eine Entscheidung über die Verpflichtung zur Entschädigung der Angeklagten noch nicht veranlasst ist.<br />

Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft zu Ungunsten aller Angeklagten Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung<br />

materiellen Rechts. Die Rechtsmittel, die vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertreten werden, haben in vollem Umfang<br />

Erfolg.<br />

I. Dem Einstellungsurteil des Landgerichts ging folgendes prozessuale Geschehen voraus: Mit Anklageschrift vom 4.<br />

Mai 2010 (eingegangen am 6. Mai 2010) hat die Staatsanwaltschaft den sechs Angeklagten <strong>und</strong> einem weiteren<br />

Beschuldigten ( C.) zur Last gelegt, jeweils in 83 Fällen einen vollendeten gewerbsmäßigen Bandenbetrug <strong>und</strong> jeweils<br />

in 49 Fällen einen versuchten gewerbsmäßigen Bandenbetrug begangen zu haben. Den Angeklagten wird vorgeworfen,<br />

minderwertige Elektrogeräte (insbesondere Stromgeneratoren aus China) nach Anbringen von Typenaufklebern<br />

hochwertiger Hersteller zu einem Vielfachen des wirklichen Wertes an getäuschte K<strong>und</strong>en verkauft oder<br />

einen Verkauf versucht zu haben. In der insgesamt 173 Seiten umfassenden Anklageschrift werden u.a. die Bandenabrede<br />

<strong>und</strong> die Bandenstruktur sowie die Aufgabenbereiche der Angeklagten innerhalb der Bande dargestellt. Die<br />

einzelnen Taten werden nach Tatzeit, Tatort, Verkäufer (soweit bekannt), Geschädigte(r), Kaufpreis, Anzahl der<br />

verkauften Gegenstände <strong>und</strong> Art der Bezahlung aufgelistet. Die jeweiligen Tätigkeiten der Bandenmitglieder werden<br />

im Anklagesatz geschildert. Im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen in der Anklageschrift vom 4. Mai 2010 wird<br />

u.a. näher dargelegt, inwieweit die einzelnen Taten den Angeklagten zuzurechnen sind (vgl. u.a. S. 99 ff.). Das<br />

Landgericht hat am 16. September 2010 im Wesentlichen folgenden Eröffnungsbeschluss erlassen: Gegen den Angeschuldigten<br />

C. wurde die Eröffnung des Hauptverfahrens insgesamt abgelehnt. Hinsichtlich der anderen sechs Ange-<br />

315


klagten wurde das Hauptverfahren in 44 Fällen eröffnet <strong>und</strong> die Anklageschrift zur Hauptverhandlung zugelassen.<br />

Wegen der übrigen Fälle wurde die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Soweit eine Ablehnung erfolgte, wurde<br />

diese im Wesentlichen mit dem Fehlen eines hinreichenden Tatverdachtes begründet. Durch weiteren Beschluss<br />

des Landgerichts vom 5. Oktober 2010 wurden die Verfahren abgetrennt, soweit eine Eröffnung des Hauptverfahrens<br />

abgelehnt worden war. Über die gegen die teilweise Nichteröffnung eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft<br />

(§ 210 Abs. 2 StPO) hat das zuständige Oberlandesgericht noch nicht entschieden. Unter dem 7. Oktober<br />

2010 hat die Staatsanwaltschaft gemäß § 207 Abs. 3 Satz 1 StPO eine dem Beschluss vom 16. September 2010 entsprechende<br />

neue Anklageschrift eingereicht, wobei sie gemäß § 207 Abs. 3 Satz 2 StPO von einer erneuten Darstellung<br />

des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen abgesehen hat. In der Neufassung der Anklageschrift wird den<br />

Angeklagten "nur noch" zur Last gelegt, jeweils in 17 Fällen einen vollendeten gewerbsmäßigen Bandenbetrug <strong>und</strong><br />

jeweils in 27 Fällen einen versuchten Bandenbetrug begangen zu haben. In der nunmehr insgesamt 73 Seiten umfassenden<br />

Anklageschrift werden erneut u.a. die Bandenabrede <strong>und</strong> Bandenstruktur sowie die Arbeitsaufteilung unter<br />

den angeklagten Bandenmitgliedern dargestellt. Die einzelnen Taten werden nach Tatzeit, Tatort, Verkäufer (bis auf<br />

einen Fall namentlich), Geschädigte(r), Kaufpreis, Anzahl der verkauften Gegenstände <strong>und</strong> Art der Bezahlung aufgelistet.<br />

Am 28. Januar 2011 wurden in der am 7. Oktober 2010 begonnenen Hauptverhandlung die Verfahrensbeteiligten<br />

u.a. über Vorverständigungsgespräche unterrichtet <strong>und</strong> es wurde ihnen die Auffassung des Gerichts zum bisherigen<br />

Ergebnis der Beweisaufnahme mitgeteilt. Die Verfahrensbeteiligten wurden auch darauf hingewiesen, "dass die<br />

Kammer weiterhin zu prüfen haben wird, ob die vorgelegte Anklageschrift ihrer Informationsfunktion genügt <strong>und</strong><br />

dass diese Prüfung auch zu einem anderen Ergebnis führen kann als mit der Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgt."<br />

Eine vom Gericht angeregte Verfahrenseinstellung gemäß § 153 Abs. 2 StPO ist an der fehlenden Zustimmung der<br />

Staatsanwaltschaft gescheitert. In dem angefochtenen Urteil vom 5. April 2011 erfolgte eine Einstellung des Verfahrens,<br />

weil die Anklage ihre Funktion nicht erfülle, den Verfahrensgegenstand zu umgrenzen. Welche bestimmten<br />

Taten den Angeklagten vorgeworfen werde, gehe aus dem Anklagesatz nicht hervor, jedenfalls nicht, welchen konkreten<br />

Tatbeitrag welcher Angeklagte zu welcher Tat geleistet haben soll. Die den Angeklagten vorgeworfene Bildung<br />

einer Bande reiche dazu ebenso wenig aus wie die generelle Beschreibung der Funktionen, die die Angeklagten<br />

innerhalb der "Gruppierung" eingenommen haben. Stromgeneratoren der in der Anklageschrift genannten Art seien<br />

auch von anderen Personen vertrieben worden <strong>und</strong> die Straßenverkäufer seien nicht nur für die Angeklagten unterwegs<br />

gewesen. Die Handlungen der einzelnen Angeklagten seien nicht so hinreichend beschrieben, dass die Anklage<br />

ihrer Umgrenzungsfunktion genüge.<br />

II. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft sind begründet. Die Anklage ist wirksam, weil sie die notwendigen Angaben<br />

zur Bestimmung des Prozessgegenstandes enthält <strong>und</strong> damit ihrer Umgrenzungsfunktion genügt. Eine Anklage<br />

ist nur dann unwirksam mit der Folge, dass das Verfahren wegen Fehlens einer Prozessvoraussetzung einzustellen<br />

ist, wenn etwaige Mängel ihre Umgrenzungsfunktion betreffen (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 9. August 2011 - 1 StR<br />

194/11 mwN). Mängel der Informationsfunktion berühren ihre Wirksamkeit dagegen nicht (vgl. u.a. BGH, Urteil<br />

vom 2. März 2011 - 2 StR 524/10 mwN; BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2007 - 4 StR 481/07 mwN); insoweit<br />

können Fehler auch noch in der Hauptverhandlung durch Hinweise entsprechend § 265 StPO geheilt werden (vgl.<br />

u.a. BGH, Urteil vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09 mwN).<br />

1. Die Anklageschrift hat nach § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit <strong>und</strong><br />

Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs dargestellt <strong>und</strong> erkennbar<br />

wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben<br />

Täters unterscheiden lassen (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 11. Januar 1994 - 5 StR 682/93 mwN, BGHSt 40, 44,<br />

45). Dabei muss die Schilderung umso konkreter sein, je größer die allgemeine Möglichkeit ist, dass der Angeklagte<br />

verwechselbare weitere Straftaten gleicher Art verübt hat (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 8. August 1996 - 4 StR<br />

344/96 mwN). Die begangene konkrete Tat muss durch bestimmte Tatumstände so genau bezeichnet werden, dass<br />

keine Unklarheit darüber möglich ist, welche Handlungen dem Angeklagten zur Last gelegt werden (vgl. u.a. BGH,<br />

Urteil vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09). Denn es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht<br />

nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll. Erfüllt die Anklage ihre Umgrenzungsfunktion nicht, ist<br />

sie unwirksam (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 9. August 2011 - 1 StR 194/11 mwN; BGH, Urteil vom 2. März 2011 - 2<br />

StR 524/10; BGH, Urteil vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09; BGH, Beschluss vom 29. November 1994 - 4 StR<br />

648/94 mwN; BGH, Urteil vom 11. Januar 1994 - 5 StR 682/93, BGHSt 40, 44, 45). Ein wesentlicher Mangel der<br />

Anklageschrift, der als Verfahrenshindernis wirken kann, ist daher anzunehmen, wenn die angeklagten Taten anhand<br />

der Anklageschrift nicht genügend konkretisierbar sind, so dass unklar bleibt, auf welchen konkreten Sachverhalt<br />

sich die Anklage bezieht <strong>und</strong> welchen Umfang die Rechtskraft eines daraufhin ergehenden Urteils haben würde (vgl.<br />

u.a. BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2007 - 4 StR 481/07 mwN; BGH, Beschluss vom 14. Februar 2007 - 3 StR<br />

316


459/06 mwN; BGH, Urteil vom 28. April 2006 - 2 StR 174/05; BGH, Beschluss vom 20. Juli 1994 - 2 StR 321/94<br />

mwN). Bei der Prüfung, ob die Anklage die gebotene Umgrenzung leistet, dürfen ggf. die Ausführungen im wesentlichen<br />

Ergebnis der Ermittlungen zur Ergänzung <strong>und</strong> Auslegung des Anklagesatzes herangezogen werden (vgl. u.a.<br />

BGH, Urteil vom 9. August 2011 - 1 StR 194/11 mwN; BGH, Urteil vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09 mwN;<br />

BGH, Urteil vom 28. April 2006 - 2 StR 174/05).<br />

2. Danach liegen hier keine schweren Mängel der Anklageschrift vor, die zur Unwirksamkeit der Anklage <strong>und</strong> damit<br />

zu einem Verfahrenshindernis führen würden. Es bestehen insbesondere keinerlei Zweifel an dem Umfang der<br />

Rechtskraft eines daraufhin ergehenden Urteils. Alle den Angeklagten vorgeworfenen Taten sind nach Tatzeit, Tatort,<br />

Verkäufer, Geschädigte(r), Kaufpreis (oder Kaufpreisangebot), Anzahl der verkauften (oder verbindlich angebotenen)<br />

Gegenstände <strong>und</strong> (bei den vollendeten Taten) Art der Bezahlung hinreichend konkretisiert. Es ist danach klar,<br />

welche Taten den Angeklagten zur Last gelegt werden. Aus der Anklageschrift ergibt sich eindeutig, dass alle Taten<br />

allen Angeklagten als jeweils mittäterschaftlich (§ 25 Abs. 2 <strong>StGB</strong>) begangene Betrugsfälle angelastet werden, wobei<br />

die Anklage die Voraussetzungen einer Bande bejaht. Soweit in dem angefochtenen Urteil ausgeführt wird, dass<br />

eine hinreichende Konkretisierung der einzelnen Handlungen der Angeklagten deshalb fehle, weil nur die jeweilige<br />

Bandentätigkeit dargestellt werde, ist auf Folgendes hinzuweisen: Richtig ist, dass, wenn sich mehrere Täter zu einer<br />

Bande zusammenschließen, dies nicht zur Folge hat, dass jedes von einem der Mitglieder aufgr<strong>und</strong> der Bandenabrede<br />

begangene Betrugsdelikt den anderen Bandenmitgliedern ohne weiteres als gemeinschaftlich begangene Straftat<br />

i.S.d. § 25 Abs. 2 <strong>StGB</strong> zugerechnet werden kann (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 13. Mai 2003 - 3 StR 128/03).<br />

Allein die Bandenmitgliedschaft <strong>und</strong> ein Handeln im Interesse der Bande ohne konkreten Bezug zu einer von anderen<br />

Bandenmitgliedern begangenen Straftat genügt nicht, um eine Strafbarkeit des Bandenmitglieds wegen einer<br />

Bandentat zu begründen. Wegen einer Tat, die "aus der Bande heraus" begangen wird, kann als Täter oder <strong>Teil</strong>nehmer<br />

nur bestraft werden, wenn er an dieser konkreten Tat mitgewirkt hat (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 13. Juni<br />

2007 - 3 StR 162/07 mwN). Diese materiell-rechtliche Frage der Strafbarkeit eines Angeklagten ist von der Problematik<br />

der Umgrenzungsfunktion einer Anklageschrift zu trennen. Kann einem Angeklagten nach Ausschöpfung der<br />

Beweismöglichkeiten die Begehung einer konkreten Tat nicht nachgewiesen werden, ist er freizusprechen, wenn<br />

diese Tat i.S.d. § 264 StPO angeklagt war. Die Verneinung einer Bandenabrede durch den Tatrichter <strong>und</strong> auch die<br />

Nichtannahme eines - hier dann allerdings nahe liegenden - "uneigentlichen Organisationsdeliktes" (vgl. hierzu auch<br />

BGH, Beschluss vom 9. November 2011 - 4 StR 252/11 Rn. 12) mögen dazu führen, dass noch strengere Anforderungen<br />

an die Feststellung der konkreten Tatbeiträge eines jeden Angeklagten an den jeweiligen Taten zu stellen<br />

sind, sie führen aber nicht dazu, dass die vorher zu Recht (im Eröffnungsbeschluss) angenommene Einhaltung der<br />

Umgrenzungsfunktion entfällt. In seinem Hinweis vom 28. Januar 2011 in der Hauptverhandlung ist das Landgericht<br />

selbst (noch) zutreffend davon ausgegangen, dass eine insoweit (behauptete) fehlende Konkretisierung unter dem<br />

Gesichtspunkt der Informationsfunktion der Anklageschrift zu prüfen ist. Letzterer Frage ist hier jedoch nicht näher<br />

nachzugehen, da diesbezügliche etwa bestehende Mängel nicht die Unwirksamkeit der Anklage begründen würden<br />

(vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2007 - 4 StR 481/07 mwN) <strong>und</strong> durch Hinweise entsprechend § 265<br />

StPO in der Hauptverhandlung geheilt werden können (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 9. November 2011 - 1 StR 302/11<br />

Rn. 26; BGH, Urteil vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09 mwN). Entscheidend für den vorliegenden Fall ist, dass<br />

die einzelnen Taten unverwechselbar dargestellt sind <strong>und</strong> sowohl die generelle Tätigkeit der einzelnen Angeklagten<br />

als auch - soweit als möglich - die konkreten Tatbeiträge näher geschildert werden. Durch die Ausführungen im<br />

wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen, inwieweit die einzelnen Taten den Angeklagten zuzurechnen sind, wird<br />

nicht nur der hinreichende Tatverdacht belegt, den die Strafkammer zutreffend insoweit beim Eröffnungsbeschluss<br />

vom 16. September 2010 bejaht hat, sondern auch die Anbindung der Angeklagten an die konkreten Taten. In diesem<br />

Zusammenhang weist der Senat auf Folgendes hin: Bei einer Tatbegehung als Bandenmitglied oder im Rahmen eines<br />

"uneigentlichen Organisationsdeliktes" (vgl. zum Begriff des "Organisationsdeliktes" auch BGH, Beschluss vom 2.<br />

November 2007 - 2 StR 384/07 mwN) - beides kommt im vorliegenden Fall durchaus in Betracht - müssen dem<br />

einzelnen Täter nicht zwingend Ausführungshandlungen vor Ort gegenüber dem Tatopfer vorgeworfen werden; es<br />

genügt, wenn er an dieser konkreten Tat an anderer Stelle mitgewirkt hat. Eine arbeitsteilige Begehungsweise besteht<br />

gerade darin, dass nicht jeder <strong>Teil</strong>nehmer der Tat jede Handlung selbst vornimmt; ausreichend ist vielmehr, dass<br />

jeder aufgr<strong>und</strong> gemeinsamen Entschlusses seine abgesprochene Aufgabe wahrnimmt mit dem übereinstimmenden<br />

Willen, den erhofften Taterfolg zu erreichen. Hierbei hat sich jeder die von ihm gebilligten Tatbeiträge der anderen<br />

an der konkreten Tat zurechnen zu lassen. Die unterschiedlichen Tätigkeiten <strong>und</strong> subjektiven Vorstellungen der<br />

Tatbeteiligten können sowohl dazu führen, dass unter Umständen verschiedene <strong>Teil</strong>nahmeformen (Mittäterschaft,<br />

Beihilfe) vorliegen als auch, dass sich der strafrechtlich relevante Sachverhalt konkurrenzrechtlich für den jeweiligen<br />

<strong>Teil</strong>nehmer anders auswirkt.<br />

317


Die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift kann jedenfalls nicht gebieten, dass für die Bestimmtheit des Anklagevorwurfs<br />

i.S.d. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO mehr an Substanz verlangt wird als materiell-rechtlich für einen Schuldspruch<br />

erforderlich ist.<br />

StPO § 231 Abs. 2; AO § 371 Abs. 1 - Eigenmächtigkeit Entfernen Suizidversuch; Vollständigkeit<br />

Selbstanzeige<br />

BGH, Beschl. v. 25.06.2011 – 1 StR 631/10 - BGHSt 56, 298 = NJW 2011, 3249 3<br />

LS: 1. Eigenmächtigkeit des Entfernens im Sinne von § 231 Abs. 2 StPO kann vorliegen, wenn der<br />

Angeklagte aufgr<strong>und</strong> einer mittelgradigen depressiven Episode einen Suizidversuch unternimmt,<br />

der zu seiner Verhandlungsunfähigkeit führt.<br />

2. Zur Wirksamkeit von Selbstanzeigen mit geringfügigen Abweichungen von dem in § 371 Abs. 1<br />

AO für Selbstanzeigen vorgeschriebenen Inhalt.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 26. März 2010 wird<br />

a) das Verfahren auf den Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts gemäß § 154 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt,<br />

soweit dem Angeklagten im Tatkomplex "Umsatzsteuerhinterziehung" Steuerhinterziehung in 20 Fällen (betreffend<br />

die Umsatzsteuervoranmeldungen für die Monate März, April, Juni, Oktober <strong>und</strong> Dezember 2001, Januar, März, Juni<br />

<strong>und</strong> Juli 2002, Januar bis April, Juli, September <strong>und</strong> Dezember 2003 sowie die Umsatzsteuerjahreserklärungen für<br />

die Jahre 2000 bis 2003) zur Last liegt;<br />

b) das genannte Urteil im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte der Steuerhinterziehung in 32<br />

Fällen schuldig ist.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 52 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von<br />

zwei Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt. Von weiteren Vorwürfen hat es ihn freigesprochen. Weiter hat das Landgericht<br />

festgestellt, dass von der Gesamtfreiheitsstrafe ein Monat als verbüßt gilt. Die Revision des Angeklagten, mit<br />

der er sich gegen seine Verurteilung wendet <strong>und</strong> dabei die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts rügt, führt<br />

zu einer <strong>Teil</strong>einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO. Im Übrigen ist sie unbegründet i.S.v. § 349 Abs. 2<br />

StPO. Näherer Erörterung bedürfen die auf den absoluten Revisionsgr<strong>und</strong> des § 338 Nr. 5 StPO gestützte Verfahrensrüge<br />

(A) <strong>und</strong> der Schuldspruch (B).<br />

A. Die Hauptverhandlung wurde an fünf Tagen in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt. Die Revision macht<br />

deshalb einen Verstoß gegen § 230 Abs. 1, § 231 Abs. 2 StPO geltend. Zwar habe sich der Angeklagte selbst in den<br />

Zustand der Verhandlungsunfähigkeit gebracht, indem er während laufender Hauptverhandlung bei "eingeschränkter<br />

Steuerungsfähigkeit" versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Er habe sich deshalb aber - anders als das Landgericht<br />

annimmt - noch nicht eigenmächtig der weiteren Hauptverhandlung entzogen. Die Verfahrensrüge ist unbegründet.<br />

I. Der Rüge liegt folgendes Prozessgeschehen zu Gr<strong>und</strong>e:<br />

1. Die Hauptverhandlung gegen den ordnungsgemäß geladenen Angeklagten begann am 18. Oktober 2009 mit Verlesung<br />

des Anklagesatzes aus der Anklageschrift <strong>und</strong> aus einer Ergänzungsanklage. Im Anschluss hieran erklärte<br />

einer der Verteidiger, der Angeklagte werde an diesem Tag keine Stellungnahme abgeben. Nach Erteilung des Hinweises<br />

an den Angeklagten, dass es ihm freistehe, sich zur Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, trat<br />

das Landgericht im Einverständnis mit allen Verfahrensbeteiligten in die Beweisaufnahme ein. Es wurden ausschließlich<br />

Urk<strong>und</strong>en verlesen. Am zweiten Hauptverhandlungstag sagte der Angeklagte zu seinen persönlichen<br />

Verhältnissen <strong>und</strong> zur Sache aus <strong>und</strong> beantwortete Fragen des Vorsitzenden. Am dritten Verhandlungstag fuhr das<br />

Gericht mit der Beweisaufnahme fort. Der Angeklagte erklärte, er fühle sich nicht in der Lage, weitere Fragen des<br />

Vorsitzenden zu beantworten, er sei aber in der Lage, die Fragen aufzunehmen. Der Vorsitzende stellte seine Fragen<br />

3 Anm. Trüg NJW 2011, 3256; Eisenberg NStZ 2012, 63, Arnoldi NStZ 2012, 108, Geuenich BB 2011, 3109; Bürger<br />

BB 2012, 34, Rolletschke NZWiSt 2012, 120, Jope NZWiSt 2012, 59<br />

318


<strong>und</strong> gab dem Angeklagten anheim, diese am nächsten Verhandlungstag, der für den 11. November 2009 angesetzt<br />

war, zu beantworten.<br />

2. Zu dem danach erfolgten Suizidversuch des Angeklagten hat das Landgericht - im Urteil - folgende Feststellungen<br />

getroffen: "In der Nacht vom 10.11.2009 auf den 11.11.2009, mithin während laufender Hauptverhandlung, lag beim<br />

Angeklagten W. eine mittelgradige depressive Episode vor, hervorgehend aus einer zuvor bestehenden leichteren<br />

depressiven Verstimmung bei äußerer Belastungssituation. Am 11.11.2009 stand nämlich für den Angeklagten eine<br />

Reihe von belastenden Aussagen der Zeugen … bevor. … Nur wenige St<strong>und</strong>en vor Beginn des Fortsetzungstermins<br />

der Hauptverhandlung, zu einer Zeit, als er mit seinem Auffinden rechnen konnte, fügte sich der Angeklagte W.<br />

Verletzungen an den Armbeugen zu, die zu einem hohen Blutverlust führten. Der Angeklagte W. war bei Vornahme<br />

der Selbstverletzungen in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt; gänzlich ausgeschlossen war sie aber<br />

nicht. Der Angeklagte W. wollte durch sein Handeln der Hauptverhandlung entgehen <strong>und</strong> nahm hierbei billigend<br />

seinen Tod in Kauf. Gleichzeitig hoffte er aber noch - wie dann auch geschehen - rechtzeitig von seiner Ehefrau …<br />

aufgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> gerettet zu werden."<br />

3. Infolge des Selbstmordversuchs war der Angeklagte für einen für das Landgericht nicht vorhersehbaren Zeitraum<br />

nicht mehr verhandlungsfähig. Deshalb beauftragte das Landgericht am 12. November 2009 Dr. S. , einen Arzt für<br />

Neurologie <strong>und</strong> Psychiatrie, mit einem Sachverständigengutachten, in dem geklärt werden sollte, ab wann <strong>und</strong> in<br />

welchem Umfang der Angeklagte wieder verhandlungsfähig sein werde. Der Gutachter sollte sich "auch zu der Frage<br />

äußern, ob der Angeklagte seinen Selbstmordversuch schuldhaft unternommen hat, d.h. nicht im Zustand fehlender<br />

Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 20 <strong>StGB</strong>". Das Landgericht stellte in Aussicht, im Falle fortdauernder<br />

Verhandlungsunfähigkeit die Hauptverhandlung auszusetzen <strong>und</strong> zu einem späteren Zeitpunkt von vorne<br />

beginnen zu lassen. Die Exploration durch den Sachverständigen fand am 21. November 2009 statt. Nachdem der<br />

Sachverständige im Hauptverhandlungstermin vom 26. November 2009 sein Gutachten mündlich erstattet hatte (das<br />

schriftliche Gutachten ging am 7. Dezember 2009 bei der Strafkammer ein) <strong>und</strong> zudem ärztliche Atteste verlesen<br />

worden waren, verkündete das Landgericht nach Beratung den Beschluss, dass die Hauptverhandlung gemäß § 231<br />

Abs. 2 StPO in Abwesenheit des Angeklagten fortgesetzt <strong>und</strong> gegebenenfalls zu Ende geführt werden solle. In diesem<br />

Beschluss vom 26. November 2009 führt das Landgericht u.a. aus: "Das Fernbleiben des Angeklagten W. war<br />

eigenmächtig. Der Angeklagte W. ist seiner Anwesenheitspflicht wissentlich durch die von ihm nur wenige St<strong>und</strong>en<br />

vor dem Verhandlungstermin vom 11.11.2009 begangene Selbstverletzung nicht nachgekommen. Diese Verletzungshandlung<br />

diente nach Überzeugung der Kammer dazu, dem Gang der Urteilsfindung durch Missachtung seiner<br />

Anwesenheitspflicht durch das Herbeiführen eines andauernden Zustandes der Verhandlungsunfähigkeit vorsätzlich<br />

entgegenzutreten.<br />

Dies ergibt sich aus den folgenden Umständen: Gegen Ende des 3. Verhandlungstages am Freitag, den 06.11.2009,<br />

konfrontierte die Kammer den Angeklagten mit einer Reihe aus ihrer damaligen Sicht bestehender unauflösbarer<br />

Widersprüche zwischen der vom Angeklagten in der Hauptverhandlung abgegebenen Einlassung <strong>und</strong> dem schriftsätzlichen<br />

Vortrag seiner Verteidiger im Ermittlungs- <strong>und</strong> Besteuerungsverfahren, dessen Richtigkeit er teilweise sogar<br />

eidesstattlich versichert hat. Bereits zuvor traten an diesem Verhandlungstag im Rahmen der Vernehmung des Zeugen<br />

T. ersichtlich nicht nur für die Kammer überraschend unterschiedliche Versionen von Gesellschaftsverträgen<br />

zutage, die die Kammer dazu veranlassten, den Angeklagten nach dem Zustandekommen <strong>und</strong> der Verwendung der<br />

unterschiedlichen Versionen zu befragen. Diese Fragen <strong>und</strong> Hinweise auf Widersprüche blieben unbeantwortet. Die<br />

Kammer hat dabei auch zu verstehen gegeben, dass sie bei vorläufiger Würdigung der Sachlage der Einlassung des<br />

Angeklagten wohl nicht würde folgen können. Mit diesen Widersprüchen konfrontiert endete der 3. Verhandlungstag.<br />

Für den 4. Verhandlungstag am Mittwoch, den 11.11.2009, waren Zeugen vorgesehen, die nach Aktenlage wie<br />

z.B. die Zeugin H. über intime Details über das Verhältnis des Angeklagten W. zu Margit C. würden berichten können<br />

<strong>und</strong> hieraus folgernd das mögliche Motiv für die nicht versteuerten Zahlungen von Margit C. an den Angeklagten<br />

beleuchtende Angaben machen würden. Diese Angaben wären für den Angeklagten W. deswegen besonders<br />

unangenehm, weil der Prozess intensiv durch die Medien verfolgt wird <strong>und</strong> entsprechende Angaben aufgr<strong>und</strong> der<br />

Berichterstattung der Medien große Verbreitung finden würden. Unter Würdigung dieser Prozesslage zieht der Sachverständige<br />

Dr. S. den naheliegenden Schluss, dass der Angeklagte W. aus seiner Sicht keine befriedigenden Antworten<br />

auf die durch die Kammer aufgezeigten Widersprüche finden konnte <strong>und</strong> der kommende Prozessverlauf für<br />

ihn äußerst peinlich zu werden schien. Um sich diesen Widersprüchen <strong>und</strong> der Peinlichkeit der weiteren Hauptverhandlung<br />

zu entziehen, hat der Angeklagte W. sich dann selbst körperlich beschädigt. Der Begriff der Selbstbeschädigung<br />

rührt dabei vom Sachverständigen (her), der in Zweifel zieht, ob es sich überhaupt um einen ernsthaften<br />

Selbstmordversuch gehandelt hat. Wegen der Unaufklärbarkeit dieser Frage geht die Kammer davon aus, dass die<br />

Selbstbeschädigung mit bedingtem Selbsttötungsvorsatz erfolgte – zu einem Zeitpunkt <strong>und</strong> an einem Ort, wo der<br />

319


Angeklagte auf ein rechtzeitiges Auffinden hoffen konnte. Ein weiteres Indiz dafür, dass der Angeklagte W. sich der<br />

weiteren Hauptverhandlung durch die Selbstbeschädigung entziehen wollte, ergibt sich aus dem Zeitpunkt der Tat:<br />

Der Angeklagte W. hat die Selbstverletzung gegen 6.30 Uhr nur wenige St<strong>und</strong>en vor der Fortsetzung der Hauptverhandlung<br />

um 9.00 Uhr unternommen. Dieser enge zeitliche Zusammenhang mit der Fortsetzung der Hauptverhandlung<br />

spricht nach Überzeugung der Kammer ebenfalls dafür, dass der Angeklagte W. hierdurch die unmittelbar bevorstehenden<br />

<strong>und</strong> für ihn aller Voraussicht nach höchst peinlichen Zeugenaussagen in öffentlicher Verhandlung<br />

verhindern wollte. Der Angeklagte W. hat sich seine Verletzungen nicht im Zustand fehlender Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit<br />

im Sinne des § 20 <strong>StGB</strong> zugefügt. Aus dem stets nachvollziehbaren <strong>und</strong> überzeugenden Gutachten<br />

des vom Gericht beauftragten, forensisch sehr erfahrenen Sachverständigen Dr. S. , dem sich die Kammer anschließt,<br />

ergibt sich, dass die eigene körperliche Beschädigung des Angeklagten W. Ausdruck eines wachen <strong>und</strong> abwägenden,<br />

bilanzierenden Verstandes war <strong>und</strong> nicht im Zustand des Ausschlusses seiner Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit<br />

begangen wurde. Zu diesem Ergebnis kommt der Sachverständige für die Kammer nachvollziehbar aufgr<strong>und</strong> des mit<br />

dem Angeklagten W. am 21.11.2009 geführten Gesprächs sowie der ihm geschilderten prozessualen Situation, die –<br />

wie oben bereits ausgeführt – beim Angeklagten W. Gefühle wie Scham, Ehre <strong>und</strong> Gesichtsverlust ausgelöst haben.<br />

Diese Gefühle führen jedoch nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen nicht dazu, dass sie die<br />

Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit aufheben. Seinem vom Angeklagten W. im Rahmen des mit ihm geführten Gespräches<br />

gewonnenen Eindrucks sei der Angeklagte merklich davon entfernt, in einem schuldausschließenden Zustand<br />

gehandelt zu haben. … Aufgr<strong>und</strong> der vorgenannten Umstände gelangt die Kammer daher zu dem Ergebnis,<br />

dass der Angeklagte W. versuchte, sich dem weiteren Gang der Hauptverhandlung durch Herbeiführen einer Verhandlungsunfähigkeit<br />

vorsätzlich zu entziehen, ohne dass seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit aufgehoben<br />

gewesen wäre." In diesem Beschluss, die Hauptverhandlung ohne den Angeklagten fortzusetzen, wies das Landgericht<br />

darauf hin, dass der Angeklagte uneingeschränkt Gelegenheit gehabt habe, zum Anklagevorwurf Stellung zu<br />

nehmen, <strong>und</strong> von diesem Recht auch Gebrauch gemacht habe. Es hielt deswegen dessen weitere Anwesenheit nicht<br />

für erforderlich. Das Landgericht kündigte allerdings an, sich an diesem <strong>und</strong> am folgenden Hauptverhandlungstag<br />

auf ein minimales Beweisprogramm zu beschränken, um die Mitwirkungsrechte des Angeklagten soweit wie möglich<br />

zu achten. Den Aussetzungsantrag eines Verteidigers lehnte das Landgericht ab.<br />

4. In der Folge verhandelte das Landgericht an fünf Hauptverhandlungstagen ohne den Angeklagten; ab dem 11.<br />

Hauptverhandlungstag (22. Dezember 2009) war der Angeklagte wieder anwesend. Der Vorsitzende unterrichtete<br />

ihn in entsprechender Anwendung des § 231a Abs. 2 StPO über den wesentlichen Inhalt dessen, was Gegenstand der<br />

Verhandlung während seiner Abwesenheit gewesen ist. Am 12. Januar 2010 lehnte der Angeklagte den Sachverständigen<br />

Dr. S. wegen Besorgnis der Befangenheit ab <strong>und</strong> beantrage die Einholung eines weiteren fachpsychiatrischen<br />

Gutachtens "insbesondere zu der Frage, ob anlässlich des Suizidversuchs am 11. November 2009 ein freier Willensentschluss<br />

von Herrn W. vorlag." Am 22. Januar beschloss das Landgericht, den Psychiater Dr. J. mit einem Sachverständigengutachten<br />

zu beauftragen, wobei dieser sich auch zur Frage der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten<br />

vom Beginn der Hauptverhandlung am 28.10.2009 bis zum Fortsetzungstermin am 6.11.2009 äußern sollte.<br />

5. In seinem am 15. Februar 2010 erstellten schriftlichen Gutachten, das - soweit es um den Zustand des Angeklagten<br />

ging - im Wesentlichen auf dessen eigenen Angaben beruhte, führte der Sachverständige Dr. J. u.a. aus: Eine "depressive<br />

Episode" trat "in der Nacht zum 11.11.2009 ein, nachdem Herr W. von seinem Verteidiger über unangenehme<br />

Aussichten im Strafverfahren hingewiesen wurde <strong>und</strong> er danach noch ein längeres Gespräch unbekannten<br />

Inhalts mit seiner Ehefrau führte. Die depressive Verstimmung nahm nun ein so großes Ausmaß an, dass Herr W. in<br />

einen Zustand geriet, der von Herrn Dr. M. [dem behandelnden Arzt] treffend als ‚präsuizidales Syndrom‘ beschrieben<br />

wurde, gekennzeichnet durch das Gefühl der Hoffnungs- <strong>und</strong> Aussichtslosigkeit, der Isolierung von den Mitmenschen<br />

<strong>und</strong> dem immer verführerischen Drang, diese als unerträglich empf<strong>und</strong>ene Situation durch den Freitod zu<br />

entfliehen. … Herr W. war im Zeitraum der ersten Verhandlungstage angeschlagen, er litt an einer Anpassungsstörung<br />

mit depressiver <strong>und</strong> vielleicht auch ängstlicher Symptomatik, aber er war nicht verhandlungsunfähig. Zum<br />

Zeitpunkt seines Suizidversuchs befand sich Herr W. allerdings in einem akuten depressiven <strong>und</strong> präsuizidalen Verstimmungszustand,<br />

der sich aus der leichteren depressiven Verstimmung am Abend durch das Gespräch mit dem<br />

Anwalt <strong>und</strong> danach mit seiner Frau verstärkt hatte <strong>und</strong> nun innerhalb von St<strong>und</strong>en sein Denken <strong>und</strong> Handeln zunehmend<br />

im Sinne eines Tunnelblicks lenkte. Hierbei ließ er sich zum <strong>Teil</strong> von noch vernünftig scheinenden Erwägungen<br />

leiten, zum Beispiel davon, vielleicht durch seinen Tod seiner Familie zusätzliches Unbill ersparen zu können.<br />

Dass er mit einem Freitod seiner Frau ein noch viel größeres Leid zufügen würde, vermochte er allerdings nicht mehr<br />

zu erkennen. Das impliziert, dass er in seiner Hemmungsfähigkeit (Steuerungsfähigkeit) zum Zeitpunkt des Suizids<br />

erheblich beeinträchtigt war." Dr. J. verneinte die Annahme von Dr. S. , es habe ein "rein demonstrativer Suizidversuch"<br />

vorgelegen <strong>und</strong> kam zu dem Ergebnis: "Die Wahrheit dürfte, wie so oft, in der Mitte liegen: Herr W. war we-<br />

320


der im Tatzeitraum so ‚larviert depressiv‘, in der Ausgestaltung einer typischen ‚Männer-Depression‘ …, noch war<br />

er bei seinem Suizidversuch so ‚ges<strong>und</strong>‘, wie dies Herr Dr. S. schlussfolgerte. Ein schuldfähigkeitsrelevantes Krankheitsbild<br />

lag erst in der Nacht zum 11.11.2009 vor, in Form einer mittelgradigen depressiven Episode mit Suizidversuch,<br />

hervorgehend aus einer zuvor leichteren depressiven Verstimmung bei äußerer Belastungssituation (Strafprozess<br />

<strong>und</strong> Medienkampagne)." Seinen Bef<strong>und</strong> zur Frage der Schuldhaftigkeit des Herbeiführens von Verhandlungsunfähigkeit<br />

fasste Dr. J. so zusammen: "Der in diesem Zustand begangene Suizidversuch war nach Überzeugung des<br />

Unterzeichnenden nicht demonstrativ im Sinne eines reinen Zweckverhaltens, sondern Ausdruck <strong>und</strong> Symptom<br />

dieses depressiv-suizidalen Verstimmungszustandes im Sinne einer akuten krankhaften seelischen Störung (entsprechend<br />

dem ersten Eingangsmerkmal der § 20, 21 <strong>StGB</strong>). Hinsichtlich der Schuldhaftigkeit des Herbeiführens von<br />

Verhandlungsfähigkeit [gemeint wohl Unfähigkeit] am Folgetag ist von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit<br />

bei erhaltener Einsicht auszugehen (gemäß § 21 <strong>StGB</strong>). Es lag keine wahnhafte depressive Psychose vor <strong>und</strong><br />

bei dem Suizidversuch, der sich über zwei St<strong>und</strong>en hinzog, handelte es sich nicht um einen melancholischen Raptus,<br />

so dass weder von Einsichtsunfähigkeit noch von aufgehobener Steuerungsfähigkeit zum Zeitpunkt des Suizidversuchs<br />

auszugehen ist."<br />

6. Auch den Sachverständigen Dr. J. lehnte der Angeklagte wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das Landgericht<br />

wies diesen Befangenheitsantrag mit Beschluss vom 18. März 2010 zurück. Zugleich teilte der Vorsitzende mit, dass<br />

die Strafkammer "auf die gutachtlichen Ausführungen des Sachverständigen Dr. S. nichts stützt". Nachdem der Verteidiger<br />

an dem Ablehnungsantrag gegen Dr. S. festhielt, beschloss das Landgericht: "Der gegen den Sachverständigen<br />

Dr. S. gerichtete Ablehnungsantrag wird als unzulässig zurückgewiesen, weil die Sachverständigentätigkeit des<br />

Dr. S. bei der weiteren Entscheidungsfindung keine Rolle spielt <strong>und</strong> damit der Befangenheitsantrag gegenstandslos<br />

ist."<br />

II. Bei dieser Sachlage ist ein absoluter Revisionsgr<strong>und</strong> i.S.d. § 338 Nr. 5 StPO nicht gegeben. Das Landgericht durfte<br />

deshalb an den fraglichen fünf Hauptverhandlungstagen ohne den Angeklagten verhandeln.<br />

1. Allerdings findet gegen einen ausgebliebenen Angeklagten eine Hauptverhandlung gr<strong>und</strong>sätzlich nicht statt (§ 230<br />

Abs. 1 StPO); ein erschienener Angeklagter darf sich aus der Hauptverhandlung auch nicht wieder entfernen (§ 231<br />

Abs. 1 Satz 1 StPO). Diese gesetzlichen Vorgaben dienen der Gewährleistung des Anspruchs des Angeklagten auf<br />

rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in jeder Phase der Hauptverhandlung. Zur Sicherung der Funktionsfähigkeit<br />

der Rechtspflege <strong>und</strong> zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs ist der Angeklagte im Gegenzug zur <strong>Teil</strong>nahme<br />

an der Hauptverhandlung gr<strong>und</strong>sätzlich verpflichtet <strong>und</strong> kann dazu auch gezwungen werden (§ 230 Abs. 2, § 231<br />

Abs. 1 Satz 2, § 112 StPO). Ein Angeklagter, der sich der Hauptverhandlung entzieht, hat zwar im Gr<strong>und</strong>e seinen<br />

Anspruch auf Gehör verwirkt (zur Verwirkung vgl. Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Gr<strong>und</strong>gesetz, Art. 103 Abs. 1<br />

Rn. 18, 83 [Stand: 48. Lfg. 2006 bzw. 27. Lfg. 1988]). Wegen der besonderen Bedeutung des Rechts auf rechtliches<br />

Gehör als Voraussetzung für ein faires rechtsstaatliches Verfahren erlaubt die Strafprozessordnung die Durchführung<br />

einer Hauptverhandlung gleichwohl nur unter den Voraussetzungen des § 231 Abs. 2 StPO <strong>und</strong> des - hier nicht einschlägigen<br />

- § 231a StPO sowie nach Entfernung eines Angeklagten aus der Hauptverhandlung wegen Ungebühr<br />

nach § 177 GVG (BGH, Beschluss vom 7. November 2007 – 1 StR 275/07, NStZ-RR 2008, 285). Im Falle des § 231<br />

Abs. 2 StPO muss der Angeklagte dabei über den bloßen Wortlaut dieser Vorschrift hinaus seine Pflicht zum Verbleiben<br />

oder Wiedererscheinen eigenmächtig verletzt haben, denn bei genügender Entschuldigung kann sein Erscheinen<br />

auch sonst nicht erzwungen werden (vgl. § 230 Abs. 2 StPO; BGH aaO).<br />

2. Eigenmächtigkeit liegt nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vor, wenn der Angeklagte wissentlich<br />

<strong>und</strong> ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgr<strong>und</strong> der weiteren Hauptverhandlung fernbleibt (BGH, Urteil vom<br />

30. November 1990 - 2 StR 44/90, BGHSt 37, 249). Dem Ausbleiben i.S.v. § 231 Abs. 2 StPO steht es gleich, wenn<br />

sich der Angeklagte nach der Vernehmung zur Sache - vorher gilt § 231a StPO - eigenmächtig in einen seine Verhandlungsfähigkeit<br />

ausschließenden Zustand versetzt hat (BGH, Urteil vom 19. Februar 2002 - 1 StR 546/01, NStZ<br />

2002, 533, 535 mwN; BGH, Urteil vom 26. Juli 1961 - 2 StR 575/60, BGHSt 16, 178, 183). Für die Annahme eines<br />

eigenmächtigen Ausbleibens ist nicht die Feststellung erforderlich, dass der Angeklagte versucht habe, im Sinne<br />

einer Boykottabsicht den "Gang der Rechtspflege" zu stören oder ihm "entgegenzutreten" (vgl. BGH, Urteil vom 30.<br />

November 1990 - 2 StR 44/90, BGHSt 37, 249, 254 f. mwN). Gegenteiliges lässt sich auch älterer Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs nicht entnehmen (vgl. BGH aaO mN).<br />

3. Der Gesetzgeber hat die zu § 231 Abs. 2 StPO ergangene Rechtsprechung aufgegriffen, als er mit dem Gesetz zur<br />

Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRErgG) vom 20. Dezember 1974 die<br />

Vorschrift des § 231a in die Strafprozessordnung einfügte (BGBl. I S. 3686, 3688). Nach dieser Vorschrift kann die<br />

Hauptverhandlung, auch wenn der Angeklagte noch nicht über die Anklage vernommen worden war, in Abwesenheit<br />

des Angeklagten durchgeführt werden, wenn er sich vorsätzlich <strong>und</strong> schuldhaft in einen seine Verhandlungsfähigkeit<br />

321


ausschließenden Zustand versetzt hat. Der Rechtsausschuss des Deutschen B<strong>und</strong>estages führte in seinem Bericht<br />

(BT-Drucks. 7/2989) aus, diese Vorschrift lehne sich an den von der Rechtsprechung <strong>und</strong> Wissenschaft herausgearbeiteten<br />

Gehalt des § 231 Abs. 2 StPO an. Ohne den Angeklagten dürfe nur verhandelt werden, wenn er seine Verhandlungsunfähigkeit<br />

selbst herbeigeführt hat <strong>und</strong> ihm dies zuzurechnen ist. Den seine Verhandlungsunfähigkeit<br />

ergebenden Zustand müsse er dabei vorsätzlich bewirkt haben <strong>und</strong> zwar ("wissentlich") in Kenntnis des Umstandes,<br />

dass hierdurch die ordnungsgemäße Durchführung der Hauptverhandlung verhindert wird. Allerdings brauche das<br />

nicht das Ziel des Angeklagten zu sein. Es genüge, wenn er dies als notwendige Folge seines Verhaltens erkennt <strong>und</strong><br />

damit will. Ferner müsse der Angeklagte schuldhaft handeln; wer schuldunfähig sei, wenn er die entscheidende Ursache<br />

für die Verhandlungsunfähigkeit setze, falle nicht unter diese Vorschrift.<br />

4. Eigenmächtigkeit kann danach gr<strong>und</strong>sätzlich auch dann gegeben sein, wenn der Angeklagte - wie hier - während<br />

laufender Hauptverhandlung einen Suizidversuch unternimmt (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juli 1961 - 2 StR 575/60,<br />

BGHSt 16, 178; vom 19. Februar 2002 - 1 StR 546/01, NStZ 2002, 533).<br />

Für den von der Rechtsprechung herausgearbeiteten <strong>und</strong> vom Gesetzgeber übernommenen Begriff der Eigenmächtigkeit<br />

sind bei einem Suizidversuch während laufender Hauptverhandlung folgende Kriterien maßgebend:<br />

a) Der Angeklagte muss seine Verhandlungsunfähigkeit selbst herbeigeführt haben <strong>und</strong> dies muss ihm zuzurechnen<br />

sein. Dabei muss er vorsätzlich handeln <strong>und</strong> in Kenntnis des Umstandes, dass hierdurch die ordnungsmäßige Durchführung<br />

der Hauptverhandlung verhindert wird. Die Verhinderung der Hauptverhandlung muss allerdings nicht das<br />

Ziel des Angeklagten sein. Es genügt, wenn er dies als notwendige Folge seines Verhaltens erkennt <strong>und</strong> damit will;<br />

eine Boykottabsicht ist demnach nicht erforderlich.<br />

b) Zu diesen Kriterien muss hinzukommen, dass der Angeklagte "schuldhaft" handelt. Das in § 231a Abs. 1 Satz 1<br />

StPO genannte Merkmal "schuldhaft" gilt nach dem Vorstehenden in gleicher Weise für das Verständnis des ungeschriebenen<br />

Merkmals "Eigenmächtigkeit" in § 231 StPO. Den Begriff "schuldhaft" verwendet die Strafprozessordnung<br />

auch in § 464c StPO (Säumnis des Angeschuldigten <strong>und</strong> Dolmetscherauslagen). Vergleichbare Merkmale finden<br />

sich etwa in § 230 StPO (Vorführung oder Haftbefehl, wenn der ausgebliebene Angeklagte "nicht genügend<br />

entschuldigt" ist) <strong>und</strong> in § 51 Abs. 2 StPO (Ausbleiben des Zeugen); vgl. auch § 44 StPO. Auch wenn es bei den<br />

Vorschriften der §§ 51, 230 <strong>und</strong> § 464c StPO um Fälle der Säumnis geht, ist der Senat doch der Ansicht, dass das<br />

dortige Begriffsverständnis von "schuldhaft" jedenfalls auf Fälle der vorliegenden Art nicht übertragbar ist.<br />

c) Für Fälle der vorliegenden Art erscheint dem Senat eine Konturierung des Merkmals "schuldhaft" anhand der<br />

Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 <strong>StGB</strong> besser geeignet (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 231a Rn. 8). Freilich<br />

spricht die amtliche Überschrift der §§ 20, 21 <strong>StGB</strong> von "Schuldunfähigkeit" bzw. "Schuldfähigkeit". Das sind materiell-rechtliche<br />

Begriffe, die mit dem in der Strafprozessordnung verwendeten verfahrensrechtlichen Merkmal<br />

"schuldhaft" nicht deckungsgleich sind (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juli 1961 - 2 StR 575/60, BGHSt 16, 178, 183).<br />

Hinzu kommt, dass es dort um die Schuldfähigkeit "bei Begehung der Tat" - also der Straftat - <strong>und</strong> die Fähigkeit<br />

geht, das Unrecht der Straftat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Soweit es um die eingeschränkte<br />

Steuerungsfähigkeit i.S.d. § 21 <strong>StGB</strong> geht, ist darüber hinaus von Bedeutung, dass diese Fähigkeit "erheblich" vermindert<br />

sein muss. Dafür gilt nach ständiger Rechtsprechung (vgl. nur BGH, Urteil vom 17. März 2009 - 1 StR<br />

627/08, BGHSt 53, 221, 223): Bei der Frage, ob eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit "erheblich" i.S.d. § 21<br />

<strong>StGB</strong> ist, handelt es sich um eine Rechtsfrage, die das Tatgericht ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen<br />

zu beantworten hat. Dabei fließen normative Erwägungen ein. Die rechtliche Erheblichkeit der Verminderung<br />

des Hemmungsvermögens hängt auch von den Ansprüchen ab, die die Rechtsordnung an das Verhalten des Einzelnen<br />

stellt. Dies zu beurteilen, ist allein Sache des Gerichts. Lediglich zur Beurteilung der Vorfrage nach den medizinisch-psychiatrischen<br />

Anknüpfungstatsachen bedarf es sachverständiger Hilfe, wenn es hierüber nicht aufgr<strong>und</strong><br />

eigener Sachk<strong>und</strong>e befinden kann. Dies verdeutlicht, dass in Fällen der vorliegenden Art für die Auslegung der "Eigenmächtigkeit"<br />

i.S.v. "schuldhaft" nur begrenzt auf das Verständnis von Schuldfähigkeit i.S.v. §§ 20, 21 <strong>StGB</strong><br />

zurückgegriffen werden kann, namentlich dann, wenn keine volle "Schuldunfähigkeit" gegeben ist. Nach Ansicht des<br />

Senats gilt daher: Nicht "schuldhaft" bzw. nicht eigenmächtig kann ein Suizidversuch vor allem dann sein, wenn der<br />

ihn auslösende Zustand von dem ersten Eingangsmerkmal des § 20 <strong>StGB</strong> (krankhafte seelische Störung) bestimmt<br />

wurde. Beruht der Suizidversuch entscheidend auf einer "Schuldunfähigkeit" im Sinne des ersten Eingangsmerkmals,<br />

dann wird eine Eigenmächtigkeit regelmäßig zu verneinen sein. Das zweite <strong>und</strong> dritte Eingangsmerkmal dürfte<br />

insoweit kaum praktisch relevant sein. Soweit das vierte Eingangsmerkmal (schwere andere seelische Abartigkeit)<br />

Ursache des Suizidversuchs sein sollte, kommt es auf den Schweregrad an. Dieser muss, um überhaupt relevant zu<br />

sein, dem Schweregrad der anderen Eingangsmerkmale entsprechen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR<br />

346/03, BGHSt 49, 45; vom 5. April 2006 - 2 StR 41/06, NStZ-RR 2006, 235). Dies gilt auch für eine Depression,<br />

sofern sie dieses Eingangsmerkmal erfüllt (vgl. BGH, Urteil vom 9. Januar 2008 - 5 StR 387/07). Liegen diese Vo-<br />

322


aussetzungen nicht vor, handelt ein Angeklagter im Hinblick auf die Aufhebung seiner Verhandlungsfähigkeit selbst<br />

dann "schuldhaft" bzw. eigenmächtig, wenn er einen ernsthaften Suizidversuch unternimmt. Der Senat ist der Ansicht,<br />

dass das Kriterium der "Ernsthaftigkeit" (vgl. dazu Becker in LR-StPO, 26. Aufl., § 231 Rn. 18 mwN) bei der<br />

hier vorliegenden Fallgestaltung für die hier maßgebliche Fragestellung - eigenmächtig im Sinne von "schuldhaft" -<br />

nicht relevant sein kann. Denn auch bei einem "ernsthaften" Suizidversuch kann, <strong>und</strong> wird sogar zumeist, der -<br />

schuldfähige - Angeklagte die notwendigen Auswirkungen seines Verhaltens auf den weiteren Fortgang des Strafverfahrens<br />

erkennen. Freilich ist es richtig, dass bei der - hier nicht vorliegenden - Fallgestaltung eines bloß inszenierten<br />

<strong>und</strong> deshalb nicht ernsthaft gemeinten Suizidversuchs eines "schuldfähigen" Angeklagten die Eigenmächtigkeit zu<br />

bejahen wäre. Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, dass allein die Ernsthaftigkeit eines Suizidversuchs die<br />

Bewertung der hierdurch herbeigeführten Verhandlungsunfähigkeit als eigenmächtig ausschließen würde.<br />

5. Unter Zugr<strong>und</strong>elegung dieser Kriterien hat der Senat das Verfahrensgeschehen freibeweislich geprüft.<br />

a) Dabei war zu bedenken, dass die hier entscheidenden Fragen, wie der psychische Zustand des Angeklagten war<br />

<strong>und</strong> welche Motive für den Suizidversuch handlungsleitend waren, innere Tatsachen betreffen, die letztlich nur aufgr<strong>und</strong><br />

äußerer Umstände erschlossen werden können. Gr<strong>und</strong>lage der Prüfung des Senats sind zum einen das Gutachten<br />

des Sachverständigen Dr. J. <strong>und</strong> zum andern die - auch - auf dieses Gutachten aufbauenden Feststellungen <strong>und</strong><br />

Bewertungen des Landgerichts. Dabei hat der Senat bedacht, dass das Landgericht eine breitere Entscheidungsgr<strong>und</strong>lage<br />

hatte als der Sachverständige. Dieser stützte sich - entsprechend seinem Auftrag - schwerpunktmäßig auf die<br />

eigenen Angaben des Angeklagten im Rahmen der Exploration. Demgegenüber hat das Landgericht - zusätzlich zum<br />

Bef<strong>und</strong> des Sachverständigen - auch das mit dem Suizidversuch einhergehende Prozessgeschehen <strong>und</strong> weitere Umstände<br />

in seine Bewertung einbezogen. Hinzu kommt - <strong>und</strong> auch das ist hier von Bedeutung -, dass die Frage, ob der<br />

Angeklagte eigenmächtig i.S.v. schuldhaft gehandelt hat, eine Rechtsfrage ist, die nicht der Sachverständige, sondern<br />

allein der Richter zu entscheiden hat.<br />

b) Der Senat geht von folgendem Sachverhalt aus: Soweit es den psychischen Zustand des Angeklagten betrifft, liegt<br />

dem zugr<strong>und</strong>e, dass der Suizidversuch zwar in einem Zustand erfolgte, der einer akuten krankhaften seelischen Störung<br />

i.S.d. des ersten Eingangsmerkmals der §§ 20, 21 <strong>StGB</strong> entsprach. Allerdings war diese Störung nicht wahnhaft<br />

<strong>und</strong> es lag auch kein melancholischer Raptus vor. Das Störungsbild war vielmehr eine "mittelgradige depressive<br />

Episode". Die "Einsichtsfähigkeit" des Angeklagten war voll erhalten; er war lediglich in seiner Hemmungsfähigkeit<br />

beeinträchtigt. Soweit Dr. J. hierbei im Zusammenhang mit der "Steuerungsfähigkeit" den insoweit unzutreffenden<br />

Rechtsbegriff "erheblich" verwendet hat, versteht der Senat dies dahin, dass der Angeklagte, wie der Sachverständige<br />

ausführte, "sein Denken <strong>und</strong> Handeln im Sinne eines Tunnelblicks lenkte." Bei den äußeren Umständen, die Rückschlüsse<br />

auf Zustand <strong>und</strong> Motive des Angeklagten ermöglichen, ist zunächst die Prozesssituation vor dem vierten<br />

Verhandlungstag von Bedeutung. Der Angeklagte war am vorausgehenden Verhandlungstag mit Widersprüchen zu<br />

seiner Einlassung konfrontiert worden. Für den vierten Verhandlungstag standen belastende Zeugenaussagen bevor,<br />

die für den Angeklagten besonders unangenehm <strong>und</strong> zudem öffentlichkeits-wirksam waren. Hinzu kommen der enge<br />

zeitliche Zusammenhang des Suizidversuchs mit dem Fortsetzungstermin <strong>und</strong> das Auffinden durch die Ehefrau. Ob<br />

auch dem Umstand, dass der Angeklagte keinen Abschiedsbrief verfasst hatte, Bedeutung zukommen könnte,<br />

braucht der Senat nicht zu entscheiden. Bei der Bewertung des Zustands des Angeklagten gerade mit Blick auf die<br />

genannten äußeren Umstände kommt der Bewertung des Landgerichts besonderes Gewicht zu. Dieses hatte nicht nur<br />

einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten <strong>und</strong> seinem Prozessverhalten; es konnte auch am ehesten die prozessuale<br />

Drucksituation des Angeklagten einschätzen.<br />

c) Von daher ist für den Senat der Schluss des Landgerichts nicht nur nachvollziehbar, sondern überzeugend, dass<br />

handlungsleitendes Motiv des Angeklagten war, der Hauptverhandlung zu entgehen, wenn er auch hierbei seinen<br />

Tod billigend in Kauf genommen hat. Diese Würdigung trägt die rechtliche Bewertung als Eigenmächtigkeit. Aber<br />

selbst wenn - wovon der Senat mit dem Landgericht allerdings nicht ausgeht - die erkannte Verhinderung des Fortgangs<br />

der Hauptverhandlung lediglich die in Kauf genommene Folge des Suizidversuchs gewesen wäre, würde dies<br />

nach den oben dargestellten rechtlichen Maßstäben ein eigenmächtiges Handeln des Angeklagten belegen.<br />

B.<br />

I. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung des Angeklagten wegen Hinterziehung von<br />

Schenkungsteuer in 32 Fällen.<br />

1. Indem es der Angeklagte entgegen § 30 Abs. 1 ErbStG pflichtwidrig unterließ, die im Zeitraum von Dezember<br />

1999 bis Dezember 2003 erhaltenen Schenkungen dem zuständigen Finanzamt anzuzeigen <strong>und</strong> dieses in Folge des<br />

Unterlassens keine Steuererklärungen nach § 31 Abs. 1 Satz 1 ErbStG anforderte, bewirkte er, dass die geschuldete<br />

Schenkungsteuer nicht festgesetzt <strong>und</strong> dadurch verkürzt wurde (§ 370 Abs. 4 AO).<br />

323


2. Die Schenkungssteuerhinterziehungen sind nicht verjährt. Durch die Bekanntgabe der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens<br />

mit Schreiben vom 13. Januar 2005 (UA S. 74) wurde die Verfolgungsverjährung rechtzeitig unterbrochen.<br />

a) Der Lauf der Verjährungsfrist begann jeweils mit der Beendigung der Unterlassungstaten (§ 78a Satz 1 <strong>StGB</strong>). Da<br />

es sich bei der Schenkungsteuer um eine Veranlagungssteuer handelt, ist die Hinterziehung zu dem Zeitpunkt beendet,<br />

zu dem die Veranlagung spätestens stattgef<strong>und</strong>en hätte, wenn der Angeklagte seiner Anzeigepflicht gemäß § 30<br />

Abs. 1 ErbStG rechtzeitig nachgekommen wäre (vgl. Jäger in Klein, Abgabenordnung, 10. Aufl., § 370 Rn. 201). Da<br />

- anders als bei anderen Veranlagungssteuern - für die Schenkungsteuer mangels kontinuierlichem abschnittsbezogenem<br />

Veranlagungsverfahren kein allgemeiner Veranlagungsschluss festgestellt werden kann, ist für den Verjährungsbeginn<br />

maßgeblich, wann die Veranlagung der Schenkungsteuer dem Steuerpflichtigen bei rechtzeitiger Anzeige<br />

der Schenkung frühestens bekanntgegeben worden wäre (vgl. Rolletschke in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

Steuerstrafrecht, 1. Aufl. 2011, § 376 AO Rn. 48, § 370 AO Rn. 487 mwN; Wulf in MüKo-<strong>StGB</strong> § 376 AO Rn. 36).<br />

Die Bearbeitungsdauer bei den Finanzbehörden ist bei dieser fiktiven Steuerfestsetzung mit einem Monat anzusetzen,<br />

denn das Finanzamt könnte gemäß § 31 Abs. 1 <strong>und</strong> Abs. 7 ErbStG die Abgabe einer Steuererklärung binnen<br />

eines Monats verlangen, in welcher der Steuerpflichtige die Steuer selbst zu berechnen hat.<br />

b) Nach diesen Gr<strong>und</strong>sätzen bestimmen sich hier die Beendigungszeitpunkte für die Hinterziehung von Schenkungsteuer<br />

durch Unterlassen wie folgt: Der Angeklagte hatte die Schenkungen jeweils binnen einer Frist von drei Monaten<br />

nach Kenntnis von der jeweiligen Schenkung beim zuständigen Finanzamt schriftlich anzuzeigen (§ 30 Abs. 1<br />

ErbStG). Wäre er dieser Pflicht fristgerecht nachgekommen, hätte ihn das Finanzamt auffordern können, binnen<br />

einer Frist von einem Monat eine Steuererklärung mit von ihm selbst berechneter Schenkungsteuer abzugeben (§ 31<br />

Abs. 1 <strong>und</strong> 7 ErbStG). Damit hätte die Veranlagung <strong>und</strong> deren Bekanntgabe vier Monate nach der jeweiligen Schenkung<br />

erfolgen können, so dass zu diesem Zeitpunkt die jeweilige Unterlassungstat beendet war. Auf die früheste<br />

Möglichkeit, die Schenkung anzuzeigen, ist hingegen nicht abzustellen, denn die Verjährung kann nicht beginnen,<br />

bevor die Tat begangen wurde. Dies war hier erst mit Ablauf der Anzeigefrist gemäß § 30 Abs. 1 ErbStG der Fall.<br />

c) Bei einer Verjährungsfrist von fünf Jahren ist hier somit auch die erste verfahrensgegenständliche Schenkungssteuerhinterziehung<br />

nicht verjährt: Die ihr zugr<strong>und</strong>eliegende Schenkung erfolgte am 15. Dezember 1999, damit lief<br />

die diesbezügliche Anzeigefrist am 15. März 2000 ab. Die Unterlassungstat war somit (frühestens) am 15. April<br />

2000 beendet. Mit Bekanntgabe der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens am 13. Januar 2005 wurde die Verjährungsfrist<br />

vor Ablauf der regulären Verjährungsfrist unterbrochen. Die Verurteilung des Angeklagten durch das<br />

Landgericht am 26. März 2010 fand vor Eintritt der absoluten Verjährung (§ 78b Abs. 3, Abs. 4 <strong>StGB</strong>) statt.<br />

II. Im Tatkomplex "Umsatzsteuerhinterziehung" erfolgt eine <strong>Teil</strong>einstellung des Verfahrens. Dem Angeklagten liegt<br />

u.a. zur Last, in 20 Fällen durch Unterlassen i.S.v. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO Umsatzsteuer hinterzogen zu haben. Die<br />

Tatvorwürfe, wegen derer das Landgericht den Angeklagten auch verurteilt hat, beziehen sich nach Beschränkung<br />

gemäß § 154a StPO auf die Nichtabgabe bzw. nicht rechtzeitige Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen für die<br />

Monate März, April, Juni, Oktober <strong>und</strong> Dezember 2001; Januar, März, Juni <strong>und</strong> Juli 2002; Januar bis April sowie<br />

Juli, September <strong>und</strong> Dezember 2003 sowie der Umsatzsteuerjahreserklärungen für die Veranlagungszeiträume 2000<br />

bis 2003. Der Senat stellt das Verfahren auf Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts gemäß § 154 Abs. 2 StPO insoweit<br />

ein <strong>und</strong> ändert den Schuldspruch des angefochtenen Urteils entsprechend. Die <strong>Teil</strong>einstellung erfolgt aus verfahrensökonomischen<br />

Gründen, weil die Urteilsfeststellungen insoweit die Verurteilung des Angeklagten wegen Umsatzsteuerhinterziehung<br />

nicht tragen. Sie lassen keine abschließende Beurteilung zu, ob die von dem Angeklagten im<br />

Jahr 2005 für die Veranlagungszeiträume 2000 bis 2003 verspätet abgegebenen Umsatzsteuerjahreserklärungen als<br />

Selbstanzeigen gemäß § 371 AO insoweit zur Straffreiheit des Angeklagten geführt haben. Zwar waren die verspätet<br />

abgegebenen Umsatzsteuerjahreserklärungen unvollständig, so dass sie lediglich "<strong>Teil</strong>selbstanzeigen" enthielten. Die<br />

Urteilsgründe nennen jedoch allein die nach den Selbstanzeigen verbliebenen Unrichtigkeiten, so dass der Senat -<br />

ohne weitergehende Feststellungen - nicht prüfen kann, ob die Abweichungen gegenüber dem für eine Selbstanzeige<br />

notwendigen Inhalt lediglich geringfügig waren. Im Einzelnen beruht die <strong>Teil</strong>einstellung auf folgenden Erwägungen:<br />

1. Selbstanzeigen i.S.v. § 371 Abs. 1 AO müssen nicht als solche bezeichnet werden. Für ihre Vollständigkeit ist<br />

allein von Bedeutung, ob sie den nach § 371 AO erforderlichen Inhalt haben. Wird - wie hier - eine Umsatzsteuerjahreserklärung<br />

verspätet abgegeben, kann sie deshalb Selbstanzeige für die Unterlassungstat sein, die mit der nicht<br />

rechtzeitigen Einreichung der Jahreserklärung begangen wurde.<br />

2. Nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs kann eine Umsatzsteuerjahreserklärung - selbst wenn sie verspätet<br />

abgegeben wird - auch eine strafbefreiende Selbstanzeige für unrichtige oder pflichtwidrig nicht abgegebene<br />

Umsatzsteuervoranmeldungen sein (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 1998 - 5 StR 392/98, wistra 1999, 27).<br />

324


3. Welche Anforderungen an die Vollständigkeit einer Selbstanzeige zu stellen sind, hängt im Hinblick auf die Änderung<br />

des § 371 AO durch das "Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche <strong>und</strong> Steuerhinterziehung"<br />

(Schwarzgeldbekämpfungsgesetz) vom 28. April 2011 (BGBl. I S. 676) sowohl vom Tatzeitpunkt als auch vom<br />

Zeitpunkt der Abgabe der Selbstanzeige ab.<br />

a) Gemäß § 2 Abs. 1 <strong>StGB</strong> bestimmen sich die Strafe <strong>und</strong> ihre Nebenfolgen gr<strong>und</strong>sätzlich nach dem Gesetz, das zur<br />

Zeit der Tat galt. Wird allerdings das Gesetz, das bei der Beendigung der Tat galt, vor der Entscheidung geändert, so<br />

ist gemäß § 2 Abs. 3 <strong>StGB</strong> das mildeste Gesetz anzuwenden. Diese Vorschrift ist auch noch im Revisionsverfahren<br />

anzuwenden.<br />

b) Hier ist das zur Tatzeit geltende Gesetz für den Angeklagten das mildere Gesetz. Zwar sind nach der Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs <strong>Teil</strong>selbstanzeigen - auch wenn sie als solche zunächst nicht erkennbar sind - schon<br />

bisher keine wirksamen Selbstanzeigen i.S.d. § 371 AO, weil es bei solchen Selbstanzeigen an der erforderlichen<br />

(vollständigen) Rückkehr zur Steuerehrlichkeit fehlt (BGH, Beschluss vom 20. Mai 2010 - 1 StR 577/09, BGHSt 55,<br />

180). Allerdings hat der Gesetzgeber mit dem durch das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz neu geschaffenen Art. 97 §<br />

24 EGAO (BGBl. I 2011, S. 676, 677) bestimmt, dass bei Selbstanzeigen nach § 371 AO, die bis zum 28. April 2011<br />

bei der zuständigen Finanzbehörde eingegangen sind, § 371 AO in der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung<br />

mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass im Umfang der gegenüber der zuständigen Finanzbehörde berichtigten, ergänzten<br />

oder nachgeholten Angaben Straffreiheit eintritt. Im Hinblick auf diese rückwirkend in Kraft gesetzte <strong>und</strong><br />

damit materiell wie eine <strong>Teil</strong>amnestie wirkende Regelung ist das zur Tatzeit geltende Recht für den Angeklagten<br />

milder.<br />

c) Auch nach der Vorschrift des Art. 97 § 24 EGAO bleibt allerdings der Täter einer Steuerhinterziehung in dem<br />

Umfang strafbar, in dem eine Berichtigung oder Nacherklärung nicht erfolgt ist. Denn die - in solchen Fällen wirksame<br />

- <strong>Teil</strong>selbstanzeige vermindert lediglich den Schuldumfang der Tat. Demgegenüber führt nach der Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs eine Selbstanzeige auch dann zur vollständigen Strafaufhebung, wenn die Abweichungen<br />

in der Berichtigung oder Nacherklärung vom geforderten Inhalt der Selbstanzeige nur geringfügig sind<br />

(BGH, Beschluss vom 13. Oktober 1998 - 5 StR 392/98, wistra 1999, 27). Enthält die Selbstanzeige neue, erhebliche<br />

Unrichtigkeiten, ist sie keine Berichtigung <strong>und</strong> kann daher nicht zur Straffreiheit führen (BGH, Urteil vom 14. Dezember<br />

1976 - 1 StR 196/76, BB 1978, 698).<br />

aa) Diese Rechtsprechung gilt fort <strong>und</strong> ist auch in den Gesetzesmaterialien zum Schwarzgeldbekämpfungsgesetz<br />

aufgegriffen worden. Dabei wurde zum Erfordernis der Berichtigung oder Nachholung "in vollem Umfang" in der<br />

Neufassung des § 371 Abs. 1 AO darauf hingewiesen, dass Bagatellabweichungen weiterhin nicht zur Unwirksamkeit<br />

der strafbefreienden Selbstanzeige als solcher führen sollen. Vielmehr müssten wie bisher im praktischen Vollzug<br />

Unschärfen hingenommen werden (BT-Drucks. 17/5067 [neu] S. 19).<br />

bb) Welcher Maßstab für die Rechtsfrage gilt, ob Differenzen der Angaben in einer Selbstanzeige gegenüber wahrheitsgemäßen<br />

Angaben nur "geringfügig" sind, so dass die Selbstanzeige als solche wirksam bleibt, ist umstritten.<br />

Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat hierzu bisher keine Gr<strong>und</strong>sätze aufgestellt (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 1998 -<br />

5 StR 392/98, wistra 1999, 27; BGH, Urteil vom 14. Dezember 1976 - 1 StR 196/76, BB 1978, 698). In der Literatur<br />

wird überwiegend auf ein Urteil des OLG Frankfurt (Urteil vom 18. Oktober 1961 - 1 Ss 854/61, NJW 1962, 974)<br />

verwiesen, bei dem im entschiedenen Fall eine Abweichung von sechs Prozent als unschädlich angesehen wurde<br />

(vgl. auch OLG Köln, Urteil vom 28. August 1979 - 1 Ss 574-575/79 sowie die weiteren Nachweise bei Joecks in<br />

Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl., § 371 AO Rn. 215). Anknüpfend hieran werden zum <strong>Teil</strong> Abweichungen<br />

von bis zu zehn Prozent noch für "geringfügig" gehalten (vgl. Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, 43. EL<br />

November 2010, § 371 AO Rn. 68).<br />

cc) Der Senat ist der Ansicht, dass nach der neuen Gesetzesfassung des § 371 Abs. 1 AO, die für die Wirksamkeit<br />

einer Selbstanzeige eine Berichtigung bzw. Nacherklärung "in vollem Umfang" verlangt, jedenfalls eine Abweichung<br />

mit einer Auswirkung von mehr als fünf Prozent vom Verkürzungsbetrag i.S.d. § 370 Abs. 4 AO nicht mehr<br />

geringfügig ist. Wurden damit z.B. im Rahmen einer Steuerhinterziehung Steuern im Umfang von 100.000 Euro<br />

verkürzt, so wären die Abweichungen in einer sich auf diese Tat beziehenden Selbstanzeige jedenfalls dann nicht<br />

mehr geringfügig, wenn durch die Selbstanzeige lediglich eine vorsätzliche Verkürzung von weniger als 95.000 Euro<br />

aufgedeckt würde. Allerdings führt nicht jede Abweichung unterhalb dieser (relativen) Grenze stets zur Annahme<br />

einer unschädlichen "geringfügigen Differenz". Vielmehr ist - in diesen Fällen - eine Bewertung vorzunehmen, ob<br />

die inhaltlichen Abweichungen vom gesetzlich vorausgesetzten Inhalt einer vollständigen Selbstanzeige noch als<br />

"geringfügig" einzustufen sind. Diese wertende Betrachtung kann auf der Gr<strong>und</strong>lage einer Gesamtwürdigung der<br />

Umstände bei Abgabe der Selbstanzeige auch unterhalb der Abweichungsgrenze von fünf Prozent die Versagung der<br />

Strafbefreiung rechtfertigen. Bei dieser Bewertung spielen neben der relativen Größe der Abweichungen im Hinblick<br />

325


auf den Verkürzungsumfang insbesondere auch die Umstände eine Rolle, die zu den Abweichungen geführt haben.<br />

Namentlich ist in die Würdigung mit einzubeziehen, ob es sich um bewusste Abweichungen handelt oder ob - etwa<br />

bei einer Schätzung der Besteuerungsgr<strong>und</strong>lagen - in der Selbstanzeige trotz der vorhandenen Abweichungen noch<br />

die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit gesehen werden kann, denn gerade diese soll durch die Strafaufhebung gemäß §<br />

371 AO honoriert werden (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2010 - 1 StR 577/09, BGHSt 55, 180, 181, Rn. 7<br />

mwN; vgl. auch BT-Drucks. 17/4182 S. 4, BR-Drucks. 851/10 S. 4). Bewusst vorgenommene Abweichungen dürften<br />

schon deshalb, weil sie nicht vom Willen zur vollständigen Rückkehr zur Steuerehrlichkeit getragen sind, in der<br />

Regel nicht als "geringfügig" anzusehen sein (vgl. Rolletschke in Graf/Jäger/Wittig aaO § 371 AO Rn. 44).<br />

dd) Der Senat ist der Auffassung, dass diese Maßstäbe auch für die Frage der Wirksamkeit von Selbstanzeigen gelten,<br />

die vor Inkrafttreten des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes abgegeben worden sind, denn auch nach der bisherigen<br />

Rechtslage setzte die (vollständige) Straffreiheit eine Rückkehr zur Steuerehrlichkeit voraus (BGH aaO). Die<br />

vom Gesetzgeber mit Art. 97 § 24 EGAO rückwirkend normierte Wirksamkeit von <strong>Teil</strong>selbstanzeigen ändert daran<br />

nichts, weil sie gerade nur zu einer teilweisen Straffreiheit führen soll.<br />

4. Ausgehend von diesen Gr<strong>und</strong>sätzen kann der Senat aufgr<strong>und</strong> der Urteilsfeststellungen nicht abschließend prüfen,<br />

ob im Tatkomplex "Umsatzsteuerhinterziehung" nach der verspäteten Abgabe von Umsatzsteuerjahreserklärungen<br />

noch eine Strafbarkeit des Angeklagten verblieben ist oder ob in vollem Umfang strafbefreiende Selbstanzeigen<br />

vorlagen.<br />

a) Dies gilt zunächst für die Strafbarkeit des Angeklagten wegen unterlassener rechtzeitiger Einreichung der Umsatzsteuerjahreserklärungen<br />

für die Jahre 2000 bis 2003. Denn das Landgericht hat in den Urteilsgründen zu diesen Taten<br />

jeweils lediglich den nach den Selbstanzeigen verbliebenen Tatumfang, d.h. die nicht von den Selbstanzeigen erfassten<br />

Umsätze <strong>und</strong> die sich hieraus ergebende Steuerverkürzung, geschildert. Die Taten im Übrigen <strong>und</strong> die durch<br />

diese insgesamt bewirkten Steuerverkürzungen hat das Landgericht demgegenüber nicht wiedergegeben. Im Hinblick<br />

auf die vom Landgericht gemäß § 154a StPO vorgenommene Beschränkung des Verfahrens erschließt sich der<br />

Gesamtumfang der Taten auch nicht aus den die nicht abgegebenen Umsatzsteuervoranmeldungen betreffenden<br />

Taten. Die vom Landgericht gewählte Darstellung hindert den Senat an der Prüfung, ob die verspätet eingereichten<br />

Umsatzsteuerjahreserklärungen als Selbstanzeigen zu einer vollständigen Strafbefreiung bezüglich der nicht rechtzeitigen<br />

Abgabe der Jahreserklärungen geführt haben. Da das Landgericht den Gesamtumfang der im Rahmen der einzelnen<br />

Taten verschwiegenen Umsätze nicht angegeben hat, kann der Senat bereits nicht prüfen, ob die in den<br />

Selbstanzeigen enthaltenen Abweichungen gegenüber dem für eine vollständige Selbstanzeige erforderlichen Inhalt<br />

einen Umfang hatten, bei dem eine Wertung als lediglich unerhebliche geringfügige Abweichung in Betracht kam.<br />

Im Übrigen enthalten die Urteilsgründe auch keine ausreichenden Feststellungen zu den Umständen, die zu diesen<br />

Abweichungen geführt haben, so dass - mangels Gesamtwürdigung - auch aus diesem Gr<strong>und</strong> nicht nachgeprüft werden<br />

kann, ob die vorhandenen Abweichungen lediglich geringfügig waren.<br />

b) Die Urteilsfeststellungen lassen auch keine Nachprüfung zu, ob die Verurteilung des Angeklagten wegen Steuerhinterziehung<br />

in 16 Fällen durch Nichtabgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen zu Recht erfolgt ist. Denn das<br />

Landgericht teilt nicht mit, in welchem Umfang hinsichtlich dieser Taten durch die verspäteten Umsatzsteuerjahreserklärungen<br />

jeweils eine Nacherklärung bisher verschwiegener Umsätze stattgef<strong>und</strong>en hat. Dessen hätte es aber<br />

bedurft, weil eine Umsatzsteuerjahreserklärung auch hinsichtlich nicht eingereichter Umsatzsteuervoranmeldungen<br />

eine Selbstanzeige darstellen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 1998 - 5 StR 392/98, wistra 1999, 27).<br />

Die Urteilsgründe hätten daher so gefasst werden müssen, dass die Vollständigkeit <strong>und</strong> Wirksamkeit der Selbstanzeige<br />

für jede Tat im materiellen Sinn gesondert geprüft werden kann (vgl. dazu auch BT-Drucks. 17/5067 [neu] S.<br />

19). Nur dann hätte der Senat nachprüfen können, in welchem Umfang die Umsatzsteuerjahreserklärungen als<br />

Selbstanzeige für die einzelnen Taten entweder teilweise (vgl. Art. 97 § 24 EGAO) oder - bei lediglich geringfügigen<br />

Abweichungen - sogar insgesamt strafbefreiend wirkten. Anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Angeklagte<br />

hier jeweils mit einer Umsatzsteuerjahreserklärung zugleich mehrere durch Nichtabgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen<br />

begangene Unterlassungstaten offenbart hatte. Anders als bei § 371 Abs. 1 AO in der Fassung des<br />

Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes ("zu allen unverjährten Steuerstraftaten in vollem Umfang") führt die Unvollständigkeit<br />

der Selbstanzeige hinsichtlich einer Tat nicht auch zur Unwirksamkeit der Selbstanzeigen hinsichtlich anderer<br />

Taten, welche dieselbe Steuerart betreffen.<br />

5. Der Senat sieht davon ab, die Sache zur Nachholung der fehlenden Feststellungen <strong>und</strong> - hieran anknüpfend - zur<br />

gegebenenfalls erforderlichen Gesamtwürdigung, ob die Selbstanzeigen lediglich geringfügige Abweichungen gegenüber<br />

dem gesetzlich geforderten Inhalt aufwiesen, an das Landgericht zurückzuverweisen. Da die für die Hinterziehung<br />

von Umsatzsteuer zu erwartenden Strafen gegenüber den übrigen - rechtsfehlerfrei bemessenen - Strafen<br />

326


nicht beträchtlich ins Gewicht fallen würden, sieht der Senat insoweit auf Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts gemäß §<br />

154 Abs. 2 StPO von der Verfolgung ab.<br />

III. Die Strafzumessung hält rechtlicher Nachprüfung stand. Auch der Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe hat<br />

trotz des Wegfalls der Einzelstrafen im Tatkomplex "Umsatzsteuerhinterziehung" Bestand. Der Senat schließt aus,<br />

dass das Landgericht eine geringere als die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten festgesetzt<br />

hätte, wenn es die für die Hinterziehung von Umsatzsteuer verhängten 20 Einzelstrafen - Strafen zwischen<br />

Geldstrafe von 15 Tagessätzen <strong>und</strong> Freiheitsstrafe von zwei Monaten - bei der Gesamtstrafenbildung nicht berücksichtigt<br />

hätte. Dies gilt namentlich mit Blick auf die Tatsache, dass die von den Tatvorwürfen erfasste Umsatzsteuerverkürzung<br />

neben der hinterzogenen Schenkungsteuer lediglich einen geringen Bruchteil ausmacht.<br />

StPO § 231 II, § 338 Nr. 5 Eigenmacht<br />

BGH, Beschl. v. 25.10.2011 - 3 StR 282/11 - StV 2012, 72 = wistra 2012, 73<br />

Ob sich ein Angeklagter im Sinne des § 231 Abs. 2 StPO eigenmächtig aus der Hauptverhandlung<br />

entfernt hat oder bei deren Fortsetzung eigenmächtig ausgeblieben ist, hat das Revisionsgericht<br />

nach der bisherigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zwar ausgehend vom Kenntnisstand<br />

zum Zeitpunkt der Revisionsentscheidung im Freibeweis zu überprüfen, jedoch - wie auch sonst die<br />

behauptete Verletzung von Vorschriften über das Verfahren - nur auf der Gr<strong>und</strong>lage eines entsprechenden<br />

Revisionsvortrags (BGH, Urteil vom 6. März 1984 - 5 StR 997/83, StV 1984, 326; Beschluss<br />

vom 3. April 2003 - 4 StR 506/02; vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 231 Rn. 25). Der Auffassung,<br />

es seien entgegen § 344 Abs. 2 StPO von Amts wegen auch Umstände zu berücksichtigen,<br />

zu denen die Rechtfertigungsschrift schweigt (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 7. August 1984 - 3 Ss<br />

242/84, StV 1985, 50), schließt sich der Senat nicht an.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 23. März 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum<br />

Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels<br />

zu tragen. Zu der Rüge, das Landgericht habe die Hauptverhandlung zu Unrecht in Abwesenheit des Angeklagten zu<br />

Ende geführt (§ 231 Abs. 2, § 338 Nr. 5 StPO), bemerkt der Senat ergänzend: Ob sich ein Angeklagter im Sinne des<br />

§ 231 Abs. 2 StPO eigenmächtig aus der Hauptverhandlung entfernt hat oder bei deren Fortsetzung eigenmächtig<br />

ausgeblieben ist, hat das Revisionsgericht nach der bisherigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zwar ausgehend<br />

vom Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Revisionsentscheidung im Freibeweis zu überprüfen, jedoch - wie auch<br />

sonst die behauptete Verletzung von Vorschriften über das Verfahren - nur auf der Gr<strong>und</strong>lage eines entsprechenden<br />

Revisionsvortrags (BGH, Urteil vom 6. März 1984 - 5 StR 997/83, StV 1984, 326; Beschluss vom 3. April 2003 - 4<br />

StR 506/02; vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 231 Rn. 25). Der Auffassung, es seien entgegen § 344 Abs.<br />

2 StPO von Amts wegen auch Umstände zu berücksichtigen, zu denen die Rechtfertigungsschrift schweigt (vgl.<br />

OLG Köln, Beschluss vom 7. August 1984 - 3 Ss 242/84, StV 1985, 50), schließt sich der Senat nicht an. Die vom<br />

Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2011 - nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist - nachgereichten<br />

Urk<strong>und</strong>en darf der Senat somit bei seiner Entscheidung nicht mehr berücksichtigen. Offen bleiben kann danach,<br />

ob der genannten Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs weiter zu folgen oder eine Bindung des Revisionsgerichts<br />

an rechtsfehlerfreie tatrichterliche Feststellungen zur Eigenmächtigkeit anzunehmen ist (hierzu LR/Becker, StPO, 26.<br />

Aufl., § 231 Rn. 44 mwN).<br />

327


StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Beweisantrag Bedeutungslosigkeit<br />

BGH, Beschl. v. 27.10.2011 - 3 StR 351/11 - NStZ 2012, 151<br />

Obiter dictum: Lehnt der Tatrichter eine Mehrzahl von Beweisanträgen deshalb ab, weil er die darin<br />

unter Beweis gestellten Indiztatsachen aus tatsächlichen Gründen als für die Entscheidung ohne<br />

Bedeutung erachtet (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO), so darf er die einzelnen Anträge nicht nur für sich<br />

betrachten. Vielmehr hat er jeweils auch die weiteren Beweisbehauptungen (erneut) in Bedacht zu<br />

nehmen <strong>und</strong> in dem ablehnenden Beschluss darzulegen, weshalb er selbst bei einer Gesamtwürdigung<br />

aller dieser Indiztatsachen einen im Falle ihres Erwiesenseins nur möglichen Schluss nicht<br />

ziehen möchte.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 30. Mai 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,<br />

an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt <strong>und</strong> seine<br />

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die Revision des Angeklagten rügt die Verletzung materiellen<br />

Rechts <strong>und</strong> beanstandet das Verfahren.<br />

1. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg. Der Schuldspruch hat keinen Bestand, denn das Urteil entbehrt<br />

einer die Annahme von Tötungsvorsatz tragenden lückenlosen Beweiswürdigung.<br />

a) Nach den Feststellungen half der Angeklagte am 10. November 2010 gegen 24.00 Uhr seiner erheblich alkoholisierten<br />

Ehefrau von der Toilette hoch, wobei diese niederfiel <strong>und</strong> im Badezimmer zu liegen kam. Schon zu diesem<br />

Zeitpunkt, spätestens aber im Laufe des folgenden Vormittags entschloss er sich, seine (weiterhin) so daliegende<br />

Ehefrau zu töten. Hierzu würgte er sie mehrere Minuten mit beiden Händen, so dass sie schließlich erstickte. "Entweder<br />

vor oder nach" der Tat legte er ihr ein Kissen unter den Kopf <strong>und</strong> deckte sie mit einer Decke zu. Nicht sicher<br />

ausschließen kann das Landgericht, dass der ebenfalls unter Alkoholeinfluss stehende Angeklagte "aufgebracht <strong>und</strong><br />

derart enthemmt war, dass seine Steuerungsfähigkeit im Zeitpunkt der Gewaltausübung erheblich eingeschränkt<br />

war".<br />

b) Auf den Vorsatz des Angeklagten, seine Ehefrau zu töten, schließt das Landgericht daraus, dass ihm aufgr<strong>und</strong> der<br />

dauerhaften <strong>und</strong> massiven Einwirkung auf deren Hals deren "lebensbedrohliche Situation … nicht habe verborgen<br />

bleiben können." Die Art der Einwirkung lasse "keinen anderen Rückschluss zu als dass der Angeklagte mit Tötungsabsicht<br />

gehandelt hat". Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zwar ist das Würgen eines Menschen<br />

über mehrere Minuten eine äußerst gefährliche Gewalthandlung, deren Lebensbedrohlichkeit für gewöhnlich<br />

ohne weiteres erkennbar ist <strong>und</strong> die deshalb gr<strong>und</strong>sätzlich darauf schließen lässt, der Täter habe den Tod des Opfers<br />

beabsichtigt oder jedenfalls billigend in Kauf genommen. Rechtsfehlerfrei ist ein solcher Schluss jedoch nur dann,<br />

wenn der Tatrichter auch alle nach Sachlage in Betracht kommenden subjektiven <strong>und</strong> objektiven Umstände in seine<br />

Erwägungen einbezieht, die dieses Ergebnis in Frage stellen können; dies gilt insbesondere bei der Annahme direkten<br />

Tötungsvorsatzes (BGH, Beschluss vom 2. August 2011 - 3 StR 225/11). So versteht es sich etwa nicht von<br />

selbst, dass ein Täter, der in einem seine Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigenden Maße alkoholisiert ist,<br />

noch erkennt, dass seine Gewalthandlung zum Tode des Opfers führen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 7. November<br />

2002 - 3 StR 216/02, NStZ 2004, 51). Danach hätte sich das Landgericht bei der Prüfung des Tötungsvorsatzes auch<br />

damit auseinandersetzen müssen, dass der Angeklagte zur Tatzeit möglicherweise unter erheblichem, seine Wahrnehmungsfähigkeit<br />

beeinträchtigenden Alkoholeinfluss stand. Dies gilt um so mehr, als das Landgericht ein Tatmotiv<br />

nicht feststellen <strong>und</strong> nicht ausschließen kann, dass der Angeklagte seiner Ehefrau nach dem Geschehen noch ein<br />

Kissen unter den Kopf legte <strong>und</strong> sie zudeckte. Wegen der bei dieser Sachlage erforderlichen Gesamtwürdigung aller<br />

objektiven <strong>und</strong> subjektiven Tatumstände gibt der Senat dem neuen Tatrichter Gelegenheit, nicht nur zur inneren<br />

Tatseite, sondern insgesamt neue Feststellungen zu treffen.<br />

2. Auf die erhobenen Verfahrensrügen kommt es danach nicht mehr an. Gleichwohl bemerkt der Senat: Lehnt der<br />

Tatrichter eine Mehrzahl von Beweisanträgen deshalb ab, weil er die darin unter Beweis gestellten Indiztatsachen<br />

aus tatsächlichen Gründen als für die Entscheidung ohne Bedeutung erachtet (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO), so darf er<br />

die einzelnen Anträge nicht nur für sich betrachten. Vielmehr hat er jeweils auch die weiteren Beweisbehauptungen<br />

328


(erneut) in Bedacht zu nehmen <strong>und</strong> in dem ablehnenden Beschluss darzulegen, weshalb er selbst bei einer Gesamtwürdigung<br />

aller dieser Indiztatsachen einen im Falle ihres Erwiesenseins nur möglichen Schluss nicht ziehen möchte<br />

(LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 225 mwN).<br />

StPO § 244 Abs. 3, § 337 Rechtsfehlerhafte Zurückweisung von Beweisanträgen, Konnexität, fehlendes<br />

Beruhen<br />

BGH, Urt. v. 19.10.2011 - 1 StR 336/11 - StV 2012, 151= wistra 2012, 69<br />

Ist ein Beweisantrag nicht oder rechtsfehlerhaft verbeschieden, ist es dem Revisionsgericht zwar<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich verwehrt, eine rechtsfehlerfreie Begründung nachzuliefern. Im Einzelfall kann indes<br />

ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf einer fehlerhaften Antragsablehnung beruht, wenn etwa<br />

die - rechtsfehlerhaft, weil lediglich formelhaft angenommene - Bedeutungslosigkeit einer behaupteten<br />

Tatsache auf der Hand liegt. Nichts anderes kann für Fälle einer nicht nur floskelhaft sondern<br />

gänzlich fehlenden Ablehnungsbegründung gelten, jedenfalls wenn offenk<strong>und</strong>ig ist, dass die konkrete<br />

Beweisbehauptung (Äußerungen <strong>und</strong> Verhalten des Zeugen) für das für den Strafvorwurf (Betrug<br />

zum Nachteil der über die Untervermittler eingeworbenen Anleger) einzig relevante Beweisthema<br />

ohne jede tatsächliche Bedeutung ist.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 11. Februar 2011<br />

a) im Strafausspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt wird, <strong>und</strong><br />

b) im Ausspruch nach § 111i Abs. 2 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts München II zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in elf Fällen jeweils in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem<br />

Erbringen von Finanzdienstleistungen (§ 54 Abs. 1 Nr. 2, § 32 Abs. 1 Satz 1, § 1 Abs. 1a Satz 2 Nr. 5 KWG) zu<br />

einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Diese beträgt nach der Urteilsformel in der Sitzungsniederschrift drei Jahre<br />

<strong>und</strong> neun Monate, nach Tenor <strong>und</strong> Entscheidungsgründen der Urteilsurk<strong>und</strong>e drei Jahre <strong>und</strong> sechs Monate. Mit Beschluss<br />

vom 9. Juni 2011 hat das Landgericht Tenor <strong>und</strong> Urteilsgründe dahingehend berichtigt, dass die ausgesprochene<br />

Gesamtfreiheitsstrafe auf drei Jahre <strong>und</strong> neun Monate laute; es handle sich um ein offensichtliches Schreibversehen.<br />

Das Landgericht hat ferner festgestellt, dass in Höhe eines Betrages von 210.613,82 € lediglich deshalb nicht<br />

auf Verfall erkannt werde, weil Ansprüche von Verletzten i.S.d. § 73 Abs.1 Satz 2 <strong>StGB</strong> entgegenstehen. Die hiergegen<br />

gerichtete, auf die Rüge formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat im tenorierten<br />

Umfang Erfolg, im Übrigen ist sie unbegründet.<br />

I. Nach den Feststellungen des Landgerichts vermittelte der Angeklagte für den in den Vereinigten Staaten ansässigen<br />

E. Finanzprodukte, bei denen Anleger auf der Gr<strong>und</strong>lage eines Darlehensvertrages <strong>und</strong> einer von E. in Form<br />

eines Schuldscheins abgegebenen Rückzahlungsgarantie Geldbeträge unmittelbar auf Konten des E. überwiesen in<br />

der täuschungsbedingt irrigen Annahme, das Geld werde gewinnbringend angelegt. Tatsächlich erfolgte keine Geldanlage,<br />

sondern E. betrieb ein umfangreiches Schneeballsystem, in dem er „Ausschüttungen <strong>und</strong> Provisionszahlungen<br />

aus den Einlagen weiterer Anleger“ (UA S. 3) bediente. Die Anleger überwiesen die Anlagebeträge jeweils direkt<br />

auf Konten des E., die „Provisionen wurden von E. an den Angeklagten ausgekehrt“ (UA S. 6). Obwohl der<br />

Angeklagte seit März 2007 billigend in Kauf nahm, dass E. in dieser Weise verfährt <strong>und</strong> daher jedem Anleger der<br />

Totalverlust seiner Anlage droht, <strong>und</strong> obwohl ihm bewusst war, dass er keine Erlaubnis für Drittstaateneinlagenvermittlung<br />

nach § 32 Abs. 1 Satz 1, § 1 Abs. 1a Satz 2 Nr. 5 KWG hatte, vermittelte er selbst an zehn, über Untervermittler<br />

an weitere 21 Geschädigte das von E. angebotenen „Finanzprodukt“. Die Vermittler bereicherten sich an dem<br />

von ihnen unmittelbar oder über Untervermittler mittelbar eingeworbenen Geldern in Form der ihnen zugeflossenen<br />

Provisionen (UA S. 6). Die Strafkammer hat dies als elf tatmehrheitliche Fälle des Betruges gewertet (soweit sich der<br />

Angeklagte Untervermittler bediente, die er nicht über die von ihm erkannte Möglichkeit eines Totalverlustes für die<br />

Anleger informierte, ging die Strafkammer von einer Betrugstat aus), diese jeweils in Tateinheit mit vorsätzlichem<br />

unerlaubtem Erbringen von Finanzdienstleistungen.<br />

329


II. Die Revision hat mit zulässig erhobener Verfahrensrüge wegen des Widerspruchs zwischen der Urteilsformel <strong>und</strong><br />

den Urteilsgründen hinsichtlich des Gesamtstrafausspruchs Erfolg. Die in der verkündeten Urteilsformel genannte<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten kann nicht bestehen bleiben. Der Berichtigungsbeschluss<br />

vom 9. Juni 2011 ist unwirksam, denn das vom Landgericht angeführte Schreibversehen ist nicht offensichtlich.<br />

Enthalten die Urteilsgründe - wie hier - für sich genommen rechtlich einwandfreie Strafzumessungserwägungen kann<br />

ein die Strafhöhe betreffender Widerspruch zwischen der verkündeten Urteilsformel <strong>und</strong> Urteilsformel sowie -<br />

gründen des schriftlichen Urteils nicht als offenk<strong>und</strong>iges, für alle klar zu Tage tretendes Fassungsversehen aufgefasst<br />

werden, das einer nachträglichen Berichtigung zugänglich wäre (BGH, Beschluss vom 25. Mai 2007 - 1 StR 223/07<br />

mwN). Es liegt auch keine Fallgestaltung vor, bei der ohne Weiteres deutlich wird, dass der Tatrichter seine Ausführungen<br />

zur Strafzumessung in Wirklichkeit nicht auf die im schriftlichen Urteil, sondern auf die verkündete Urteilsformel<br />

bezeichnete Strafe bezogen hat <strong>und</strong> dass diese Strafe trotz der anders lautenden Urteilsgründe dem Beratungsergebnis<br />

entspricht (BGH, Beschluss vom 8. Juni 2011 - 4 StR 196/11 mwN). Wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

zutreffend ausgeführt hat, nötigt die bestehende Divergenz zwischen der Urteilsformel in dem allein maßgeblichen<br />

Sitzungsprotokoll (§ 274 StPO; vgl. BGH, Beschluss vom 9. Mai 2001 - 2 StR 42/01; BGH, Beschluss vom 4. Februar<br />

1986 - 1 StR 643/85) <strong>und</strong> den Urteilsgründen nicht stets zur Aufhebung des Urteils <strong>und</strong> Zurückverweisung. Der<br />

Senat kann hier ausschließen, dass das Tatgericht auf eine noch niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe als die von drei<br />

Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten erkannt hätte, so dass der Senat auf diese niedrigere der beiden Strafen durcherkennt (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2009 - 4 StR 340/09 mwN).<br />

III. Der Ausspruch nach § 111i Abs. 2 StPO ist auf die Sachrüge aufzuheben, da er von den Feststellungen nicht<br />

getragen wird. Einer Erörterung der insoweit erhobenen Verfahrensrüge bedarf es nicht.<br />

1. Voraussetzung für die Anwendung des § 111i Abs. 2 StPO ist, dass das Gericht nur deshalb nicht auf Verfall,<br />

Verfall von Wertersatz oder erweiterten Verfall erkannt hat, weil Ansprüche eines Verletzten i.S.d. § 73 Abs. 1 Satz<br />

2 <strong>StGB</strong> entgegenstehen. § 73 Abs. 1 Satz 2 <strong>StGB</strong> hindert eine Verfallsentscheidung aber nur dann, wenn der Täter<br />

oder <strong>Teil</strong>nehmer „aus der Tat” einen Vermögensvorteil erlangt hat <strong>und</strong> Gegenansprüche eines Verletzten bestehen;<br />

das „für die Tat” Erlangte unterliegt schon nach dem Gesetzeswortlaut dem Verfall hingegen ohne Rücksicht auf<br />

Ansprüche Verletzter (vgl. BGH, Beschluss vom 9. November 2010 - 4 StR 447/10 mwN; BGH, Urteil vom 8. Juni<br />

1999 - 1 StR 210/99). Die insoweit unklaren Feststellungen des Landgerichts erlauben dem Revisionsgericht nicht<br />

die Überprüfung, ob die dem Angeklagten im Tatzeitraum zugeflossenen Provisionen aus den zur Aburteilung gelangten<br />

Straftaten stammen. „Aus der Tat” sind diejenigen Vermögenswerte erlangt, die dem Täter oder <strong>Teil</strong>nehmer<br />

unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestandes selbst in irgendeiner Phase des Tatablaufs zugeflossen sind<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 2006 - 1 StR 46/06, BGHSt 51, 65, 66; BGH, Urteil vom 22. Oktober 2002 - 1 StR<br />

169/02; BGH, Beschluss vom 28. November 2000 - 5 StR 371/00). Um Vorteile „für die Tat” handelt es sich demgegenüber,<br />

wenn die Vermögenswerte dem Täter als Gegenleistung für sein rechtswidriges Tun gewährt werden,<br />

etwa wenn ein Lohn für die Tatbegehung gezahlt wird (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2002 - 1 StR 169/02<br />

mwN). Ausgehend hiervon erweist sich die Formulierung in den Urteilsgründen, die Provisionen seien „aus der Tat<br />

des Angeklagten“ erlangt, weil sie „Entgelt für seine Vermittlungstätigkeit“ seien (UA S. 33), als widersprüchlich.<br />

Dass die vom Angeklagten <strong>und</strong> dessen Untervermittlern geworbenen „Anleger“ das Geld jeweils direkt auf Konten<br />

des E. einbezahlt haben, steht der Annahme, dass die dann von E. an den Angeklagten „ausgekehrten“ (UA S. 6)<br />

Provisionen „aus der Tat“ stammen, gr<strong>und</strong>sätzlich nicht entgegen. Denn Vermögenswerte sind nicht nur dann aus<br />

einer Tat erlangt, wenn sie dem Täter vom Opfer ohne weiteren Zwischenschritt zufließen. Dies ist auch gegeben,<br />

wenn der Vermögenswert zunächst - unbeschadet der zivilrechtlichen Besitz- <strong>und</strong> Eigentumsverhältnisse - nur einem<br />

anderen Tatbeteiligten zufließt (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2002 - 1 StR 169/02; BGH, Urteil vom 12. August<br />

2003 - 1 StR 127/03). Der Senat neigt zu der Auffassung, dass das Erlangte auch dann aus der Tat stammt, wenn<br />

die den einzelnen Tatbeteiligten zugeflossenen Vermögenswerte aus einer in sich zwar nicht mehr differenzierbaren,<br />

aber mit „Gruppenwillen“ für alle Tatbeteiligten „gesammelten“ Gesamtmenge durch Betrug erlangter Vermögenswerte<br />

(dann als <strong>Teil</strong> der „Tatbeute“, vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 23. April 2009 - 5 StR 401/08) entnommen<br />

werden. Gewichtiges aber nicht einziges Indiz hierfür wäre, wenn E. die Provisionszahlungen jeweils zeitnah zur<br />

Einzahlung der an ihn gezahlten „Anlegergelder“ gezahlt hätte. Feststellungen hierzu trifft die Strafkammer nicht<br />

<strong>und</strong> auch die Formulierungen in den Urteilsgründen, wonach E. die Provisionen aus den „Einlagen weiterer Anleger“<br />

(UA S. 3) bediente <strong>und</strong> sich die Vermittler „an dem von ihnen unmittelbar oder im Rahmen der Hierarchiestufen<br />

mittelbar eingeworbenen Geld“ bereicherten (UA S. 6), belegen ein Erlangen „aus der Tat“ nicht hinreichend. Sollte<br />

E. - was nach den genannten Formulierungen ebenfalls möglich erscheint - die Provisionen hingegen aus verschiedenartig<br />

erzielten Gesamteinnahmen (weil er beispielsweise nicht nur ein „Vermittlersystem“, dessen „<strong>Teil</strong>“ der<br />

Angeklagte war - vgl. UA S. 6 -, für sein betrügerisches Schneeballsystem einsetzte) auskehren, erwiesen sich die an<br />

330


den Angeklagten gezahlten Provisionen sowohl hinsichtlich des vom Angeklagten begangenen Betruges als auch<br />

hinsichtlich seiner unerlaubten Vermittlung von Finanzdienstleistungen als Zahlung einer versprochenen Belohnung,<br />

wären mithin „für die Tat“ <strong>und</strong> nicht „aus der Tat“ erlangt.<br />

2. Diese Unklarheit nötigt zur Aufhebung des Ausspruchs nach § 111i Abs. 2 StPO mitsamt den zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

Feststellungen, um darüber neu zu entscheiden (vgl. BGH, Beschluss vom 9. November 2010 - 4 StR 447/10 mwN).<br />

Die Sache ist deshalb insoweit zurückzuverweisen, da der Senat die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen<br />

kann. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat ergänzend darauf hin, dass eine Anordnung des Verfalls von<br />

Wertersatz nach §§ 73, 73a <strong>StGB</strong> für Erlöse aus nicht zur Aburteilung gelangten (z.B. weil nach § 154 StPO von der<br />

Verfolgung ausgenommene) Straftaten unzulässig ist (BGH, Beschluss vom 7. Januar 2003 - 3 StR 421/02, NStZ<br />

2003, 422), dementsprechend sich auch der Ausspruch nach § 111i Abs. 2 StPO hinsichtlich solcher Provisionseinnahmen<br />

verbietet. In Betracht käme - worauf der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend hinweist - hinsichtlich der gewerbsmäßig<br />

begangenen Betrugstaten - eine Anordnung von erweitertem Verfall gemäß § 73d StPO (vgl. § 263 Abs.<br />

7 Satz 2 <strong>StGB</strong>). Nach dieser Vorschrift können Gegenstände eines an der rechtswidrigen Tat Beteiligten bei der<br />

gebotenen verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift für verfallen erklärt werden, wenn das Tatgericht davon<br />

überzeugt ist, dass die von der Verfallsanordnung erfassten Gegenstände für rechtswidrige Taten oder aus ihnen<br />

unmittelbar erlangt worden sind, ohne dass diese im Einzelnen festgestellt werden müssen (BGH, Beschluss vom 7.<br />

Juli 2011 - 3 StR 144/11 mwN; BGH, Beschluss vom 22. November 1994 - 4 StR 516/94, BGHSt 40, 371; BVerfG,<br />

Beschluss vom 14. Januar 2004 - 2 BvR 564/95; weitere Nachweise bei Fischer, <strong>StGB</strong>, 58. Aufl., § 73d Rn. 5). An<br />

die tatrichterliche Überzeugung dürfen dabei keine überspannten Anforderungen gestellt werden (vgl. BGH, Urteil<br />

vom 7. Juli 2004 - 1 StR 115/04), jedoch genügt allein der Hinweis nicht, dass „die Vermittlungstätigkeit insgesamt<br />

[…] nach § 54 Abs. 1 Nr. 2, § 32 Abs. 1 Satz 1 KWG Gegenstand der Strafverfolgung“ sei (UA S. 33), zumal die<br />

Strafvorschriften nach dem KWG nicht auf § 73d <strong>StGB</strong> verweisen. Der neue Tatrichter wird ferner Gelegenheit<br />

haben, zu berücksichtigen, dass jedenfalls die vom Angeklagten geleisteten Entschädigungszahlungen an die Tatopfer<br />

nach § 111i Abs. 2 Satz 4 Nr. 2 StPO bei der Bemessung des „Erlangten“ in Abzug zu bringen sind. Insoweit<br />

führt der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend aus: „Der Angeklagte hat jedoch die Tatopfer […] teilweise befriedigt, so<br />

dass insoweit ein krimineller Gewinn, der im Wege der Vermögensabschöpfung dem Angeklagten zu entziehen<br />

wäre, nicht mehr vorhanden ist. […] Die Überlegung der Strafkammer, wonach die bestehenden Schadensersatzansprüche<br />

die Entschädigungsleistungen übersteigen, hindert deren Abzugsfähigkeit nicht. Die Vorschriften des Verfalls<br />

dienen der Korrektur von Vermögensverschiebungen aufgr<strong>und</strong> von Straftaten <strong>und</strong> nicht insgesamt der Sicherung<br />

zivilrechtlicher Ansprüche.“<br />

IV. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils (dazu 1. <strong>und</strong> 2.) hat keinen weiteren den<br />

Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben, auch die weitergehende Verfahrensrüge (dazu nachfolgend 3.)<br />

zeigt einen solchen nicht auf.<br />

1. Die rechtsfehlerfreien Feststellungen tragen den Schuldspruch. Durch die aufgr<strong>und</strong> täuschungsbedingten Irrtums<br />

erfolgte Überweisung eines Anlagebetrages an E. erlitten die Geschädigten einen Schaden in Höhe der vollen Anlagesumme,<br />

weil die getätigte Anlage für sie wirtschaftlich völlig wertlos <strong>und</strong> verloren war; dieser Schaden wird nicht<br />

kompensiert durch die ungewisse - per se wertlose - Aussicht, möglicherweise Rückzahlungen aus den von E. zum<br />

Nachteil anderer begangenen Straftaten erlangten Geldern zu erhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2009 -<br />

1 StR 731/08; BGH, Beschluss vom 7. März 2006 - 1 StR 379/05). Der Strafzumessung hat die Strafkammer - zutreffend<br />

- die Differenz aus der Anlagesumme <strong>und</strong> den von E. geleisteten Zahlungen als „letztlich verbleibenden“<br />

Schaden zugr<strong>und</strong>e gelegt.<br />

2. Die Bemessung der Einzelstrafen weist auch darüber hinaus im Ergebnis keine Rechtsfehler zum Nachteil des<br />

Angeklagten auf. Das Vorliegen eines von der Strafkammer der Strafbemessung jeweils zugr<strong>und</strong>e gelegten besonders<br />

schweren Falles des Betruges i.S.d. § 263 Abs. 3 <strong>StGB</strong> - der Angeklagte handelte sowohl gewerbsmäßig als<br />

auch in der Absicht, eine große Zahl von Menschen in die Gefahr des Verlustes von Vermögenswerten zu bringen -<br />

wird durch die Feststellungen belegt <strong>und</strong> ist vorliegend derart offenk<strong>und</strong>ig, dass es näherer Ausführungen dazu, ob<br />

die Indizwirkung eines Regelbeispiels durch besondere strafmildernde Umstände entkräftet worden sein könnte (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 5. Mai 2011 - 1 StR 116/11 mwN), nicht bedurfte. Soweit die Strafkammer - worauf der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

zutreffend hingewiesen hat - übersehen hat, dass hinsichtlich einzelner von Untervermittlern geworbener<br />

Geschädigter das Verfahren gemäß § 154a StPO beschränkt <strong>und</strong> nicht wieder aufgenommen worden war,<br />

schließt der Senat angesichts des insoweit festgestellten Gesamtschadens (ca. 845.000 €, 24.000 € davon von Verfahrenseinstellung<br />

betroffen) aus, dass die Kammer eine noch mildere als die Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt<br />

hätte.<br />

331


3. Soweit die Revision eine Verletzung des § 244 Abs. 6 StPO mit dem Vortrag geltend macht, ein Beweisantrag sei<br />

nicht verbeschieden worden, ist ihr der Erfolg versagt. Im Hinblick darauf, dass die Revision nicht mitteilt, dass dem<br />

Antrag durch Verlesung einer E-Mail teilweise entsprochen wurde, bestehen schon erhebliche Bedenken, ob diese<br />

Rüge den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt (vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 1. April 2004 -<br />

1 StR 101/04). Das Urteil kann aber jedenfalls nicht auf dem gerügten Rechtsfehler beruhen. Mit dem Beweisantrag<br />

suchte die Verteidigung unter Beweis zu stellen, dass der Angeklagte die von ihm eingeschalteten Untervermittler<br />

nicht getäuscht habe. So habe der Angeklagte Untervermittler über Warnungen der Bayerischen Landesbank aufgeklärt<br />

<strong>und</strong> gegenüber dem Vermittler P. erklärt, dass er - der Angeklagte - „nicht bereit sei, irgendwelche Leute zu<br />

dem Investment zu drängen“ (RB S. 13). Die Verteidigung hat u.a. die Einvernahme zweier Zeugen beantragt, die<br />

nach Warnhinweisen, allerdings von Banken, nicht mehr bereit gewesen seien, mit dem Vermittler P. abgeschlossene<br />

Verträge zu erfüllen <strong>und</strong> diesem gegenüber erklärt hätten, sie wollten die Verträge stornieren, was auch passiert sei.<br />

Die Revision macht - der Sache nach zutreffend - geltend, die Strafkammer habe weder die benannten Zeugen vernommen,<br />

noch den Antrag abschlägig durch Beschluss verbeschieden. Der Revision ist darin zuzustimmen, dass<br />

dieser Antrag, wenn ihm die Strafkammer nicht nachgehen will <strong>und</strong> er sich nicht sonst erledigt hat (vgl. z.B. BGH,<br />

Beschluss vom 28. Mai 2009 - 5 StR 191/09; BGH, Beschluss vom 7. April 2005 - 5 StR 532/04; BGH, Beschluss<br />

vom 3. Juni 1992 - 5 StR 175/92), eines ablehnenden Beschlusses gemäß § 244 Abs. 6 StPO bedurft hätte. Zwar<br />

ermangelt es dem Antrag an einer Darlegung, inwieweit die benannten Zeugen zu behaupteten Gesprächen zwischen<br />

dem Angeklagten <strong>und</strong> Untervermittlern etwas sagen könnten. Dies ist auch nicht aus dem Antrag (etwa durch Auslegung)<br />

zu entnehmen oder sonst offenk<strong>und</strong>ig oder ersichtlich, so dass es überwiegend an der für einen i.S.d. § 244<br />

Abs. 6 StPO verbescheidungsbedürftigen Beweisantrag erforderlichen Konnexität fehlt (vgl. BGH, Urteil vom 28.<br />

November 1997 - 3 StR 114/97, BGHSt 43, 329 f. mwN). Der Antrag enthält jedoch darüber hinaus eine hinreichend<br />

konkrete Behauptung dahingehend, die benannten Zeugen hätten sich in bestimmter Weise gegenüber dem Vermittler<br />

P. geäußert <strong>und</strong> die über diesen geschlossenen Verträgen storniert. Diesbezüglich bedurfte es keiner weiteren<br />

Darlegungen zur Konnexität, denn es verstand sich angesichts der Beweisbehauptungen von selbst, dass die benannten<br />

Zeuginnen zum Inhalt der betreffenden, von ihnen geführten Gespräche aus eigenem Wissen bek<strong>und</strong>en sollten<br />

<strong>und</strong> konnten (vgl. BGH, Beschluss vom 17. November 2009 - 4 StR 375/09). Der Senat kann vorliegend aber ausschließen,<br />

dass das Urteil auf der unterlassenen Verbescheidung des Beweisantrags beruhen könnte; auch § 244 Abs.<br />

2 StPO drängte die Kammer nicht zu entsprechenden Erhebungen. Ist ein Beweisantrag nicht oder rechtsfehlerhaft<br />

verbeschieden, ist es dem Revisionsgericht zwar gr<strong>und</strong>sätzlich verwehrt, eine rechtsfehlerfreie Begründung nachzuliefern<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2002 - 1 StR 277/02; BGH, Beschluss vom 2. August 2000 - 3 StR<br />

154/00). Im Einzelfall kann indes ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf einer fehlerhaften Antragsablehnung<br />

beruht, wenn etwa die - rechtsfehlerhaft, weil lediglich formelhaft angenommene - Bedeutungslosigkeit einer behaupteten<br />

Tatsache auf der Hand liegt (Fischer in KK-StPO, 6. Aufl., § 244 Rn. 234 mwN). Nichts anderes kann für<br />

Fälle einer nicht nur floskelhaft sondern gänzlich fehlenden Ablehnungsbegründung gelten, jedenfalls wenn - wie<br />

hier - offenk<strong>und</strong>ig ist, dass die konkrete Beweisbehauptung (Äußerungen <strong>und</strong> Verhalten der Zeugen) für das für den<br />

Strafvorwurf (Betrug zum Nachteil der über die Untervermittler eingeworbenen Anleger) einzig relevante Beweisthema<br />

(der Angeklagte habe die Untervermittler weder getäuscht noch kollusiv mit ihnen zusammengewirkt) ohne<br />

jede tatsächliche Bedeutung ist (vgl. für den ähnlich gelagerten Fall, dass die Beweisbehauptung mit dem angebotenen<br />

Beweismittel nicht zu beweisen ist, auch OLG Koblenz, Urteil vom 2. Februar 1995 - 1 Ss 349/94, OLGSt,<br />

StPO, § 244 Nr. 17). Eine Beeinträchtigung des Verteidigungsverhaltens durch einen unterbliebenen Zurückweisungsbeschluss<br />

kann der Senat hier ebenfalls ausschließen.<br />

StPO § 244 Abs. 4 <strong>und</strong> 6 – Eigene B(„Frei“-)Beweiserhebung durch das Revisionsgericht zum Vorwurf<br />

wahrheitswidrigen Revisionsvortrags<br />

BGH, Beschl. v. 25.04.2012 – 5 StR 444/11- NJW 2012, 2212<br />

LS: Überprüfung des Verdachts einer wahrheitswidrigen Beweisbehauptung im Revisionsverfahren<br />

durch freibeweisliche Einholung des in der Tatsacheninstanz beantragten DNA-<br />

Identifizierungsgutachtens.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 21. Juni 2011 wird nach § 349<br />

Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

332


G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls in zwei<br />

Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Seine auf die allgemeine Sachbeschwerde<br />

sowie eine Verfahrensrüge gestützte Revision bleibt ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO). Näherer Erörterung<br />

bedarf lediglich die erhobene Verfahrensrüge, mit welcher der Angeklagte beanstandet, das Landgericht habe ein<br />

Beweisbegehren rechtsfehlerhaft beschieden.<br />

1. Der Rüge liegt folgender Verfahrenssachverhalt zugr<strong>und</strong>e:<br />

a) Dem in die Hauptverhandlung eingeführten Sachverständigengutachten des Landeskriminalamts Niedersachsen<br />

<strong>und</strong> der Zeugenaussage des ermittelnden KHK B. zufolge war einer Person mit den Personalien des Angeklagten im<br />

Jahre 2008 in Umsetzung einer Anordnung nach § 81g StPO eine Speichelprobe entnommen, anhand dieser ein<br />

DNA-Identifizierungsmuster erstellt, das Material allerdings wegen der vorangegangenen Notierung eines Aliasnamens<br />

– behördlicher Übung folgend – unter der polizeilichen Führungspersonalie „S. D. geb. 1982“ in die DNA-<br />

Analyse-Datei eingestellt worden. Ausweislich eines Gutachtens des hessischen Landeskriminalamtes war am Tatort<br />

im Fall 1 der Urteilsgründe eine Blutspur („Wattetupfer Nr. 1“) gesichert worden, die dasselbe DNA-<br />

Identifizierungsmuster aufwies wie das unter den Personalien des „S. D. geb. 1982“ gespeicherte. Die Verteidigung<br />

hat beantragt, „ein DNA-Identifizierungsmuster des Angeklagten“ <strong>und</strong> ein „rechtsmedizinisches Sachverständigengutachten<br />

einzuholen“. Das Gutachten werde ergeben, „dass das DNA-Identifizierungsmuster des Angeklagten nicht<br />

mit den unter den Personalien ‚S. D. geb. 1982‘ gespeicherten Daten identisch ist“. Die Strafkammer hat diesen<br />

Antrag unter Berufung auf § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, aufgr<strong>und</strong> von<br />

Gutachten des Landeskriminalamtes Niedersachsen vom 22. März 2011, betreffend das unter den Personalien des „S.<br />

D. geb. 1982“ gespeicherte DNA-Identifizierungsmuster, <strong>und</strong> des hessischen Landeskriminalamtes vom 31. März<br />

2011 zu dessen Vergleich mit der Tatortspur sei erwiesen, dass „der Angeklagte (Herr S. D. geb. 1982)“ Verursacher<br />

der Tatortspur sei, so dass das Gegenteil der behaupteten Tatsache erwiesen sei. Der Einholung eines weiteren Gutachtens<br />

bedürfe es nicht. Insbesondere gehe das Gutachten nicht von unzutreffenden Voraussetzungen aus. Bei dem<br />

im Gutachten des Landeskriminalamtes Niedersachsen untersuchten Material handele es sich um solches, das vom<br />

Angeklagten stamme. Der Zeuge KHK B. habe glaubhaft angegeben, dass im damaligen Ermittlungsverfahren der<br />

Staatanwaltschaft Braunschweig im Rahmen erkennungsdienstlicher Erfassung eine Speichelprobe vom Angeklagten<br />

genommen <strong>und</strong> unter Aliaspersonalien des Angeklagten abgelegt worden sei, weil dessen 2008 abgenommene Fingerabdrücke<br />

identisch gewesen seien mit unter jenem Aliasnamen im Jahre 2004 abgenommenen Fingerabdrücken.<br />

Der Zeuge KHK B. habe den Angeklagten im Hauptverhandlungstermin als diejenige Person wiedererkannt, der<br />

damals die Speichelprobe entnommen wurde. Auch die Inaugenscheinnahme eines Lichtbildes von der 2008 erkennungsdienstlich<br />

behandelten Person habe deren Identität mit dem Angeklagten ergeben.<br />

b) Entsprechend einer Anregung des Senats im Revisionsverfahren ist dem Angeklagten eine neue DNA-Probe entnommen<br />

worden, deren Begutachtung Übereinstimmung sowohl mit der unter den Aliaspersonalien abgelegten Probe<br />

als auch mit der Tatortspur erbracht hat.<br />

2. Die Verfahrensrüge hat keinen Erfolg. Zwar ist der Revision zuzugeben, dass die Strafkammer den gestellten<br />

Antrag in Anwendung des Beweisantragsrechts gemäß § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO schon deshalb nicht ablehnen durfte,<br />

weil ein DNA-Identifizierungsmuster des Angeklagten im Rahmen des hiesigen Verfahrens noch nicht ermittelt,<br />

daher im hiesigen Verfahren nicht durch einen Sachverständigen analysiert worden war. Gleichwohl fehlt es an einer<br />

Verletzung des Beweisantragsrechts.<br />

a) Es liegt nicht fern, dass die Strafkammer zu einer Behandlung des Antrags gemäß § 244 Abs. 3, 4 <strong>und</strong> 6 StPO von<br />

vornherein nicht verpflichtet war, weil es dem Beweisbegehren an einer bestimmten Beweisbehauptung im Sinne<br />

erweitert verstandener Konnexität mangelte (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2008 – 5 StR 38/08, BGHSt 52, 284;<br />

Beschluss vom 3. November 2010 – 1 StR 497/10, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Konnexität 1). Die Frage muss hier<br />

nicht abschließend entschieden werden.<br />

b) Bei Antragstellung hat der gravierende Verdacht einer wider besseres Wissen <strong>und</strong> damit rechtsmissbräuchlich<br />

aufgestellten Beweisbehauptung bestanden.<br />

aa) Das Antragsvorbringen erschöpfte sich nach erfolgter Beweiserhebung zur Täterschaft des Angeklagten allein<br />

darin, die Identität seines DNA-Musters mit dem unter der Führungspersonalie „S. D. geb. 1982” abgelegten unter<br />

Antritt eines Sachverständigenbeweises zu widerlegen. Dagegen stand deutlich die bisher in der Hauptverhandlung<br />

gewonnene Beweislage. Über die in dem beanstandeten Beschluss aufgeführten Indizien hinaus war Identität der im<br />

Jahre 2004 abgenommenen <strong>und</strong> unter den Personalien „S. D. geb. 1982“ abgelegten Fingerabdrücke nicht nur mit<br />

den Fingerabdrücken der Person gegeben, gegen die unter den Personalien des Angeklagten im Jahre 2008 wegen<br />

Wohnungseinbruchsdiebstahls ermittelt <strong>und</strong> eine Freiheitsstrafe verhängt worden war, sondern darüber hinaus – wie<br />

333


sich aus einem in der Revisionsbegründung vorgelegten Vermerk des Ermittlungsführers ergibt – auch mit den dem<br />

Angeklagten im hiesigen Verfahren abgenommenen Fingerabdrücken festgestellt worden. Der Angeklagte hatte<br />

zudem im Rahmen seiner Einlassung zu seinen persönlichen Verhältnissen die wegen des Wohnungseinbruchsdiebstahls<br />

im Jahre 2008 ergangene – auf einem damaligen Geständnis beruhende – Verurteilung als seine anerkannt.<br />

bb) Bei dieser erdrückenden Beweislage drängte sich auf, dass dem Antrag auf Beweiserhebung zur Nichtidentität<br />

der DNA-Merkmale des Angeklagten mit den unter den Aliaspersonalien gespeicherten DNA-Proben <strong>und</strong> der Tatortspur<br />

eine bewusst wahrheitswidrige Behauptung zugr<strong>und</strong>e lag. Dies galt mindestens aus Sicht des Angeklagten, der<br />

ja wissen musste, ob ihm anlässlich des Wohnungseinbruchs 2008 eine Speichelprobe entnommen worden <strong>und</strong> ob er<br />

im Fall 1 am Tatort gewesen war. Wenn der Senat dem Antrag mit Blick auf den für den Antragsteller offenk<strong>und</strong>igen,<br />

von ihm auch im Revisionsverfahren nicht beseitigten schwerwiegenden Verdacht nicht schon von vornherein<br />

die Beweisantragsqualität abgesprochen hat, war er jedenfalls nicht gehalten, ohne weiteres von einem Beweisantrag<br />

auszugehen. Vielmehr durfte er dem Verdacht im Freibeweisverfahren weiter nachgehen.<br />

cc) Der Senat hat hierzu das erwähnte Sachverständigengutachten eingeholt (vgl. zur Möglichkeit solchen Vorgehens<br />

im Revisionsrechtszug, bislang freilich in etwas anders gelagerten Fallkonstellationen: BGH, Urteile vom 24. November<br />

1992 – 5 StR 500/92, BGHSt 39, 49, 53; 29. April 1997 – 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 72; 30. Juli 1999 – 1<br />

StR 618/98, BGHSt 45, 164, 166 f.; 22. April 2004 – 5 StR 534/02, NStZ-RR 2004, 270, 271; 15. Februar 2005 – 1<br />

StR 91/04, StV 2005, 374). Dadurch hat sich der Verdacht sicher bestätigt. Dementsprechend handelt es sich bei dem<br />

Antrag, dessen Bescheidung die Revision beanstandet, nicht um einen nach Maßgabe des § 244 Abs. 3, 4 <strong>und</strong> 6 StPO<br />

zu behandelnden Beweisantrag, sondern um einen tatsächlich nicht zum Zwecke der Wahrheitsermittlung, sondern<br />

sachwidriger Prozesstaktik gestellten missbräuchlichen Scheinbeweisantrag. Es fehlt daher erwiesenermaßen an<br />

einer Verletzung des Beweisantragsrechts.<br />

c) Bei dieser Sachlage kann der Senat offenlassen, ob das Revisionsgericht etwa ausnahmsweise nach einem Aufklärungsmangel<br />

oder einem vom Tatgericht rechtsfehlerhaft beschiedenen Beweisantrag, einen Sachverständigenbeweis<br />

betreffend, bei dem ein eindeutiges, von keiner weiteren gerichtlichen Bewertung abhängiges Beweisergebnis zu<br />

erwarten ist (vgl. zur DNA BGH, Beschluss vom 21. Januar 2009 – 1 StR 722/08, NJW 2009, 1159, aber auch Beschluss<br />

vom 6. März 2012 – 3 StR 41/12), zur Nachholung einer versäumten tatgerichtlichen Beweiserhebung befugt<br />

sein könnte, mit der die Frage des Beruhens des angefochtenen Urteils auf dem gerügten Verstoß eindeutig zu klären<br />

wäre.<br />

StPO § 244 III 2 Prozessverschleppung; StPO § 246 I - Fristsetzung Beweisantrag; Bescheidung nur<br />

im Urteil<br />

BGH, Beschl. v. 20.07.2011 - 3 StR 44/11 - NJW 2011, 2821 = NStZ 2011, 647 = StV 2011, 646<br />

Unzulässige Entscheidung über einen Beweisantrag im Urteil mit der Begründung, er sei zur Prozessverschleppung<br />

gestellt worden.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 22. April 2010, soweit es ihn<br />

betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die<br />

Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung<br />

zu der Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt <strong>und</strong> den Maßstab für die Anrechnung in den Niederlanden<br />

erlittener Untersuchungshaft auf 1:1 bestimmt. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision die Verletzung<br />

formellen sowie materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.<br />

I. Die Revision beanstandet zu Recht, dass die Kammer über einen Beweisantrag entgegen § 244 Abs. 6 StPO nicht<br />

in der Hauptverhandlung, sondern erst im Urteil entschieden hat.<br />

1. Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugr<strong>und</strong>e: Die Hauptverhandlung begann am 8. November 2007. Am<br />

26. November 2009 verkündete der Vorsitzende seine Entscheidung, den Prozessbeteiligten "für das Stellen von<br />

Beweisanträgen eine Frist bis zum 02.12.2009" zu setzen. Die Kammer behalte sich vor, danach gestellte Beweisanträge<br />

ohne gesonderten Beschluss erst im Urteil zu bescheiden <strong>und</strong> sie insbesondere wegen Verschleppungsabsicht<br />

abzulehnen. In einem ebenfalls am 26. November 2009 verkündeten Beschluss führte die Kammer unter anderem<br />

334


näher aus, dass das Verhalten der Verteidiger des Mitangeklagten den Verdacht nahe lege, ein Beweisantrag sei mit<br />

Verschleppungsabsicht gestellt worden. In einem weiteren Beschluss vom 19. April 2010 teilte die Kammer mit,<br />

weitere Beweisanträge erst in den Urteilsgründen zu bescheiden, "sofern der jeweilige Antragsteller nicht substantiiert<br />

darlegt, warum ihm eine frühere Antragstellung nicht möglich gewesen ist oder dies sonst ersichtlich ist". In den<br />

Gründen des Beschlusses legte die Kammer unter Darstellung des bisherigen Verfahrensablaufs dar, dass es dem<br />

Wahlverteidiger des Mitangeklagten bei einer Antragstellung um Prozessverschleppung gegangen sei. Am selben<br />

Hauptverhandlungstag beantragte ein Verteidiger des Mitangeklagten, den Zeugen D. (zu einer die Glaubwürdigkeit<br />

eines Mittäters betreffenden Hilfstatsache) zu vernehmen. Diesem Antrag schloss sich der Verteidiger des Angeklagten<br />

an. Die Kammer lehnte den Antrag erst in den Urteilsgründen mit der Begründung ab, er sei zur Prozessverschleppung<br />

gestellt worden.<br />

2. Die Rüge, welche die in der Hauptverhandlung unterbliebene Bescheidung des Beweisantrags betrifft, ist zulässig<br />

erhoben. Ihre Zulässigkeit setzt nicht voraus, dass die durch den Vorsitzenden bestimmte Frist zunächst nach § 238<br />

Abs. 2 StPO beanstandet wird. Eine derartige Beanstandung kann regelmäßig nur dann Voraussetzung einer Revisionsrüge<br />

sein, wenn sich diese gegen eine sachleitende Anordnung des Vorsitzenden richtet (vgl. KK/Schneider,<br />

StPO, 6. Aufl., § 238 Rn. 29; LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 238 Rn. 43). Gegenstand der Rügen ist hier jedoch nicht<br />

die Fristsetzung zur Stellung von Beweisanträgen durch den Vorsitzenden als solche, sondern die unterbliebene<br />

Bescheidung des Antrags in der Hauptverhandlung. Dieses Unterlassen selbst bedurfte keiner Beanstandung nach §<br />

238 Abs. 2 StPO. Für das tatsächlich als Beweisantrag zu qualifizierende Beweisbegehren auf Vernehmung des<br />

Zeugen D. ergibt sich dies bereits daraus, dass dessen Ablehnung nach § 244 Abs. 6 StPO einen Gerichtsbeschluss<br />

erfordert hätte.<br />

3. Die genannte Verfahrensrüge ist begründet.<br />

a) Die vor der Urteilsverkündung unterbliebene Bescheidung des Antrags war fehlerhaft. Der Beweisantrag auf Vernehmung<br />

des Zeugen D. hätte gemäß § 244 Abs. 6 StPO nur durch einen in der Hauptverhandlung bekannt gemachten<br />

Gerichtsbeschluss abgelehnt werden dürfen. Hiervon durfte die Kammer nicht absehen. Der B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

hat zwar in verschiedenen Entscheidungen die Möglichkeit aufgezeigt, unter bestimmten Voraussetzungen eine Frist<br />

zu setzen, in der Beweisanträge zu stellen sind, <strong>und</strong> eine verspätete Antragstellung als Indiz für eine Verschleppungsabsicht<br />

im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 6 StPO zu werten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Mai 2007 - 1<br />

StR 32/07, BGHSt 51, 333, 344 f.; vom 19. Juni 2007 - 3 StR 149/07, NStZ 2007, 716; vom 23. September 2008 - 1<br />

StR 484/08, BGHSt 52, 355, 361 ff.; vom 10. November 2009 - 1 StR 162/09, NStZ 2010, 161 f.; s. auch BVerfG,<br />

Beschlüsse vom 6. Oktober 2009 - 2 BvR 2580/08, NJW 2010, 592 ff.; vom 24. März 2010 - 2 BvR 2092/09 (u.a.),<br />

NJW 2010, 2036 f.). Doch enthebt dies das Gericht auch bei Anträgen, die nach Ablauf der Frist gestellt sind, nicht<br />

von der Pflicht, über diese in der gesetzlich vorgesehenen Weise zu entscheiden (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 10.<br />

November 2009 - 1 StR 162/09, aaO). Ob gleichwohl darüber hinaus in extrem gelagerten Fällen eine Bescheidung<br />

von Beweisanträgen in der Hauptverhandlung ausnahmsweise entbehrlich sein kann (so BGH, Beschluss vom 14.<br />

Juni 2005 - 5 StR 129/05, NJW 2005, 2466, 2468 f.), muss der Senat hier nicht entscheiden. Der zitierte Beschluss<br />

betrifft den Sonderfall massenhaft gestellter Beweisanträge, die erkennbar darauf abzielten, das Tatgericht allein<br />

schon durch die notwendige (einkalkuliert negative) Bescheidung der Anträge <strong>und</strong> nicht durch Beweiserhebungen<br />

nach Maßgabe der Anträge am Abschluss des Verfahrens zu hindern (vgl. LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn.<br />

283). Für diese Konstellation hat der 5. Strafsenat erwogen, dass den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Entgegennahme<br />

von Beweisanträgen gesetzt <strong>und</strong> mit eingehender Begründung die pauschale Ablehnung nach Fristablauf<br />

gestellter Anträge wegen Verschleppungsabsicht vorab beschlossen werden könne; die nach Fristablauf angebrachten<br />

Anträge überprüfe das Tatgericht dann vornehmlich unter Aufklärungsgesichtspunkten, bescheide sie aber - so sie<br />

nicht doch Anlass zu weiterer Beweiserhebung unter diesem Gesichtspunkt bieten - wie Hilfsbeweisanträge erst im<br />

Urteil, wobei auch der Ablehnungsgr<strong>und</strong> der Verschleppungsabsicht nicht ausgeschlossen sei. Der 5. Strafsenat hat<br />

allerdings ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Verfahrensweise in der Regel allenfalls dann in Betracht<br />

gezogen werden könne, wenn zuvor gestellte Beweisanträge wiederholt wegen Verschleppungsabsicht abgelehnt<br />

werden mussten. Damit ist der hier zu beurteilende Sachverhalt schon im Ansatz nicht vergleichbar. Zudem hat sich<br />

die Kammer in ihren Beschlüssen vom 26. November 2009 <strong>und</strong> 19. April 2010 ausführlich lediglich mit dem Verteidigungsverhalten<br />

des Mitangeklagten, nicht aber dem des Angeklagten befasst. Eine "‚vor die Klammer gezogene’<br />

Vorabinformation über die zukünftigen Ablehnungsgründe" (BGH, Beschluss vom 14. Juni 2005 - 5 StR 129/05,<br />

aaO) ergibt sich hieraus in Bezug auf eine etwaige Prozessverschleppung durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger<br />

nicht.<br />

b) Das Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler, da die Entscheidung ohne die Gesetzesverletzung möglicherweise<br />

anders ausgefallen wäre. Es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte <strong>und</strong> sein Verteidiger den Vorwurf der<br />

335


Prozessverschleppung hätten entkräften oder weitere Anträge hätten stellen können, wenn sie den Ablehnungsgr<strong>und</strong><br />

gekannt hätten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. April 1986 - 4 StR 161/86, NStZ 1986, 372; vom 7. Dezember 1979 -<br />

3 StR 299/79 (S), BGHSt 29, 149, 152). Da sich die Kammer in ihren Beschlüssen im Wesentlichen mit der Verschleppungsabsicht<br />

der Verteidigung des Mitangeklagten befasste, konnten der Angeklagte <strong>und</strong> sein Verteidiger in<br />

der Hauptverhandlung nicht auf die erst in den Urteilsgründen genannten Gesichtspunkte, die sie betrafen, reagieren.<br />

Dass die begehrte Beweiserhebung im Falle ihrer Durchführung ohne Einfluss auf das Urteil geblieben wäre, vermag<br />

der Senat nicht festzustellen, weil er das Beweisergebnis nicht vorwegnehmen kann (vgl. KK/Kuckein, StPO, 6.<br />

Aufl., § 337 Rn. 38). Anders als bei anderen Anträgen hat die Kammer gerade nicht darauf abgestellt, dass die Tatsachen,<br />

für die der Zeuge D. benannt worden ist, für die Entscheidung ohne Bedeutung gewesen wären <strong>und</strong> das Urteil<br />

nicht geändert hätten.<br />

II. Das Urteil ist auf die dargelegte zulässige <strong>und</strong> begründete Verfahrensrüge hin aufzuheben. Eine nähere Erörterung<br />

der in die gleiche Richtung zielenden <strong>und</strong> ebenfalls begründeten Rüge, dass weder der Vorsitzende noch die Kammer<br />

über den Beweisermittlungsantrag auf Vernehmung von Rechtsanwalt K. entschieden hat, ist daher entbehrlich. Auf<br />

die weiteren Verfahrensrügen kommt es ebenso wenig an wie auf die Sachrüge, die keinen Rechtsfehler zum Nachteil<br />

des Angeklagten ergeben hat.<br />

StPO § 245 <strong>StGB</strong>; 244; § 46b I; <strong>StGB</strong> § 250 - Aufklärungshilfe<br />

BGH, Urt. v. 06.07.2011 – 2 StR 124/11 - StV 2011, 711<br />

Ein aussagepsychologischer Sachverständiger ist nicht schon deshalb ein völlig ungeeignetes Beweismittel<br />

im Sinne von § 245 Abs. 2 StPO, weil er während der Vernehmung des betreffenden<br />

Zeugen in der Hauptverhandlung nicht anwesend war.<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Trier vom 20. August 2010 mit den<br />

Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Körperverletzung in sieben Fällen, davon in fünf Fällen in<br />

Tateinheit mit Vergewaltigung, sowie der Freiheitsberaubung in drei Fällen - jeweils begangen zum Nachteil seiner<br />

früheren Ehefrau S. H. - freigesprochen. Dagegen richtet sich die auf Verfahrensrügen <strong>und</strong> die näher ausgeführte<br />

Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Die Revision hat mit einer Verfahrensrüge - Verletzung des §<br />

245 Abs. 2 StPO - Erfolg. Ihr liegt folgender Verfahrensablauf zugr<strong>und</strong>e:<br />

1. In der Hauptverhandlung vom 9. April 2010 stellte die Staatsanwaltschaft den Beweisantrag, Prof. Dr. S. <strong>und</strong><br />

Diplom-Psychologin G. als sachverständige Zeugen zu einer von ihnen durchgeführten Exploration der Nebenklägerin<br />

zu vernehmen, in der sie zu dem Ergebnis gelangten, dass die Aussagen der Nebenklägerin auch im vorliegenden<br />

Verfahren auf Erlebnisf<strong>und</strong>ierung verweisen. Das Gericht legte das Beweisbegehren der Staatsanwaltschaft als Antrag<br />

auf Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens aus <strong>und</strong> wies den Antrag mit der<br />

Begründung zurück, es besitze selbst die zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussagen der Zeugin erforderliche<br />

Sachk<strong>und</strong>e (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO). In der Hauptverhandlung vom 23. Juni 2010 beantragte daraufhin der Sitzungsvertreter<br />

der Staatsanwaltschaft, die nunmehr gemäß §§ 214 Abs. 3, 222 Abs. 1 Satz 2 StPO zu dem Termin<br />

geladenen <strong>und</strong> erschienenen Prof. Dr. S. <strong>und</strong> Diplom-Psychologin G. als präsente Sachverständige zum Beweis der<br />

Tatsache zu vernehmen, dass die Aussagen der Zeugin H. über körperliche <strong>und</strong> gewalttätige Übergriffe durch den<br />

Angeklagten in aussagepsychologischer Hinsicht auf Ergebnisf<strong>und</strong>ierung hinweisen. Das Gericht wies diese Beweisanträge<br />

mit der Begründung zurück, es handele sich bei den Sachverständigen um völlig ungeeignete Beweismittel.<br />

Sie hätten an der Beweisaufnahme, insbesondere der sich über mehrere Verhandlungstage erstreckenden Vernehmung<br />

der Nebenklägerin, nicht teilgenommen. Insofern fehle es ihnen an geeigneten Anknüpfungstatsachen für eine<br />

zuverlässige Begutachtung; die den Sachverständigen übergebene Zusammenfassung der Aufzeichnungen des Vertreters<br />

der Staatsanwaltschaft reiche hierfür nicht aus. Es sei unerlässlich, dass sich ein Sachverständiger von den zu<br />

beurteilenden Angaben einen unmittelbaren eigenen Eindruck verschaffen könne. Die erforderlichen Anknüpfungstatsachen<br />

könnten auch nicht nachträglich beschafft werden, da eine Rekonstruktion der Beweisaufnahme nicht möglich<br />

sei.<br />

336


2. Diese Verfahrensweise ist mit § 245 Abs. 2 StPO nicht zu vereinbaren. Ein Beweisantrag kann - auch bei präsenten<br />

Beweismitteln - wegen völliger Ungeeignetheit abgelehnt werden, wenn das Gericht ohne jede Rücksicht auf das<br />

bisherige Beweisergebnis ausschließen kann, dass sich mit dem angebotenen Beweismittel das in Aussicht gestellte<br />

Ergebnis erzielen lässt (Meyer-Goßner § 244 StPO Rn. 58 m.N.). Ein geminderter, geringer oder zweifelhafter Beweiswert<br />

reicht dagegen nicht aus. Ein Sachverständiger ist als Beweismittel völlig ungeeignet, wenn das Gutachten<br />

zu keinem verwertbaren Ergebnis führen kann, so z.B. wenn die für das Gutachten notwendigen tatsächlichen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen nicht gegeben sind <strong>und</strong> auch nicht beschafft werden können (BGH NStZ 2003, 611). Keine völlige Ungeeignetheit<br />

liegt vor, wenn nur wenige Anknüpfungstatsachen vorliegen (BGH StV 07, 513).<br />

a) Nach diesen Maßstäben war die Ablehnung des Beweisantrags auf Vernehmung der präsenten Sachverständigen<br />

Prof. Dr. S. <strong>und</strong> Diplom-Psychologin G. wegen völliger Ungeeignetheit des Beweismittels rechtsfehlerhaft. Ein aussagepsychologischer<br />

Sachverständiger ist nicht schon deshalb ein völlig ungeeignetes Beweismittel im Sinne von §<br />

245 Abs. 2 StPO, weil er während der Vernehmung des betreffenden Zeugen in der Hauptverhandlung nicht anwesend<br />

war. Dass die Sachverständigen sich keinen unmittelbaren eigenen Eindruck von der Aussage der Zeugin H.<br />

machen konnten, ist erforderlichenfalls bei der Würdigung ihres Gutachtens in Rechnung zu stellen, macht sie entgegen<br />

der Auffassung des Landgerichts aber nicht zu Beweismitteln ohne jeden Beweiswert. Die Sachverständigen<br />

hatten unabhängig von der unmittelbaren Wahrnehmung der Vernehmung in der Hauptverhandlung eine hinreichende<br />

tatsächliche Gr<strong>und</strong>lage für die aussagepsychologische Begutachtung der Zeugin. Sie hatten die Nebenklägerin auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage der Ermittlungsakte <strong>und</strong> ihrer darin dokumentierten polizeilichen <strong>und</strong> richterlichen Vernehmungen<br />

selbst eingehend exploriert <strong>und</strong> ihre Erkenntnisse in einem detaillierten schriftlichen Gutachten niedergelegt. Dass<br />

den Sachverständigen insoweit wesentliche Anknüpfungstatsachen für die Erstattung des Gutachtens zur Verfügung<br />

standen, wird daran deutlich, dass auch das Gericht im Urteil ausführlich auf die früheren Vernehmungen der Nebenklägerin<br />

sowie auf einzelne Ergebnisse der Exploration durch die Sachverständigen eingegangen ist <strong>und</strong> diese<br />

Umstände bei seiner Überzeugungsbildung berücksichtigt hat. Darüber hinaus hatte der Vertreter der Staatsanwaltschaft<br />

die Sachverständigen ausführlich schriftlich darüber informiert, was die Zeugin nach seiner Wahrnehmung in<br />

der Hauptverhandlung bek<strong>und</strong>et hatte. Insoweit bestand ergänzend die Möglichkeit, den Sachverständigen durch eine<br />

Unterrichtung seitens des Vorsitzenden über die Aussage der Zeugin weitere Anknüpfungstatsachen für das zu erstattende<br />

Gutachten zur Verfügung zu stellen. Zwar war hierdurch keine Rekonstruktion der Vernehmung <strong>und</strong> des<br />

persönlichen Eindrucks der Zeugin möglich. Anders als das Gericht, das seine Überzeugung alleine aus dem Inbegriff<br />

der Verhandlung schöpfen darf, ist es aber gr<strong>und</strong>sätzlich dem Sachverständigen überlassen, auf welche Weise er<br />

sich die erforderlichen Anknüpfungstatsachen für sein Gutachten verschafft. Hier hätten die Sachverständigen durch<br />

die Kenntnis vom Inhalt der Angaben der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung, wie sie von Gericht <strong>und</strong> Staatsanwaltschaft<br />

aufgenommen worden waren, zumindest zusätzliche Tatsachen verwerten können, die - etwa für die<br />

Beurteilung der Konstanz der Aussagen der Nebenklägerin - von Relevanz für die Begutachtung sein konnten.<br />

b) Entgegen der Auffassung des Landgerichts war das Beweisbegehren auch nicht dadurch in der Sache bereits beschieden,<br />

dass es einen an einem früheren Hauptverhandlungstermin von der Staatsanwaltschaft gestellten Beweisantrag<br />

auf Vernehmung der - zum damaligen Zeitpunkt nicht präsenten - Sachverständigen mit der nicht zu beanstandenden<br />

Begründung zurückgewiesen hatte, es besitze die erforderliche eigene Sachk<strong>und</strong>e zur Beurteilung der<br />

Glaubwürdigkeit der Zeugin (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO). Denn im Hauptverhandlungstermin vom 23. Juni 2010 war<br />

eine neue prozessuale Situation eingetreten; da die Staatsanwaltschaft die Sachverständigen Prof. Dr. S. <strong>und</strong> Diplom-<br />

Psychologin G. zu diesem Termin geladen hatte <strong>und</strong> sie erschienen waren, war der Beweisantrag nunmehr nach §<br />

245 Abs. 2 StPO zu beurteilen, der den Katalog der sachlichen Ablehnungsgründe bei präsenten Beweismitteln bewusst<br />

enger fasst <strong>und</strong> die Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Sachverständigen wegen eigener<br />

Sachk<strong>und</strong>e nicht zulässt (BGH NStZ 1994, 400).<br />

3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht, da die Sachverständigen in ihrem<br />

vorläufigen schriftlichen Gutachten von einer Erlebnisf<strong>und</strong>ierung der den Angeklagten belastenden Angaben der<br />

Nebenklägerin ausgingen.<br />

337


StPO § 246a S. 2; <strong>StGB</strong> § 64 – Sachverständiger vor Unterbringung<br />

BGH, Beschl. v. 20.09.2011 - 4 StR 434/11 - StV 2012, 194<br />

Zur Verpflichtung des Gerichts gem. § 246a S. 2 StPO einen Sachverständigen anzuhören, wenn<br />

nach den Umständen des Einzelfalls eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt<br />

in Betracht kommt <strong>und</strong> deshalb eine Anordnung dieser Maßregel konkret zu erwägen ist.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal vom 25. Mai 2011 mit den zugehörigen<br />

Feststellungen aufgehoben, soweit von der Anordnung einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt<br />

abgesehen worden ist.<br />

2. Die weiter gehende Revision wird als unbegründet verworfen.<br />

3. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu erneuter Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Kammer des Landgerichts Frankenthal zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen, in weiterer<br />

Tateinheit mit versuchtem schweren Raub, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> neun Monaten verurteilt.<br />

Von der Anordnung seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat es abgesehen. Mit seiner hiergegen eingelegten<br />

Revision macht der Angeklagte einen Verstoß gegen § 246a StPO geltend <strong>und</strong> rügt die Verletzung materiellen<br />

Rechts. Die Nachprüfung des Schuld-, <strong>und</strong> Strafausspruchs hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil<br />

des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Nichtanordnung einer Maßregel gemäß § 64 <strong>StGB</strong> hält dagegen<br />

rechtlicher Nachprüfung nicht stand.<br />

I. Die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat das Landgericht ohne sachverständige<br />

Hilfe verneint, weil es das Vorliegen eines Hanges im Sinne von § 64 Satz 1 <strong>StGB</strong> nicht festzustellen vermochte. Zur<br />

Begründung hat das Landgericht ausgeführt, dass es an hinreichenden Erkenntnissen über die Trinkgewohnheiten<br />

des Angeklagten fehle. Zwar habe der Angeklagte schon Straftaten in alkoholisiertem Zustand begangen, doch spreche<br />

vieles dafür, dass der Angeklagte lediglich bei gelegentlichen Alkoholeskapaden zu aggressiven Übergriffen<br />

neige. Auch seine berufliche <strong>und</strong> familiäre Integration stünden der Annahme eines Hanges entgegen.<br />

II. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt<br />

abgelehnt hat, begegnen schon deshalb durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil - wie die Revision zu Recht rügt<br />

- entgegen § 246a Satz 2 StPO kein Sachverständiger hinzugezogen wurde. Nach § 246a Satz 2 StPO ist ein Sachverständiger<br />

über den Zustand des Angeklagten <strong>und</strong> seine Behandlungsaussichten zu vernehmen, wenn das Gericht<br />

eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt erwägt. Diese durch das Gesetz zur Sicherung der<br />

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus <strong>und</strong> in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBl. I. S.<br />

1327) neu geschaffene Vorschrift ist § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO nachgebildet <strong>und</strong> trägt nach dem Willen des Gesetzgebers<br />

in erster Linie der zugleich vorgenommenen Umwandlung von § 64 <strong>StGB</strong> in eine Soll-Vorschrift Rechnung<br />

(BT-Drucks. 16/1344, S. 17; 16/5137 S. 11; 16/1110, S. 25). Danach ist der Tatrichter auch weiterhin gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

verpflichtet, einen Sachverständigen anzuhören, wenn nach den Umständen des Einzelfalls eine Unterbringung des<br />

Angeklagten in einer Entziehungsanstalt in Betracht kommt <strong>und</strong> deshalb eine Anordnung dieser Maßregel konkret zu<br />

erwägen ist (Löwe/Rosenberg-Becker, StPO, 26. Aufl., § 246a, Rn. 8; Berg in BeckOK, StPO, § 246a, Rn. 2). Von<br />

dieser Verpflichtung ist er allerdings dann befreit, wenn er die Maßregelanordnung nach § 64 <strong>StGB</strong> allein in Ausübung<br />

seines Ermessens nicht treffen will <strong>und</strong> diese Entscheidung von sachverständigen Feststellungen unabhängig<br />

ist (BT-Drucks. 16/1344, S. 17; 16/5137 S. 11; Löwe/Rosenberg-Becker, StPO, 26. Aufl., § 246a, Rn. 8; KK-<br />

Fischer, 6. Aufl., § 246a, Rn. 2). Ob darüber hinaus von einer Begutachtung auch dann abgesehen werden darf, wenn<br />

eine gr<strong>und</strong>sätzlich in Betracht kommende Maßregelanordnung nach § 64 <strong>StGB</strong> nicht in Erwägung gezogen wird,<br />

weil nach den Umständen des Einzelfalls das Fehlen einer hinreichenden Erfolgsaussicht auf der Hand liegt (vgl.<br />

BT-Drucks. 16/1110, S. 25; BT-Drucks. 16/1344, S. 17; SK-StPO/Frister, § 246a, Rn. 6; Meyer-Goßner, StPO, 54.<br />

Aufl., § 246a, Rn. 3; a.A. BT-Drucks. 16/5137, S. 11; Löwe/ Rosenberg-Becker, StPO, 26. Aufl., § 246a, Rn. 8;<br />

Berg in BeckOK, StPO, § 246a, Rn. 2; Schneider NStZ 2008, 68, 70), braucht der Senat nicht zu entscheiden. Das<br />

Landgericht hat die Anordnung einer Maßregel nach § 64 <strong>StGB</strong> im Einzelnen erörtert <strong>und</strong> damit konkret in Erwägung<br />

gezogen. Dabei hat es die Annahme eines Hanges unter anderem mit der Begründung verneint, dass keine<br />

ergiebigen Erkenntnisse über die Trinkgewohnheiten des Angeklagten gewonnen werden konnten. Seine Negativentscheidung<br />

beruht damit weder auf einem sicheren Ausschluss einer hinreichenden Erfolgsaussicht kraft eigener<br />

Sachk<strong>und</strong>e, noch auf einer Ausübung des durch § 64 <strong>StGB</strong> eingeräumten Ermessens. Kann über das Vorliegen der<br />

338


Voraussetzungen für eine im Raum stehende Maßregelanordnung nach § 64 <strong>StGB</strong> keine Klarheit gewonnen werden,<br />

weil die Erkenntnismöglichkeiten des Tatrichters zur Beurteilung des Zustands des Angeklagten nicht ausreichen, ist<br />

die Beiziehung eines Sachverständigen nach § 246a Satz 2 StPO geboten. Dabei gehört es auch zu den Aufgaben des<br />

Sachverständigen, durch eine entsprechende Befragung des Angeklagten im Rahmen der Exploration <strong>und</strong> die Auswertung<br />

- gegebenenfalls noch herbeizuschaffenden - Aktenmaterials Defizite des Gerichts bei der Tatsachenfeststellung<br />

auszugleichen (vgl. Rössner in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 1, S.<br />

410 f.). Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Nichtanordnung einer Maßregel nach § 64 <strong>StGB</strong> auf diesem<br />

Rechtsfehler beruht.<br />

StPO § 247a Videokonferenz, Beschlussfassung außerhalb Hauptverhandlung Besetzung<br />

BGH, Beschl. v. 28.09.2011 – 5 StR 315/11- StV 2012, 65 m. Anm. Eisenberg<br />

Eine gesetzliche Regelung, wonach zwingend die Gerichtsbesetzung in der Hauptverhandlung über<br />

die Anordnung nach § 247a StPO zu entscheiden hat, besteht nicht. Ein solches Erfordernis ist auch<br />

nicht aus der Gesetzessystematik als Vorschrift des Zweiten Buches, 6. Abschnitt der Strafprozessordnung<br />

herzuleiten.<br />

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 30. Dezember 2010 werden nach §<br />

349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Ergänzend bemerkt der Senat zu den von allen Angeklagten jeweils zulässig erhobenen Verfahrensrügen der Verletzung<br />

des § 247a StPO: Das Landgericht hat – nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten – auf jeweils schriftlich<br />

gestellten Antrag zweier Zeugen deren audiovisuelle Vernehmung gemäß § 247a StPO durch außerhalb der Hauptverhandlung<br />

erlassenene Beschlüsse angeordnet <strong>und</strong> diese den Verfahrensbeteiligten formlos mitgeteilt. Eine Verkündung<br />

<strong>und</strong> Verlesung der Beschlüsse in der Hauptverhandlung erfolgte nicht. Entsprechend den Anordnungen<br />

wurden die Zeugen audiovisuell vernommen, ohne dass die Angeklagten dieser Vorgehensweise widersprachen. Die<br />

von den Revisionen vorgebrachten Einwendungen, dass die Beschlussanordnungen nach § 247a StPO nicht vom<br />

gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erlassen worden seien, weil hierfür ausschließlich die<br />

Gerichtsbesetzung in der Hauptverhandlung einschließlich der Schöffen zuständig gewesen wäre, greifen nicht. Eine<br />

gesetzliche Regelung, wonach zwingend die Gerichtsbesetzung in der Hauptverhandlung über die Anordnung nach §<br />

247a StPO zu entscheiden hat, besteht nicht. Ein solches Erfordernis ist auch nicht aus der Gesetzessystematik als<br />

Vorschrift des Zweiten Buches, 6. Abschnitt der Strafprozessordnung herzuleiten. Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat mehrfach<br />

entschieden, dass auch bei laufender Hauptverhandlung Gerichtsentscheidungen in der Besetzung außerhalb der<br />

Hauptverhandlung getroffen werden können (vgl. BGH, Urteil vom 27. August 1986 – 3 StR 223/86, BGHSt 34,<br />

154, 155 f.; BGH, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 1 StR 648/10, StV 2011, 295). Auch vorliegend ist die Beschlussfassung<br />

des Gerichts in der Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung nicht zu beanstanden. Zur Vorbereitung<br />

der audiovisuellen Vernehmung ist mitunter eine erhebliche Vorlaufzeit erforderlich, etwa um die technischen<br />

<strong>und</strong> tatsächlichen Modalitäten der Vernehmung abzuklären (vgl. Becker in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 247a<br />

Rn. 17). Darüber hinaus hat das Gericht im Interesse der Verfahrensbeteiligten, insbesondere wenn ein Zeuge zu<br />

seinem Schutz seine audiovisuelle Vernehmung bereits im Vorfeld beantragt hat, aus Gründen der Rechtsklarheit die<br />

beabsichtigte Entscheidung zu treffen <strong>und</strong> die Beteiligten hierüber in Kenntnis zu setzen. Die Verteidigung des Angeklagten<br />

wird hierdurch nicht eingeschränkt, weil das Gericht in der Hauptverhandlung an seine Entscheidung nicht<br />

geb<strong>und</strong>en ist <strong>und</strong> jederzeit – namentlich auch auf entsprechenden Antrag von Seiten des Angeklagten – seine Entscheidung<br />

ändern kann (vgl. Becker aaO).<br />

339


StPO § 249 II – Selbstleseverfahren, Gelegenheit zur Kenntnisnahme bei Richtern unzureichend<br />

BGH, Beschl. v. 10.01.2012 - 1 StR 587/11 - StraFo 2012, 101<br />

1. Ziel eines Selbstleseverfahrens ist es, den Inhalt von Urk<strong>und</strong>en auch ohne ihre Verlesung zum<br />

Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen. Hierfür ist bedeutungslos, ob die Erklärung der<br />

Richter, vom Wortlaut der Urk<strong>und</strong>en Kenntnis genommen zu haben, darauf beruht, dass sie die<br />

Urk<strong>und</strong>en vor oder nach der Anordnung des Selbstleseverfahrens gelesen haben. Es genügt daher,<br />

wenn die Urk<strong>und</strong>en schon zuvor, etwa bei der Prüfung der Eröffnungsentscheidung, gelesen wurden.<br />

Soweit Richter die Urk<strong>und</strong>en nicht ohnehin unabhängig vom Selbstleseverfahren gelesen haben,<br />

wie z.B. möglicherweise ein zweiter Beisitzer oder ein Ergänzungsrichter <strong>und</strong> regelmäßig<br />

Schöffen, genügt es dementsprechend, wenn dies, etwa im Vorgriff auf ein beabsichtigtes Selbstleseverfahren<br />

schon vor dessen Anordnung, parallel zur Hauptverhandlung oder auch schon vor der<br />

Hauptverhandlung geschieht.<br />

2. Die Feststellung, die Mitglieder des Gerichts hätten Gelegenheit zur Kenntnisnahme gehabt, wird<br />

den Anforderungen des Gesetzes nicht gerecht.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 4. August 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,<br />

an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Der Angeklagte wurde wegen schwerer räuberischer Erpressung unter Einbeziehung früher verhängter Strafen zu<br />

einer nachträglichen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg (§ 349 Abs.<br />

4 StPO).<br />

1. Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung verkündete der Vorsitzende folgende, „Beschluss“ genannte<br />

Anordnung <strong>und</strong> Feststellungen: „Die im Sonderband TKÜ-Band enthaltenen Gesprächsprotokolle werden im Selbstleseverfahren<br />

eingeführt, das Gericht hatte Gelegenheit, hiervon Kenntnis zu nehmen, alle übrigen Verfahrensbeteiligten<br />

hatten ebenfalls Gelegenheit dazu“.<br />

2. Hieran knüpft die Revision an. Sie hält § 261 StPO für verletzt. Die Protokolle seien im Urteil verwertet, obwohl<br />

die Mitglieder des Gerichts vom Wortlaut der Protokolle keine Kenntnis erlangt hätten. Dies ergebe sich daraus, dass<br />

entgegen § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO nicht festgestellt sei, dass die Richter von den Protokollen Kenntnis genommen<br />

hätten.<br />

3. Hier wurde ein Selbstleseverfahren angeordnet <strong>und</strong> wegen früheren Geschehens sogleich als durchgeführt erklärt.<br />

Der Senat hat zunächst geprüft, ob dies den Anforderungen an ein Selbstleseverfahren entsprechen kann. Für die<br />

Rüge einer Verletzung von Bestimmungen, die im Zusammenhang mit einem Selbstleseverfahren zu beachten sind,<br />

wäre in dieser Form schwerlich Raum, wenn von vorneherein kein ordnungsgemäßes Selbstleseverfahren vorläge.<br />

Ein Selbstleseverfahren ist - auch - in der geschilderten Weise möglich. Ziel eines Selbstleseverfahrens ist es, den<br />

Inhalt von Urk<strong>und</strong>en auch ohne ihre Verlesung zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen. Hierfür ist bedeutungslos,<br />

ob die Erklärung der Richter, vom Wortlaut der Urk<strong>und</strong>en Kenntnis genommen zu haben, darauf beruht,<br />

dass sie die Urk<strong>und</strong>en vor oder nach der Anordnung des Selbstleseverfahrens gelesen haben. Es genügt daher,<br />

wenn die Urk<strong>und</strong>en schon zuvor, etwa bei der Prüfung der Eröffnungsentscheidung, gelesen wurden. Soweit Richter<br />

die Urk<strong>und</strong>en nicht ohnehin unabhängig vom Selbstleseverfahren gelesen haben, wie z.B. möglicherweise ein zweiter<br />

Beisitzer oder ein Ergänzungsrichter <strong>und</strong> regelmäßig Schöffen, genügt es dementsprechend, wenn dies, etwa im<br />

Vorgriff auf ein beabsichtigtes Selbstleseverfahren schon vor dessen Anordnung, parallel zur Hauptverhandlung oder<br />

auch schon vor der Hauptverhandlung geschieht (vgl. Ganter in Graf, StPO § 249 Rn. 24; Diemer in KK 6. Aufl., §<br />

249 Rn. 36). Die übrigen Verfahrensbeteiligten müssen sich nicht darauf verweisen lassen, dass sie schon zuvor<br />

Gelegenheit zum Lesen der Urk<strong>und</strong>en gehabt hätten (Mosbacher in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 79).<br />

Da sie aber auf die Kenntnisnahme vom Inhalt der Urk<strong>und</strong>en sogar ganz verzichten können (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 14. Dezember 2010 - 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300 mwN), genügt - auch von der Revision nicht in Frage gestellt<br />

- die in der Hauptverhandlung unwidersprochen gebliebene Feststellung des Vorsitzenden, die übrigen Verfahrensbeteiligten<br />

hätten bereits ausreichende Gelegenheit zur Kenntnisnahme gehabt.<br />

340


4. Nach alledem liegt im Ansatz ein prozessordnungsgemäßes Selbstleseverfahren vor. Urk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> sonstige<br />

Schriftstücke sind aber nur dann im Blick auf ein Selbstleseverfahren ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt,<br />

wenn nach dessen Durchführung (als wesentliche Verfahrensförmlichkeit, §§ 273, 274 StPO) zu Protokoll<br />

festgestellt ist, dass die Mitglieder des Gerichts vom Wortlaut der Urk<strong>und</strong>en <strong>und</strong>/oder sonstigen Schriftstücke<br />

Kenntnis genommen haben <strong>und</strong> die übrigen Verfahrensbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten (§ 249 Abs. 2 Sätze 1<br />

<strong>und</strong> 3 StPO). Die hier allein getroffene - auf Gr<strong>und</strong> ihrer Eindeutigkeit auch keiner zu einem anderen Ergebnis führenden<br />

Auslegung zugängliche - Feststellung, die Mitglieder des Gerichts hätten Gelegenheit zur Kenntnisnahme<br />

gehabt, wird den Anforderungen des Gesetzes nicht gerecht (vgl. nur BGH, Beschluss vom 15. März 2011 - 1 StR<br />

33/11, NStZ-RR 2011, 253, 255 mwN).<br />

5. Ein Urteil beruht (§ 337 Abs. 1 StPO) auf dem aufgezeigten Mangel, wenn nicht auszuschließen ist, dass wesentliche<br />

Urteilsfeststellungen durch die nicht in einem ordnungsgemäß durchgeführten Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung<br />

eingeführten Urk<strong>und</strong>en <strong>und</strong>/oder Schriftstücke beeinflusst worden sind. Allein der Umstand, dass das<br />

Selbstleseverfahren durchgeführt worden ist, belegt die Bedeutung der Urk<strong>und</strong>en <strong>und</strong>/oder Schriftstücke für die<br />

Urteilsfeststellungen nicht (vgl. schon Kempf, StV 1987, 215, 221, 222), selbst die bloße Erwähnung eines Beweismittels<br />

bei der gelegentlich anzutreffenden, rechtlich nicht gebotenen <strong>und</strong> daher überflüssigen floskelhaften Aufzählung<br />

der Beweismittel besagt nicht notwendig, dass sich aus ihm etwas Wesentliches für die Urteilsfindung ergeben<br />

haben muss (Engelhardt in KK StPO, 6. Aufl., § 267 Rn. 13 mwN). Maßgeblich sind letztlich die Umstände des<br />

Einzelfalls, insbesondere die konkreten Ausführungen zur Beweiswürdigung (vgl. BGH aaO). Hier hat die Strafkammer<br />

gesondert für die Feststellungen zum Vortat-, Tat- <strong>und</strong> Nachtatgeschehen die maßgeblichen Beweismittel<br />

aufgezählt, die zwar hinsichtlich der Zeugen nicht in vollem Umfang identisch sind, die „im Selbstleseverfahren<br />

eingeführten TKÜ-Protokolle“ aber jeweils nennen. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt weist allerdings zutreffend darauf hin,<br />

dass einem wichtigen Zeugen die Protokollierung einiger zentraler Telefongespräche vorgehalten wurde. Jedoch<br />

kann eine darauf erfolgte Zeugenaussage nicht den Inhalt der Urk<strong>und</strong>e bestätigen, sondern nur das, was der Zeuge zu<br />

dem ihm vorgehaltenen Inhalt gesagt hat (vgl. Diemer in KK StPO, 6. Aufl., § 249 Rn. 42 mwN). Die Strafkammer<br />

stellt jedoch nicht nur auf diese Aussagen ab, sondern etwa auch darauf, dass die Aussage des Zeugen mit einem<br />

Gesprächsprotokoll „korrespondiert“. Soweit schließlich festgestellt ist, dass nach der Aussage eines Polizeibeamten<br />

„der Geschädigte den Inhalt der Gespräche … geschildert hat, wie in den TKÜ-Protokollen dokumentiert“, lässt dies<br />

unterschiedliche Auslegungen zu. Könnte diese Feststellung nur dahin verstanden werden, dass der Polizeibeamte<br />

berichtet hat, die Aussage des Geschädigten hätte nach einer von ihm (dem Polizeibeamten) vorgenommenen Überprüfung<br />

mit dem Inhalt der TKÜ-Protokolle übereingestimmt, könnte möglicherweise insoweit ein Beruhen des<br />

Urteils auf dem unzureichenden Selbstleseverfahren ausgeschlossen werden. Die genannte Urteilspassage lässt aber<br />

ebenso die Auslegung zu, dass nicht der Polizeibeamte die Aussage des Geschädigten mit den Protokollen verglichen<br />

hat, sondern dass die Strafkammer den Vergleich der vom Polizeibeamten berichteten Aussagen des Geschädigten<br />

mit den Protokollen selbst vorgenommen hat.<br />

6. Im Ergebnis kann nach alledem ein Beruhen des Urteils auf dem aufgezeigten Mangel nicht mit der erforderlichen<br />

Sicherheit ausgeschlossen werden. Deshalb hat die Revision Erfolg, ohne dass es noch auf Weiteres ankäme.<br />

StPO § 250, § 251, 344 II 2, Rügevoraussetzungen Protokollverlesung Verzicht<br />

BGH, Beschl. v. 25.10.2011 - 3 StR 315/11 - StV 2012, 202 = StraFo 2012, 64<br />

1. Zwar folgt aus § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO, dass der Angeklagte unter den dort näher bestimmten<br />

Umständen auf die Einhaltung des Gr<strong>und</strong>satzes der persönlichen Vernehmung nach § 250 StPO<br />

verzichten kann. § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO lässt aber einen Verzicht des Angeklagten nicht genügen,<br />

sondern fordert ausdrücklich das Einverständnis der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> eine durch Beschlussfassung<br />

dokumentierte Ermessensentscheidung des gesamten Spruchkörpers zugunsten der Verlesung.<br />

Steht die Abweichung von einem Prozessgr<strong>und</strong>satz unter solchen qualifizierten Voraussetzungen,<br />

so gibt das Gesetz damit zu erkennen, dass von seiner Einhaltung nicht formlos durch allseitiges<br />

Schweigen auf eine Anordnung des Vorsitzenden abgesehen werden kann.<br />

2. Wird gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ein ärztliches Attest verlesen, so wird sich regelmäßig erst in<br />

der Urteilsberatung ergeben, ob das Gericht das Schriftstück allein zum Nachweis einer Körperver-<br />

341


letzung, die nicht zu den schweren gehört, heranzieht oder - unter Überschreitung der durch die<br />

Bestimmung gezogenen Grenzen - unzulässig als Beleg für darüber hinausgehende Umstände verwertet.<br />

Für den Angeklagten wird ein solcher Rechtsfehler erst aus den schriftlichen Urteilsgründen<br />

ersichtlich, mithin zu einem Zeitpunkt, zu dem er von dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2<br />

StPO keinen Gebrauch mehr machen kann. Dieser kann daher schwerlich Zulässigkeitsvoraussetzung<br />

einer Rüge der Verletzung des § 250 StPO sein.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der auswärtigen großen Strafkammer des Landgerichts Kleve in<br />

Moers vom 6. April 2011 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung,<br />

auch über die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen,<br />

an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung in zwei Fällen,<br />

wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung <strong>und</strong> Bedrohung sowie wegen Körperverletzung in zwei Fällen<br />

zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen<br />

<strong>und</strong> materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.<br />

I. Die Revision beanstandet zu Recht, das Landgericht habe seiner Entscheidung unter Verstoß gegen § 250 StPO<br />

Erkenntnisse zugr<strong>und</strong>e gelegt, die nicht durch Verlesung in die Hauptverhandlung hätten eingeführt werden dürfen.<br />

1. Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugr<strong>und</strong>e: Das Landgericht vernahm im Verlauf der eintägigen Hauptverhandlung<br />

die Nebenklägerin zu den Tatvorwürfen. Während dieser Vernehmung wurde auf Anordnung des Vorsitzenden<br />

in Auszügen ein Bericht über die psychotraumatologische <strong>und</strong> allgemeinpsychiatrische Behandlung der<br />

Nebenklägerin verlesen, der von Ärzten eines Krankenhauses in der Trägerschaft einer Gesellschaft mit beschränkter<br />

Haftung erstellt worden war. Die Verlesung wurde von keinem Verfahrensbeteiligten als unzulässig beanstandet. Ein<br />

Gerichtsbeschluss über die Verlesung erging nicht. In den Urteilsgründen zog das Landgericht den Bericht als Beleg<br />

für die Folgen der Taten <strong>und</strong> für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin heran, die in wesentlichen <strong>Teil</strong>en<br />

in Widerspruch zu denen des überwiegend nicht geständigen Angeklagten standen. Es führte aus, der Umstand,<br />

dass die Nebenklägerin von Vergewaltigungen des Angeklagten nicht sogleich berichtet habe, sei auf ihre erhebliche<br />

Traumatisierung zurückzuführen, die durch den mittels Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführten Bericht<br />

bestätigt worden sei.<br />

2. Dies beanstandet die Revision zu Recht.<br />

a) Entgegen der Auffassung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts ist die Rüge zulässig erhoben. Es bedurfte keines Vortrags,<br />

dass in der Hauptverhandlung gegen die Anordnung des Vorsitzenden, den Bericht zu verlesen, durch den Angeklagten<br />

oder seinen Verteidiger gemäß § 238 Abs. 2 StPO auf Entscheidung der gesamten Kammer angetragen worden<br />

sei; denn ein entsprechender Antrag ist nicht Voraussetzung dafür, dass der Verstoß gegen § 250 StPO mit der Revision<br />

zulässig geltend gemacht werden kann. Dem Protokoll der Hauptverhandlung lässt sich nicht entnehmen, auf<br />

welcher rechtlichen Gr<strong>und</strong>lage der Bericht "auszugsweise" verlesen wurde. Es erscheint bereits fraglich, ob ein (verteidigter)<br />

Angeklagter in einem Fall, in dem hierfür mehrere Verfahrensvorschriften in Betracht kommen, überhaupt<br />

verpflichtet sein kann zu prüfen, auf welche Norm der Vorsitzende sich gestützt haben könnte, <strong>und</strong> ihm, wenn insoweit<br />

(auch) eine Vorschrift in Betracht kommt, deren fehlerhafte Anwendung nur nach Anrufung des Gerichts nach §<br />

238 Abs. 2 StPO mit der Revision gerügt werden kann, obliegt, vorsorglich diesen Zwischenrechtsbehelf zu erheben.<br />

Doch kann dies dahinstehen; denn die Verletzung beider Bestimmungen, auf die sich der Vorsitzende hier gestützt<br />

haben könnte, kann auch ohne Vorgehen nach § 238 Abs. 2 StPO mit der Revision zulässig beanstandet werden. Im<br />

Einzelnen:<br />

aa) Sollte der Vorsitzende - wofür allerdings nichts ersichtlich ist <strong>und</strong> was angesichts der Umstände eher fernliegt - §<br />

251 Abs. 1 StPO herangezogen haben, so bedurfte seine Anordnung schon wegen der mit ihr verb<strong>und</strong>enen Kompetenzüberschreitung<br />

keiner Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO.<br />

(1) Gemäß § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO obliegt es nicht dem Vorsitzenden, sondern dem gesamten Spruchkörper, über<br />

die Verlesung nach § 251 Abs. 1 StPO zu beschließen. Bedarf aber eine Maßnahme in der Hauptverhandlung von<br />

vornherein eines Gerichtsbeschlusses, so ist schon der Anwendungsbereich des § 238 Abs. 1 StPO nicht eröffnet <strong>und</strong><br />

es besteht demgemäß kein Anlass für ein Verfahren nach § 238 Abs. 2 StPO. Dieses kann damit auch nicht Voraussetzung<br />

einer zulässigen Rüge im Revisionsverfahren sein (vgl. BGH, Urteil vom 8. Oktober 1953 - 5 StR 245/53,<br />

BGHSt 4, 364, 366; Beschluss vom 20. Juli 2011 - 3 StR 44/11, NStZ 2011, 647). Einen Verstoß gegen § 250 StPO<br />

wegen einer kompetenzwidrigen Anordnung des Vorsitzenden auf der Gr<strong>und</strong>lage des § 251 Abs. 1 StPO konnte der<br />

Angeklagte daher mit der Revision auch dann geltend machen, wenn er diese Verfahrensweise in der Hauptverhand-<br />

342


lung nicht gemäß § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hatte (BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 - 4 StR 657/98, NJW<br />

1999, 1724, 1725, insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 44, 361 ff.; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. September<br />

1979 - 5 StR 531/79; Beschluss vom 26. Februar 1988 - 4 StR 51/88, NStZ 1988, 283; Beschluss vom 14. März 2000<br />

- 4 StR 3/00, BGHR StPO § 251 Abs. 4 Gerichtsbeschluss 4).<br />

(2) Dies gilt auch dann, wenn der Rechtsprechung des 1. Strafsenats zuzustimmen wäre, wonach die Verletzung<br />

eines Rechts, auf das der Angeklagte nach seinem Belieben verzichten kann, mit der Revision nur rügbar ist, wenn<br />

der Angeklagte zuvor nach § 238 Abs. 2 StPO auf eine Entscheidung des gesamten Spruchkörpers angetragen hat<br />

(BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 - 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300, 301). Zwar folgt aus § 251 Abs. 1 Nr. 1<br />

StPO, dass der Angeklagte unter den dort näher bestimmten Umständen auf die Einhaltung des Gr<strong>und</strong>satzes der<br />

persönlichen Vernehmung nach § 250 StPO verzichten kann. § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO lässt aber einen Verzicht des<br />

Angeklagten (<strong>und</strong> seines Verteidigers) nicht genügen, sondern fordert ausdrücklich das Einverständnis der Staatsanwaltschaft<br />

<strong>und</strong> eine durch Beschlussfassung dokumentierte Ermessensentscheidung des gesamten Spruchkörpers<br />

zugunsten der Verlesung. Steht die Abweichung von einem Prozessgr<strong>und</strong>satz unter solchen qualifizierten Voraussetzungen,<br />

so gibt das Gesetz damit zu erkennen, dass von seiner Einhaltung nicht formlos durch allseitiges Schweigen<br />

auf eine Anordnung des Vorsitzenden abgesehen werden kann. Entsprechend greifen die Erwägungen des 1. Strafsenats<br />

in dieser Konstellation nicht, ohne dass der Senat entscheiden müsste, ob er sich dem vom 1. Strafsenat vertretenen<br />

Ansatz als solchem anzuschließen vermöchte.<br />

bb) Aber auch dann, wenn sich der Vorsitzende - was näher liegt - für die teilweise Verlesung des Berichts auf § 256<br />

Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a oder Nr. 2 StPO gestützt haben sollte, könnte der Angeklagte mit seiner Revision zulässig<br />

geltend machen, dass die Voraussetzungen dieser Bestimmungen für die Verlesung des Berichts nicht vorgelegen<br />

haben, obwohl er dies in der Hauptverhandlung nicht durch Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet<br />

hat (im Ergebnis ebenso BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 - 4 StR 657/98, NJW 1999, 1724, 1725, insoweit<br />

nicht abgedruckt in BGHSt 44, 361 ff.). Zwar trifft die Anordnung über die Verlesung eines Schriftstücks nach § 256<br />

Abs. 1 StPO der Vorsitzende im Rahmen seiner Sachleitungsbefugnis nach § 238 Abs. 1 StPO (Meyer-Goßner,<br />

StPO, 54. Aufl., § 256 Rn. 29). Soweit er hierbei über die Zulässigkeit der Verlesung befindet, hat er indes nach den<br />

bindenden Vorgaben des § 256 Abs. 1 StPO die gegebenen Verfahrenstatsachen unter die tatbestandlichen Voraussetzungen<br />

der Norm zu subsumieren. Es handelt sich insoweit mithin um die Anwendung zwingenden Rechts. Die<br />

Verletzung zwingenden Rechts oder das Unterlassen unverzichtbarer Maßnahmen durch den Vorsitzenden kann ein<br />

Revisionsführer nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs aber auch dann rügen, wenn er in der tatrichterlichen<br />

Hauptverhandlung nicht nach § 238 Abs. 2 StPO vorgegangen ist (BGH, Urteil vom 7. März 1996 - 4 StR<br />

737/95, BGHSt 42, 73, 77 f.; Beschluss vom 9. März 2010 - 4 StR 606/09, BGHSt 55, 65, 69; s. etwa auch BGH,<br />

Urteil vom 11. November 2009 - 5 StR 530/08, BGHSt 54, 184, 185; Beschluss vom 27. April 2010 - 5 StR 460/08,<br />

StV 2010, 562; Beschluss vom 18. Januar 2011 - 3 StR 504/10, NStZ-RR 2011, 151). Es liegt somit keine Fallgestaltung<br />

vor, in der die Rechtsprechung die Erhebung eines Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StPO deshalb als<br />

Zulässigkeitsvoraussetzung einer späteren entsprechenden Revisionsrüge erachtet, weil dem Vorsitzenden bei der<br />

Bewertung der tatbestandlichen Voraussetzungen seiner prozessleitenden Anordnung ein Beurteilungsspielraum oder<br />

auf der Rechtsfolgenseite Ermessen zusteht, <strong>und</strong> die rechtsmittelbefugten anderen Prozessbeteiligten durch die<br />

Nichtbeanstandung der Maßnahme zu erkennen gegeben haben, dass sie den dem Vorsitzenden zustehenden Entscheidungsspielraum<br />

durch seine Anordnung nicht in unzulässiger Weise als überschritten ansehen (BGH, Urteil<br />

vom 16. November 2006 - 3 StR 139/06, BGHSt 51, 144, 148; Beschluss vom 27. April 2010 - 1 StR 155/10; noch<br />

offen BGH, Urteil vom 27. Oktober 2005 - 4 StR 235/05, BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 7; vgl. auch BGH,<br />

Beschluss vom 9. März 2010 - 4 StR 606/09, BGHSt 55, 65, 69: "Bewertung der tatsächlichen Gr<strong>und</strong>lagen" eines<br />

Verlöbnisses im Hinblick auf § 52 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 StPO). Die Revision macht nicht geltend, der Vorsitzende<br />

habe das ihm durch § 256 Abs. 1 StPO eingeräumte Ermessen ("Verlesen werden können …") in unzulässiger<br />

Weise ausgeübt, sondern vielmehr, dass er die zwingenden tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Verlesung<br />

nach dieser Vorschrift verkannt habe. Hinzu kommt hier folgendes: Wird gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ein ärztliches<br />

Attest verlesen, so wird sich regelmäßig erst in der Urteilsberatung ergeben, ob das Gericht das Schriftstück<br />

allein zum Nachweis einer Körperverletzung, die nicht zu den schweren gehört, heranzieht oder - unter Überschreitung<br />

der durch die Bestimmung gezogenen Grenzen - unzulässig als Beleg für darüber hinausgehende Umstände<br />

verwertet. Für den Angeklagten wird ein solcher Rechtsfehler erst aus den schriftlichen Urteilsgründen ersichtlich,<br />

mithin zu einem Zeitpunkt, zu dem er von dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO keinen Gebrauch mehr<br />

machen kann. Dieser kann daher schwerlich Zulässigkeitsvoraussetzung einer Rüge der Verletzung des § 250 StPO<br />

sein (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2008 - 3 StR 429/08, BGHR StPO § 59 Abs. 1 Rügevoraussetzungen<br />

2; ähnlich BGH, Urteil vom 29. März 1955 - 2 StR 406/54, BGHSt 7, 281, 282 f.). Zwar lag der Sachverhalt hier<br />

343


ausnahmsweise anders, weil der verlesene Bericht keine Aussagen zu einer Körperverletzung enthielt, die nicht zu<br />

den schweren zählt, so dass seine Verlesung nicht auf § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO gestützt werden konnte. Dies rechtfertigt<br />

indes keine Relativierung obiger Überlegungen; denn im Interesse der Rechtsklarheit muss die Frage, ob die<br />

zulässige Rüge einer Verletzung von § 256 Abs. 1 Nr. 2, § 250 StPO die Erhebung des Zwischenrechtsbehelfs nach §<br />

238 Abs. 2 StPO in der tatrichterlichen Hauptverhandlung voraussetzt, nicht nach - tatsächlich schwer abgrenzbaren<br />

- Einzelfallumständen entschieden, sondern einheitlich behandelt werden.<br />

b) Die Verfahrensrüge ist auch begründet. Die Vernehmung der die Nebenklägerin behandelnden Ärzte durfte nach §<br />

250 StPO nicht durch die Verlesung ihrer schriftlichen Erklärung ersetzt werden. Einer der in § 251 StPO oder § 256<br />

Abs. 1 StPO genannten Fälle, der die Einführung mittels Urk<strong>und</strong>enbeweises ausnahmsweise erlaubte, lag nicht vor.<br />

Insbesondere handelte es sich bei dem Bericht weder um das Zeugnis oder Gutachten einer öffentlichen Behörde<br />

noch diente er zum Nachweis einer Körperverletzung, die nicht zu den schweren gehört. Vielmehr zog ihn das Landgericht<br />

als Beleg für die Folgen insbesondere der von ihm festgestellten Vergewaltigungen <strong>und</strong> für die Glaubhaftigkeit<br />

der Angaben der Nebenklägerin heran. Das Urteil beruht auf dem Verstoß gegen § 250 StPO. Es ist nicht<br />

auszuschließen, dass das Landgericht die Folgen der von ihm festgestellten Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung<br />

<strong>und</strong> die Glaubhaftigkeit der für eine Verurteilung in allen Fällen maßgeblichen Angaben der Nebenklägerin<br />

anders eingeschätzt hätte, wenn es sich über das Vorliegen bzw. Art <strong>und</strong> Umfang einer Traumatisierung als einem<br />

medizinischen Bef<strong>und</strong> prozessordnungsgemäß durch Vernehmung der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen<br />

unterrichtet hätte.<br />

II. Das Urteil ist auf die zulässige <strong>und</strong> begründete Verfahrensrüge insgesamt mit den von der Gesetzesverletzung<br />

betroffenen Feststellungen aufzuheben (§ 353 Abs. 2 StPO), ohne dass es noch auf die von der Revision weiter vorgetragenen<br />

Beanstandungen ankäme. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:<br />

Ob deutsches Strafrecht nach den §§ 3 ff. <strong>StGB</strong> Anwendung findet, ist nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens<br />

offen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Nebenklägerin - wie für eine Eröffnung der deutschen Strafgewalt nach §<br />

7 Abs. 1 <strong>StGB</strong> erforderlich - deutsche Staatsangehörige ist. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 2<br />

<strong>StGB</strong>, dem das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege zugr<strong>und</strong>e liegt (BGH, Urteil vom 7. Februar 1995 - 1<br />

StR 681/94, NJW 1995, 1844, 1845), ist bisher nicht hinreichend geklärt. Zum einen fehlen Erkenntnisse dazu, der<br />

Angeklagte werde, obwohl die Tat auslieferungsfähig sei, nicht ausgeliefert, weil ein Auslieferungsersuchen innerhalb<br />

angemessener Frist nicht gestellt oder abgelehnt oder die Auslieferung nicht ausführbar sei. Zum anderen ist<br />

unklar, ob die vom Angeklagten begangenen Taten in der Türkei mit Strafe bedroht sind, wobei der Senat dazu neigt,<br />

trotz des für alle Varianten des § 7 <strong>StGB</strong> einheitlichen Bezugs auf eine "am Tatort mit Strafe" bedrohte Tat im Falle<br />

des § 7 Abs. 2 Nr. 2 <strong>StGB</strong> die Zuständigkeit der deutschen Strafgerichte davon abhängig zu machen, dass die Tat am<br />

Tatort nicht nur strafbar, sondern auch verfolgbar ist (offen BGH, Beschluss vom 24. Juni 1992 - StB 8/92, BGHR<br />

<strong>StGB</strong> § 7 Abs. 2 Strafbarkeit 1; Beschluss vom 31. März 1993 - StB 4/93, BGHR <strong>StGB</strong> § 7 Abs. 2 Strafbarkeit 2;<br />

Beschluss vom 8. März 2000 - 3 StR 437/99, BGHR <strong>StGB</strong> § 7 Abs. 2 Strafbarkeit 4). Sollte das Landgericht sich<br />

von der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nicht überzeugen können, wird das Verfahren in den Fällen II. 2. a)<br />

<strong>und</strong> II. 2. b) wegen eines von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisses im Sinne des § 260 Abs. 3 StPO<br />

einzustellen sein (BGH, Urteil vom 22. Januar 1986 - 3 StR 472/85, BGHSt 34, 1, 3; Urteil vom 7. Februar 1995 - 1<br />

StR 681/94, NJW 1995, 1844, 1845).<br />

344


StPO § 251, 261 - Mitschriften aus Hauptverhandlung Protokollverlesung<br />

BGH, Beschl. v. 23.11.2011 - 2 StR 112/11 - wistra 2012, 158<br />

Anders als Ton- <strong>und</strong> Filmaufnahmen, die als Gedächtnisstütze des Gerichts gr<strong>und</strong>sätzlich zulässig<br />

sind, sind Auswahl <strong>und</strong> Inhalt der Mitschrift von Vorgängen in der Hauptverhandlung von den<br />

subjektiven Wahrnehmungen <strong>und</strong> Bewertungen des betreffenden Richters geprägt. Es handelt sich<br />

dabei um einen höchstpersönlichen Akt, der den "Inbegriff der Verhandlung" aufbereitet <strong>und</strong> konkretisiert<br />

<strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>lage für die Beratung <strong>und</strong> Urteilsfassung bildet. In dieser Funktion obliegt<br />

die Anfertigung von Mitschriften gemäß § 261 StPO allein den Mitgliedern des erkennenden Gerichts<br />

<strong>und</strong> kann nicht auf Dritte delegiert werden.<br />

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 20. August 2010 werden als<br />

unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler<br />

zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Ergänzend bemerkt der Senat: Die Rüge, das Landgericht habe die §§ 249 Abs. 2, 250, 251 Abs. 1 StPO durch Verlesen<br />

von Vernehmungsprotokollen diverser Zeugen verletzt, weil die Verteidigerin des Angeklagten K. ihr ursprüngliches<br />

Einverständnis nach der Anordnung der Beweiserhebung durch den Vorsitzenden, aber vor der Verlesung<br />

widerrufen hatte, ist unbegründet. Sie geht hinsichtlich der Mehrzahl der betreffenden Zeugen, die das Landgericht<br />

zusätzlich in der Hauptverhandlung vernommen hat, bereits ins Leere, da deren Vernehmung nicht durch die<br />

Verlesung einer Niederschrift im Sinne von § 251 Abs. 1 StPO "ersetzt" wurde. Soweit einzelne Vernehmungsprotokolle<br />

verlesen wurden, ohne dass das Gericht die Zeugen in der Hauptverhandlung vernommen hat, kann dahinstehen,<br />

ob ein Widerruf des Einverständnisses - wie die Revision meint - bis zur Verlesung der Niederschrift noch möglich<br />

ist, oder ob - wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt geltend macht - eine Bindung an diese Prozesshandlung bereits mit<br />

der Anordnung der Beweisverwendung nach § 251 Abs. 4 StPO eintritt. Denn das Landgericht hat die Niederschriften<br />

dieser Vernehmungen im Urteil nicht verwertet, so dass der Senat jedenfalls ausschließen kann, dass das Urteil<br />

auf dem gerügten Verfahrensfehler beruht. Im Übrigen erscheint das Vorgehen des Landgerichts, die zwar der Strafkammer,<br />

nicht aber dem erkennenden Spruchkörper angehörende Richterin "zur Entlastung" des Berichterstatters<br />

"ebenfalls mitschreiben" zu lassen, unter dem Blickwinkel eines möglichen - hier von den Revisionen nicht gerügten<br />

- Verstoßes gegen § 261 StPO nicht unbedenklich. Anders als Ton- <strong>und</strong> Filmaufnahmen, die als Gedächtnisstütze des<br />

Gerichts gr<strong>und</strong>sätzlich zulässig sind (vgl. Meyer-Goßner StPO 54. Aufl. 2011 § 169 GVG Rn. 11), sind Auswahl<br />

<strong>und</strong> Inhalt der Mitschrift von Vorgängen in der Hauptverhandlung von den subjektiven Wahrnehmungen <strong>und</strong> Bewertungen<br />

des betreffenden Richters geprägt. Es handelt sich dabei um einen höchstpersönlichen Akt, der den "Inbegriff<br />

der Verhandlung" aufbereitet <strong>und</strong> konkretisiert <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>lage für die Beratung <strong>und</strong> Urteilsfassung bildet. In<br />

dieser Funktion obliegt die Anfertigung von Mitschriften gemäß § 261 StPO allein den Mitgliedern des erkennenden<br />

Gerichts <strong>und</strong> kann nicht auf Dritte delegiert werden.<br />

StPO § 252, § 53 Vernehmung des Vernehmungsbeamten nach Schweigen des Arztes als Zeuge<br />

BGH, Beschl. v. 20.12.2011 - 1 StR 547/11 - StV 2012, 195<br />

Hat ein zunächst von der Schweigepflicht entb<strong>und</strong>ener Berufsgeheimnisträger im Ermittlungsverfahren<br />

seine Angaben nicht vor einem Ermittlungsrichter, sondern im Rahmen einer polizeilichen<br />

Vernehmung gemacht, so können dessen Angaben ohne Verstoß gegen § 252 StPO auch dann durch<br />

Vernehmung des Vernehmungsbeamten eingeführt werden, wenn die Schweigepflichtsentbindung<br />

vor der Hauptverhandlung widerrufen wird.<br />

Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 6. Juni 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil<br />

der Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die<br />

dem Nebenkläger S. Ü. im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Ergänzend bemerkt der Senat:<br />

345


1. Die Rüge einer Verletzung des § 252 StPO ist unbegründet.<br />

a) Dieser Rüge liegt folgendes Prozessgeschehen zugr<strong>und</strong>e: Der Angeklagten liegt zur Last, ihrem Ehemann mit<br />

einem Butterflymesser zwei Stichverletzungen in den linken Oberkörperbereich versetzt zu haben, nachdem dieser<br />

sich schützend vor seine neue <strong>Partner</strong>in gestellt hatte, der die Angeklagte als Nebenbuhlerin das Gesicht zerschneiden<br />

wollte. Der Geschädigte - als Ehemann der Angeklagten gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 2 StPO zur Verweigerung des<br />

Zeugnisses berechtigt - hatte zunächst die ihn behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entb<strong>und</strong>en. In der Hauptverhandlung<br />

machten dann sowohl der Geschädigte (gemäß § 52 StPO, UA S. 28) als auch die behandelnden Ärzte<br />

(gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO, UA S. 38), gegenüber denen der Geschädigte mittlerweile die Entbindung<br />

von der Schweigepflicht widerrufen hatte, von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Das Landgericht hat<br />

deshalb die Angaben des behandelnden Arztes Dr. S. über die Verletzungen des Geschädigten dadurch in die Hauptverhandlung<br />

eingeführt, dass es die polizeiliche Vernehmungsbeamtin K. zu den von diesem im Rahmen einer polizeilichen<br />

Vernehmung gemachten Angaben vernommen hat (UA S. 39 ff.). Zum Zeitpunkt seiner polizeilichen Vernehmung<br />

waren die behandelnden Ärzte vom Geschädigten von der Schweigepflicht entb<strong>und</strong>en gewesen (UA S. 40).<br />

Das Landgericht hat die auf diese Weise in die Hauptverhandlung eingeführten Angaben des Arztes Dr. S. über die<br />

Verletzungen des Geschädigten dem Urteil auch zugr<strong>und</strong>e gelegt (UA S. 41).<br />

b) Entgegen der Annahme der Revision stand der Verwertung dieser Angaben kein sich aus § 252 StPO ergebendes<br />

Verwertungsverbot entgegen.<br />

aa) Zwar ist die Vorschrift des § 252 StPO gr<strong>und</strong>sätzlich auch auf Berufsgeheimnisträger i.S.v. § 53 StPO anwendbar<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 20. November 1962 - 5 StR 462/62, BGHSt 18, 146; Beschluss vom 24. September 1996<br />

- 5 StR 441/96, StV 1997, 233). Nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs, an der der Senat festhält, darf<br />

aber der Ermittlungsrichter über den Inhalt der Aussage eines gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO zur Verweigerung des<br />

Zeugnisses berechtigten Arztes vernommen werden, die dieser vor dem Ermittlungsrichter gemacht hat, wenn der<br />

Arzt bei dieser Aussage gemäß § 53 Abs. 2 StPO von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entb<strong>und</strong>en war; § 252<br />

StPO ist dann nicht anwendbar (BGHSt 18, 146; BGH StV 1997, 233; glA Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 53 Rn.<br />

49 <strong>und</strong> § 252 Rn. 3; Diemer in KK-StPO, 6. Aufl., § 252 Rn. 6; Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl., § 53<br />

Rn. 83; Neubeck in KMR-StPO § 53 Rn. 41; Sander/Cirener in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl., § 252 Rn. 4; aA OLG<br />

Hamburg, NJW 1962, 689, 691; Geppert, Jura 1988, 305, 311 f.; Eb. Schmidt JR 1963, 267). Gr<strong>und</strong> hierfür ist, dass<br />

in einem solchen Fall der Pflichtenwiderstreit, auf den das Verwertungsverbot des § 252 StPO Rücksicht nimmt,<br />

nicht auftreten kann (zutr. Diemer aaO). Denn durch das Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 StPO wird der Berufsgeheimnisträger<br />

geschützt <strong>und</strong> nicht diejenige Person, die ihn von der Schweigepflicht entbinden kann. Ihr Recht<br />

beschränkt sich darauf, darüber zu entscheiden, ob sie den Berufsgeheimnisträger von der Schweigepflicht entbindet<br />

oder nicht. Sie hat indes keinen Anspruch darauf, dass der Berufsgeheimnisträger die Aussage verweigert <strong>und</strong> das<br />

Gericht nicht verwertet, was er gleichwohl ausgesagt hat (BGHSt 18, 146, 147). War der Berufsgeheimnisträger zum<br />

Zeitpunkt seiner Aussage vor dem Ermittlungsrichter von der Schweigepflicht befreit, befand er sich nicht in einem<br />

Pflichtenwiderstreit zwischen Wahrheitspflicht <strong>und</strong> Schweigepflicht.<br />

bb) Für die hier vorliegende Fallkonstellation, dass der zunächst von der Schweigepflicht entb<strong>und</strong>ene Berufsgeheimnisträger<br />

im Ermittlungsverfahren seine Angaben nicht vor einem Ermittlungsrichter, sondern im Rahmen einer<br />

polizeilichen Vernehmung gemacht hat, führt ebenfalls nicht zum Vorliegen eines Verwertungsverbots gemäß § 252<br />

StPO. Denn die Verwertbarkeit der Angaben der Vernehmungsperson ergibt sich im Fall der Vernehmung einer<br />

jedenfalls zu diesem Zeitpunkt von der Schweigepflicht entb<strong>und</strong>enen Person nicht erst aus der besonderen Bedeutung<br />

der richterlichen gegenüber einer sonstigen Vernehmung (vgl. dazu BGHSt 49, 72, 77; Meyer-Goßner, StPO,<br />

54. Aufl., § 252 Rn. 14 mwN), sondern bereits daraus, dass die Vorschrift des § 252 StPO mangels der von ihr vorausgesetzten<br />

Pflichtenkollision des bei seiner Vernehmung im Ermittlungsverfahren von seiner Schweigepflicht<br />

entb<strong>und</strong>enen Berufsgeheimnisträgers von vornherein nicht anwendbar ist (vgl. BGH StV 1997, 233). Die vom Zeugen<br />

Dr. S. nach Entbindung von seiner ärztlichen Schweigepflicht im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung gemachten<br />

Angaben durften daher auch nach Widerruf der Entbindungserklärung seitens des Geschädigten durch Vernehmung<br />

der polizeilichen Vernehmungsbeamtin in die Hauptverhandlung eingeführt <strong>und</strong> im Urteil verwertet werden.<br />

2. Die Rüge einer Verletzung des sich aus Art. 6 I Satz 1 <strong>und</strong> 6 III Buchst. d MRK ergebenden Konfrontationsrechts,<br />

weil dem behandelnden Arzt des Geschädigten, dem Zeugen Dr. S. , keine "dem kontradiktorischen Verfahren entsprechenden<br />

Fragen" hätten gestellt werden können, ist bereits unzulässig. Zum einen ist die Rüge nicht innerhalb<br />

der Revisionsbegründungsfrist des § 345 StPO erhoben worden, sondern erst in der Gegenerklärung auf die Antragsschrift<br />

des Generalb<strong>und</strong>esanwalts. Zum anderen genügt die Rüge nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2<br />

StPO, weil sie sich lediglich auf die Behauptung einer Verletzung des Konfrontationsrechts beschränkt <strong>und</strong> weder<br />

346


Angaben zum Inhalt der Vernehmung noch dazu enthält, ob die Angeklagte oder die Verteidigung von dem Vernehmungstermin<br />

unterrichtet waren, wann sie vom Inhalt der Vernehmung Kenntnis erlangt haben <strong>und</strong> ob sie zu irgendeinem<br />

Zeitpunkt des Verfahrens die Gelegenheit hatten, den Zeugen Dr. S. zu befragen oder befragen zu lassen (vgl.<br />

dazu BGHSt 51, 150, 154 ff. sowie Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 22a mwN). Es wird nicht einmal<br />

mitgeteilt, ob sie einen derartigen Versuch unternommen haben. Schließlich teilt die Revision auch nicht mit,<br />

welche über die von den vernehmenden Polizeibeamten gestellten hinausgehenden weiteren Fragen aus ihrer Sicht<br />

dem Zeugen hätten gestellt werden sollen.<br />

StPO § 255a II – Verwertungsverbot, kein Gerichtsbeschluss bei Einführung Videoprotokoll<br />

BGH, Beschl. v. 26.08.2011 - 1 StR 327/11 - NJW 2011, 3382 = StraFo 2011, 396 m. Anm. Eisenberg<br />

Die Verwertung von in der Hauptverhandlung abgespielten, gem. § 38a Abs. 1, § 168a StPO gefertigten<br />

Bild-Ton-Aufzeichnungen, die ohne Gerichtsbeschluss nur auf Anordnung des Vorsitzenden<br />

eingeführt wurden, ist zulässig.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 4. März 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren<br />

entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes, sexuellen Missbrauchs<br />

von Kindern in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung, <strong>und</strong> wegen Nötigung zu einer<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Dagegen richtet sich die Revision des Angeklagten<br />

mit der Sachrüge <strong>und</strong> einer Verfahrensrüge; die Schriftsätze der Verteidigung vom 22. <strong>und</strong> 24. August 2011<br />

haben dem Senat bei der Beratung vorgelegen. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.<br />

Die sachlich-rechtliche Nachprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§<br />

349 Abs. 2 StPO). Ohne Erfolg bleibt auch die Beanstandung, das Landgericht habe gegen den Unmittelbarkeitsgr<strong>und</strong>satz<br />

(vgl. § 250 StPO) verstoßen, weil es Bild-Ton-Aufnahmen von Zeugenvernehmungen verwertet habe, die<br />

allein aufgr<strong>und</strong> einer Verfügung des Strafkammervorsitzenden, aber ohne gerichtlichen Beschluss, gemäß § 255a<br />

Abs. 2 Satz 1 StPO vorgeführt worden seien.<br />

1. Der Verfahrensrüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugr<strong>und</strong>e: Von der ermittlungsrichterlichen Vernehmung<br />

mehrerer kindlicher Zeugen waren gemäß § 58a Abs. 1, § 168e StPO Bild-Ton-Aufzeichnungen angefertigt<br />

worden. Der Angeklagte <strong>und</strong> sein Verteidiger hatten an den Vernehmungen mitgewirkt. In der Hauptverhandlung<br />

erhoben der Angeklagte, der Verteidiger, die Staatsanwältin <strong>und</strong> der Nebenklagevertreter gegen die Einführung dieser<br />

Bild-Ton-Aufzeichnungen in die Hauptverhandlung durch Vorführung keine Einwände. Die Vorführung (§ 255a<br />

Abs. 2 Satz 1 StPO) erfolgte dann auf die Verfügung des Vorsitzenden gemäß § 238 Abs. 1 StPO hin; ein Gerichtsbeschluss<br />

hierzu wurde weder beantragt noch getroffen. Eine ergänzende Vernehmung der Zeugen, deren ermittlungsrichterliche<br />

Vernehmung abgespielt worden war, fand nicht statt.<br />

2. Die Rüge ist jedenfalls unbegründet, weil die Verwertung der in der Hauptverhandlung abgespielten Videoaufzeichnungen<br />

der ermittlungsrichterlichen Vernehmungen zulässig war. Für die Vorführung der Aufzeichnungen war<br />

gemäß § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO kein förmlicher Gerichtsbeschluss erforderlich; es genügte die Anordnung des<br />

Vorsitzenden im Rahmen seiner Verhandlungsleitung nach § 238 Abs. 1 StPO.<br />

a) Eine ausdrückliche Regelung, in den Fällen des § 255a Abs. 2 StPO die Vorführung von Bild-Ton-Aufnahmen<br />

von der Anordnung durch Gerichtsbeschluss abhängig zu machen, enthält die Strafprozessordnung nicht. Vielmehr<br />

fehlt es in § 255a Abs. 2 StPO im Unterschied zu § 255a Abs. 1 StPO gerade an einer Verweisung auf die Vorschrift<br />

des § 251 Abs. 4 StPO, die für die Verlesung von Vernehmungsniederschriften eine Anordnung durch Gerichtsbeschluss<br />

verlangt. Für ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers bestehen keine Anhaltspunkte. Es verbleibt deshalb<br />

bei dem allgemeinen Gr<strong>und</strong>satz, dass Anordnungen zur Beweiserhebung gr<strong>und</strong>sätzlich der Vorsitzende im Rahmen<br />

seiner Verhandlungsleitung nach § 238 Abs. 1 StPO trifft, sofern das Gesetz nicht ausnahmsweise dem Gericht die<br />

Entscheidung auferlegt, was bei § 255a Abs. 2 StPO nicht der Fall ist (zutr. Mosbacher in LR-StPO, 26. Aufl., §<br />

255a Rn. 17; gl.A. Berg in Graf, StPO, § 255a Rn. 14; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 255a Rn. 11; Schlothauer,<br />

StV 1999, 47, 49; a.A. Diemer in LK, § 255a StPO Rn. 14; offen gelassen in BGH, Urteil vom 12. Februar 2004 - 3<br />

StR 185/03, BGHSt 49, 72, 74). Die von der Revision aufgeworfene Frage, ob sich die Annahme, der Gesetzgeber<br />

347


habe in den Fällen des § 255a Abs. 2 StPO bewusst auf einen Gerichtsbeschluss verzichten wollen, anhand der Gesetzesmaterialien<br />

belegen lässt, ist angesichts des Gesetzeswortlauts, der weder selbst einen Gerichtsbeschluss verlangt<br />

noch eine Verweisung auf § 251 Abs. 4 StPO enthält, ohne Bedeutung, da sich den Gesetzesmaterialien umgekehrt<br />

auch nicht entnehmen lässt, dass der Gesetzgeber bei Einführung der Vorschrift des § 255a Abs. 2 StPO das<br />

Erfordernis eines Gerichtsbeschlusses normieren wollte.<br />

b) Eine analoge Anwendung des § 251 Abs. 4 StPO auf Fälle des § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO aus rechtssystematischen<br />

Gründen ist nicht geboten. Sie folgt - entgegen der Auffassung der Revision - auch nicht aus den Prozessmaximen<br />

des deutschen Strafprozesses. Zwar ersetzt die Vorführung einer Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 255a Abs. 2<br />

StPO ebenso wie die Verlesung einer Vernehmungsniederschrift nach § 251 StPO die persönliche Vernehmung.<br />

Durch die Regelung des § 255a Abs. 2 StPO sollte aber gerade den Zeugen bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung,<br />

insbesondere wenn es sich um kindliche Zeugen handelt, im Regelfall die nochmalige persönliche<br />

Vernehmung in der Hauptverhandlung erspart werden (vgl. BT-Drucks. 13/4983 S. 4, 8; BGH, Beschluss vom 12.<br />

Februar 2004 - 1 StR 566/03 mwN, BGHSt 49, 68). Diese Zwecksetzung stellt einen ausreichenden Rechtfertigungsgr<strong>und</strong><br />

für die unterschiedlichen Formerfordernisse an die Anordnung der Vorführung einer aufgezeichneten Zeugenvernehmung<br />

in den Fällen des § 255a Abs. 1 <strong>und</strong> Abs. 2 StPO dar (a.A. Diemer in KK-StPO, 6. Aufl., § 255a Rn.<br />

14). Der Umstand, dass § 255a Abs. 2 StPO auch für Zeugen gilt, die keine Opferzeugen sind, ändert daran nichts.<br />

c) Durch die vom Vorsitzenden angeordnete Vorführung der aufgezeichneten Zeugenvernehmungen ist hier auch das<br />

"Konfrontationsrecht" nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK, wonach eine angeklagte Person das Recht hat, Fragen an<br />

Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, nicht verletzt worden. Denn § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO erlaubt<br />

die Ersetzung der Vernehmung eines Zeugen durch die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung seiner früheren<br />

richterlichen Vernehmung ausdrücklich nur dann, wenn der Angeklagte <strong>und</strong> sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an<br />

dieser mitzuwirken. Dies war hier der Fall. Sie hätten zudem - etwa im Hinblick auf das zum Zeitpunkt der ermittlungsrichterlichen<br />

Vernehmungen noch nicht vorliegende aussagepsychologische Gutachten über die kindliche Zeugin<br />

A. - gemäß § 255a Abs. 2 Satz 2 StPO eine ergänzende Vernehmung der Zeugen beantragen können, um Fragen<br />

zu stellen, die bisher noch nicht gestellt werden konnten (vgl. OLG Karlsruhe, StraFo 2010, 71). Die Revision hat<br />

nicht behauptet, dass solche Anträge gestellt worden seien. Dass die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2<br />

StPO) eine solche ergänzende Zeugenvernehmung geboten hätte (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 12. Februar 2004 -<br />

1 StR 566/03 mwN, BGHSt 49, 68), behauptet die Revision ebenfalls nicht.<br />

StPO § 256 Abs. 1 Nr. 2, § 250 Verlesung ärztl. Attest statt Vernehmung des Arztes<br />

BGH, Beschl. v. 21.09.2011 - 1 StR 367/11 - NJW 2012, 694 Anm. Heintschel-Heinegg JA 2012, 73; Gössel JR 2012,<br />

220<br />

LS: Die Vernehmung eines Arztes kann auch dann durch die Verlesung eines ärztlichen Attests<br />

ersetzt werden, wenn die ärztliche Sicht zu Schlüssen aus der attestierten Körperverletzung auf ein<br />

anderes Delikt nichts beitragen kann. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn die Körperverletzung bei<br />

einer nachfolgenden Sexualstraftat allein als Drohung fortgewirkt haben kann.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 28. März 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren<br />

entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Gründe:<br />

I. Die Strafkammer hat festgestellt: Der Angeklagte fragte am 25. September 2009 gegen 3.45 Uhr eine ihm unbekannte<br />

junge Frau, die aus einer Diskothek kam, vergeblich nach ihrem Namen. Er folgte ihr zu einem nahen Parkplatz,<br />

wo ihr Fahrrad stand <strong>und</strong> bot ihr seine Begleitung an. Als sie nicht reagierte, packte er sie an den Oberarmen.<br />

Als sie sich dies verbat, stieß er sie in ein Dornengebüsch. Im weiteren Verlauf entriss er ihr das Handy, mit dem sie<br />

um Hilfe rufen wollte. Nach einem „Gerangel“ packte er sie <strong>und</strong> zerrte sie zu einem etwa 20 m entfernten, schlecht<br />

beleuchteten <strong>Teil</strong> des Parkplatzes, wo er sie auf den M<strong>und</strong> küsste <strong>und</strong> versuchte, ihr Zungenküsse zu geben. Aus<br />

Angst vor weiterer Misshandlung manipulierte sie mehrere Minuten an seinem entblößten Geschlechtsteil, bis sie<br />

schließlich fliehen konnte.<br />

348


II. Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieser Feststellungen wurde der Angeklagte wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher<br />

Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Seine auf eine Verfahrensrüge <strong>und</strong> die nicht näher<br />

ausgeführte Sachrüge gestützte Revision ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

1. Der Verfahrensrüge liegt Folgendes zu Gr<strong>und</strong>e:<br />

a) Die Geschädigte hatte sich durch den Stoß in das Dornengebüsch unter anderem Einstichverletzungen an den<br />

Händen <strong>und</strong> Armen zugezogen; abgebrochene Dornenstücke blieben in den Händen <strong>und</strong> im Unterarm stecken <strong>und</strong><br />

konnten erst nach einigen Tagen entfernt werden. Die Strafkammer stellt fest, dass die Behauptungen der Geschädigten<br />

über ihre Verletzungen mit den sonstigen Feststellungen übereinstimmten („sie passen“) <strong>und</strong> dass konkret die<br />

Verletzungen durch die Dornen von einem in der Hauptverhandlung verlesenen ärztlichen Attest über die Verletzungen<br />

der Geschädigten „bestätigt“ würden.<br />

b) Die Revision meint, der Arzt hätte als Zeuge gehört werden müssen; die Voraussetzungen von § 256 Abs. 1 Nr. 2<br />

StPO hätten nicht vorgelegen, weil der Inhalt des Attests auch hinsichtlich der Feststellungen zu dem tateinheitlich<br />

mit der Körperverletzung verwirklichten Sexualdelikt Bedeutung gehabt hätte.<br />

2. Die Rüge greift nicht durch.<br />

a) § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO erlaubt aus letztlich pragmatischen Gründen (vgl. LR-Gollwitzer, StPO, 25. Aufl., § 256<br />

Rn. 1 <strong>und</strong> 3 mwN), ärztliche Atteste zu, wie hier, nicht schweren Körperverletzungen (i.S.d. § 226 <strong>StGB</strong>) zu verlesen,<br />

nicht aber zu Erkenntnissen, die der Arzt nur bei Gelegenheit der Feststellung einer Verletzung gewonnen hat,<br />

z.B. über Angaben zur Ursache der Verletzungen, wenn diese ebenfalls in dem Attest dokumentiert sind (BGH, Urteil<br />

vom 23. April 1953 - 4 StR 667/52, BGHSt 4, 155, 156; BGH bei Dallinger, MDR 1955, 397; BGH, Beschluss<br />

vom 30. November 1983 - 3 StR 370/83, StV 1984, 142, 143; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 256 Rn. 19 mwN).<br />

Dieser Gesichtspunkt ist hier nicht einschlägig. Der Arzt hat hinsichtlich der Dornen nicht etwa eine für ihn ohne<br />

Angaben der Geschädigten nicht erkennbare Ursache der Verletzung in seinem Attest festgehalten, sondern er hat<br />

attestiert, dass die Geschädigte auch - für ihn sichtbar - dadurch verletzt war, dass sich in ihrem Körper noch abgebrochene<br />

Dornenstücke befanden.<br />

b) Im Übrigen hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass - über den Wortlaut von § 256 Abs. 1 Nr. 2<br />

StPO hinaus (BGH, Urteil vom 27. November 1985 - 3 StR 438/85, BGHSt 33, 389, 391) - eine Einschränkung des<br />

Unmittelbarkeitsgr<strong>und</strong>satzes (§ 250 StPO) durch Verlesung eines Attestes nicht zulässig ist, wenn sich die Bedeutung<br />

der aus dem Attest ersichtlichen Verletzungen nicht in der Feststellung ihres Vorliegens erschöpft (st. Rspr.;<br />

vgl. BGH, Beschluss vom 6. Oktober 1988 - 1 StR 569/88, BGHR, StPO, § 256 Abs. 1 Körperverletzung 2).<br />

aa) Dies wird regelmäßig angenommen, wenn Gewalt nicht nur zu einer Körperverletzung geführt hat, sondern zugleich<br />

auch ein Tatbestandsmerkmal für ein anderes Delikt darstellt, etwa bei einem räuberischen Diebstahl (BGH,<br />

Beschluss vom 11. Juli 1996 - 1 StR 392/96, StV 1996, 649), oder, in der forensischen Praxis nicht selten, bei Sexualdelikten<br />

(vgl. nur BGH, Urteil vom 7. November 1979 - 3 StR 16/79, NJW 1980, 651; BGH, Beschluss vom 24.<br />

Juli 1984 - 5 StR 478/84, bei Pfeiffer NStZ 1985, 204, 206 ; BGH, Beschluss vom 4. März 2008 - 3 StR<br />

559/07, NStZ 2008, 474). Regelmäßig liegt dann neben Tateinheit auch eine Indizwirkung der Körperverletzung für<br />

das andere Delikt vor.<br />

bb) Tateinheit zwischen der Körperverletzung <strong>und</strong> dem anderen Delikt schließt die Anwendung von § 256 Abs. 1 Nr.<br />

2 StPO nicht zwingend aus, wie der B<strong>und</strong>esgerichtshof im Blick auf „generelle Umschreibungen der Unzulässigkeit<br />

einer Verlesung nach § 256 StPO, (die) über die jeweils zugr<strong>und</strong>e liegenden Fallgestaltungen hinaus (gehen)“ präzisierend<br />

klargestellt hat (BGH, Urteil vom 27. November 1985 - 3 StR 438/85, BGHSt 33, 389, 392). Erforderlich ist<br />

vielmehr ein „überzeugender Gr<strong>und</strong>“ (BGHSt, aaO, 393) für die Annahme, nach Sinn <strong>und</strong> Zweck des Gesetzes<br />

(BGHSt, aaO, 391, 393) reiche eine Verlesung des Attests nicht aus. Dies gilt nach Auffassung des Senats auch<br />

dann, wenn es um die Vernehmung des Arztes im Blick auf Schlussfolgerungen geht, die aus den Verletzungen hinsichtlich<br />

des anderen Delikts gezogen werden können. Eine Vernehmung ist nur dann erforderlich, wenn der unmittelbare<br />

Eindruck eine zuverlässigere Gr<strong>und</strong>lage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann als die Verlesung<br />

des Attestes (BGH, Urteil vom 9. April 1953 - 5 StR 824/52, BGHSt 4, 155, 156; BGH bei Pfeiffer, NStZ 1984, 209,<br />

211 ; BGH, Beschluss vom 4. März 2008 - 3 StR 559/07, NStZ 2008, 474), etwa dazu, ob Verletzungen im<br />

Bereich des Unterleibs auf ein gewaltsam begangenes Sexualdelikt hindeuten. Kann ärztliche Sicht zu Schlussfolgerungen<br />

dieser Art über die bloße Feststellung der attestierten Verletzung hinaus dagegen nichts beitragen, so besteht<br />

regelmäßig auch kein überzeugender Gr<strong>und</strong> für eine Vernehmung des Arztes. Im Kern kommt es also darauf an, ob<br />

eine solche Vernehmung Gebot der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) ist, die (auch sonst) von §<br />

256 StPO unberührt bleibt (vgl. schon BGH, Urteil vom 4. April 1951 - 1 StR 54/51, BGHSt 1, 94, 96; BGH, Urteil<br />

vom 16. März 1993 - 1 StR 829/92, BGHR, StPO § 256 Abs. 1 Aufklärungspflicht 1; BGH, Beschluss vom 24. April<br />

349


1979 - 5 StR 513/78, bei Pfeiffer NStZ 1981, 93, 95 ; vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 54.<br />

Aufl., § 256 Rn. 2 mit Hinweis auf Nr. 111 Abs. 3 Satz 2 RiStBV).<br />

cc) Im vorliegenden Fall kann die ärztliche Sicht zur Beantwortung der Frage, ob die attestierten Verletzungen durch<br />

die Dornen die Verletzte nachfolgend aus Furcht vor erneuter Misshandlung zu Manipulationen am Ge-schlechtsteil<br />

des Verletzers veranlasst haben könnten, offensichtlich nichts beitragen. Anderes ist auch dem Revisionsvorbringen<br />

nicht zu entnehmen. Die Verlesung des Attestes überschreitet daher die Grenzen der Anwendbarkeit von § 256 Abs.<br />

1 Nr. 2 StPO nicht.<br />

c) Von alledem abgesehen, beruhte das Urteil ohnehin nicht auf der Verlesung des Attestes. Dies ergibt sich zwar<br />

nicht aus den Angaben des Angeklagten, der bestritten hat, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein, <strong>und</strong> auf die Möglichkeit<br />

verwiesen hat, dass ihn die Geschädigte mit einer anderen Person verwechselt. Die Urteilsgründe verweisen<br />

jedoch über die Angaben der Geschädigten hinaus auf eine Reihe gewichtiger, von dem Attest unabhängiger Indizien,<br />

wie etwa im Gesicht der Geschädigten gesicherter DNA-Abrieb, der dem Angeklagten zuzuordnen ist. Unter<br />

diesen Umständen besteht, so im Ergebnis auch der Generalb<strong>und</strong>esanwalt, kein Anhaltspunkt für die Annahme, die<br />

Strafkammer wäre entgegen ihrer ausdrücklichen Feststellung, wonach das Attest (nur) ihre (ohnehin getroffenen)<br />

Feststellungen „bestätigt“ (vgl. BGH, Urteil vom 21. August 2002 - 2 StR 111/02; BGH, Beschluss vom 13. September<br />

2001 - 1 StR 378/01 mwN), ohne das Attest möglicherweise zu anderen Feststellungen gelangt.<br />

3. Auch die auf Gr<strong>und</strong> der Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des<br />

Angeklagten ergeben.<br />

III. Die Art der Abfassung der Urteilsgründe veranlasst den Senat zu dem Hinweis, dass diese nicht sämtliche Ergebnisse<br />

des Ermittlungsverfahrens <strong>und</strong> der Hauptverhandlung in allen Details dokumentieren, sondern nur belegen<br />

sollen, warum bedeutsame tatsächliche Umstände, so wie geschehen, festgestellt sind. Nur soweit hierfür erforderlich,<br />

sind Angaben des Angeklagten, Zeugenaussagen <strong>und</strong> sonst angefallene Erkenntnisse heranzuziehen. Urteilsgründe,<br />

die demgegenüber die Ergebnisse der Beweisaufnahme in der Art eines Protokolls referieren <strong>und</strong> sich mit<br />

einer Vielzahl wenig bedeutsamer Details befassen, können - von dem damit verb<strong>und</strong>enen, sachlich nicht gebotenen<br />

Aufwand abgesehen - den Blick für das Wesentliche verstellen <strong>und</strong> damit letztlich sogar den Bestand des Urteils<br />

gefährden (st. Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2010 - 1 StR 556/10 mwN). Auch Ausführungen<br />

zur Verwertbarkeit von Beweismitteln sind rechtlich nicht geboten, sondern führen nur zu einer (weiteren) Überfrachtung<br />

der Urteilsgründe (vgl. BGH, Beschluss vom 23. August 2011 - 1 StR 153/11; BGH, Beschluss vom 27.<br />

Mai 2009 - 1 StR 99/09, NJW 2009, 2612, 2613 mwN).<br />

StPO § 257c Abs. 3 Satz 4, Abs. 4 Satz 1 Verständigungserklärung der StA unwiderruflich<br />

BGH, Urt. v. 21.06.2012 - 4 StR 623/11 - BeckRS 2012, 15540<br />

LS: 1. Nach § 171b GVG darf die Öffentlichkeit auch während der Verlesung des Anklagesatzes<br />

von der Verhandlung ausgeschlossen werden.<br />

2. a) Die Zustimmungserklärung der Staatsanwaltschaft zu dem Verständigungsvorschlag des Gerichts<br />

ist als gestaltende Prozesserklärung unanfechtbar <strong>und</strong> unwiderruflich.<br />

b) Das Entfallen der Bindungswirkung der Verständigung für das Gericht nach § 257c Abs. 4 Satz 1<br />

StPO tritt nicht kraft Gesetzes ein, sondern erfordert eine dahingehende gerichtliche Entscheidung.<br />

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 21. Juli 2011 wird verworfen.<br />

Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den umfassend geständigen Angeklagten nach einer Verständigung (§ 257c StPO) wegen Vergewaltigung<br />

in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung <strong>und</strong> Beleidigung zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren<br />

verurteilt <strong>und</strong> deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die zu Ungunsten des Angeklagten<br />

eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft. Mit Verfahrensbeschwerden wendet sich die Staatsanwaltschaft<br />

gegen den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Verlesung des Anklagesatzes <strong>und</strong> beanstandet im Zusammenhang<br />

mit der Verständigung, dass das Landgericht es unterlassen habe, sich im Urteil mit den Gründen für das Festhalten<br />

an der Verständigung auseinanderzusetzen, obwohl aufgr<strong>und</strong> neu in der Hauptverhandlung zutage getretener<br />

350


Umstände Veranlassung bestanden habe, sich nach § 257c Abs. 4 StPO von der Verständigung zu lösen. Die Sachrüge<br />

ist mit Angriffen gegen den Strafausspruch näher ausgeführt.<br />

Das vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt nicht vertretene Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.<br />

I. Nach den Feststellungen kam es zwischen dem Angeklagten <strong>und</strong> der Nebenklägerin im Erdgeschoss des vom Angeklagten<br />

allein bewohnten Hauses zunächst zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr, in dessen Verlauf der Angeklagte<br />

unvermittelt begann, ihn erregende <strong>und</strong> für die Nebenklägerin schmerzhafte Handlungen, unter anderem<br />

Schläge mit der flachen Hand gegen die Brust der Nebenklägerin, vorzunehmen, worauf die Nebenklägerin vergeblich<br />

versuchte, den Angeklagten wegzudrücken. Nachdem der Angeklagte die Nebenklägerin, die eine entsprechende<br />

Aufforderung zuvor abgelehnt hatte, in das im Obergeschoss gelegene Schlafzimmer geschoben hatte, führte er den<br />

Geschlechtsverkehr mit der auf dem Bett liegenden Nebenklägerin unter denselben Begleitumständen weiter. Als die<br />

Nebenklägerin ihn bei ihrer fortdauernden Gegenwehr mit ihren Fingernägeln am Hals verletzte, schlug der Angeklagte,<br />

der zu diesem Zeitpunkt erkannt hatte, dass die Fortführung des Geschlechtsverkehrs <strong>und</strong> die Schläge gegen<br />

die Brüste gegen den Willen der Nebenklägerin geschahen, ihr mit beiden Händen nacheinander ins Gesicht. Sodann<br />

setzte er den Geschlechtsverkehr mit der resignierenden <strong>und</strong> jede Gegenwehr aufgebenden Nebenklägerin fort <strong>und</strong><br />

urinierte ihr anschließend auf den Bauch. In der Folgezeit vollzog der Angeklagte mit der Nebenklägerin den Analverkehr<br />

unter Einsatz eines Gleitgels <strong>und</strong> - nach einer Unterbrechung, in der sich der Angeklagte von hinten an die<br />

Nebenklägerin anschmiegte <strong>und</strong> äußerte, er könne auch kuscheln - ein weiteres Mal den vaginalen Geschlechtsverkehr,<br />

ehe er der Nebenklägerin erneut auf den Bauch urinierte. Bei Tatbegehung war die Steuerungsfähigkeit des<br />

Angeklagten aufgr<strong>und</strong> des vorangegangenen Alkoholgenusses nicht ausschließbar erheblich beeinträchtigt.<br />

II. Die Verfahrensrügen dringen nicht durch.<br />

1. Die Staatsanwaltschaft beanstandet gemäß § 338 Nr. 6 StPO den Ausschluss der Öffentlichkeit bei der Verlesung<br />

des Anklagesatzes <strong>und</strong> macht geltend, § 171b GVG lasse eine Beschränkung der Öffentlichkeit während der Anklageverlesung<br />

nicht zu.<br />

a) Die Rüge ist zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Da die Beanstandung des Verfahrens die prinzipielle<br />

Reichweite der Ausschließungsbefugnis nach § 171b GVG zum Gegenstand hat, sind die Einzelheiten der im Zusammenhang<br />

mit der Ausschließungsentscheidung der Strafkammer angefallenen Unterlagen, deren Vortrag der<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalt <strong>und</strong> die Verteidigung vermissen, für die Entscheidung über die Verfahrensrüge ohne Bedeutung.<br />

b) Die Regelung des § 171b Abs. 3 GVG i.V.m. § 336 Satz 2 StPO steht der erhobenen Rüge nicht entgegen. Gemäß<br />

§ 171b Abs. 3 GVG unanfechtbar <strong>und</strong> daher gemäß § 336 Satz 2 StPO der revisionsgerichtlichen Überprüfung entzogen<br />

ist die gerichtliche Entscheidung darüber, ob die in § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG normierten tatbestandlichen<br />

Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit im Einzelfall vorliegen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar<br />

1989 - 1 StR 786/88, BGHR GVG § 171b Abs. 1 Dauer 1; Beschluss vom 19. Dezember 2006 - 1 StR 268/06, StV<br />

2007, 514; vgl. auch den Entwurf der B<strong>und</strong>esregierung für ein Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten<br />

im Strafverfahren, BT-Drucks. 10/5305 S. 23 f.). Damit ist es dem Revisionsgericht verwehrt, die Begründung<br />

einer nach § 171b GVG ergangenen Entscheidung inhaltlich zu überprüfen (vgl. Wickern in Löwe-Rosenberg,<br />

StPO, 26. Aufl., § 171b GVG, Rn. 25). Die Rüge der Staatsanwaltschaft zielt indessen nicht auf die Tragfähigkeit der<br />

von der Strafkammer für ihre Ausschließungsanordnung angeführten Gründe, sondern stellt die generelle Befugnis<br />

für den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Verlesung des Anklagesatzes in Frage. Diese Beanstandung wird<br />

von § 171b Abs. 3 GVG nicht ausgeschlossen.<br />

c) Die Rüge ist unbegründet. Nach § 171b GVG darf die Öffentlichkeit auch während der Verlesung des Anklagesatzes<br />

von der Verhandlung ausgeschlossen werden.<br />

Die Vorschrift des § 171b GVG knüpft an den Begriff der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht in § 169 Satz<br />

1 GVG an <strong>und</strong> lässt beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG einen Ausschluss der Öffentlichkeit<br />

für sämtliche Abschnitte der Hauptverhandlung zu (vgl. BGH, Beschluss vom 10. März 1992 - 1 StR<br />

105/92, BGHR GVG § 171b Abs. 1 Dauer 5; Wickern aaO, Rn. 21). Die Ausschließungsbefugnis nach § 171b GVG<br />

reicht nicht weniger weit als bei den Ausschlusstatbeständen des § 171a GVG <strong>und</strong> § 172 GVG, für welche ausdrücklich<br />

normiert ist, dass die Öffentlichkeit für die (Haupt-)Verhandlung oder einen <strong>Teil</strong> davon ausgeschlossen werden<br />

kann. Dafür spricht auch die Entstehungsgeschichte des § 171b GVG. Durch die Schaffung des § 171b GVG sollte<br />

der bis dahin in § 172 Nr. 2 GVG in der Fassung vom 9. Mai 1975 geregelte Schutz des persönlichen Lebensbereichs<br />

eines Prozessbeteiligten oder Zeugen durch eine Änderung des Abwägungsmaßstabs zugunsten des Persönlichkeitsschutzes<br />

verbessert, der Ausschluss der Öffentlichkeit bei Erörterung von Umständen aus dem persönlichen Lebensbereich<br />

aus dem Zusammenhang der übrigen Ausschlussgründe gelöst <strong>und</strong> plakativ an die Spitze gestellt werden<br />

(vgl. Gesetzentwurf der B<strong>und</strong>esregierung, BT-Drucks. 10/5305 S. 23). Dafür, dass bei dem neu in das Gerichtsver-<br />

351


fassungsgesetz aufgenommenen § 171b GVG - anders als bei § 172 GVG - bestimmte Verfahrensabschnitte der<br />

Hauptverhandlung von der Ausschließungsbefugnis ausgenommen sein sollten, bietet die Entstehungsgeschichte<br />

keinen Anhalt. Das Gesetz enthält in § 173 GVG lediglich für die Urteilsverkündung eine besondere Regelung, wonach<br />

die Verlesung der Urteilsformel stets öffentlich zu erfolgen hat <strong>und</strong> der Ausschluss der Öffentlichkeit während<br />

der Eröffnung der Urteilsgründe einen besonderen Beschluss des Gerichts nach §§ 171b, 172 GVG erfordert. Die<br />

eine Gegenausnahme zu den Ausschließungstatbeständen der §§ 171a, 171b <strong>und</strong> 172 GVG beinhaltende Bestimmung<br />

des § 173 GVG ist entgegen der Ansicht der Revision einer ausdehnenden, ihren Anwendungsbereich auf<br />

andere Verfahrensvorgänge erstreckenden Auslegung nicht zugänglich.<br />

Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf der Sache (§ 243 Abs. 1 Satz 1 StPO) <strong>und</strong> umfasst nach § 243 Abs. 3<br />

Satz 1 StPO die Verlesung des Anklagesatzes. Die Verlesung ist ein <strong>Teil</strong> der Verhandlung, für den bei Vorliegen der<br />

gesetzlichen Voraussetzungen die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden darf (vgl. für § 172 GVG RG, Urteil vom<br />

13. Mai 1927 - 1. D 392/1927; Wickern aaO, § 172 GVG, Rn. 39). Auch bei der Verlesung des Anklagesatzes können<br />

Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten, Zeugen oder durch eine rechtswidrige<br />

Tat Verletzten zur Sprache kommen, die einen Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG zu<br />

rechtfertigen vermögen, weil deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen würde, ohne dass das<br />

Interesse an der öffentlichen Erörterung dieser Umstände überwiegt. Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung<br />

der Revision weder aus dem Umstand, dass der Inhalt des Anklagesatzes auf einer vorläufigen Bewertung des<br />

Ermittlungsergebnisses durch die Staatsanwaltschaft beruht, noch aus der verfahrensrechtlichen Funktion des Anklagesatzes<br />

zur Umgrenzung <strong>und</strong> Konkretisierung des Verfahrensgegenstandes.<br />

2. Im Zusammenhang mit der Verständigung nach § 257c StPO macht die Revision einen Verstoß gegen die §§<br />

257c, 261, 267 StPO geltend. Sie beanstandet, das Landgericht habe trotz des von der Staatsanwaltschaft erklärten<br />

Widerrufs der Zustimmung zu dem gerichtlichen Verständigungsvorschlag in den Urteilsgründen nicht ausgeführt,<br />

ob <strong>und</strong> aus welchen Gründen es an der Verständigung habe festhalten wollen. Die in der Hauptverhandlung neu<br />

zutage getretenen Umstände - die erheblichen psychischen Tatfolgen für die Nebenklägerin <strong>und</strong> das erst im weiteren<br />

Verlauf der Hauptverhandlung nach Intervention der Staatsanwaltschaft erfolgte Eingeständnis des erzwungenen<br />

Analverkehrs durch den Angeklagten - hätten der Strafkammer Anlass geben müssen, den der Verständigung zugr<strong>und</strong>e<br />

gelegten Strafrahmen zu verlassen.<br />

Der Rüge bleibt der Erfolg versagt.<br />

a) Nach der Konzeption des § 257c StPO kommt eine Verständigung über das Ergebnis des Verfahrens durch einen<br />

Vorschlag des Gerichts <strong>und</strong> die Zustimmungserklärungen des Angeklagten sowie der Staatsanwaltschaft zustande.<br />

Das Gericht gibt nach § 257c Abs. 3 Satz 1 StPO den Inhalt einer möglichen Verständigung bekannt <strong>und</strong> macht dabei<br />

regelmäßig von der Möglichkeit Gebrauch, gemäß § 257c Abs. 3 Satz 2 StPO eine Strafober- <strong>und</strong> Strafuntergrenze<br />

anzugeben (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 2011 - 3 StR 426/10, NStZ 2011, 648; Beschluss vom 16. März<br />

2011 - 1 StR 60/11, StV 2012, 134, 135). Für die in § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO als Vorschlag bezeichnete Bekanntgabe<br />

hat das Gericht das vom Angeklagten im Rahmen der Verständigung erwartete Prozessverhalten, bei dem es<br />

sich in aller Regel um ein Geständnis handeln wird (§ 257c Abs. 2 Satz 2 StPO), genau zu bezeichnen <strong>und</strong> unter<br />

antizipierender Berücksichtigung dieses Verhaltens <strong>und</strong> Beachtung der Vorgaben des materiellen Rechts eine strafzumessungsrechtliche<br />

Bewertung des Anklagevorwurfs vorzunehmen (vgl. Entwurf der B<strong>und</strong>esregierung für ein<br />

Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, BT-Drucks. 16/12310 S. 14; Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider,<br />

Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, § 257c Rn. 56). Die Verständigung kommt<br />

gemäß § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO zustande, wenn der Angeklagte <strong>und</strong> die Staatsanwaltschaft dem gerichtlichen<br />

Verständigungsvorschlag zustimmen. Die Zustimmungserklärung der Staatsanwaltschaft ist als gestaltende Prozesserklärung<br />

(vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., Einleitung, Rn. 95, 102, 116) unanfechtbar <strong>und</strong> unwiderruflich (vgl.<br />

Niemöller aaO, Rn. 28; Altvater, Festschrift für Rissing-van-Saan, 2011, S. 26; Meyer-Goßner aaO, § 257c, Rn. 25).<br />

Die Staatsanwaltschaft hat auch dann von sich aus keine Möglichkeit, die getroffene Verständigung mit der daraus<br />

resultierenden Bindungswirkung für das Gericht nachträglich zu Fall zu bringen, wenn sie die Voraussetzungen des §<br />

257c Abs. 4 Satz 1 <strong>und</strong> 2 StPO für ein Entfallen der Bindungswirkung als gegeben ansieht (vgl. Niemöller aaO, Rn.<br />

39, 111; Altvater aaO; Eschelbach in Graf, StPO, § 257c, Rn. 30; Velten in SK-StPO, 4. Aufl., § 257c, Rn. 25; Ambos/Ziehn<br />

in Radtke/Hohmann, StPO, § 257c, Rn. 35).<br />

b) Das Entfallen der Bindungswirkung der Verständigung für das Gericht tritt ungeachtet des insoweit unklaren<br />

Wortlauts des § 257c Abs. 4 Satz 1 StPO nicht kraft Gesetzes von selbst ein, sondern erfordert eine dahingehende<br />

gerichtliche Entscheidung. Die Prüfung, ob eine mit dem materiellen Recht in Einklang stehende Ahndung auch bei<br />

veränderter Beurteilungsgr<strong>und</strong>lage noch im Rahmen der getroffenen Verständigung möglich ist, liegt im Verantwortungsbereich<br />

des Gerichts. Um ein materiell-rechtlich richtiges <strong>und</strong> gerechtes Urteil zu gewährleisten (BT-Drucks.<br />

352


16/12310 S. 14), räumt § 257c Abs. 4 StPO dem Gericht die Befugnis ein, sich unter den in § 257c Abs. 4 Satz 1 <strong>und</strong><br />

2 StPO geregelten Voraussetzungen aus der Bindung durch die Verständigung zu lösen. Das Abweichen von der<br />

Verständigung ist das Gegenstück zu dem gerichtlichen Verständigungsvorschlag <strong>und</strong> stellt sich der Sache nach als<br />

Widerruf der zum Bestandteil der Verständigung gewordenen Strafrahmenzusage dar. Dies macht eine entsprechende<br />

Entscheidung des Gerichts erforderlich (vgl. Niemöller aaO, Rn. 113; BT-Drucks. 16/12310 S. 15; a.A. Altvater<br />

aaO, S. 24). Die Notwendigkeit einer gerichtlichen Entscheidung folgt zudem aus der Regelung des § 257c Abs. 4<br />

Satz 1 StPO, die das Entfallen der Bindung an die Verständigung unter anderem davon abhängig macht, dass das<br />

Gericht wegen der veränderten Beurteilungsgr<strong>und</strong>lage zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte<br />

Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist. Für die danach erforderliche Überzeugungsbildung bedarf es<br />

zwingend einer gerichtlichen Entscheidung. Die Entscheidung über das Abweichen von der Verständigung ist nach §<br />

257c Abs. 4 Satz 4 StPO unverzüglich mitzuteilen, um dem Angeklagten <strong>und</strong> den weiteren Verfahrensbeteiligten -<br />

insbesondere mit Blick auf das mit dem Entfallen der Bindung des Gerichts an die Verständigung gemäß § 257c Abs.<br />

4 Satz 3 StPO verknüpfte Verwertungsverbot für ein im Zuge der Verständigung abgelegtes Geständnis des Angeklagten<br />

- die Möglichkeit zu geben, ihr Prozessverhalten auf die neue Verfahrenslage einzurichten (vgl. BT-Drucks.<br />

16/12310 S. 15).<br />

c) Ein Abweichen von der Verständigung setzt unter anderem voraus, dass das Gericht wegen der veränderten Beurteilungsgr<strong>und</strong>lage<br />

zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder<br />

schuldangemessen ist. Dies ist in § 257c Abs. 4 Satz 1 StPO ausdrücklich geregelt, gilt in gleicher Weise aber auch<br />

für die Fälle des § 257c Abs. 4 Satz 2 StPO. Gegenstand der in § 257c Abs. 4 Satz 2 StPO angesprochenen Prognose<br />

ist die strafzumessungsrechtliche Bewertung, die das Gericht bei seiner Zusage der Strafrahmengrenzen unter antizipierender<br />

Berücksichtigung des nach dem Inhalt des Verständigungsvorschlags erwarteten Prozessverhaltens des<br />

Angeklagten vorgenommen hat. Von einem nicht der Prognose entsprechenden Verhalten des Angeklagten, das ein<br />

Abweichen von der Verständigung zu rechtfertigen vermag, kann daher nur dann die Rede sein, wenn das von der<br />

Erwartung abweichende tatsächliche Prozessverhalten aus der Sicht des Gerichts der Strafrahmenzusage die Gr<strong>und</strong>lage<br />

entzieht.<br />

Bei der Beantwortung der Frage, ob die in Aussicht gestellten Strafrahmengrenzen auch auf veränderter Beurteilungsgr<strong>und</strong>lage<br />

eine tat- <strong>und</strong> schuld-angemessene Ahndung ermöglichen, kommt dem Gericht - wie auch sonst bei<br />

Wertungsakten im Bereich der Strafzumessung - ein weiter Beurteilungsspielraum zu, der erst überschritten ist, wenn<br />

der zugesagte Strafrahmen nicht mehr mit den Vorgaben des materiellen Rechts in Einklang zu bringen ist. Dies<br />

wäre etwa anzunehmen, wenn die Strafrahmenzusage sich unter Berücksichtigung von neu eingetretenen oder erkannten<br />

Umständen oder des tatsächlichen Prozessverhaltens des Angeklagten so weit von dem Gedanken eines<br />

gerechten Schuldausgleichs entfernte, dass sie als unvertretbar erschiene. In diesem Fall wäre das Gericht jedenfalls<br />

aus Gründen sachlichen Rechts verpflichtet, von der getroffenen Verständigung abzuweichen. Da die Anforderungen<br />

des materiellen Strafrechts im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO nicht disponibel sind (vgl. nur BT-<br />

Drucks. 16/12310 S. 7 ff., 13 f.), wäre ein auf der Gr<strong>und</strong>lage der Verständigung ergehendes Urteil sachlich-rechtlich<br />

fehlerhaft. Ob in einem Festhalten an der Verständigung bei nach Maßgabe von § 257c Abs. 4 Satz 1 <strong>und</strong> 2 StPO<br />

unvertretbar gewordener Strafrahmenzusage zugleich ein Verfahrensverstoß gegen § 257c Abs. 4 StPO läge, kann<br />

der Senat dahinstehen lassen. Denn im vorliegenden Fall hat das Landgericht den ihm im Rahmen des § 257c Abs. 4<br />

StPO zukommenden Beurteilungsrahmen nicht überschritten. Die Revision der Staatsanwaltschaft zeigt keine nach §<br />

257c Abs. 4 Satz 1 <strong>und</strong> 2 StPO neu in die strafzumessungsrechtliche Bewertung einzubeziehenden Umstände auf, die<br />

geeignet sind, die Vertretbarkeit der von der Strafkammer in ihrem Verständigungsvorschlag in Aussicht gestellten<br />

Strafober- <strong>und</strong> Strafuntergrenze in Frage zu stellen. Dies gilt sowohl für den Umstand, dass der Angeklagte den<br />

gewaltsam erzwungenen Analverkehr erst im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung glaubhaft eingeräumt hat, als<br />

auch für die erheblichen psychischen Folgen der Tat für die Nebenklägerin.<br />

d) Ausführungen in den Urteilsgründen zum Festhalten an oder Abweichen von der Verständigung sind entgegen der<br />

Ansicht der Revision nicht erforderlich. Während in dem Referentenentwurf des B<strong>und</strong>esjustizministeriums für ein<br />

Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren ursprünglich die Feststellung in den Urteilsgründen vorgesehen<br />

war, dass dem Urteil eine Verständigung zugr<strong>und</strong>e liegt (vgl. Referentenentwurf S. 6 f. bei Niemöller aaO,<br />

Anhang 4), verlangt die Gesetz gewordene Regelung des § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO lediglich die Angabe, dass dem<br />

Urteil eine Verständigung (§ 257c StPO) vorausgegangen ist. Die Vorschrift soll auch für die Urteilsgründe Transparenz<br />

herstellen (vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 15). Die Darstellung des Inhalts der Verständigung ist dabei nicht geboten.<br />

Insoweit findet die notwendige Dokumentation gemäß § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO in der Sitzungsniederschrift<br />

statt, welche die Gr<strong>und</strong>lage einer vom Revisionsgericht auf Verfahrensrüge hin gegebenenfalls vorzunehmenden<br />

Prüfung des Verfahrens nach § 257c StPO bildet (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Oktober 2010 - 1 StR 359/10, NStZ<br />

353


2011, 170; vom 19. August 2010 - 3 StR 226/10, BGHR StPO § 267 Abs. 3 Satz 5 Offenlegung 1; vom 13. Januar<br />

2010 - 3 StR 528/09, NStZ 2010, 348). Für das Abrücken von der Verständigung nach § 257c Abs. 4 StPO verbleibt<br />

es man-gels einer anderen gesetzlichen Regelung bei dem Gr<strong>und</strong>satz, dass Verfahrensvorgänge im Urteil nicht zu<br />

erörtern sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. Mai 2009 - 1 StR 99/09, NJW 2009, 2612, 2613; vom 8. Mai 2007 - 1<br />

StR 202/07, NStZ-RR 2007, 244; a.A. für § 257c Abs. 4 Meyer-Goßner aaO, § 267, Rn. 23a; Velten aaO, § 257c,<br />

Rn. 41). Die Mitteilung nach § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO über die Entscheidung zum Abgehen von der Verständigung<br />

<strong>und</strong> deren Gründe ist gemäß § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen <strong>und</strong> nimmt an dessen<br />

Beweiskraft teil.<br />

III. Die Sachrüge bleibt - auch unter Berücksichtigung des § 301 StPO - ebenfalls ohne Erfolg. Die Strafzumessung<br />

<strong>und</strong> die Bewährungsentscheidung im angefochtenen Urteil halten einer rechtlichen Prüfung stand.<br />

1. Die Annahme einer alkoholbedingten erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 <strong>StGB</strong> ist<br />

nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat ohne Rechtsfehler, gestützt auf die durch die Bek<strong>und</strong>ungen der Nebenklägerin<br />

partiell bestätigten Angaben des Angeklagten, den Umfang des Alkoholkonsums des Angeklagten festgestellt<br />

<strong>und</strong> auf dieser Gr<strong>und</strong>lage sachverständig beraten eine maximale Blutalkoholkonzentration des Angeklagten zur Tatzeit<br />

von 2,9 Promille ermittelt. Ausgehend von dieser in den Blutkreislauf aufgenommenen Alkoholmenge, die zutreffend<br />

als gewichtiges Beweisanzeichen für eine die Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigende Alkoholintoxikation<br />

gewertet worden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Oktober 2004 - 1 StR 248/04, BGHR <strong>StGB</strong> § 21 Blutalkoholkonzentration<br />

37; vom 9. November 1999 - 4 StR 521/99, NStZ 2000, 136; Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR<br />

511/95, BGHSt 43, 66, 69 ff.), hat es eine Gesamtwürdigung der sonstigen Begleitumstände unter Einbeziehung des<br />

Verhaltens des Angeklagten <strong>und</strong> dessen nicht gegebener Alkoholgewöhnung vorgenommen <strong>und</strong> ist zu der Überzeugung<br />

gelangt, dass eine erhebliche Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens aufgr<strong>und</strong> der Alkoholisierung nicht<br />

ausgeschlossen werden kann. Dies lässt weder eine unzutreffende Anwendung des Zweifelssatzes noch anderweitige<br />

Rechtsfehler erkennen.<br />

2. Die gr<strong>und</strong>sätzlich dem Tatrichter vorbehaltene Strafzumessung kann vom Revisionsgericht nur auf Rechtsfehler<br />

überprüft werden; eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist ausgeschlossen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss<br />

vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349). Einen Rechtsfehler zeigt die Revision nicht auf. Die<br />

Strafkammer hat die erheblichen psychischen Tatfolgen für die Nebenklägerin zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt.<br />

Die dem nach §§ 21, 49 Abs. 1 <strong>StGB</strong> <strong>und</strong> §§ 46a, 49 Abs. 1 <strong>StGB</strong> doppelt geminderten Strafrahmen des §<br />

177 Abs. 2 Satz 1 <strong>StGB</strong> entnommene Strafe ist zwar milde, sie liegt aber nicht außerhalb des dem Tatrichter eröffneten<br />

Beurteilungsrahmens.<br />

3. Ohne Erfolg wendet sich die Revision schließlich gegen die dem Angeklagten gewährte Strafaussetzung zur Bewährung.<br />

Den dem Tatrichter bei der Gesamtwürdigung nach § 56 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 <strong>StGB</strong> eingeräumten Beurteilungsspielraum<br />

(vgl. Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 56, Rn. 11, 25 m.w.N.) hat das Landgericht nicht überschritten. Es hat<br />

alle wesentlichen für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte erwogen <strong>und</strong> sich für die Bejahung besonderer<br />

Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 <strong>StGB</strong> in rechtlich nicht zu beanstandender Weise auf die bisherige Unbestraftheit<br />

des Angeklagten, sein Geständnis <strong>und</strong> den gelungenen Täter-Opfer-Ausgleich gestützt. Vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

dieser von der Strafkammer angeführten gewichtigen Milderungsgründe liegt auch in dem Fehlen von Ausführungen<br />

im Urteil zur Frage, ob die Verteidigung der Rechtsordnung ausnahmsweise die Vollstreckung der Strafe gebietet (§<br />

56 Abs. 3 <strong>StGB</strong>), kein Rechtsfehler. Denn einer ausdrücklichen Erörterung der Voraussetzungen des § 56 Abs. 3<br />

<strong>StGB</strong> bedarf es nur dann, wenn aus den Urteilsgründen ersichtliche Umstände die Anwendung dieser Vorschrift<br />

nahelegen (vgl. BGH, Urteile vom 14. Juli 1994 - 4 StR 252/94, BGHR <strong>StGB</strong> § 56 Abs. 3 Verteidigung 15; vom 30.<br />

Oktober 1990 - 1 StR 500/90, BGHR <strong>StGB</strong> § 56 Abs. 3 Verteidigung 9).<br />

StPO § 257c Dealvorbereitung außerhalb der Hauptverhandlung – „Dracula“<br />

BGH, Urt. v. 29.11.2011 - 1 StR 287/11 - StraFo 2012, 151<br />

Verständigungen können außerhalb der Hauptverhandlung vorbereitet werden, jedoch ist dann<br />

hierüber Transparenz in der Hauptverhandlung herzustellen.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 29. November 2011 für Recht erkannt: Auf die<br />

Revisionen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 4. No-<br />

354


vember 2010 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch<br />

über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Die Revisionen von Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> Nebenkläger wenden sich gegen die Freisprüche der Angeklagten von<br />

folgenden Anlagevorwürfen: Der Angeklagte Dr. S., ein in K. () tätiger rumänischer Zahnarzt, hatte mit dem Nebenkläger<br />

R. geschäftliche Beziehungen gehabt <strong>und</strong> stritt mit ihm um hohe Beträge. Er wusste, dass er keine Ansprüche<br />

mehr hatte, nachdem R. zur Abgeltung aller Ansprüche 700.000 € bezahlt hatte. Er erhob aber immer neue, höher<br />

werdende Forderungen. Man erstattete in Rumänien gegenseitig Strafanzeigen <strong>und</strong> prozessierte über eine Villa in<br />

Bukarest. Dr. S. nahm schließlich Kontakt mit dem Angeklagten M. auf, der R. bei einem seiner Aufenthalte in Re. ,<br />

wo dessen Tochter Gastronomiebetriebe führte, "mit Gewalt unter Druck setzen" sollte, damit er zu Zahlungen <strong>und</strong><br />

zur Beendigung des Prozesses im Sinne von Dr. S. bereit würde. Dr. S. <strong>und</strong> M. nahmen Kontakt mit der "Rockergruppe<br />

Hells Angels" auf, am Ende wurden der Angeklagte B. <strong>und</strong> ein weiteres Bandenmitglied "beauftragt". "M.<br />

plante nun für ... Dr. S. das weitere Vorgehen". Am 19. August 2009 versuchten B. <strong>und</strong> sein "Team" - in engem<br />

Kontakt mit M. - in Re. vergeblich, ihn mit der Lüge, man habe seinen Porsche angefahren, auf die Straße zu locken,<br />

um ihn zu überfallen <strong>und</strong> Autoschlüssel <strong>und</strong> Bargeld wegzunehmen. Die Beute hätten B. <strong>und</strong> sein Mittäter behalten<br />

sollen. Als R. zwei Tage später zum Parkplatz seiner Pension kam, eilten B. <strong>und</strong> sein Mittäter aus einer gegenüberliegenden<br />

Pension hinzu, beschossen ihn mit Reizgas, was ihn am Auge verletzte, schlugen ihn mit einer Schreckschusspistole<br />

<strong>und</strong> versuchten, ihm Autoschlüssel <strong>und</strong> Brieftasche abzunehmen. Sie flüchteten ohne Beute, als Angehörige<br />

R. zu Hilfe eilten.<br />

Am 15. September 2009, so wird Dr. S. <strong>und</strong> M. weiter vorgeworfen, seien an R., dessen Frau (nach Bukarest) <strong>und</strong><br />

dessen Tochter (nach Re.) je eine Postkarte mit Motiven aus Re. geschickt worden, die Dr. S. (auf Rumänisch) mit<br />

folgendem Text beschrieben hatte: "Gebt zurück, was ihr gestohlen habt, ihr Betrüger. Dies ist die letzte Warnung.<br />

Vlad Tepes.". Vlad Tepes war ein auch als Dracula bekannter rumänischer Fürst, der "Pfählung als Hinrichtungsart<br />

bevorzugte". Die darin liegende Drohung hätte letztlich R. dazu veranlassen sollen, doch noch auf die Forderungen<br />

einzugehen. Wenige Tage später schickte Dr. S. an R. den Entwurf eines "Abkommens", mit dem dieser sich zur<br />

Übertragung von Geld <strong>und</strong> Wertgegenständen im Wert von jedenfalls weit über 1 Mio. € an Dr. S. verpflichten sollte.<br />

Er kam dieser Aufforderung nicht nach. Die Angeklagten wurden freigesprochen, die Täter des Überfalls <strong>und</strong><br />

auch eine Verbindung von Dr. S. <strong>und</strong> M. zu dieser Tat seien nicht feststellbar, die Postkarten hätten keinen strafbaren<br />

Inhalt, darüber hinaus sei eine Tatbeteiligung von M. hinsichtlich der Postkarten nicht festzustellen. Die Revisionen<br />

haben (schon) mit der Sachrüge Erfolg:<br />

1. Bezüglich des Überfalls beruht dies darauf, dass das Urteil keine genügende Gr<strong>und</strong>lage einer revisionsgerichtlichen<br />

Überprüfung ist. Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen sind regelmäßig in einer geschlossenen Darstellung<br />

die als erwiesen angesehenen Tatsachen festzustellen, ehe in der Beweiswürdigung darzulegen ist, warum<br />

die für einen Schuldspruch erforderlichen Feststellungen nicht getroffen werden konnten (st. Rspr.; vgl. zusammenfassend<br />

nur BGH, Urteil vom 24. Juli 2008 - 3 StR 261/08, b. Cierniak/Zimmermann NStZ-RR 2011, 225, 232). Die<br />

Strafkammer teilt dagegen nach dem Anklageinhalt protokollartig das (wohl) gesamte Beweisergebnis in allen Details<br />

mit, auch soweit sie offenbar für die Entscheidung über Verurteilung oder Freispruch keine Bedeutung haben<br />

können, wie etwa - um nur ein Beispiel zu nennen - Hinweise eines Sanitäters an einen Arzt zu einem möglichen<br />

Sonnenbrand R. s. Eingefügt in diese Darlegungen sind immer wieder beweiswürdigende Überlegungen, die meist<br />

jeweils streng auf die zuvor geschilderten <strong>Teil</strong>e der Beweisergebnisse begrenzt sind. Die Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalt haben zutreffend insgesamt (nur) etwa zehn, auf mehr als fünfzig Urteilsseiten verstreute<br />

Passagen aufgezählt - meist nicht mehr als ein Absatz, manchmal nur einzelne Sätze -, die als Sachverhaltsfeststellungen<br />

zu bewerten sind. Abgesehen von der Notwendigkeit, diese Bruchstücke aus den umfangreichen Ausführungen<br />

herauszufiltern, ist es insgesamt kaum möglich, sie zu einer in sich geschlossenen, einer revisions-rechtlichen<br />

Überprüfung zugänglichen Sachverhaltsfeststellung zusammenzufassen.<br />

2. Ein weiterer Rechtsfehler liegt darin, dass die Strafkammer die erforderliche Gesamtwürdigung aller für <strong>und</strong> gegen<br />

eine Täterschaft der Angeklagten sprechenden Indizien (vgl. BGH aaO mwN) unterlassen hat, die - in ihrer Vielzahl<br />

vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend hinsichtlich sämtlicher Angeklagter umfangreich <strong>und</strong> im Detail dargelegt<br />

- weitgehend allenfalls isoliert bewertet sind. Bei einer Gesamtschau könnte eine Vielzahl einzelner Gesichtspunkte<br />

auf Gr<strong>und</strong> ihrer Häufung <strong>und</strong> gegenseitigen Durchdringung möglicherweise die Überzeugung von der Richtigkeit<br />

des Anklagevorwurfs vermitteln (BGH aaO).<br />

3. Der Angeklagte B. hat "im Laufe der Hauptverhandlung" zunächst mündlich <strong>und</strong> am zehnten Verhandlungstag<br />

schriftlich über seinen Verteidiger folgendes erklärt: Er sei von einem Mitglied der "Hells Angels" beauftragt worden,<br />

in Re. bei einer "Abreibung … Schmiere zu stehen" <strong>und</strong> erforderlichenfalls einzugreifen. Der Tatort sei ihm<br />

355


genannt worden, sonst nichts. Die Täter der Abreibung seien ihm ebenso unbekannt gewesen wie Dr. S. <strong>und</strong> M.. Er<br />

habe aus der Ferne beobachtet, wie zwei Männer R. angriffen. Als diesem eine Frau zu Hilfe kam, seien die Männer<br />

geflüchtet, worauf auch er (der Angeklagte) geflüchtet sei. Sonst wisse er nichts.<br />

a) Die Strafkammer hält für möglich, dass der Angeklagte mit der Tat nichts zu tun hatte <strong>und</strong> er sich mit diesen Angaben<br />

zu Unrecht belastet habe. Der Verteidiger habe vor Abgabe der Erklärung auf Gespräche mit der Staatsanwaltschaft<br />

verwiesen, "in die das Gericht bewusst nicht einbezogen … <strong>und</strong> über deren Inhalt … Stillschweigen vereinbart<br />

worden sei". Der Angeklagte wolle bald aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Zumal, da der Staatsanwalt (in<br />

der Hauptverhandlung) erklärt habe, nach der bisherigen Beweisaufnahme komme nur eine Bewährungsstrafe wegen<br />

Beihilfe zu gefährlicher Körperverletzung in Betracht, sei, so folgert die Strafkammer, insgesamt eindeutig, dass die<br />

Staatsanwaltschaft "eine Bewährungsstrafe in Aussicht gestellt" habe. Es liege daher nicht fern, dass der Angeklagte,<br />

um das Verfahren gegen sich entsprechend zu beenden, wahrheitswidrig die genannten Angaben gemacht habe.<br />

b) Hierzu bemerkt der Senat:<br />

(1) Verständigungen können außerhalb der Hauptverhandlung vorbereitet werden, jedoch ist dann hierüber Transparenz<br />

in der Hauptverhandlung herzustellen. Das Transparenzgebot kennzeichnet das Verfahren über eine Verständigung<br />

im Strafverfahren insgesamt (vgl. zusammenfassend auch Niemöller/Schlothauer/Weider, Verständigung im<br />

Strafverfahren D Rn. 49 ff. mwN, auch aus den Gesetzgebungsmaterialien), wie sich aus einer Reihe von Bestimmungen<br />

über hieraus erwachsende Pflichten des Gerichts ergibt (vgl. § 202a Satz 2 StPO, § 212 StPO, § 243 Abs. 4<br />

StPO, § 257c Abs. 3 StPO, § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO, § 273 Abs. 1a StPO). Eine spezielle gesetzliche Regelung für<br />

nur zwischen Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> Verteidigung im Rahmen des (Zwischen- oder) Hauptverfahrens außerhalb der<br />

Hauptverhandlung geführte Gespräche, die letztlich das Ziel haben, die Hauptverhandlung abzukürzen, gibt es nicht.<br />

Jedoch hat die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zur Verfahrensförderung mit anderen Verfahrensbeteiligten<br />

(naheliegend häufig der Verteidigung) geführte Gespräche aktenk<strong>und</strong>ig zu machen (§ 160b Satz 2 StPO), besonders<br />

sorgfältig, wenn eine Verständigung i.S.d. § 257c angestrebt wird (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 160b<br />

Rn. 8). All dies spricht dafür, dass auch derartige Gespräche offen zu legen sind, zumal das Gericht sonst nach solchen<br />

Gesprächen abgegebene Erklärungen des Angeklagten nicht auf umfassender Gr<strong>und</strong>lage würdigen könnte. Dies<br />

würde im Übrigen in besonderem Maße gelten, wenn solche Gespräche bei einer gegen mehrere Angeklagte geführten<br />

Hauptverhandlung nur mit der Verteidigung eines Angeklagten geführt würden, dessen anschließende Aussagen<br />

dann die übrigen Angeklagten belasten (vgl. BGHSt 52, 78, 83; 48, 161, 168). Dies ist hier aber nicht einschlägig, da<br />

B. erklärt hat, Dr. S. <strong>und</strong> M. nicht zu kennen. Im Übrigen ist hier im Ergebnis durch die genannte Erklärung des<br />

Verteidigers die gebotene Klarstellung jedenfalls ansatzweise, wenn auch im Hinblick auf das vereinbarte Stillschweigen<br />

über den näheren Inhalt des Gesprächs nicht in vollem Umfang (vgl. § 273 Abs. 1a StPO) erfolgt. Der<br />

Senat braucht alledem aber nicht näher nachzugehen, weil in diesem Zusammenhang insgesamt die Möglichkeit<br />

eines den Angeklagten begünstigenden Rechtsfehlers nicht zu erkennen ist.<br />

(2) Unabhängig von alledem wäre bei der Einbeziehung der Aussagegenese in die Würdigung der - etwas lebensfremd<br />

erscheinenden - Erklärung des Angeklagten nicht nur die Möglichkeit einer selbstbelastenden Erfindung eines<br />

Unschuldigen zu prüfen gewesen. Jedenfalls nicht weniger naheliegend <strong>und</strong> daher erörterungsbedürftig erscheint<br />

auch die Möglichkeit, dass zur Erreichung einer milden Strafe zwar eine Tatbeteiligung gr<strong>und</strong>sätzlich eingeräumt<br />

sein soll, die nach Art <strong>und</strong> Maß mit Entlastungstendenz aber (zu) gering geschildert sein kann.<br />

c) Zudem, so führt die Strafkammer aus, sei der Angeklagte selbst bei Zugr<strong>und</strong>elegung seiner Angaben straflos. Sie<br />

ergäben nämlich nicht zwingend, dass den Haupttätern die Anwesenheit des Angeklagten am Tatort bekannt gewesen<br />

sei. Der rechtliche Ansatz dieser Ausführungen ist zutreffend, (auch) sie beruhen aber auf einer nicht rechtsfehlerfreien<br />

Beweiswürdigung.<br />

(1) Von Beihilfe, die objektiv die Tat fördert, braucht der Haupttäter nichts zu wissen (BGH, Urteil vom 8. Juli 1954<br />

- 4 StR 350/54, BGHSt 6, 248, 249 f.). Die bloße, objektiv die Tat nicht fördernde Anwesenheit am Tatort kann<br />

"psychische" Beihilfe sein (BGH, Beschluss vom 17. März 1995 - 2 StR 84/95, NStZ 1995, 490, 491; zusammenfassend<br />

zur Rechtsprechung Kudlich in v. Heintschel-Heinegg, <strong>StGB</strong>, § 27 Rn. 9.4 mwN), aber nur, wenn sie dem<br />

Haupttäter bekannt ist. Dies war hier nicht der Fall. Andererseits war der Angeklagte nicht nur anwesend, sondern er<br />

stand "Schmiere" <strong>und</strong> war bereit, wenn nötig, zu helfen. Ob dies auch dann zu strafbarer Beihilfe führt, wenn der<br />

Haupttäter von der Anwesenheit <strong>und</strong> der nicht realisierten Bereitschaft zur Hilfe nichts weiß, wird unterschiedlich<br />

beurteilt (dafür z.B. Murmann in SSW-<strong>StGB</strong>, § 27 Rn. 4; Maurach/Gössel/Zipf, <strong>StGB</strong> AT Tb 2, 7. Aufl. § 52 Rn. 8;<br />

dagegen z.B. Roxin in FS Miyazawa 504, 511 f.; Dreher MDR 1972, 553, 557).<br />

Nach Auffassung des Senats liegt keine strafbare Beihilfe vor. Die Tat ist in einem solchen Fall nicht objektiv gefördert,<br />

sondern eine solche Förderung ist nur vorbereitet. Dass dadurch der Bereich strafbaren Verhaltens (noch) nicht<br />

356


erreicht ist, folgt aus der Straflosigkeit der gegenüber einer Vorbereitung sogar weiter gehenden versuchten Beihilfe<br />

(Roxin aaO 512).<br />

(2) Die Annahme fehlender Kenntnis der Haupttäter ist allerdings nicht rechtsfehlerfrei begründet. Richterliche<br />

Überzeugung erfordert nicht, dass das gef<strong>und</strong>ene Ergebnis "zwingend", ein anderes Ergebnis also denknotwendig<br />

ausgeschlossen ist. Dies wäre ein überspannter <strong>und</strong> daher rechtlich unzutreffender Maßstab (st. Rspr.; vgl. zuletzt<br />

BGH, Urteil vom 20. September 2011 - 1 StR 120/11 mwN). Darüber hinaus beschränkt sich die Strafkammer allein<br />

auf die Bewertung der Erklärung des Angeklagten, was auch hier eine nur isolierte Würdigung der einzelnen Beweismittel<br />

besorgen lässt.<br />

4. Die Annahme, der Inhalt der von Dr. S. versandten Postkarten sei strafrechtlich irrelevant, ist vor allem darauf<br />

gestützt, dass der historische Dracula "einerseits als grausamer Tyrann, der seine Feinde pfählen ließ, <strong>und</strong> andererseits<br />

als fanatischer Kämpfer für die Gerechtigkeit" gelte. Daher sei nicht "zwingend", dass Dr. S. die Familie R.<br />

bedrohen wollte, möglicherweise habe er nur ankündigen wollen, "dass er mit Nachdruck für Gerechtigkeit kämpfen<br />

werde". Hierfür spreche auch, dass er sie "Betrüger" genannt habe. Gegen die Annahme, dass er sein Verhalten selbst<br />

als strafbar werte, spreche, dass er als Akademiker dann kaum offene Postkarten verschicken würde, da er auf diese<br />

Weise leicht überführt werden könne. Dass die Empfänger sich nach ihren Aussagen bedroht gefühlt hätten - ohne<br />

dass dies die Strafkammer als unzutreffend bewertet hätte, bedeute, so ein Zeuge, "Vlad Tepes" in Rumänien "Tod" -<br />

sei irrelevant. Ob eine Drohung i.S.d. §§ 240, 241, 255 <strong>StGB</strong> vorliege, richte sich nicht danach, ob der Bedrohte die<br />

Ankündigung des Übels ernst nehme, abzustellen sei allein auf den Drohenden. Auch sei nicht klar genug, was überhaupt<br />

angedroht sei. Diese Ausführungen halten weder zur objektiven noch zur subjektiven Seite rechtlicher Überprüfung<br />

stand.<br />

a) Eine Drohung im Sinne der genannten Vorschriften ist die Ankündigung eines künftigen Übels, auf dessen Eintritt<br />

der Täter Einfluss hat oder jedenfalls zu haben vorgibt (vgl. zusammenfassend Fischer, <strong>StGB</strong>, 59. Aufl., § 240 Rn.<br />

31 mwN). An der Ankündigung eigenen künftigen Verhaltens hat die Strafkammer zu Recht keinen Zweifel. Ob ein<br />

empfindliches Übel angekündigt ist, richtet sich nach dem Inhalt der Erklärung, der nach dem Empfängerhorizont zu<br />

bestimmen ist (Vogel in LK, 12. Aufl., § 253 Rn. 7). Hier haben die Empfänger der Postkarten, so die Strafkammer,<br />

deren Inhalt in dem für sie landläufigen Sinn als Bedrohung mit dem Tod oder jedenfalls mit schwerer körperlicher<br />

Misshandlung verstanden <strong>und</strong> ernst genommen. Nicht tragfähig ist die in diesem Zusammenhang - hilfsweise - angestellte<br />

Erwägung der Strafkammer, wenn eine Drohung vorläge, sei sie zu unpräzise. Dass hier eine (etwaige) Drohung<br />

auf etwas anderes gerichtet sein könnte als Tod oder jedenfalls schwere körperliche Misshandlung, ist nicht<br />

erkennbar. Eine solche Drohung bedarf aber keiner präzisierenden Erläuterung.<br />

b) Der Vorsatz des Täters muss darauf gerichtet sein, dass der Empfänger die Äußerungen als Drohung versteht <strong>und</strong><br />

ernst nimmt. Anhaltspunkte für die - eher fern liegend erscheinende - Annahme, Dr. S. hätte geglaubt, der Karteninhalt<br />

würde von den Empfängern entgegen seinem für sie landläufigen Sinn wegen uneindeutiger historischer Überlieferungen<br />

nur als Streben nach Gerechtigkeit bewertet, sind weder genannt noch erkennbar. Offenbar kommt die<br />

Strafkammer deshalb zu dieser Annahme, weil anderes nicht "zwingend" sei; wie dargelegt, ist dies jedoch ein<br />

rechtsfehlerhafter Maßstab.<br />

c) In subjektiver Hinsicht kann im Übrigen allein der Hinweis, dass die Empfänger der Karten als "Betrüger" bezeichnet<br />

wurden, nicht tragfähig belegen, ob Dr. S. (anders als ihm vorgeworfen) überhaupt glaubte, noch (im Einzelnen<br />

wiederholt wechselnde) Ansprüche zu haben. Andernfalls wäre für Überlegungen zu besonderem Einsatz für<br />

die Gerechtigkeit ohnehin kein Raum.<br />

d) Es wäre auch zu erörtern gewesen, dass der Angeklagte kurz nach der Versendung der Postkarten ohne erkennbare<br />

weitere Begründung neue hohe Forderungen erhob. Dies könnte dagegen sprechen, dass er nur künftiges Bemühen<br />

um Gerechtigkeit ankündigen wollte.<br />

e) Nicht rechtsfehlerfrei begründet ist die Annahme, gegen eine auf strafbares Verhalten gerichtete Vorstellung von<br />

Dr. S. spreche auch, dass er als Zahnarzt (Akademiker) dann schwerlich für "jeden lesbare" offene Karten verschickt<br />

<strong>und</strong> so die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung erhöht hätte. Es fehlt die Erörterung des offensichtlich gegenläufigen<br />

Gesichtspunkts, dass er die Karten nicht mit seinem Namen unterschrieben hat. Soweit die Karten in Deutschland<br />

gelesen werden konnten, kommt hinzu, dass wohl die wenigsten potentiellen Leser Rumänisch können.<br />

5. Hinsichtlich des Angeklagten M. stützt sich die allein getroffene Feststellung, insoweit hätten sich keinerlei Anhaltspunkte<br />

ergeben, nur auf dessen Angabe, er habe zwar den Inhalt der Postkarten gekannt <strong>und</strong> gewusst, dass sie<br />

Dr. S. abschicken wollte, damit jedoch nichts zu tun gehabt. Nicht erörtert ist jedoch in diesem Zusammenhang die<br />

festgestellte Aussage einer Fre<strong>und</strong>in von M., R. hätte gezwungen werden sollen, anzuerkennen, "dass irgendein<br />

Gr<strong>und</strong>stück in Rumänien Dr. S. gehöre"; dies, so die ebenfalls mitgeteilte Aussage R. s, deckt sich mit Forderungen,<br />

die bald nach den Postkarten an ihn gestellt wurden. M. <strong>und</strong> seine Leute, so die Fre<strong>und</strong>in, hätten diese Unterschrift<br />

357


erzwingen wollen. Schon dieses Beweisergebnis ist - unabhängig davon, wie es letztlich tatrichterlich zu werten ist -<br />

unvereinbar mit der Annahme, nichts deute auf eine Mitwirkung von M. an der Drohung mit den Postkarten hin.<br />

6. Da die Sachrüge durchgreift, kann der in der Hauptverhandlung hilfsweise gestellte Aussetzungsantrag eines Verteidigers<br />

auf sich beruhen. Zu Gr<strong>und</strong>e liegt, dass ein am 22. Februar 2011 an das Landgericht gerichteter Akteneinsichtsantrag<br />

dort unbearbeitet blieb; auch die Staatsanwaltschaft hat bei der Aktenweiterleitung am 22. März 2011<br />

hierauf nicht hingewiesen. Wiederholt wurde der Antrag nicht (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom 1. Februar 2000 -<br />

4 StR 635/99, NStZ 2000, 326 mwN). Der Aussetzungsantrag war jedenfalls nur für den Fall gestellt, "dass der Senat<br />

den … Verfahrensrügen Bedeutung beimessen <strong>und</strong> die dort in Bezug genommenen Verfahrenstatsachen … verwerten<br />

will". Dies ist nicht der Fall.<br />

7. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Zuerkennung von Entschädigung für unschuldig erlittene<br />

Untersuchungshaft ist mit der Aufhebung des Urteils gegenstandslos (BGH, Urteil vom 24. Januar 2006 - 1 StR<br />

357/05 mwN).<br />

8. Wie auch im Urteil mitgeteilt ist, bewertet die (unverändert zugelassene) Anklage die Versendung der Postkarten<br />

als versuchte besonders schwere räuberische Erpressung (§§ 253, 255, § 250 Abs. 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong>), die in Tateinheit<br />

mit den durch den gescheiterten Überfall in Re. verwirklichten Tatbeständen stehe. Dies veranlasst folgende vorsorgliche<br />

Hinweise:<br />

a) Es bedarf der Klärung, ob die Postkarten an Frau <strong>und</strong> Tochter nur Druck auf den Nebenkläger ausüben sollten<br />

oder ob auch diese zur Zahlung aufgefordert werden sollten, wofür die Formulierung "gebt zurück ihr Betrüger"<br />

sprechen könnte. Sollte nur auf den Nebenkläger Druck ausgeübt werden - auch Dritten in Aussicht gestellte Übel<br />

können genügen (vgl. Gropp/Sinn in MüKo § 240 Rn. 82 mwN) - könnte hier letztlich eine tatbestandliche Handlungseinheit<br />

vorliegen (vgl. Vogel aaO Rn. 51). Sollten dagegen auch Frau <strong>und</strong> Tochter zur Zahlung aufgefordert<br />

werden, wäre (versuchte) Erpressung mehrfach erfüllt, selbst wenn sich die Forderungen, jedenfalls wirtschaftlich,<br />

nur gegen ein Vermögen richtete, da § 253 <strong>StGB</strong> auch das höchstpersönliche Rechtsgut Willensfreiheit schützt<br />

(BGH, Urteil vom 28. April 1992 - 1 StR 148/92 mwN). Allein dadurch, dass, wie die Strafkammer festgestellt hat,<br />

die Postkarten - sei es auch gleichzeitig - (von K. etwa 45 km entfernt) im selben Briefpostzentrum in Ko. aufgegeben<br />

wurden, wären diese Taten nicht zu einer natürlichen Handlungseinheit verb<strong>und</strong>en (BGH, Urteil vom 24. November<br />

2004 - 5 StR 220/04, wistra 2005, 56, 57).<br />

b) Räuberische Erpressung (§ 255 <strong>StGB</strong>) erfordert eine Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben.<br />

Genaue zeitliche Grenzen dafür, wann eine für die Zukunft angedrohte Gefahr noch gegenwärtig ist, lassen sich nicht<br />

allgemein festlegen. Gegenwärtigkeit kann gr<strong>und</strong>sätzlich auch dann noch vorliegen, wenn dem Opfer eine - nicht zu<br />

lang bemessene - Zahlungsfrist gesetzt ist. Entscheidend sind die nicht zuletzt nach Maßgabe der vom Täter für möglich<br />

gehaltenen Opfersicht zu beurteilenden Umstände des Einzelfalls, wobei das Revisionsgericht im Wesentlichen<br />

nur den vom Tatrichter angelegten Maßstab überprüfen kann (vgl. BGH, Urteil vom 27. August 1998 - 4 StR 332/98,<br />

NStZ-RR 1999, 266, 267; Beschluss vom 4. September 1997 - 1 StR 489/97, NStZ-RR 1998, 135; Urteil vom 28.<br />

August 1996 - 3 StR 180/96, BGHR <strong>StGB</strong> § 255 Drohung 9 jew. mwN).<br />

c) Wieso durch die Versendung von Postkarten eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet sein<br />

könnte (§ 250 Abs. 2 Nr. 1 <strong>StGB</strong>), ist nicht ersichtlich.<br />

d) Tateinheit zwischen dem gescheiterten Überfall <strong>und</strong> der versuchten Erpressung durch die Postkarten läge nicht<br />

vor, auch wenn, wie die Strafkammer erwägt, die Motive von Re. auf den Karten auf den dort versuchten Überfall<br />

hinweisen <strong>und</strong> so die neue Drohung unterstreichen sollten. Auch wenn im Rahmen einer (versuchten) Erpressung<br />

mehrere Einzelakte auf den Willen des Opfers einwirken sollen <strong>und</strong> somit nur die ursprüngliche Drohung durchgehalten<br />

wird, liegt Tateinheit im Blick auf einen einheitlichen Lebenssachverhalt nur bei engem räumlichen <strong>und</strong> zeitlichen<br />

Zusammenhang dieser Einzelakte vor (BGH, Urteil vom 30. November 1995 - 5 StR 465/95, BGHSt 41, 368,<br />

369). Dies ist im Verhältnis zwischen einem versuchten Überfall in Re. <strong>und</strong> Wochen später von Ko. mit der Post<br />

nach Bukarest <strong>und</strong> Re. geschickten Drohungen nicht der Fall. Hinzu kommt, dass die erste Tat die Erpressung nur<br />

vorbereiten sollte, ohne dass der Erpresser am unmittelbaren Taterfolg wirtschaftliches Interesse hatte. Wären aber<br />

nicht einmal zwei unmittelbare Erpressungsversuche unter den gegebenen Umständen tateinheitlich verb<strong>und</strong>en, kann<br />

für einen Erpressungsversuch <strong>und</strong> den vorangegangenen Versuch, die Aussichten dieses Erpressungsversuchs durch<br />

die einschüchternde Wirkung einer anderen Straftat zu vergrößern, erst recht nichts anderes gelten.<br />

9. Die Hauptverhandlung, die sich, naheliegend wegen der schwierigen Beweislage, über 21 Verhandlungstage hinzog,<br />

fand mit reduzierter Gerichtsbesetzung statt. Die nach der Zurückverweisung einer Sache mögliche Änderung<br />

der Besetzungsentscheidung erscheint hier erwägenswert.<br />

358


StPO § 257c, § 261 Nicht jedes Dealgeständnis ist gelogen<br />

BGH, Beschl. v. 23.05.2012 - 1 StR 208/12 - BeckRS 2012, 11778<br />

1. Es gibt keine forensische Erfahrung, wonach bei einem Geständnis stets oder jedenfalls dann,<br />

wenn es im Rahmen einer Verständigung abgelegt wurde, ohne weiteres regelmäßig mit einer<br />

wahrheitswidrigen Selbstbelastung zu rechnen sei.<br />

2. Ist eine ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens durch das Hauptverhandlungsprotokoll<br />

belegt, kann erfolgreiches Revisionsvorbringen nicht auf Überlegungen zu einer - jedenfalls<br />

objektiv - fehlenden "Wahrhaftigkeit" der zu Gr<strong>und</strong>e liegenden richterlichen Erklärungen<br />

gestützt werden.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 17. Januar 2012 wird als unbegründet<br />

verworfen.<br />

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Der Angeklagte wurde nach Verständigung (§ 257c StPO) wegen Steuerhinterziehung in acht Fällen (unberechtigter<br />

Vorsteuerabzug von fast 1,3 Mio. € aus „Abdeckrechnungen“ <strong>und</strong> unzutreffenden Gutschriften) zu drei Jahren <strong>und</strong><br />

drei Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Seine Revision ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Zusammenfassend<br />

<strong>und</strong> ergänzend zu den zutreffenden, auch von der Erwiderung der Revision nicht entkräfteten Ausführungen des<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalts bemerkt der Senat:<br />

1. Die Revision meint, die Bewertung des Geständnisses des Angeklagten als glaubhaft beruhe auf unzureichender<br />

Gr<strong>und</strong>lage. Die maßgeblichen Vernehmungen des Angeklagten <strong>und</strong> von Zeugen hätten, wie sich aus der mitgeteilten<br />

jeweiligen Dauer der einzelnen Verfahrensabschnitte ergibt, insgesamt nur 83 Minuten gedauert, abzüglich noch der<br />

für zugleich durchgeführte formale Vorgänge benötigten Zeit. Das Vorbringen versagt. Die Revision erwähnt in<br />

diesem Zusammenhang schon nicht, dass die Feststellungen auch auf ein umfangreiches Selbstleseverfahren gestützt<br />

sind. Auch unabhängig davon ist der Senat nicht der Auffassung, schon der genannte zeitliche Rahmen ergäbe, dass<br />

Feststellungen zu einem Geständnis hinsichtlich eines - zumal für eine Wirtschaftsstrafkammer - leicht erfassbaren<br />

Sachverhalts <strong>und</strong> zu dessen Überprüfung nicht Ergebnis der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) sein könnten. Sollte die<br />

Revision dahin zu verstehen sein, der Senat möge den Ablauf der Hauptverhandlung im Detail überprüfen, um so<br />

festzustellen, dass speziell vorliegend keine ordnungsgemäße Beweiserhebung vorliegen könne, wäre verkannt, dass<br />

das Revisionsgericht Gang <strong>und</strong> Inhalt der Beweisaufnahme nicht rekonstruiert (vgl. schon BGH, Urteil vom 7. Oktober<br />

1966 - 1 StR 305/66, BGHSt 21, 149, 151 mwN). Sollte darüber hinaus zum Ausdruck gebracht sein, ein im<br />

Rahmen einer Verständigung (§ 257c StPO) abgelegtes Geständnis sei schon im Ansatz intensiver zu überprüfen als<br />

ein nicht im Rahmen einer Verständigung abgelegtes Geständnis, wäre dem ebenfalls nicht zu folgen. Die Beweiswürdigung<br />

hat stets auch solche Gesichtspunkte erkennbar zu erwägen, die auf Gr<strong>und</strong> der Urteilsfeststellungen nahe<br />

liegen <strong>und</strong> die gegen das gef<strong>und</strong>ene Ergebnis sprechen können. Es gibt keine forensische Erfahrung, wonach bei<br />

einem Geständnis stets oder jedenfalls dann, wenn es im Rahmen einer Verständigung abgelegt wurde, ohne weiteres<br />

regelmäßig mit einer wahrheitswidrigen Selbstbelastung zu rechnen sei. Dies gilt auch dann, wenn - wie nach Auffassung<br />

der Revision möglicherweise hier - der Angeklagte durch ein unwahres Geständnis Sohn <strong>und</strong>/oder Lebensgefährtin<br />

vor einer Bestrafung schützen würde. Allein die gesetzlichen Wertungen in § 52 StPO, § 35 Abs. 1 Satz 1<br />

<strong>StGB</strong> <strong>und</strong> § 258 Abs. 6 <strong>StGB</strong> können die für eine solche Annahme erforderlichen konkreten Anhaltspunkte nicht<br />

ersetzen. Derartige konkrete Anhaltspunkte sind hier weder vorgetragen noch ersichtlich. Allein die (theoretische)<br />

Denkbarkeit eines Geschehensablaufs führt nicht dazu, dass er zu erörtern wäre (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom<br />

20. September 2011 - 1 StR 120/11, NStZ-RR 2012, 72, 73 mwN).<br />

Soweit die Revision zugleich auch § 244 Abs. 2 StPO für verletzt hält, ist entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO weder<br />

mitgeteilt, welcher Beweismittel sich die Strafkammer noch hätte bedienen sollen, noch mitgeteilt, welche konkreten<br />

Erkenntnisse davon zu erwarten gewesen wären.<br />

2. Die Revision macht geltend, das angeordnete Selbstleseverfahren sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden.<br />

Innerhalb von vier Tagen, darunter ein Wochenende, hätte das Gericht insgesamt 674 Seiten (vielfach mit wenigen<br />

Zeilen beschriebene Rechnungen) nicht ordnungsgemäß zur Kenntnis nehmen können. Eine Entscheidung gemäß §<br />

238 Abs. 2 StPO (vgl. allgemein zu Notwendigkeit der Herbeiführung eines Gerichtsbeschlusses als Zulässigkeitsvoraussetzung<br />

einer ein Selbstleseverfahren betreffenden Verfahrensrüge BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 - 1<br />

359


StR 422/10, NStZ 2011, 300, 301) ist nicht herbeigeführt worden. Die Revision ist der Auffassung, § 238 Abs. 2<br />

StPO sei hier deshalb unanwendbar, weil es nur um die Frage gehe, ob die Mitglieder der Strafkammer, insbesondere<br />

die Schöffen, die Urk<strong>und</strong>en in der gebotenen Intensität zur Kenntnis genommen hätten. Darüber hinaus sei die sog.<br />

Widerspruchslösung hier schon im Ansatz unanwendbar, da dem Verfahren eine Verständigung zu Gr<strong>und</strong>e liege.<br />

Beides ist unzutreffend.<br />

a) Ist, wie hier, eine ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens durch das Hauptverhandlungsprotokoll<br />

belegt, kann erfolgreiches Revisionsvorbringen nicht auf Überlegungen zu einer - jedenfalls objektiv - fehlenden<br />

„Wahrhaftigkeit“ der zu Gr<strong>und</strong>e liegenden richterlichen Erklärungen gestützt werden (zum umgekehrten Fall, dass<br />

das Hauptverhandlungsprotokoll die gebotene Kenntnisnahme durch die Richter nicht belegt vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 15. März 2011 - 1 StR 33/11, StV 2011, 462, 463).<br />

b) Es ist auch nicht ersichtlich, warum eine vorangegangene Verständigung eine sonst für eine Verfahrensrüge notwendige<br />

Voraussetzung entfallen lassen könnte. Auch die Revision nennt keine Gründe, die nach ihrer Auffassung<br />

die von ihr aufgestellte gegenteilige Behauptung stützen könnten. Im Übrigen entbehrte die Behauptung, es sei „nicht<br />

plausibel, dass u.a. ein Glasermeister, der an Werktagen in aller Regel arbeitet, von dem ihm zum Selbstlesen zugewiesenen<br />

Urk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Schriftstücken“ ordnungsgemäß im Selbstleseverfahren Kenntnis genommen hätte, jeglicher<br />

Gr<strong>und</strong>lage.<br />

3. Auch unter Berücksichtigung des gesamten Revisionsvorbringens, wonach es gegen Verfassungs- <strong>und</strong> Menschenrecht<br />

verstoße, dass die Strafkammer eine Strafe verhängt habe, die zwar innerhalb des im Rahmen der Verständigung<br />

genannten Strafrahmens liege, nicht aber dessen Untergrenze (drei Jahre) bilde, sieht der Senat keine Veranlassung,<br />

von der - von der Revision angeführten - gegenteiligen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs abzuweichen.<br />

Ein im Rahmen einer Verständigung abgelegtes Geständnis ist die Voraussetzung dafür, dass die Strafe nur dem<br />

zuvor genannten Strafrahmen zu entnehmen ist; es führt aber nicht dazu, dass eine andere als eine die Untergrenze<br />

des Strafrahmens überschreitende Strafe nicht mehr verhängt werden dürfte. Einen entsprechenden Vertrauenstatbestand<br />

hat das Gericht nicht geschaffen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juli 2010 - 1 StR 345/10).<br />

StPO § 257c, § 273 Protokollierung von Dealgesprächen<br />

BGH, Beschl. v. 22.02.2012 - 1 StR 349/11 - BeckRS 2012, 07034<br />

Gespräche über eine mögliche Abkürzung der Hauptverhandlung zwischen Staatsanwaltschaft <strong>und</strong><br />

Verteidigung, in die das Gericht nicht einbezogen ist, kommen in der forensischen Praxis vor. Soll<br />

das Ergebnis dieser Gespräche den weiteren Gang der Hauptverhandlung beeinflussen, so ist es<br />

gegenüber dem Gericht offenzulegen. Nach Auffassung des Senats ist es angezeigt, dass diese Offenlegung<br />

in der Hauptverhandlung erfolgt, sonst hat jedenfalls das Gericht in der Hauptverhandlung<br />

offenzulegen, wenn ihm außerhalb der Hauptverhandlung derartige Informationen erteilt wurden.<br />

Dabei ist es zweckmäßig, dass die Gespräche <strong>und</strong> die Unterrichtung des Gerichts hierüber nach<br />

Maßgabe des § 273 Abs. 1a StPO dokumentiert werden, naheliegend im Protokoll der Hauptverhandlung.<br />

1. Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 10. Januar 2011 werden als<br />

unbegründet verworfen.<br />

2. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Die Angeklagten, so ist festgestellt, waren als Täter (S.) <strong>und</strong> Gehilfe (Si.) an je einem Diebstahl beteiligt. Die Taten<br />

gehörten zu einer aus einer Gruppierung heraus begangenen Diebstahlserie. Die meisten Mitglieder der Gruppierung,<br />

darunter B. <strong>und</strong> E., waren bereits vor der Hauptverhandlung gegen die Angeklagten von der mit denselben Berufsrichtern<br />

wie vorliegend besetzten Strafkammer rechtskräftig abgeurteilt worden. Die Verurteilung der nicht geständigen<br />

Angeklagten ist nicht zuletzt auf die Aussage des Zeugen B. - am Rande auch des Zeugen E. - gestützt. Die Revisionen<br />

sind im Kern übereinstimmend der Meinung, die Aussagen der Zeugen seien unverwertbar, weil die damalige<br />

Hauptverhandlung gegen diese nach Maßgabe einer „informellen“ - teilweise auch als „heimlich“ bezeichneten -<br />

<strong>und</strong> daher gesetzwidrigen verfahrensbeendenden Absprache („Deal“) durchgeführt worden sei.<br />

A. Verfahrensabläufe <strong>und</strong> Rechtsausführungen der Revision:<br />

360


I. Zur Hauptverhandlung gegen B. <strong>und</strong> E.: Gestützt auf das Protokoll der damaligen Hauptverhandlung, das Feststellungen<br />

über eine Verfahrensabsprache (vgl. § 273 Abs. 1a StPO) nicht enthält, tragen die Revisionen hierzu vor:<br />

Nach Anklageverlesung wurde die Sitzung unterbrochen. Danach wurden knappe Geständnisse abgelegt; nach kurzer<br />

Beweisaufnahme erging sodann das Urteil, das nahezu vollständig den Anträgen der Staatsanwaltschaft entsprach. Es<br />

wurde durch allseitigen Rechtsmittelverzicht sofort rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft hat nunmehr im Rahmen<br />

ihrer Revisionsgegenerklärung zur Behauptung einer „informellen“ Absprache im Verfahren gegen B. <strong>und</strong> E. folgende<br />

dienstliche Erklärung ihres damaligen Sitzungsvertreters vorgelegt: „… Soweit ich mich … noch erinnern<br />

kann, habe ich … mit den Verteidigern außerhalb der Hauptverhandlung ein Gespräch geführt. Hierbei habe ich auch<br />

dargestellt, welche Rechtsfolgen aus Sicht der Staatsanwaltschaft in Betracht zu ziehen wären, wenn die Angeklagten<br />

ein Geständnis ablegen würden. Ich vermag nicht mehr zu sagen, ob … Mitglieder der Strafkammer in dieses<br />

Gespräch einbezogen waren. Ich gehe jedoch davon aus, dass, sofern die Kammer … nicht anwesend gewesen sein<br />

sollte, … die Strafkammer über das Ergebnis der Gespräche … in Kenntnis gesetzt wurde; nicht mehr sagen kann<br />

ich, ob sich in irgendeiner Form die Kammer hierzu äußerte, bevor die Hauptverhandlung fortgesetzt wurde.“<br />

II. Zum Ablauf des vorliegenden Verfahrens: Die Revisionen tragen vor, dass die Strafkammer in der Hauptverhandlung<br />

gegen die Angeklagten eine „informelle“ Absprache im Verfahren gegen B. <strong>und</strong> E. „trotz mehrmaliger Vorhalte<br />

seitens der Verteidigung niemals in Abrede gestellt“ hätte. Das Protokoll der Hauptverhandlung ergibt in diesem<br />

Zusammenhang:<br />

1. Zum Gespräch außerhalb der Hauptverhandlung: Die Hauptverhandlung war am ersten Verhandlungstag noch vor<br />

Verlesung der Anklage auf Anregung der Verteidigung für eine „Besprechung zwischen den Verfahrensbeteiligten“<br />

unterbrochen worden. Am zweiten Verhandlungstag verlas die Verteidigung in der Hauptverhandlung eine Erklärung,<br />

in der u.a. behauptet ist, „…, dass in einer informellen Besprechung zwischen Staatsanwalt, Gericht <strong>und</strong> Verteidigung<br />

in der Hauptverhandlung vom 09.12.2010 < 1. Verhandlungstag > … auf Frage der Verteidigung Herr<br />

Vorsitzender Richter … mitgeteilt hat, dass eine „informelle Absprache“ im Hauptverfahren gegen die fünf weiteren<br />

Mitangeklagten < also auch B. <strong>und</strong> E. > stattgef<strong>und</strong>en hat.“ Am vierten <strong>und</strong> letzten Hauptverhandlungstag gab der<br />

Vorsitzende zu diesem Gespräch Folgendes zu Protokoll: „Der Vorsitzende stellte fest, dass vor Verlesung der Anklage<br />

mit den Verteidigern <strong>und</strong> der Vertreterin der Staatsanwaltschaft ein Gespräch stattgef<strong>und</strong>en hat. Gegenstand<br />

dieses Gesprächs war zusammengefasst, dass die Verteidiger der Kammer vorgehalten haben, im Verfahren ..., B.,<br />

E., … einen Deal durchgeführt zu haben, der ... gesetzwidrig sei <strong>und</strong> gegebenenfalls den dort verurteilten Angeklagten<br />

die Möglichkeit eröffne, eine Wiederaufnahme ihres Verfahrens insbesondere deshalb zu beantragen, weil durch<br />

die Kammer insoweit zumindest Rechtsbeugung begangen worden sei. Im Übrigen bestünden insoweit seitens der<br />

Verteidiger Handlungsalternativen der Strafanzeige oder des Weges nach § 22 ff. StPO, die derzeit nicht ergriffen<br />

werden sollen. Die Probleme mit dem nach Ansicht der Verteidigung durchgeführten rechtswidrigen Deal könnten<br />

ggf. gelöst werden durch eine Behandlung < des vorliegenden Verfahrens > nach den §§ 153, 153 a StPO. Die<br />

Kammer hat daraufhin das Vorgespräch abgebrochen…“ Ebenfalls ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls<br />

erklärten die Verteidiger darauf, der Vorwurf der Rechtsbeugung sei nie erhoben worden.<br />

2. Zur Verlesung des Urteils gegen B., E. u.a.: Am vierten Verhandlungstag gab der Vorsitzende bekannt, dass beabsichtigt<br />

sei, dieses Urteil auszugsweise zu verlesen, soweit es die Zeugen B. <strong>und</strong> E. betreffe. Im Protokoll heißt es<br />

hierzu, gegen diese Ankündigung seien keine Einwendungen erhoben worden; der Verteidiger des Angeklagten S.<br />

habe nach der Verlesung eine Erklärung gemäß § 257 StPO abgegeben. Die Verteidigung beantragte nach Fertigstellung<br />

des Protokolls, dieses dahin zu berichtigen, dass nach der Ankündigung des Vorsitzenden, das Urteil gegen B.<br />

<strong>und</strong> E. verlesen zu wollen, der Verlesung unter Hinweis auf die Ausführungen in Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., §<br />

257c Rn. 4 aE ausdrücklich widersprochen worden sei. Dieser Antrag wurde wegen übereinstimmender gegenteiliger<br />

Erinnerung des Vorsitzenden <strong>und</strong> der Urk<strong>und</strong>sbeamtin - deren Erinnerung sich mit ihren Aufzeichnungen deckte -<br />

zurückgewiesen; der Vortrag der Verteidigung sei „falsch“. Möglicherweise sei jedoch, so der Beschluss, der Verwertung<br />

des Urteils nach der Verlesung widersprochen worden.<br />

III. Zu den Rechtsausführungen der Revision: Die Revisionen beider Angeklagter halten § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO<br />

(in entsprechender Anwendung) im Verfahren gegen B. <strong>und</strong> E. für verletzt. Die Revision des Angeklagten Si. hält<br />

unter diesem Gesichtspunkt die Geständnisse von B. <strong>und</strong> E. für unverwertbar. Vielmehr stünde diesen Zeugen ein<br />

Auskunftsverweigerungsrecht zu, das durch die Verlesung des gegen sie ergangenen Urteils unterlaufen worden sei.<br />

Dies könnten auch die Angeklagten des jetzigen Verfahrens rügen, insoweit sei “eine Wirkungserstreckung, wenn<br />

nicht sogar eine Drittwirkung anzunehmen“. Dies ergebe sich aus der hier vorliegenden, näher bezeichneten Verletzung<br />

von Verfassungs- <strong>und</strong> Menschenrecht. In dem im Kern damit weitgehend identischen Vortrag für den Angeklagten<br />

S. wird der Senat zusätzlich aufgefordert, zur früheren Hauptverhandlung dienstliche Erklärungen einzuholen.<br />

Rechtlich ist näher ausgeführt, B. <strong>und</strong> E. könnten in ihrem abgeschlossenen Verfahren erfolgreich Wiedereinset-<br />

361


zung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist oder eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen.<br />

Aus dieser Möglichkeit leite sich schon jetzt ab, dass sie als Zeugen im vorliegenden Verfahren ein Auskunftsverweigerungsrecht<br />

gemäß § 55 StPO gehabt hätten, über das sie hier zu belehren gewesen wären. Im Übrigen,<br />

so macht die Revision des Angeklagten S. weiter geltend, hätte die Strafkammer die ihr bekannte „informelle“ Absprache<br />

im früheren Verfahren erkennbar in die Beweiswürdigung des vorliegenden Verfahrens einbeziehen müssen.<br />

B. Die Revisionen bleiben erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO): Hinsichtlich des Angeklagten S. bestehen schon Bedenken<br />

gegen die Zulässigkeit des Vorbringens. Jedenfalls die Rüge hinsichtlich der unzureichenden Beweiswürdigung ist<br />

nicht zulässig erhoben (nachfolgend I.). Die Rügen beider Angeklagter hinsichtlich der Verwertbarkeit der Aussagen<br />

der Zeugen B. <strong>und</strong> E. <strong>und</strong> der Verwertbarkeit des gegen diese Zeugen ergangenen Urteils sind (hinsichtlich des Angeklagten<br />

S.: jedenfalls) unbegründet (nachfolgend II.).<br />

I. Unzulässigkeit der Rüge der unzureichenden Beweiswürdigung (Revision des Angeklagten S. ):<br />

1. Im Gr<strong>und</strong>satz zutreffend ist die Auffassung der Revision, in die Würdigung einer Zeugenaussage sei erkennbar<br />

einzubeziehen, wenn es in einem Strafverfahren gegen den Zeugen selbst wegen der gleichen Vorwürfe zu einer<br />

Verständigung gekommen war. Dies gilt sowohl dann, wenn es zu einer Verständigung in Gesprächen mit dem Gericht<br />

gekommen war (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Februar 2012 - 1 StR 438/11; BGH, Beschluss vom 6. November<br />

2007 - 1 StR 370/07, BGHSt 52, 78, 82 f. mwN), als auch dann, wenn - wie nach der dienstlichen Erklärung des<br />

damaligen Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft im Verfahren gegen B. <strong>und</strong> E. - „Verständigungsgespräche“ im<br />

Wesentlichen zwischen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der Verteidigung geführt worden waren (in vergleichbarem Sinne<br />

BGH, Urteil vom 29. November 2011 - 1 StR 287/11 Rn. 14).<br />

2. Jedenfalls erfordert die Behauptung, die danach gebotene Beweiswürdigung sei unterblieben, eine Verfahrensrüge,<br />

wenn das auf die Sachrüge hin allein zu überprüfende Urteil den in Rede stehenden Hintergr<strong>und</strong> der Zeugenaussage<br />

nicht erhellt (BGH, Beschluss vom 6. November 2007 - 1 StR 370/07, BGHSt 52, 78, 79, 81). Ausdrücklich als Verfahrensrüge<br />

sind die Ausführungen der Revision zu der unter dem genannten Blickwinkel unterbliebenen Würdigung<br />

der Aussage des Zeugen nicht gekennzeichnet. Dies wäre unschädlich, wenn inhaltlich die Anforderungen an eine<br />

zulässig erhobene Verfahrensrüge erfüllt wären. Dies ist jedoch nicht der Fall:<br />

a) Im Ergebnis trägt die Revision zugleich vor (zur Einheitlichkeit einer Revisionsbegründung vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 19. Oktober 2005 - 1 StR 117/05), die Zeugenaussagen hätten nicht beachtet werden dürfen <strong>und</strong> intensiver als<br />

geschehen gewürdigt werden müssen. Letztlich ist damit nur ein Sachverhalt geschildert <strong>und</strong> das Revisionsgericht<br />

aufgefordert, zu prüfen, ob in irgendeiner Richtung - sei es, dass die Aussagen nicht verwertbar sind, sei es dass sie<br />

zwar verwertbar aber nicht auf geboten breiter Gr<strong>und</strong>lage gewürdigt sind - ein Rechtsfehler vorliege. Erforderlich ist<br />

jedoch die Behauptung eines bestimmten Verfahrensmangels (BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2005 - 1 StR<br />

117/05 mwN).<br />

b) Selbst wenn man das Vorbringen dahin auslegte, in erster Linie solle die Unverwertbarkeit der Aussage <strong>und</strong> nur<br />

hilfsweise eine unzureichende Beweiswürdigung gerügt sein, führte dies allenfalls zur Zulässigkeit des „Hauptantrags“<br />

(zur Unverwertbarkeit). Eine inhaltliche Überprüfung des „Hilfsantrags“ (zur Beweiswürdigung) hingegen<br />

wäre auch dann nicht möglich, da nur hilfsweise erhobene Verfahrensrügen nicht zulässig sind (BGH, Beschluss<br />

vom 27. Juli 2006 - 1 StR 147/06; BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2005 - 1 StR 117/05 mwN).<br />

3. Selbst wenn nicht zugleich die Unverwertbarkeit der Aussage gerügt worden wäre, bliebe die Rüge unzureichender<br />

Beweiswürdigung hier erfolglos:<br />

a) Die Revision beschränkt sich auf die Behauptung, das Gericht habe die ihm bekannte Absprache nicht gewürdigt.<br />

Damit ist nicht vorgetragen, dass die behauptete „informelle“ Absprache in dem Verfahren gegen B. <strong>und</strong> E. hier<br />

prozessordnungsgemäß in der Hauptverhandlung festgestellt worden sei. Im Urteil kann jedoch nur gewürdigt werden,<br />

was zuvor prozessordnungsgemäß zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wurde. Der Senat hat dabei<br />

der Frage, ob, wie von der Revision vorgetragen, der Vorsitzende in dem (im Protokoll der Hauptverhandlung so<br />

nicht wiedergegeben) abgebrochenen Vorgespräch mitgeteilt hat, dass in dem Verfahren gegen B. <strong>und</strong> E. eine „informelle“<br />

Absprache stattgef<strong>und</strong>en habe, hier nicht nachzugehen. Selbst wenn nämlich der Vorsitzende sogar in der<br />

Hauptverhandlung eine dem Revisionsvorbringen entsprechende Erklärung über den Verlauf des früheren Verfahrens<br />

abgegeben hätte, wäre sie nicht in entsprechender Anwendung von § 243 Abs. 4 StPO prozessordnungsgemäß<br />

in die Hauptverhandlung eingeführt (BGH, Beschluss vom 9. Februar 2012 - 1 StR 438/11). Ebenso wenig könnte<br />

eine solche Erklärung aus einem anderen Rechtsgr<strong>und</strong> der Beweiswürdigung zugr<strong>und</strong>e gelegt werden. Die Glaubwürdigkeit<br />

eines Zeugen ist eine für den Schuld- oder Strafausspruch bedeutsame Frage. In diesem Zusammenhang<br />

(möglicherweise) erhebliche Feststellungen können daher nur nach den Regeln des Strengbeweises getroffen werden.<br />

Diese sehen dienstliche Erklärungen des Richters über seine Erkenntnisse aus anderen Verfahren als Beweismittel<br />

nicht vor (BGH, Urteil vom 22. März 2002 - 4 StR 485/01, BGHSt 47, 270, 274 mwN).<br />

362


) Einen prozessordnungsgemäßen Weg, auf dem die Feststellungen zur „informellen“ Absprache im Verfahren<br />

gegen B. <strong>und</strong> E. hätten getroffen werden sollen, zeigt die Revision nicht auf. Daher kann ihr Vorbringen auch nicht<br />

in eine Aufklärungsrüge umgedeutet werden. Für eine Ergänzung der in der Hauptverhandlung getroffenen Feststellungen<br />

durch das Revisionsgericht auf der Gr<strong>und</strong>lage eigener Beweiswürdigung ist ebenfalls kein Raum.<br />

c) Auch unabhängig von der Verknüpfung mit dem geltend gemachten Verwertungsverbot ermöglicht das Revisionsvorbringen<br />

des Angeklagten S. dem Senat daher keine Überprüfung der Beweiswürdigung im Blick auf das<br />

frühere Verfahren.<br />

II. Verwertbarkeit der Zeugenaussagen <strong>und</strong> des Urteils:<br />

1. Selbst wenn im Verfahren gegen B. <strong>und</strong> E. deren Geständnissen eine „informelle“ Absprache vorausgegangen<br />

wäre, hätte dies schon in jenem Verfahren nicht zu einer Unverwertbarkeit der Geständnisse gemäß § 257c Abs. 4<br />

Satz 3 StPO geführt.<br />

a) Dabei kommt es hier nicht darauf an, ob § 257c StPO überhaupt bei „informellen“ Absprachen anwendbar ist (vgl.<br />

hierzu BGH, Beschluss vom 4. August 2010 - 2 StR 205/10 Rn. 14). Jedenfalls wäre § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO auch<br />

nicht entsprechend anwendbar, da nach dem Gesetz ein Verwertungsverbot nur „in diesen Fällen“, d.h. in den in §<br />

257c Abs. 4 Sätze 1 <strong>und</strong> 2 StPO aufgeführten Fällen, besteht. Gemeint sind also nur Konstellationen, in denen sich<br />

das Gericht von der Verständigung lösen will (vgl. BGH, Beschluss vom 16. März 2011 - 1 StR 60/11; BGH, Beschluss<br />

vom 1. März 2011 - 1 StR 52/11; BGH, Beschluss vom 19. August 2010 - 3 StR 226/10, StV 2011, 76, 77).<br />

Auch die Revision behauptet aber nicht, dass die Strafkammer im Verfahren gegen B. <strong>und</strong> E. die „informelle“ Absprache<br />

nicht eingehalten hätte. Es ist daher nicht ersichtlich, dass sich diese in ihrem Verfahren auf eine Unverwertbarkeit<br />

ihrer Geständnisse entsprechend § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO hätten berufen können.<br />

b) Waren aber ihre Geständnisse in dem gegen sie gerichteten Verfahren nicht in entsprechender Anwendung von §<br />

257c Abs. 4 Satz 3 StPO unverwertbar, so können auch ihre späteren Aussagen als Zeugen nicht aus diesem Gr<strong>und</strong><br />

unverwertbar sein, selbst wenn mit ihnen inhaltlich das damalige Geständnis wiederholt wird.<br />

c) Daher gehen auch die auf die Verletzung von § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO gestützten Erwägungen der Revision ins<br />

Leere, den Zeugen B. <strong>und</strong> E. stünden Wiedereinsetzungs- <strong>und</strong> Wiederaufnahmemöglichkeiten hinsichtlich ihrer<br />

rechtskräftigen Verurteilung zu. Gleiches gilt für die Annahme, aus diesen Möglichkeiten erwüchse entsprechend §<br />

55 StPO ein Auskunftsverweigerungsrecht der Zeugen B. <strong>und</strong> E.. Schon deshalb ist für die Annahme kein Raum, die<br />

Verletzung entsprechender Belehrungspflichten gegenüber diesen Zeugen könne (entgegen seit BGH , Beschluss<br />

vom 21. Januar 1958 - GSSt 4/57, BGHSt 11, 213 gefestigter Rechtsprechung; w. N. b. Meyer-Goßner,<br />

StPO, 54. Aufl., § 55 Rn. 17) hier auch von den Angeklagten gerügt werden, da aus übergeordneten Gründen auch<br />

deren Rechtskreis verletzt sei.<br />

d) Da also das Revisionsvorbringen selbst dann, wenn es erwiesen wäre, zu keinem Verwertungsverbot führte, hat<br />

der Senat hier keine Veranlassung, dem Vorbringen in tatsächlicher Hinsicht näher nachzugehen.<br />

2. Bestehen aber wegen des damaligen Verfahrensablaufs keine Bedenken gegen die Verwertbarkeit der Aussagen<br />

der Zeugen B. <strong>und</strong> E., können daraus auch keine Bedenken gegen die Verlesbarkeit des gegen diese ergangenen<br />

Urteils erwachsen. Darauf, dass auf die Ankündigung des Vorsitzenden, die Verlesung des Urteils (zur Verlesbarkeit<br />

von Strafurteilen gegen Zeugen gemäß § 249 Abs. 1 Satz 2 StPO vgl. schon BGH, Urteil vom 2. Oktober 1951 - 1<br />

StR 421/51, BGHSt 1, 337, 341; Mosbacher in LR StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 17 mwN) sei beabsichtigt, keine Entscheidung<br />

gemäß § 238 Abs. 2 StPO herbeigeführt wurde (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 1964 - 3 StR 60/63,<br />

BGHSt 19, 273, 280), kommt es daher nicht an, ebenso wenig auf den mit dem maßgeblichen Protokollinhalt nicht<br />

zu vereinbarenden Vortrag der Revision zum Zeitpunkt des geltend gemachten Widerspruchs.<br />

III. Die Sachrüge ist hinsichtlich beider Angeklagten unbegründet.<br />

C. Im Hinblick auf die dienstliche Äußerung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung<br />

gegen B. <strong>und</strong> E. (vgl. oben A. I.) bemerkt der Senat: Gespräche über eine mögliche Abkürzung der Hauptverhandlung<br />

zwischen Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> Verteidigung, in die das Gericht nicht einbezogen ist, kommen, so auch die<br />

Erfahrung des Senats, in der forensischen Praxis vor (vgl. BGH, Urteil vom 29. November 2011 - 1 StR 287/11 Rn.<br />

10). Soll das Ergebnis dieser Gespräche den weiteren Gang der Hauptverhandlung beeinflussen, so ist es gegenüber<br />

dem Gericht offenzulegen (BGH aaO Rn. 14). Dies ist im Verfahren gegen B. <strong>und</strong> E. ausweislich der dienstlichen<br />

Erklärung geschehen. Nach Auffassung des Senats ist es angezeigt, dass diese Offenlegung in der Hauptverhandlung<br />

erfolgt, sonst hat jedenfalls das Gericht in der Hauptverhandlung offenzulegen, wenn ihm außerhalb der Hauptverhandlung<br />

derartige Informationen erteilt wurden. Dabei ist es zweckmäßig, dass die Gespräche <strong>und</strong> die Unterrichtung<br />

des Gerichts hierüber nach Maßgabe des § 273 Abs. 1a StPO dokumentiert werden, naheliegend im Protokoll<br />

der Hauptverhandlung (vgl. auch § 160b Satz 2 StPO, wonach Gespräche, die die Staatsanwaltschaft mit der Verteidigung<br />

im Ermittlungsverfahren zur Verfahrensförderung geführt hat, aktenk<strong>und</strong>ig zu machen sind; vgl. hierzu näher<br />

363


BGH aaO Rn. 13 mwN). Offenlegung <strong>und</strong> Dokumentation entsprechen dem Transparenzgebot, das das Verfahren<br />

über eine Verständigung im Strafverfahren insgesamt kennzeichnet (BGH aaO Rn. 12 mwN). Ohne wesentlichen<br />

Mehraufwand wird durch eine solche Transparenz nicht nur der Gefahr von Missverständnissen im laufenden Verfahren<br />

vorgebeugt, sondern auch Weiterungen <strong>und</strong> Schwierigkeiten, die - wie hier ersichtlich - sogar auch noch in<br />

künftigen Verfahren entstehen können.<br />

StPO § 257c, § 338 Nr. 4; GVG § 74a Abs. 1 Nr. 4 Rechtsmittelbefugnis nach Absprache<br />

BGH, Beschl. v. 13.09.2011 - 3 StR 196/11 - NJW 2012, 468 = StV 2012, 137<br />

LS: 1. Die Revisionsrüge, das Gericht habe seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen (§ 338<br />

Nr. 4 StPO), bleibt dem Angeklagten auch dann uneingeschränkt erhalten, wenn dem Urteil eine<br />

Verständigung (§ 257c StPO) vorausgegangen ist.<br />

2. Ein in der Revision beachtlicher Rechtsfehler nach § 338 Nr. 4, § 6a StPO, § 74a Abs. 1 Nr. 4<br />

GVG liegt nicht nur dann vor, wenn das Tatgericht seine Zuständigkeit auf der Gr<strong>und</strong>lage objektiv<br />

willkürlicher Erwägungen angenommen hat.<br />

3. Die Ausnahmeregelung des § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG greift unabhängig davon ein, ob<br />

neben einem Betäubungsmitteldelikt weitere Straftaten mit der Bildung einer kriminellen Vereinigung<br />

in Tateinheit stehen.<br />

Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 8. Februar 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel,<br />

an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten B. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge in Tateinheit mit "Bildung krimineller Vereinigungen" zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren <strong>und</strong> neun<br />

Monaten sowie den Angeklagten M. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei<br />

Fällen, Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen, räuberischer Erpressung <strong>und</strong> versuchter räuberischer<br />

Erpressung in drei Fällen, "dies alles jeweils in Tateinheit mit Bildung krimineller Vereinigungen" (jeweils zutreffend:<br />

mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung), zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn<br />

Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Mit ihren Revisionen beanstanden beide Angeklagten mit Erfolg die Zuständigkeit<br />

der erkennenden Staatsschutzkammer; auf die vom Angeklagten M. darüber hinaus geltend gemachte<br />

Sachrüge kommt es daher nicht an.<br />

I. Der - von beiden Angeklagten übereinstimmend erhobenen - Zuständigkeitsrüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen<br />

zugr<strong>und</strong>e: Die Staatsanwaltschaft hat mit der Anklage dem Angeklagten B. ein Betäubungsmitteldelikt in<br />

Tateinheit mit Bildung einer kriminellen Vereinigung, dem Angeklagten M. mehrere Betäubungsmittelstraftaten<br />

sowie drei Fälle der versuchten <strong>und</strong> einen Fall der vollendeten räuberischen Erpressung, jeweils in Tateinheit mit<br />

Bildung einer kriminellen Vereinigung, zur Last gelegt. In der Hauptverhandlung vor der Staatsschutzkammer hat<br />

der Verteidiger des Angeklagten M. vor Vernehmung der Angeklagten zur Sache die Zuständigkeit des Tatgerichts<br />

mit der Begründung gerügt, dem Angeklagten würden neben der Bildung der kriminellen Vereinigung insbesondere<br />

Taten nach dem Betäubungsmittelgesetz vorgeworfen. Der Verteidiger des Angeklagten B. hat sich der Beanstandung<br />

angeschlossen. Die Strafkammer hat die Zuständigkeitsrüge zurückgewiesen <strong>und</strong> ihren Beschluss im Wesentlichen<br />

damit begründet, dass die dem Angeklagten M. zur Last gelegten Erpressungsdelikte gegenüber den Betäubungsmitteltaten<br />

"nicht als von minderem Gewicht" eingestuft werden könnten. Beide Angeklagte haben schließlich<br />

den ihnen vorgeworfenen Sachverhalt nach einer Verständigung eingeräumt.<br />

II. 1. Die Zuständigkeitsrüge ist jeweils in zulässiger Weise erhoben. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass<br />

die Angeklagten die Tatvorwürfe aufgr<strong>und</strong> einer Verständigung nach § 257c StPO eingestanden haben. Auch in<br />

diesem Fall bleibt dem Angeklagten vielmehr die Befugnis zur Einlegung eines Rechtsmittels <strong>und</strong> zur Erhebung von<br />

Verfahrensrügen - hier: Beanstandung nach § 338 Nr. 4 StPO - uneingeschränkt erhalten. Im Einzelnen:<br />

a) Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2353), mit dem §<br />

257c StPO <strong>und</strong> weitere, die Verständigung in Strafsachen betreffende Bestimmungen in die Strafprozessordnung<br />

364


eingefügt worden sind, sieht nach einer derartigen Beendigung des erstinstanzlichen Verfahrens keine Beschränkungen<br />

hinsichtlich der Rechtsmittelbefugnis vor (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. September 2009 - 3 StR 156/09, StV<br />

2009, 680; vom 6. August 2009 - 3 StR 547/08, NStZ 2010, 289, 290; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 257c Rn.<br />

32a; Weider in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, 155 f., 160 f.).<br />

Soweit im Gesetzgebungsverfahren eine Einschränkung der Revisionsmöglichkeit für den Fall einer Absprache in<br />

Betracht gezogen worden war (vgl. etwa Gesetzentwurf des B<strong>und</strong>esrates, BT-Drucks. 16/4197 S. 6, 11), betrafen die<br />

dort vorgesehenen Begrenzungen ausdrücklich nicht die in § 338 StPO genannten absoluten Revisionsgründe. Der -<br />

der Gesetzesänderung zugr<strong>und</strong>e liegende - Entwurf der B<strong>und</strong>esregierung verzichtete schließlich bewusst auf jegliche<br />

Beschränkung der Rügemöglichkeiten in der Revision mit der ausdrücklichen Begründung, gerade im Bereich der<br />

Verständigung sei "eine Lockerung der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht sachgerecht". Eine vollumfängliche<br />

Kontrolle durch das Revisionsgericht könne einen unterstützenden Beitrag dazu leisten, dass Verständigungen in<br />

erster Instanz wirklich so ablaufen, wie es den Vorgaben des Gesetzgebers entspreche; sie diene außerdem der<br />

Gleichmäßigkeit der Anwendung <strong>und</strong> Fortentwicklung des Rechts (BT-Drucks. 16/12310 S. 9). Dieser - nach alldem<br />

eindeutige - Wille des Gesetzgebers kommt auch in § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO zum Ausdruck, der bestimmt, dass der<br />

Verzicht auf ein Rechtsmittel ausgeschlossen ist, wenn dem Urteil eine Verständigung nach § 257c StPO vorausgegangen<br />

ist. Hieraus ergibt sich zwanglos, dass gerade im Fall einer Verständigung ein Rechtsmittel möglich sein soll,<br />

das sich auf die Rüge aller denkbaren Gesetzesverletzungen im Sinne der §§ 337, 338 StPO stützen kann.<br />

b) Die Zustimmung der Angeklagten zu der Verständigung ist nicht als konkludente Rücknahme des Zuständigkeitseinwands<br />

zu werten. Die Angeklagten haben die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer ausdrücklich beanstandet.<br />

Ihre gleichwohl nach Zurückweisung der Rüge durch das Landgericht erteilte Zustimmung zu einem Verfahren nach<br />

§ 257c StPO kann auf verschiedenen Gründen beruhen. So ist es etwa denkbar, dass sie sich auch deshalb auf eine<br />

Verständigung mit der von ihnen für unzuständig gehaltenen Staatsschutzkammer einließen, weil sie sich nicht sicher<br />

waren, ob sie mit ihrer Zuständigkeitsrüge in der Revisionsinstanz Erfolg haben werden (vgl. die unter 2. dargestellten<br />

unterschiedlichen Ansichten), <strong>und</strong> deshalb nicht Gefahr laufen wollten, dass die ohne eine Verständigung zu<br />

erwartenden höheren Strafen durch Verwerfung der Revision rechtskräftig werden, während sie andererseits durch<br />

ihre Zustimmung zu einer Verständigung die Zusage von Strafen aus einem niedrigeren Rahmen erreichen konnten<br />

(§ 257c Abs. 3 Satz 2 StPO), selbst wenn sie diesen immer noch für überhöht hielten. Ihrem Verhalten kann deshalb<br />

nicht ohne Weiteres ein Erklärungswert dahin beigemessen werden, sie wollten ihre Auffassung, die Staatschutzkammer<br />

sei zur Durchführung des Hauptverfahrens nicht zuständig, nicht mehr aufrecht erhalten. Dem steht die<br />

Entscheidung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 24. Februar 2010 (BGH, Beschluss vom 24. Februar 2010 - 5 StR 23/10,<br />

StV 2010, 470) nicht entgegen. Dort hatte der Angeklagte zunächst die Auswechslung seines Pflichtverteidigers<br />

begehrt, dann aber unter ausschließlicher Mitwirkung dieses Pflichtverteidigers eine Verständigung nach § 257 Abs.<br />

2 StPO getroffen. Dies hat der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs als wirksame konkludente Rücknahme des Antrags<br />

auf Auswechslung des Pflichtverteidigers mit der Folge der Unzulässigkeit der auf die Nichtbescheidung des<br />

ursprünglichen Antrags gestützten Revisionsrüge gewertet. Die jeweils maßgebenden Sachverhalte weisen somit<br />

entscheidungserhebliche Unterschiede auf.<br />

c) Die Einlegung der Revision <strong>und</strong> Erhebung der entsprechenden Verfahrensrüge stellt auch kein widersprüchliches<br />

oder missbräuchliches Verhalten dar, das zum Verlust der Rügemöglichkeit in der Revisionsinstanz führen könnte.<br />

Bereits der Große Senat für Strafsachen hatte die Frage aufgeworfen, ob <strong>und</strong> gegebenenfalls in welchem Maße im<br />

Revisionsverfahren nach einer Verfahrensabsprache etwa unter dem Gesichtspunkt widersprüchlichen Verhaltens<br />

bestimmte Verfahrensrügen, namentlich Aufklärungsrügen, ausgeschlossen sein können, sich hierzu indes nicht<br />

näher verhalten (BGH, Beschluss vom 3. März 2005 - GSSt 1/04, BGHSt 50, 40, 52). In der Folgezeit haben mehrere<br />

Strafsenate des B<strong>und</strong>esgerichtshofs diesen Gedanken aufgegriffen. Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat die<br />

Rüge der fehlerhaften Zurückweisung eines Befangenheitsantrags wegen missbräuchlichen Prozessverhaltens für<br />

unzulässig erachtet, wenn der Angeklagte nach Ablehnung des Befangenheitsgesuchs an einer Urteilsabsprache<br />

mitwirkt <strong>und</strong> im Hinblick auf die vom Tatgericht zugesagte Strafobergrenze ein Geständnis ablegt (BGH, Beschluss<br />

vom 22. September 2008 - 1 StR 323/08, NJW 2009, 690 f.). Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat - allerdings<br />

nicht tragend <strong>und</strong> nicht näher begründet - ausgeführt, es liege nahe, dass Revisionsrügen nach § 338 Nr. 1 <strong>und</strong><br />

4 StPO nach einer Vereinbarung mit den nach dem Beschwerdevorbringen unzuständigen Richtern als unstatthaft zu<br />

bewerten seien (BGH, Beschluss vom 17. September 2008 - 5 StR 404/08, BGHR StPO § 338 Revisibilität 1). Der<br />

Senat ist mit Blick auf die seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren geänderte<br />

Rechtslage an die diesen - teilweise zudem abweichende Sachverhalte betreffenden - Entscheidungen zugr<strong>und</strong>e<br />

liegende Rechtsauffassung nicht geb<strong>und</strong>en. Er vermag sich der dort vertretenen Ansicht - jedenfalls vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

der gesetzlichen Neuregelung - nicht anzuschließen <strong>und</strong> hält an seiner Auffassung fest, dass dem Angeklagten<br />

365


die Befugnis zur Einlegung eines Rechtsmittels <strong>und</strong> zur Erhebung von Verfahrensrügen uneingeschränkt erhalten<br />

bleibt, auch wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist (BGH, Beschlüsse vom 3. September 2009 - 3<br />

StR 156/09, StV 2009, 680; vom 6. August 2009 - 3 StR 547/08, NStZ 2010, 289, 290; vgl. auch BGH, Urteile vom<br />

10. Juni 2010 - 4 StR 73/10, NStZ-RR 2010, 383; vom 11. Mai 2011 - 2 StR 590/10, NJW 2011, 2377). Die Zustimmung<br />

des Angeklagten zu einer Verständigung nach § 257c StPO führt als solche nach der dargelegten, auf dem<br />

ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers beruhenden Konzeption des die Verständigung betreffenden Regelungsgefüges<br />

der Strafprozessordnung nicht zum Verlust einzelner prozessualer Rechte. Dieses Regelungsgefüge <strong>und</strong> damit<br />

auch der Wille des Gesetzgebers würden umgangen, wollte man die Erhebung einer Rüge nach § 338 Nr. 4 StPO in<br />

der Revisionsinstanz als rechtsmissbräuchlich oder widersprüchlich bewerten.<br />

2. Die Rügen sind begründet; denn die Staatsschutzkammer hat ihre Zuständigkeit mit Unrecht angenommen (§ 338<br />

Nr. 4 StPO). Diese könnte sich hier im Hinblick auf die den Angeklagten vorgeworfene Zuwiderhandlung gegen §<br />

129 <strong>StGB</strong> allein aus § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 GVG ergeben. Ihr steht indes § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG<br />

entgegen; denn den Angeklagten liegen neben der Bildung einer kriminellen Vereinigung tateinheitlich dazu begangene<br />

Betäubungsmitteldelikte zur Last. Dies führt zur Zuständigkeit der allgemeinen Strafkammer. Daran ändert es<br />

nichts, dass dem Angeklagten M. darüber hinaus auch Erpressungstaten vorgeworfen werden.<br />

a) Der Senat hat aufgr<strong>und</strong> der in zulässiger Weise erhobenen Rüge die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer in der<br />

Sache in vollem Umfang zu überprüfen; ein beachtlicher Rechtsfehler nach § 338 Nr. 4, § 6a StPO, § 74a Abs. 1 Nr.<br />

4 GVG ist nicht erst dann gegeben, wenn das Tatgericht seine Zuständigkeit auf der Gr<strong>und</strong>lage objektiv willkürlicher<br />

Erwägungen angenommen hat (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 338 Rn. 33; LR/Hanack, StPO, 25. Aufl., §<br />

338 Rn. 74, 67; LR/Erb, StPO, 26. Aufl., § 6a Rn. 26; aA SK-StPO/Frisch, § 338 Rn. 95 [Stand: Januar 2005]; Radtke/Hohmann/Rappert,<br />

StPO, 2011, GVG § 74a Rn. 6).<br />

aa) Nach den §§ 337, 338 StPO prüft das Revisionsgericht gr<strong>und</strong>sätzlich in vollem Umfang, ob die geltend gemachte<br />

Gesetzesverletzung vorliegt. Ein Ausnahmefall, bei dem eine Revision nur im Falle willkürlichen Handelns des Tatgerichts<br />

Erfolg haben kann, liegt nicht vor. Den Gesetzesmaterialien zu § 6a StPO, der Regelungen zur Zuständigkeit<br />

besonderer Strafkammern enthält, ist ein Wille des Gesetzgebers dahin, die revisionsrechtliche Überprüfung an dem<br />

Willkürmaßstab auszurichten, nicht zu entnehmen (vgl. BT-Drucks. 8/976 S. 32 f.). Diese Bestimmung ist dem die<br />

örtliche Zuständigkeit regelnden § 16 StPO nachgebildet. Die Nachprüfung der örtlichen Zuständigkeit ist in der<br />

Revision indes gerade nicht auf Fälle der Willkür beschränkt (vgl. etwa BGH, Urteil vom 10. Januar 1958 - 5 StR<br />

487/57, BGHSt 11, 130 ff.; OLG Köln, Beschluss vom 18. November 2008 - 82 Ss 89/08, StraFo 2009, 162). Vielmehr<br />

prüft das Revisionsgericht, ob der Beschwerdeführer den Zuständigkeitseinwand rechtzeitig erhoben <strong>und</strong> das<br />

Gericht seine Zuständigkeit in der Sache zu Recht angenommen hat (vgl. SK-StPO/Frisch, § 338 Rn. 85 [Stand:<br />

Januar 2005]). Auch in den Fällen, in denen es um die Zuständigkeit einer Jugend- oder Erwachsenenstrafkammer<br />

geht oder in denen das Oberlandesgericht in einer Staatsschutzstrafsache die Anklage des Generalb<strong>und</strong>esanwalts zur<br />

Hauptverhandlung zugelassen hat, prüft der B<strong>und</strong>esgerichtshof im Revisionsverfahren - in der zweiten Fallgruppe<br />

sogar von Amts wegen - ob das Tatgericht seine Zuständigkeit rechtsfehlerfrei angenommen hat (BGH, Beschluss<br />

vom 17. August 2010 - 4 StR 347/10, StraFo 2010, 466; BGH, Urteil vom 22. Dezember 2000 - 3 StR 378/00,<br />

BGHSt 46, 238, 247 ff.).<br />

bb) Die vorliegende Fallkonstellation weicht in den für die Beurteilung wesentlichen Punkten erheblich von denjenigen<br />

Fällen ab, in denen die Rechtsprechung einen auf objektiv willkürliches Handeln des Tatgerichts beschränkten<br />

Prüfungsumfang bezüglich der gerichtlichen Zuständigkeit annimmt.<br />

(1) Eine solche eingeschränkte Überprüfung kann etwa in Betracht kommen, wenn eine vorangegangene Entscheidung<br />

der Beurteilung des Revisionsgerichts nach § 336 Satz 2 StPO (vgl. zu einem unanfechtbaren Eröffnungsbeschluss<br />

BGH, Urteil vom 11. Dezember 1980 - 4 StR 503/80, GA 1981, 321) oder nach § 269 StPO (s. etwa BGH,<br />

Urteil vom 22. Dezember 2000 - 3 StR 378/00, BGHSt 46, 238, 241) gr<strong>und</strong>sätzlich entzogen ist. In diesen Fällen<br />

dient die Eröffnung der Rügemöglichkeit mit dem Prüfungsmaßstab der Willkür allein dem Zweck, den Angeklagten<br />

zur Wahrung seines Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht auf die Verfassungsbeschwerde<br />

zu verweisen, sondern den Verstoß gegen die gr<strong>und</strong>rechtliche Gewährleistung bereits im Verfahren vor<br />

den Fachgerichten zu prüfen <strong>und</strong> gegebenenfalls zu korrigieren (BGH, Urteil vom 22. Dezember 2000 - 3 StR<br />

378/00, BGHSt 46, 238, 241 mwN). Ein derartiger Fall ist hier nicht gegeben. Zwar hatte die Staatsschutzkammer<br />

mit dem für den Angeklagten nach § 336 Satz 2, § 210 Abs. 1 StPO unanfechtbaren Eröffnungsbeschluss die Anklage<br />

zur Hauptverhandlung zugelassen. Allerdings hatte sie gemäß § 6a Satz 2 StPO ihre Zuständigkeit in der Hauptverhandlung<br />

(erneut) zu überprüfen, da beide Angeklagte einen entsprechenden Einwand rechtzeitig im Sinne des §<br />

6a Satz 3 StPO geltend gemacht hatten. Damit steht in der Revisionsinstanz nicht der Eröffnungsbeschluss, sondern<br />

die Behandlung der Zuständigkeitseinwände durch das Landgericht zur Nachprüfung (vgl. Rieß, NStZ 1981, 447,<br />

366


448; LR/Hanack, StPO, 25. Aufl., § 336 Rn. 15; SK-StPO/Frisch, § 336 Rn. 19 [Stand: Mai 2003]; BT-Drucks.<br />

8/976, 32, 33).<br />

(2) Soweit die Rechtsprechung in anderen Konstellationen verschiedentlich die Zuständigkeitsrügen in der Revision<br />

nur nach dem Maßstab geprüft hat, ob das erstinstanzliche Gericht seine Zuständigkeit willkürlich angenommen hat,<br />

betraf dies die Bewertung normativer Zuständigkeitsmerkmale durch das Tatgericht, beispielsweise die Erforderlichkeit<br />

besonderer Kenntnisse des Wirtschaftslebens nach § 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 GVG (BGH, Urteil vom 21. März<br />

1985 - 1 StR 417/84, NStZ 1985, 464, 466), die notwendige Mitwirkung eines dritten Richters aufgr<strong>und</strong> Umfangs<br />

oder Schwierigkeit der Sache nach § 76 Abs. 2 Satz 1 GVG (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 - 3 StR 343/98,<br />

BGHSt 44, 328, 333 f.) oder tatrichterliche wertende Prognoseentscheidungen wie die Höhe der zu erwartenden<br />

Strafe nach § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG (BGH, Urteil vom 8. Dezember 1992 - 1 StR 594/92, NStZ 1993, 197). Derartige<br />

normative, einer wertenden Betrachtung zugängliche Gesichtspunkte sind hier nicht von maßgebender Relevanz.<br />

Vielmehr geht es um die klar eingrenzbare Frage, ob die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer aufgr<strong>und</strong> der Art der<br />

den Angeklagten zur Last gelegten Taten gegeben ist. Die Zuständigkeit des Gerichts hängt somit nicht von einer<br />

richterlichen Entscheidung ab (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 14. Juni 2005 - 3 StR 446/04, NJW 2005, 3434, 3435<br />

f.), sondern allein von den verfahrensgegenständlichen Taten.<br />

b) Für die somit umfassend vorzunehmende Überprüfung der Zuständigkeit der Staatsschutzkammer gilt:<br />

aa) Die Ausnahme von der Sonderzuständigkeit der Staatsschutzkammer nach § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG<br />

trotz eines Anklagevorwurfs nach § 129 <strong>StGB</strong> ist gegeben, wenn die Zuwiderhandlung gegen ein Vereinigungsverbot<br />

mit einem Betäubungsmitteldelikt zusammentrifft. Aus dem auf die Formulierung in § 52 Abs. 1 <strong>StGB</strong> zurückgreifenden<br />

Gesetzeswortlaut ("dieselbe Handlung") ergibt sich, dass der Ausnahmetatbestand Tateinheit zwischen<br />

dem Vereinigungs- <strong>und</strong> dem Betäubungsmitteldelikt voraussetzt (vgl. LR/Siolek, StPO, 26. Aufl., GVG § 74a Rn.<br />

13; s. auch zu ähnlichen Normen Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., GVG § 74c Rn. 4; Radtke/Hohmann/Rappert,<br />

StPO, 2011, GVG § 74c Rn. 2; Franzen/Gast/Joecks/Randt, AO, 7. Aufl., § 391 Rn. 33 ff.; Hilgers-Klautzsch in<br />

Kohlmann, Steuerstrafrecht, AO § 391 Rn. 87 [Stand: 03.2010]; Klein/Jäger, AO, 10. Aufl., § 391 Rn. 25). Diese<br />

Voraussetzung ist hier - wie auch vom Landgericht zutreffend angenommen - erfüllt, da jedenfalls ein <strong>Teil</strong> der Erlöse<br />

aus den Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz in die Gemeinschaftskasse der Vereinigung fließen sollte <strong>und</strong><br />

die Taten mithin in Verfolgung der Vereinigungsziele begangen wurden (st. Rspr.; s. etwa BGH, Urteil vom 11. Juni<br />

1980 - 3 StR 9/80, BGHSt 29, 288, 290; vgl. auch LK/Krauß, <strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 129 Rn. 194).<br />

bb) Die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer wird nicht dadurch begründet, dass dem Angeklagten M. auch noch<br />

Erpressungstaten zur Last liegen; denn die Ausnahmeregelung des § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG greift unabhängig<br />

davon ein, ob neben einem Betäubungsmitteldelikt weitere Straftaten mit der Bildung einer kriminellen Vereinigung<br />

in Tateinheit stehen (ebenso OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Februar 1989 - 1 HEs 23/89; LG Frankfurt<br />

am Main, Beschluss vom 25. Oktober 1989 - 5/23 KLs 80 Js 20257/88, StV 1990, 490; SK-StPO/Frister, GVG § 74a<br />

Rn. 17 [Stand: Oktober 2009]; Kissel/Mayer, GVG, 6. Aufl., § 74a Rn. 3; aA LR/Siolek, StPO, 26. Aufl., GVG §<br />

74a Rn. 13).<br />

(1) § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG sieht nach seinem Wortlaut als einzige Voraussetzung für die Ausnahmeregelung<br />

vor, dass dieselbe Handlung, die den Verstoß gegen das Vereinigungsdelikt nach § 129 <strong>StGB</strong> begründet, eine<br />

Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz darstellt; unerheblich ist dagegen, ob zusätzlich noch weitere Delikte<br />

verwirklicht sind.<br />

(2) Sinn <strong>und</strong> Zweck der Regelung sowie die Intention des Gesetzgebers sprechen ebenfalls nicht dafür, es bei weiteren<br />

hinzukommenden Delikten bei der Zuständigkeit der Staatsschutzkammer zu belassen. Der der Einführung des §<br />

74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG zugr<strong>und</strong>e liegende Gesetzentwurf der B<strong>und</strong>estagsfraktionen von SPD <strong>und</strong> FDP<br />

(BT-Drucks. 9/27) enthält dazu zwar keine Begründung. In einer Stellungnahme des B<strong>und</strong>esrates zu einem vorangegangenen<br />

Entwurf der B<strong>und</strong>esregierung wurde die mit demselben Gesetz eingeführte ähnliche Regelung zur Zuständigkeit<br />

bei Steuerstraftaten in § 391 Abs. 4 AO jedoch darauf gestützt, dass bei der Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität<br />

der Kenntnis der örtlichen Verhältnisse besondere Bedeutung zukomme (BT-Drucks. 8/3551 S. 48).<br />

Der Ausschluss der Sonderzuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer im Falle zugleich verwirklichter Betäubungsmitteldelikte<br />

in § 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG beruht ausweislich der einschlägigen Gesetzesmaterialien unter anderem<br />

auf der Erwägung, dass dadurch eine Überlastung der Spezialkammern verhindert werden solle (BT-Drucks.<br />

8/976 S. 67). Diese beiden Gesichtspunkte sind mit Blick auf die vergleichbare Konstellation auch bei der Frage der<br />

Zuständigkeit der Staatsschutzkammer von Bedeutung. Sie sprechen dafür, dass die Ausnahmeregelung des § 74a<br />

Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG auch in den Fällen gilt, in denen zu den Betäubungsmitteltaten weitere Delikte hinzutreten<br />

(vgl. OLG Karlsruhe aaO). Die vom Gesetzgeber bei Betäubungsmittelstraftaten angenommene große Relevanz<br />

der ortsnahen Verhandlung wird nicht dadurch vermindert, dass der Täter noch andere Delikte verwirklicht hat.<br />

367


Begründet die drohende Überlastung der Spezialkammer durch Betäubungsmitteldelikte eine Ausnahme von deren<br />

Zuständigkeit, so muss dies erst recht gelten, wenn die Spezialkammer außerhalb ihres eigentlichen Aufgabenbereichs<br />

neben Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz noch weitere "fachfremde" Taten aufzuklären hat. Vor<br />

diesem Hintergr<strong>und</strong> kommt dem Umstand keine entscheidende Bedeutung zu, ob zum Zeitpunkt der Gesetzgebung<br />

"Fragen der Mischkriminalität" eine Rolle spielten (vgl. LR/Siolek, StPO, 26. Aufl., GVG § 74a Rn. 13).<br />

(3) Aus den dargelegten Gründen folgt auch, dass die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer nach § 74a Abs. 1 Nr. 4<br />

GVG nicht davon abhängen kann, welches Gewicht die zu dem Betäubungsmitteldelikt hinzukommende Straftat hat<br />

(wohl aA OLG Oldenburg, Beschluss vom 15. Dezember 2003 - HEs 41/03, NStZ-RR 2004, 174, 175; Meyer-<br />

Goßner, StPO, 54. Aufl., GVG § 74a Rn. 4). Für eine nach diesem Kriterium auszurichtende Differenzierung bieten<br />

weder der Gesetzeswortlaut noch der erkennbare Wille des Gesetzgebers einen Anhaltspunkt. Zudem ist es aus<br />

Gründen der Rechtssicherheit <strong>und</strong> -klarheit nicht angebracht, die gerichtliche Zuständigkeit <strong>und</strong> damit eine wesentliche<br />

Verfahrensfrage von einem derartigen, gesetzlich nicht vorgesehenen <strong>und</strong> weitgehend unbestimmten Kriterium<br />

abhängig zu machen; auf diese Weise entstünden erhebliche, der Anwendungspraxis nicht zuträgliche Abgrenzungsschwierigkeiten<br />

(vgl. SK-StPO/Frister aaO Rn. 17). Auch aus praktischen Erwägungen erscheint die Differenzierung<br />

nach dem Gewicht der zusätzlich begangenen Straftat(en) nicht erforderlich; denn einer möglicherweise sachwidrigen<br />

Zuständigkeit der allgemeinen Strafkammer ließe sich für den Fall, dass das Betäubungsmitteldelikt von völlig<br />

untergeordneter Bedeutung ist, etwa durch eine Beschränkung des Verfahrensstoffes nach § 154a StPO spätestens<br />

mit dem Eröffnungsbeschluss begegnen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. September 1980 - StB 32/80, BGHSt 29,<br />

341 ff.; vom 20. April 2005 - 3 StR 106/05, NStZ 2005, 650; OLG Karlsruhe aaO; LR/Siolek aaO Rn. 15).<br />

(4) Die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer lässt sich schließlich nicht daraus herleiten, dass die dem Angeklagten<br />

M. vorgeworfenen Erpressungstaten nicht in Tateinheit zu den Betäubungsmitteldelikten stehen. Die Erpressungsstraftaten<br />

werden durch das fortdauernde Vereinigungsdelikt zwar nicht mit den Betäubungsmitteltaten zu einer<br />

einzigen tateinheitlichen Tat verklammert, da die zu verklammernden Taten angesichts der Strafandrohung im Verhältnis<br />

zur Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht leichter oder gleichwertig sind (vgl. BGH, Beschluss vom<br />

20. April 2006 - 3 StR 284/05, NStZ-RR 2006, 232, 233). Es bleibt allerdings dabei, dass es sich bei der fortdauernden<br />

Zuwiderhandlung gegen ein Vereinigungsverbot um dieselbe Tat handelt, diese Tat tateinheitlich mit Betäubungsmitteldelikten<br />

zusammentrifft <strong>und</strong> daher die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer insgesamt nicht gegeben<br />

ist.<br />

3. Wegen der fehlenden Zuständigkeit der Staatsschutzkammer ist die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung<br />

an eine allgemeine Strafkammer zurückzuverweisen. Die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts München I<br />

ergibt sich nach § 7 Abs. 1, § 13 Abs. 1, § 3 StPO daraus, dass der Angeklagte B. am 22. Februar 2010 aufgr<strong>und</strong><br />

eines gemeinsamen Tatplans der Angeklagten ein Kilogramm Heroingemisch in der Landstraße in München - also<br />

dem dortigen Gerichtsbezirk - kaufte <strong>und</strong> übernahm.<br />

III. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass im Falle einer erneuten Verurteilung wegen versuchter<br />

räuberischer Erpressung Erörterungen zu einem etwaigen Rücktritt angebracht sein könnten.<br />

StPO § 257c; StPO § 261; AO § 41 II; AO § 370 - Steuerhinterziehung ; keine Bindung informelle<br />

Absprache<br />

BGH, Beschl. v. 12.07.2011 - 1 StR 274/11 - StV 2011, 645<br />

„Informelle Verständigungen“ widersprechen der Strafprozessordnung. Zwar ist es zulässig, auch<br />

schon vor Eröffnung des Hauptverfahrens Erörterungen zur Vorbereitung einer Verständigung zu<br />

führen. Solche Gespräche können - bei gründlicher Vorbereitung auf der Basis der Anklageschrift<br />

<strong>und</strong> des gesamten Akteninhalts - im Einzelfall sinnvoll sein. Sie lösen aber weder eine Bindung des<br />

Gerichts an dabei in Aussicht gestellte Strafober- oder -untergrenzen aus, noch kann durch sie ein<br />

durch den fair-trial-Gr<strong>und</strong>satz geschützter Vertrauenstatbestand entstehen. Die Annahme einer<br />

solchen Bindung ist rechtfehlerhaft <strong>und</strong> könnte u.U. sogar den Bestand eines Urteils gefährden.<br />

Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 15. Februar 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen. Die Nachprüfung des Urteils<br />

aufgr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung hat keinen die Angeklagte beschwerenden Rechtsfehler ergeben (§ 349 Abs. 2<br />

368


StPO). Die Schriftsätze der Revision vom 5. <strong>und</strong> vom 8. Juli 2011 lagen vor. Ergänzend zu den Ausführungen des<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalts bemerkt der Senat:<br />

1. Die Urteilsfeststellungen <strong>und</strong> der Schuldspruch werden von der auf dem Geständnis der Angeklagten beruhenden<br />

Beweiswürdigung des Landgerichts getragen. Zwar hat das Landgericht nicht die Feststellung getroffen, dass es sich<br />

bei den dem Betriebsausgabenabzug <strong>und</strong> der Geltendmachung von Vorsteuer zugr<strong>und</strong>e gelegten Aufträgen um<br />

Scheingeschäfte i.S.d. § 41 Abs. 2 AO gehandelt hat. Solches lag freilich nach den im Urteil mitgeteilten Umständen<br />

nahe; auch ist das Tatgericht nicht gehalten, Behauptungen eines Angeklagten (etwa im Rahmen eines auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage einer Verständigung abgegebenen Geständnisses) als unwiderlegbar hinzunehmen, wenn hinreichende<br />

Anhaltspunkte für die Richtigkeit dieser Angaben fehlen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. November 2010 - 1 StR<br />

502/10 Rn. 12). Der Senat kann hier jedoch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe entnehmen, dass im Jahr<br />

2002 - wie die Angeklagte wusste - aus Gutachtenaufträgen weder eine Leistung bezogen wurde, noch eine Zahlung<br />

hierfür erfolgte, was die Geltendmachung der Betriebsausgaben oder der Vorsteuer hätte rechtfertigen können. Die<br />

Angeklagte hat ausdrücklich eingeräumt, dass ihr im Jahr 2002 „keines der Gutachten“ übergeben worden sei.<br />

2. Der Strafausspruch hat ebenfalls Bestand. Entgegen der Auffassung der Revision enthalten die Urteilsgründe keine<br />

Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagte lediglich eine „Steuerverkürzung auf Zeit“ beabsichtigt haben könnte.<br />

Dies hat die Angeklagte als ausgebildete Steuerfachgehilfin <strong>und</strong> damit in steuerlichen Angelegenheiten hinreichend<br />

sachk<strong>und</strong>ige Angeklagte (UA S. 9) auch nicht behauptet, obwohl sie die gewinnmindernde Berücksichtigung der<br />

Gutachtenkosten eingeräumt hat (UA S. 8) <strong>und</strong> zum Zeitpunkt der Einreichung der unrichtigen Körperschaftsteuer-<br />

<strong>und</strong> Gewerbesteuererklärungen im Jahr 2006 die steuerlichen Verhältnisse der von ihr geleiteten Firmen seit dem<br />

Jahr 2002 gekannt hatte. Bereits die Annahme des Landgerichts, „faktisch“ habe eine „Steuerverkürzung auf Zeit“<br />

vorgelegen, wird von den Feststellungen nicht getragen. Denn aus den Urteilsgründen ergibt sich nicht, dass in den<br />

Folgejahren überhaupt Gewinne erzielt worden sind, die durch einen dann möglichen Betriebsausgabenabzug hätten<br />

vermindert werden können. Solches liegt, worauf der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend hingewiesen hat, angesichts<br />

der festgestellten persönlichen Verhältnisse der Angeklagten (UA S. 2 ff.) auch fern. Eine Aufklärungsrüge hat die<br />

Revision nicht erhoben.<br />

3. Die Feststellung in den Urteilsgründen, das Urteil beruhe „auf einer in einer Vorbesprechung nach § 202a StPO<br />

informell getroffenen, verfahrensverkürzenden Verständigung“ (UA S. 9), gibt dem Senat Anlass zu folgendem<br />

Hinweis: „Informelle Verständigungen“ widersprechen der Strafprozessordnung. Zwar ist es zulässig, auch schon<br />

vor Eröffnung des Hauptverfahrens Erörterungen zur Vorbereitung einer Verständigung zu führen (vgl. Meyer-<br />

Goßner, StPO, 54. Aufl. § 202a Rn. 2). Solche Gespräche können - bei gründlicher Vorbereitung auf der Basis der<br />

Anklageschrift <strong>und</strong> des gesamten Akteninhalts - im Einzelfall sinnvoll sein. Sie lösen aber weder eine Bindung des<br />

Gerichts an dabei in Aussicht gestellte Strafober- oder -untergrenzen aus, noch kann durch sie ein durch den fairtrial-Gr<strong>und</strong>satz<br />

geschützter Vertrauenstatbestand entstehen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2011 - 1 StR<br />

458/10; BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2010 - 2 StR 354/10; BGH, Beschluss vom 4. August 2010 - 2 StR<br />

205/10). Die Annahme einer solchen Bindung ist rechtfehlerhaft <strong>und</strong> könnte u.U. sogar den Bestand eines Urteils<br />

gefährden. Die Staatsanwaltschaft, der neben dem Gericht die Wahrung eines rechtsstaatlichen Verfahrens obliegt,<br />

hat hier indes kein Rechtsmittel eingelegt; eine von der Strafkammer angenommene Bindung an den Inhalt geführter<br />

Vorgespräche könnte hier die Angeklagte, die dies auch nicht mit einer Verfahrensrüge (vgl. BGH, Beschluss vom<br />

13. Januar 2010 - 3 StR 528/09) geltend macht, nicht beschweren.<br />

StPO § 258, § 338 1 kein Schlussvortrag durch abwesenden Verteidiger<br />

BGH, Beschl. v. 12.01.2012 - 1 StR 373/11 - BeckRS 2012, 05589<br />

1. Zur Rüge des Verstoßes gegen § 258 Abs. 1 StPO: Einem in der Hauptverhandlung nicht anwesenden<br />

Verteidiger kann keine Gelegenheit zum Schlussvortrag gegeben werden.<br />

2. Das Übergehen eines Besetzungseinwandes stellt lediglich eine Zulässigkeitsvoraussetzung der<br />

Besetzungsrüge nach § 338 Nr. 1 StPO dar. Eine solche Rüge kann aber nur dann Erfolg haben,<br />

wenn die Besetzung tatsächlich vorschriftswidrig war.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 24. September 2010 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum<br />

369


Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels<br />

zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten, einen Rechtsanwalt, wegen Betruges in zwei Fällen, Subventionsbetruges <strong>und</strong><br />

versuchter Steuerhinterziehung - unter Einbeziehung einer zur Bewährung ausgesetzten rechtskräftigen Freiheitsstrafe<br />

von zehn Monaten wegen Veruntreuung von Mandantengeldern - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren<br />

verurteilt. Zur Kompensation einer konventionswidrigen Verfahrensverzögerung hat es hiervon sechs Monate für<br />

vollstreckt erklärt. Die auf mehrere Verfahrensrügen <strong>und</strong> die ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten<br />

ist aus den in der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom 30. August 2011 dargelegten Gründen unbegründet<br />

im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Ergänzend bemerkt der Senat zu den nachfolgend näher bezeichneten<br />

Verfahrensrügen Folgendes:<br />

1. Rüge eines Verstoßes gegen § 229 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 StPO (RB Ziffer VI)<br />

a) Die Revision macht einen Verstoß gegen § 229 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 StPO geltend, der darin liege, dass „die dort<br />

gesetzlich vorgeschriebenen Fristen nicht eingehalten“ worden seien. Gegenstand der Rüge ist eine Unterbrechung<br />

der Hauptverhandlung wegen einer vom Angeklagten behaupteten Erkrankung im Bereich der Lendenwirbelsäule.<br />

Die Revision stützt den von ihr angenommenen Verstoß auf einen Alternativsachverhalt. Entweder sei der Angeklagte<br />

zum Zeitpunkt der Fortsetzung der Hauptverhandlung noch nicht ges<strong>und</strong> oder aber sei er gar nicht krank gewesen,<br />

<strong>und</strong> habe seine Krankheit nur vorgetäuscht (RB S. 267).<br />

b) Die Rüge entspricht nicht den Voraussetzungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO <strong>und</strong> ist deshalb bereits unzulässig,<br />

denn mit ihr wird kein bestimmter Verfahrensverstoß behauptet. Wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend ausgeführt<br />

hat, schließen sich beide Sachverhaltsvarianten gegenseitig aus. Letztlich wird das Revisionsgericht lediglich aufgefordert<br />

zu prüfen, ob in irgendeiner Richtung ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 229 StPO vorliege. Damit lässt<br />

das Revisionsvorbringen eine bestimmte Angriffsrichtung nicht erkennen. Der Angeklagte war auch in der Lage, klar<br />

anzugeben, ob er seine Krankheit lediglich vorgetäuscht hatte oder nicht. Er wusste selbst am besten, welche Krankheitssymptome<br />

er verspürte, als er - wie im Observationsbericht <strong>und</strong> im daraufhin gegen ihn ergangenen Haftbefehl<br />

festgestellt - Müllsäcke mit einem Gewicht von 25 kg eine Treppe hinuntertrug, Einkaufs-, Schul- <strong>und</strong> Sporttaschen<br />

zwischen Auto <strong>und</strong> Haus hin- <strong>und</strong> herschleppte, täglich mit einem Porsche Carrera am Straßenverkehr teilnahm <strong>und</strong><br />

über drei St<strong>und</strong>en in gebückter Haltung den Garagenvorplatz reinigte.<br />

2. Rüge der Verletzung des § 244 Abs. 3 StPO im Hinblick auf die Zurückweisung eines Beweisantrages wegen<br />

Prozessverschleppung (RB Ziffer II 3)<br />

Die Beanstandung der Revision, das Landgericht habe den Antrag auf Einholung eines Gutachtens eines Schriftsachverständigen,<br />

mit dem bewiesen werden sollte, der Zeuge C. habe bestimmte Schriftstücke eigenhändig unterschrieben,<br />

zu Unrecht wegen Prozessverschleppungsabsicht gemäß § 244 Abs. 3 StPO abgelehnt, dringt nicht durch. Ergänzend<br />

zu den Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts zum Vorliegen eines Beweisermittlungsantrags, zur<br />

Reichweite der Aufklärungspflicht <strong>und</strong> zum jedenfalls fehlenden Beruhen bemerkt der Senat Folgendes: Die Erwägungen<br />

der Strafkammer tragen auch die von ihr gezogenen Schlüsse, der Antrag auf Einholung eines Schriftsachverständigengutachtens<br />

sei allein zum Zweck der Prozessverschleppung im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 6<br />

StPO gestellt worden <strong>und</strong> die beantragte Beweiserhebung habe nichts Sachdienliches zu Gunsten des Angeklagten<br />

erbringen können. Die Strafkammer konnte hierbei dem Umstand, dass der Angeklagte zunächst versucht hatte, das<br />

Erscheinen des Zeugen C. - als sachnäheres Beweismittel - <strong>und</strong> dessen Aussage vor Gericht zu verhindern, <strong>und</strong> den<br />

Zeugen dazu sogar persönlich in Italien aufgesucht hatte, maßgebliche Bedeutung beimessen. Nachdem dieser Verdunkelungsversuch<br />

gescheitert war <strong>und</strong> als nach einer Hauptverhandlung mit einer Dauer von über einem Jahr eine<br />

insgesamt erdrückende Beweislage gegen den Angeklagten bestand, durfte die Strafkammer den Antrag auf Einholung<br />

eines Gutachtens eines Schriftsachverständigen als allein zum Zwecke der Verfahrensverzögerung gestellt ansehen.<br />

Dabei konnte sie in ihre Bewertung einbeziehen, dass keiner der hierzu bisher vernommenen Zeugen - danach<br />

angefallene abweichende Erkenntnisse sind weder von der Revision behauptet worden noch aus den Urteilsgründen<br />

ersichtlich - Angaben im Sinne der Beweisbehauptung gemacht hatte <strong>und</strong> sowohl der Zeuge C. als auch der Zeuge V.<br />

vehement bestritten hatten, dass die Firma T. Vertragsverhältnisse mit deutschen Firmen bezüglich des Vorhabens<br />

der P. GmbH eingegangen waren. Hinzu kommt, dass der vom Beweisantrag umfasste Generalunternehmervertrag<br />

zwischen der Firma T. <strong>und</strong> der Firma Z. in der Ausfertigung des Zeugen Z. gerade keinen Firmenstempel der Firma<br />

T. <strong>und</strong> keine Unterschrift des Zeugen C. aufwies. Nicht zu beanstanden ist auch die Überzeugung der Strafkammer,<br />

die Wahlverteidigerin - auf die es bei dem von ihr gestellten Antrag ankommt - habe die Nutzlosigkeit der beantragten<br />

Beweiserhebung sowie die damit verb<strong>und</strong>ene Verfahrensverzögerung erkannt <strong>und</strong> sie habe mit ihrem Antrag<br />

auch ausschließlich die Verzögerung des Verfahrensabschlusses bezweckt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 9. Mai<br />

370


2007 - 1 StR 32/07 Rn. 16, BGHSt 51, 333, 336). Die Strafkammer durfte bei ihrer Würdigung den bisherigen Verfahrensverlauf<br />

berücksichtigen (BGH aaO Rn. 16).<br />

3. Rüge eines Verstoßes gegen § 258 Abs. 1 StPO (RB Ziffer V)<br />

a) Die Rüge, der Wahlverteidigerin sei keine Gelegenheit gegeben worden, einen Schlussvortrag zu halten (§ 258<br />

Abs. 1 StPO), greift nicht durch. Wie die Revision selbst vorträgt, war die Wahlverteidigerin, Rechtsanwältin R. , an<br />

dem Hauptverhandlungstag, für den die Plädoyers der Verteidigung geplant waren, erkrankt. Damit scheidet ein<br />

Verstoß gegen § 258 Abs. 1 StPO aus; denn einem in der Hauptverhandlung nicht anwesenden Verteidiger kann<br />

keine Gelegenheit zum Schlussvortrag gegeben werden (vgl. auch BayObLG - Urteil vom 20. März 1981 - RReg. 1<br />

St 13/81, VRS 61, 128; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 258 Rn. 12).<br />

b) Die Verfahrensbeanstandung bleibt auch dann ohne Erfolg, wenn mit ihr zugleich ein Verstoß gegen § 338 Nr. 8<br />

StPO geltend gemacht werden sollte, der darin liegen soll, dass der im Hinblick auf die Erkrankung der Wahlverteidigerin<br />

gestellte Antrag der Pflichtverteidigerin auf Unterbrechung der Hauptverhandlung durch Gerichtsbeschluss<br />

zurückgewiesen wurde.<br />

aa) Die Rüge wäre mit dieser Angriffsrichtung bereits unzulässig, weil sie dann den Anforderungen des § 344 Abs. 2<br />

Satz 2 StPO nicht entspräche. Es fehlen jegliche Angaben zu Art, Umfang <strong>und</strong> tatsächlicher Dauer der Erkrankung<br />

der Wahlverteidigerin sowie dazu, ob innerhalb der Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO eine Fortsetzung der<br />

Hauptverhandlung noch möglich gewesen wäre. Auch wird nicht mitgeteilt, aus welchem Gr<strong>und</strong> der weitere Wahlverteidiger<br />

des Angeklagten, Rechtsanwalt Dr. E., nicht an der Stelle der erkrankten Wahlverteidigerin R. an der<br />

Hauptverhandlung hätte teilnehmen <strong>und</strong> einen Schlussvortrag halten können.<br />

bb) Die Rüge wäre jedenfalls unbegründet, denn der Beschluss der Strafkammer, die Hauptverhandlung trotz der<br />

Erkrankung der Wahlverteidigerin nicht zu unterbrechen, hält rechtlicher Nachprüfung stand. Ein Zuwarten mit dem<br />

Abschluss der Hauptverhandlung, bis eine Sitzung mit der Wahlverteidigerin hätte durchgeführt werden können, war<br />

nicht geboten. Der Angeklagte war durch die anwesende Pflichtverteidigerin, die auch einen Schlussvortrag gehalten<br />

hat, ordnungsgemäß verteidigt. Die Pflichtverteidigerin hatte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den Angeklagten<br />

an sämtlichen Hauptverhandlungstagen verteidigt, was für die Wahlverteidigerin gerade nicht zutrifft, denn sie war<br />

bereits vorher an mehr als der Hälfte der Hauptverhandlungstage nicht anwesend gewesen. Entgegen der Auffassung<br />

der Revision lässt sich weder aus der Länge des von der Pflichtverteidigerin gehaltenen Schlussvortrags noch aus<br />

dem von ihr gestellten Unterbrechungsantrag schließen, die Pflichtverteidigerin sei zu einem ordnungsgemäßen<br />

Schlussvortrag nicht in der Lage gewesen. Auch werden keine Gründe vorgetragen <strong>und</strong> sind auch sonst nicht ersichtlich,<br />

die einer Wahrnehmung dieses Sitzungstages <strong>und</strong> einem Schlussvortrag durch den weiteren Wahlverteidiger des<br />

Angeklagten, Rechtsanwalt Dr. E., entgegengestanden hätten. Dieser Verteidiger genoss, wie dem Revisionsvortrag<br />

zu entnehmen ist, ebenfalls das umfassende Vertrauen des Angeklagten. Auch sonst lässt die vom Landgericht vorgenommene<br />

Abwägung zwischen dem Interesse des Angeklagten an einem Zuwarten <strong>und</strong> dem Beschleunigungsgr<strong>und</strong>satz<br />

(vgl. Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) bei der Ablehnung einer Unterbrechung der Hauptverhandlung bis zur<br />

Genesung der Wahlverteidigerin Rechtsfehler nicht erkennen. Das Landgericht weist in dem Ablehnungsbeschluss<br />

ausdrücklich darauf hin, dass es bereits die Unterbrechung bis zu dem Tag, an dem die Wahlverteidigerin wegen<br />

einer Erkrankung nicht teilnehmen konnte, mit Rücksicht auf deren Verhinderung am vorherigen Verhandlungstag<br />

vorgenommen hatte. Ein weiteres Zuwarten war dem Landgericht angesichts der ordnungsgemäßen Verteidigung<br />

durch die Pflichtverteidigerin auch schon deshalb nicht zumutbar, weil nicht absehbar war, wann ein neuer Hauptverhandlungstag<br />

mit der Wahlverteidigerin durchführbar sein würde (vgl. auch BGH, Beschluss vom 9. November<br />

2006 - 1 StR 474/06, wistra 2007, 228).<br />

4. Rüge eines Verstoßes gegen §§ 338 Nr. 8 i.V.m. § 141 StPO (RB Ziffer IV)<br />

Die Rüge, das Landgericht habe dem Angeklagten zu Unrecht entgegen seinem ausdrücklichen Willen nicht seine<br />

beiden Wahlverteidiger, Rechtsanwältin R. <strong>und</strong> Rechtsanwalt Dr. E., sondern Rechtsanwältin Dr. S. als Pflichtverteidigerin<br />

beigeordnet, versagt ebenfalls.<br />

a) Die Verfahrensrüge genügt aus den zutreffenden Erwägungen in der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

bereits nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO <strong>und</strong> ist deshalb unzulässig.<br />

b) Die Rüge könnte auch in der Sache keinen Erfolg haben. Denn die Beiordnung von Rechtsanwältin Dr. S. als<br />

Pflichtverteidigerin hatte nicht zur Folge, dass die Wahlverteidiger ihr Mandat niederlegten. Vielmehr wurde der<br />

Angeklagte nunmehr sogar durch drei Verteidiger, nämlich zwei Wahlverteidiger <strong>und</strong> eine Pflichtverteidigerin, verteidigt.<br />

Es ist nicht ersichtlich, dass die Verteidigung des Angeklagten durch drei statt einen Verteidiger für den<br />

Angeklagten von Nachteil gewesen sein könnte. Vielmehr bestätigen bereits die vielen Abwesenheitszeiten der beiden<br />

Wahlverteidiger, die während der von Juli 2009 bis September 2010 dauernden Hauptverhandlung jeweils von<br />

371


Frankfurt am Main nach Potsdam zu den Hauptverhandlungsterminen reisen mussten, dass die Beiordnung von<br />

Rechtsanwältin Dr. S. neben diesen beiden Wahlverteidigern sachgerecht war.<br />

5. Rüge eines Verstoßes gegen § 222b StPO i.V.m. § 338 Nr. 1 Buchst. b StPO (RB Ziffer IV)<br />

Die Revision rügt, es liege ein Verstoß gegen § 222b StPO i.V.m. § 338 Nr. 1 Buchst. b StPO vor, weil „über eine<br />

Besetzungsrüge nicht entschieden wurde.“ Sie meint, der absolute Revisionsgr<strong>und</strong> der fehlerhaften Besetzung des<br />

Gerichts liege bereits deswegen vor, weil der Einwand der vorschriftsmäßigen Besetzung im Sinne des § 338 Nr. 1<br />

Buchst. b 1. Alt. StPO übergangen worden sei. Mit dieser Angriffsrichtung versagt die Rüge, worauf der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

in seiner Antragsschrift zutreffend hinweist, bereits im Ansatz. Denn das Übergehen eines Besetzungseinwandes<br />

stellt lediglich eine Zulässigkeitsvoraussetzung der Besetzungsrüge nach § 338 Nr. 1 StPO dar. Eine<br />

solche Rüge kann aber nur dann Erfolg haben, wenn die Besetzung tatsächlich vorschriftswidrig war. Dies wird hier<br />

indes gerade nicht behauptet. Vielmehr macht die Revision allein geltend, ein absoluter Revisionsgr<strong>und</strong> liege deshalb<br />

vor, weil über den erhobenen Besetzungseinwand nicht entschieden worden sei. Etwaige Zweifel an der Angriffsrichtung<br />

dieser Rüge hat die Revision spätestens in ihrer Gegenerklärung zur Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

ausgeräumt. Dort stellt die Revision nochmals klar, dass es in dem vorliegenden Fall, in dem das Gericht einen<br />

Besetzungseinwand übergangen habe (§ 338 Nr. 1 Buchst. b 1. Alt. StPO), „nicht um die Überprüfung der Entscheidung<br />

der erkennenden Kammer“ gehe, sondern allein darum, dass der Besetzungseinwand übergangen worden sei.<br />

Die Revision vertritt dabei die (unzutreffende) Auffassung, eine „inhaltliche Überprüfung des Besetzungseinwandes“<br />

sei dem Revisionsgericht hier verwehrt, weil eine solche nur erfolgen könne, wenn die erkennende Strafkammer eine<br />

Entscheidung getroffen habe.<br />

StPO § 261 Beweiswürdigung bei belastender Aussage eines Dealzeugen<br />

BGH, Beschl. v. 06.03.2012 - 1 StR 17/12 - NStZ-RR 2012, 179<br />

1. Es ist jedenfalls in der Regel geboten, in die Würdigung einer entscheidungserheblichen Aussage<br />

eines Tatbeteiligten eine vorangegangene oder im Raum stehende Verständigung in dem gegen ihn<br />

wegen desselben Tatkomplexes durchgeführten Verfahren - gleichgültig, ob es <strong>Teil</strong> des Verfahrens<br />

gegen den Angeklagten oder formal eigenständig ist - erkennbar einzubeziehen <strong>und</strong> nachvollziehbar<br />

zu behandeln, ob der Tatbeteiligte im Blick auf die ihn betreffende Verständigung irrig glauben<br />

könnte, eine Falschaussage zu Lasten des Angeklagten sei für ihn besser als eine wahre Aussage zu<br />

dessen Gunsten.<br />

2. Um die Beweiswürdigung im Blick auf Verständigungen durch das Revisionsgericht zur Überprüfung<br />

zu stellen, ist in der Regel die Erhebung einer Verfahrensrüge erforderlich.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe - Auswärtige Große Strafkammer<br />

Pforzheim - vom 14. Oktober 2011, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben (§ 349 Abs. 4 StPO). In<br />

diesem Umfang wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an<br />

eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

1. Der Angeklagte <strong>und</strong> Sh. S. wurden wegen Einfuhr <strong>und</strong> Verkauf von etwa 1 kg Kokain verurteilt, der (einschlägig<br />

vorbestrafte) Angeklagte zu sechs Jahren <strong>und</strong> drei Monaten, S. zu drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten Freiheitsstrafe.<br />

Hinsichtlich S. ist das Urteil rechtskräftig. Der zunächst mitangeklagte K. S. wurde wegen Beihilfe zu der Tat zu<br />

einem Jahr <strong>und</strong> acht Monaten Freiheitsstrafe (einbezogen in eine nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren)<br />

verurteilt, nachdem das Verfahren gegen ihn im Laufe der Hauptverhandlung abgetrennt worden war. Auch<br />

dieses Urteil ist rechtskräftig. Die Verurteilung des nicht geständigen Angeklagten ist nicht zuletzt auf die Angaben<br />

(Geständnisse) von Sh. <strong>und</strong> K. S. gestützt.<br />

2. Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Er macht zutreffend geltend, die Strafkammer habe in ihre<br />

Würdigung der Aussagen von Sh. <strong>und</strong> K. S. nicht erkennbar einbezogen, dass deren Verurteilungen eine Verständigung<br />

(§ 257c StPO) voraus ging.<br />

a) Die Urteilsgründe ergeben zu Verständigungen mit dem Angeklagten Sh. S. <strong>und</strong> dem ehemaligen Mitangeklagten<br />

K. S. nichts. Das Urteil enthält auch hinsichtlich Sh. S. keinen Hinweis gemäß § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO (i.V.m. §<br />

267 Abs. 4 Satz 2 StPO). Um gleichwohl die Beweiswürdigung im Blick auf Verständigungen durch das Revisions-<br />

372


gericht zur Überprüfung zu stellen, war hier die Erhebung einer Verfahrensrüge erforderlich (BGH, Beschluss vom<br />

22. Februar 2012 - 1 StR 349/11; Beschluss vom 6. November 2007 - 1 StR 370/07, BGHSt 52, 78, 79, 81).<br />

b) Die Revision trägt in diesem Zusammenhang zutreffend vor, dass sich im Verlauf der Hauptverhandlung beide<br />

Angeklagte S. nach entsprechenden Gesprächen mit einem vom Gericht für den Fall von Geständnissen genannten<br />

Strafrahmen einverstanden erklärten (§ 257c StPO) <strong>und</strong> noch vor der Abtrennung des Verfahrens gegen K. S. Erklärungen<br />

zur Sache abgaben. Der Angeklagte <strong>und</strong> sein Verteidiger hatten demgegenüber eine Verständigung abgelehnt.<br />

c) Es ist jedenfalls in der Regel geboten, in die Würdigung einer entscheidungserheblichen Aussage eines Tatbeteiligten<br />

eine vorangegangene oder im Raum stehende Verständigung in dem gegen ihn wegen desselben Tatkomplexes<br />

durchgeführten Verfahren - gleichgültig, ob es <strong>Teil</strong> des Verfahrens gegen den Angeklagten oder formal eigenständig<br />

ist - erkennbar einzubeziehen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2012 - 1 StR 349/11; Beschluss vom 9. Februar<br />

2012 - 1 StR 438/11; Beschluss vom 6. November 2007 - 1 StR 370/07, BGHSt 52, 78, 82 f. mwN) <strong>und</strong> nachvollziehbar<br />

zu behandeln, ob der Tatbeteiligte im Blick auf die ihn betreffende Verständigung irrig glauben könnte, eine<br />

Falschaussage zu Lasten des Angeklagten sei für ihn besser als eine wahre Aussage zu dessen Gunsten (BGH aaO).<br />

Gründe des Einzelfalls, die derartige Erörterungen hier gleichwohl entbehrlich erscheinen ließen, sind nicht ersichtlich.<br />

3. Dies führt zur Aufhebung des Urteils, soweit es den Angeklagten betrifft, ohne dass es noch auf Weiteres ankäme.<br />

StPO § 261 Beweiswürdigung bei DNA-Spuren<br />

BGH, Beschl. v. 06.03.2012 - 3 StR 41/12 - BeckRS 2012, 08060<br />

Zur Beweiswürdigung bei DNA-Spuren.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 21. Oktober 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,<br />

an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit besonders schwerer räuberischer<br />

Erpressung, mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen <strong>und</strong> mit Freiheitsberaubung in zwei Fällen zu<br />

der Freiheitsstrafe von sechs Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten rügt die Verletzung<br />

sachlichen Rechts <strong>und</strong> beanstandet das Verfahren. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg; auf die Verfahrensrügen<br />

kommt es daher nicht an. Das Urteil hat keinen Bestand, denn die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte<br />

sei an der Tat beteiligt gewesen, entbehrt einer sie tragenden rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung.<br />

1. Nach den Feststellungen drangen der Angeklagte <strong>und</strong> zwei unbekannt gebliebene Mittäter am Abend des 14. November<br />

2006 maskiert in das Wohnhaus der Eheleute H. ein, sprühten diesen Pfefferspray ins Gesicht <strong>und</strong> fesselten<br />

sie mit Damenstrumpfhosen. Während einer der Täter die Eheleute bewachte, durchsuchten die beiden anderen das<br />

Haus <strong>und</strong> nahmen Bargeld sowie Wertgegenstände an sich. Durch die Drohung, Frau H. mit einem Messer einen<br />

Finger abzuschneiden, veranlassten sie die Geschädigten schließlich zur Herausgabe eines weiteren im Haus befindlichen<br />

Bargeldbetrages. Danach verbrachten sie die Eheleute in die Garage, banden sie dort mit den Strumpfhosen<br />

auf Gartenstühlen fest <strong>und</strong> entfernten sich mit ihrer Beute. Wie das Landgericht weiter feststellt, fiel einem der Täter<br />

beim Herausziehen der zur Fesselung der Geschädigten mitgebrachten Strumpfhosen unbemerkt der Stummel einer<br />

vor dem Eindringen in das Haus gerauchten Zigarette aus der Jackentasche, den er eingesteckt hatte, um Spuren in<br />

Tatortnähe zu vermeiden. Im Filter fand sich DNA, die mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 8,6 Billionen vom Angeklagten<br />

herrührt. Die Geschädigten selbst konnten die Täter lediglich dahin beschreiben, dass sie mit osteuropäischem<br />

Akzent sprachen sowie schlank <strong>und</strong> sportlich waren, zwei von ihnen etwa 1,70 m groß, der dritte etwas größer.<br />

2. Zu der Überzeugung, der Angeklagte sei einer der drei Täter gewesen, gelangt das Landgericht aufgr<strong>und</strong> folgender<br />

Überlegungen: Ein "starkes Indiz" hierfür sei die DNA-Spur auf dem von den Tätern hinterlassenen Zigarettenrest.<br />

Auch die Personenbeschreibungen der Geschädigten sprächen "letztlich … nicht gegen die Täterschaft des Angeklagten".<br />

"Insgesamt" habe es sich von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt aufgr<strong>und</strong> der gesicherten DNA-<br />

Spur "sowie der Art <strong>und</strong> Weise, wie der Zigarettenrest während der Tat … [in das Wohnzimmer der Geschädigten]<br />

gelangt sein muss." Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, denn aus den - im Übrigen rechtsfehlerfrei<br />

festgestellten - Umständen, unter denen der Zigarettenrest in die Wohnung der Geschädigten gelangte, ergeben sich<br />

373


keine (zusätzlichen) Beweisanzeichen, die für die Identität des Angeklagten als einer der drei Täter sprechen könnten.<br />

Andererseits misst das Landgericht den Personenbeschreibungen der Geschädigten für die Frage der Identifizierung<br />

der Täter offensichtlich keinen Beweiswert zu; die DNA-Spur erachtet es schließlich nur als ein "starkes", für<br />

den Nachweis der Täterschaft des Angeklagten für sich allein indes nicht ausreichendes Indiz.<br />

3. Der Senat sieht sich nicht in der Lage, ein Beruhen des Urteils auf dem Mangel mit der Erwägung auszuschließen,<br />

das Landgericht hätte bereits dem Umstand, dass die am Zigarettenrest gesicherte DNA mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit<br />

vom Angeklagten herrührt, einen ausschlaggebenden Beweiswert beimessen müssen. Auch die Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs geht davon aus, dass das Ergebnis eines DNA-Vergleichsgutachtens nur als ein -<br />

wenn auch bedeutsames - Indiz anzusehen ist, das der Würdigung im Zusammenhang mit anderen für die Täterschaft<br />

sprechenden Beweisanzeichen bedarf; denn ein solches Gutachten enthält lediglich eine abstrakte, biostatistisch<br />

begründete Aussage über die Häufigkeit der festgestellten Merkmale bzw. Merkmalskombinationen innerhalb einer<br />

bestimmten Population (Urteil vom 12. August 1992 - 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320). Zwar hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

in einer späteren Entscheidung abweichend hiervon die Auffassung vertreten, bei einem festgestellten Seltenheitswert<br />

im Millionenbereich könne allein das Ergebnis eines DNA-Vergleichsgutachtens für die tatrichterliche<br />

Überzeugungsbildung dahin ausreichen, die Tatortspur stamme vom Angeklagten (Beschluss vom 21. Januar 2009 -<br />

1 StR 722/08, NJW 2009, 1159). Dem ist umgekehrt jedoch nicht zu entnehmen, ein solcher Schluss sei - was allein<br />

zu einer anderen Beurteilung der Beruhensfrage führen könnte - ab einer bestimmten Wahrscheinlichkeit in jedem<br />

Falle als zwingend anzusehen. Darüber hinaus bleiben dem Senat auch Zweifel, ob die in dieser Entscheidung aufgeführten<br />

Gründe die Aufgabe der überkommenen Rechtsprechung überhaupt rechtfertigen konnten; denn die zwischenzeitlich<br />

erreichte Standardisierung der molekulargenetischen Untersuchungsmethoden hat zwar die Zuverlässigkeit<br />

der Feststellung übereinstimmender Merkmale in Probe <strong>und</strong> Vergleichsprobe erhöht, indes nichts an der das<br />

genannte Urteil vom 12. August 1992 tragenden Erwägung geändert, dass am Ende nur eine Aussage über abstrakte<br />

biostatistische Wahrscheinlichkeiten steht.<br />

4. Für die neue Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin: Zwar ist das in der<br />

forensischen Praxis gebräuchliche PCR-Verfahren, das dazu dient, aus der Probe sowie aus der Vergleichsprobe<br />

jeweils eine bestimmte Anzahl in der Kern-DNA auftretender Systeme (sog. short tandem repeats; STR) eindeutig zu<br />

identifizieren <strong>und</strong> so einen Vergleich zu ermöglichen, inzwischen in seinen Abläufen so weit standardisiert, dass es<br />

im Urteil keiner Darlegungen hierzu bedarf. Dies gilt jedoch nicht für die an die so gewonnenen Daten anknüpfende<br />

Wahrscheinlichkeitsberechnung, denn sie erfordert zunächst die Auswahl einer in Betracht kommenden Vergleichspopulation<br />

<strong>und</strong> beispielsweise Überlegungen zur Anwendbarkeit der sog. Produktregel. Um dem Revisionsgericht<br />

eine Überprüfung der Berechnung auf ihre Plausibilität zu ermöglichen, verlangt der B<strong>und</strong>esgerichtshof deshalb in<br />

ständiger Rechtsprechung die Mitteilung der Berechnungsgr<strong>und</strong>lagen im Urteil (Beschluss vom 12. Oktober 2011 - 2<br />

StR 362/11, NStZ-RR 2012, 53; Beschluss vom 21. Januar 2009 - 1 StR 722/08, NJW 2009, 1159; Beschluss vom 5.<br />

Februar 1992 - 5 StR 677/91, NStZ 1992, 601; Urteil vom 12. August 1992 - 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320). Hierzu<br />

gehören neben Verbreitungswahrscheinlichkeiten auch die eindeutige Kennzeichnung der verglichenen Systeme<br />

(Basenfolgemuster), die Zahl der Wiederholungen in den beiden zugehörigen Allelen sowie eine hinreichend deutliche<br />

Umschreibung der herangezogenen Vergleichspopulation.<br />

StPO § 261 Beweiswürdigung; Auslieferung Spezialität Qualifikation<br />

BGH, Urt. v. 12.01.2012 - 4 StR 499/11 - StraFo 2012, 146<br />

1. Art. 14 Abs. 1 EuAlÜbk verbietet u. a. die Aburteilung <strong>und</strong> die Verfolgung des Ausgelieferten<br />

wegen einer anderen Straftat als derjenigen, für welche die Auslieferung bewilligt worden ist. Von<br />

der „Verfolgung“ einer Tat kann aber nur bei einem Verfahren gesprochen werden, das diese Tat<br />

zum Gegenstand hat <strong>und</strong> mit dem Ziel ihrer Ahndung oder der Verhängung einer wegen ihr gebotenen<br />

Maßnahme durchgeführt wird. Gegenstand eines solchen eigenständigen Verfahrens wird<br />

eine Tat nicht schon dadurch, dass die Beweisaufnahme in dem eine andere Tat betreffenden Prozess<br />

auf sie erstreckt wird, weil sie als Indiz zum Nachweis dieser anderen Tat in Betracht kommt.<br />

2. Zwar darf ein Sachverhalt, der nicht zu der Auslieferungstat im Sinne des § 264 StPO gehört,<br />

nicht bei der Bestimmung der Strafhöhe zum Nachteil des Angeklagten Verwendung finden. Da-<br />

374


nach ist nicht nur die Festsetzung selbständiger Strafen für andere Taten als die Auslieferungstat<br />

ausgeschlossen, sondern auch deren Mitbestrafung auf dem Wege der Erhöhung der für die Auslieferungstat<br />

verwirkten Strafe. Dies schließt jedoch nicht aus, den Strafrahmen eines festgestellten<br />

Qualifikationstatbestandes der Verurteilung wegen der Auslieferungstat auch dann zu Gr<strong>und</strong>e zu<br />

legen, wenn diese Feststellungen mittels Beweiserhebungen zu einer verfahrensfremden Tat getroffen<br />

wurden.<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kaiserslautern vom 17. Mai 2011 mit<br />

den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen wurde.<br />

2. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

3. Die Revision des Angeklagten gegen das vorgenannte Urteil wird als unbegründet verworfen.<br />

4. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

I. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „schweren Raubes in zwei tateinheitlichen Fällen, jeweils im Zusammentreffen<br />

mit gefährlicher Körperverletzung“ zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt <strong>und</strong> ihn vom<br />

Vorwurf, einen weiteren Raubüberfall begangen zu haben, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen den<br />

Freispruch wendet sich die Staatsanwaltschaft, deren Rechtsmittel vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertreten wird, mit<br />

ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision. Dieses Rechtsmittel hat Erfolg. Die Revision des Angeklagten, mit der er<br />

allgemein die Verletzung materiellen Rechts rügt <strong>und</strong> eine Verfahrensrüge erhebt, ist unbegründet. Nach den Feststellungen<br />

des angefochtenen Urteils schloss sich der Angeklagte spätestens im August 2007 mit dem M. K. <strong>und</strong> dem<br />

C. zusammen, um durch Raubüberfälle auf potentiell vermögende Tatopfer in deren Wohnungen an Geld <strong>und</strong> Wertgegenstände<br />

zu gelangen. Der Bande schlossen sich im weiteren Verlauf noch vier Personen an. Der erste Überfall,<br />

an dem der Angeklagte teilnahm, erfolgte am 29. August 2007 in M.. Dieser ist nicht Gegenstand des Verfahrens.<br />

Von dem Vorwurf, am 28. Juli 2009 an dem Überfall auf L. in O. beteiligt gewesen zu sein, wurde der Angeklagte<br />

freigesprochen. Verurteilt wurde er wegen einer Tat in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 2009. Opfer waren<br />

die Ehefrau des M. K., H. K., <strong>und</strong> die im selben Haus wohnende E..<br />

II. Der Senat ist mit Vorsitzendem Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Ernemann, Richterin am B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

Roggenbuck sowie den Richtern am B<strong>und</strong>esgerichtshof Cierniak, Dr. Mutzbauer <strong>und</strong> Bender vorschriftsmäßig besetzt.<br />

Das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Absatz 1 Satz 2 GG) ist gewahrt (vgl. Senatsbeschluss<br />

vom 11. Januar 2012 – 4 StR 523/11).<br />

III. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung<br />

nicht stand.<br />

1. Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag,<br />

so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt<br />

insoweit nur, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall,<br />

wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze<br />

verstößt (vgl. BGH, Urteil vom 6. November 1998 – 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung<br />

16 mwN). Aus den Urteilsgründen muss sich auch ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert<br />

gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 23. Juli<br />

2008 – 2 StR 150/08, NJW 2008, 2792, 2793 mwN). Rechtsfehlerhaft ist die Beweiswürdigung zudem, wenn an die<br />

zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt sind (BGH, Urteil vom 6. November<br />

1998 – 2 StR 636/97, BGHR § 261 Beweiswürdigung 16 mwN; BGH, Urteil vom 26. Juni 2003 – 1 StR 269/02,<br />

NStZ 2004, 35, 36). Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten<br />

von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte<br />

erbracht hat (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2003 – 1 StR 269/02, NStZ 2004, 35, 36; BGH, Urteil vom 17. März<br />

2005 – 4 StR 581/04, NStZ-RR 2005, 209; BGH, Urteil vom 21. Oktober 2008 – 1 StR 292/08, NStZ-RR 2009, 90,<br />

jew. mwN).<br />

2. Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil in mehrfacher Hinsicht nicht.<br />

a) Die Erwägungen des Landgerichts, warum eine aktive Beteiligung des Angeklagten an der Tat vom 28. Juli 2009<br />

trotz seiner eindeutigen Identifizierung als Spurenleger an einem am Tatort aufgef<strong>und</strong>enen 60 cm langen Klebeband<br />

(Spur T06.06) nicht nachweisbar sei, lassen besorgen, dass es überspannte Anforderungen an die zu einer Verurteilung<br />

erforderliche Überzeugungsbildung gestellt hat. Das Landgericht hat nicht ausschließen können, dass die DNA-<br />

Antragung bei einem Anlass erfolgt sei, der in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Geschehen zum Nach-<br />

375


teil des L. stehe. Die DNA-Antragung befand sich an der gerissenen Seite des Klebebandes, während die andere<br />

Kante mittels eines Abrollers durchtrennt war. Aufgr<strong>und</strong> der generellen persönlichen Verflechtung des Angeklagten<br />

mit den Tätern bestehe die nicht nur theoretische Möglichkeit, dass der Angeklagte die Klebebandrolle im anderen<br />

Zusammenhang in der Hand gehabt habe. Selbst wenn sich die gerissene Kante bei Tatbeginn noch im Rolleninneren<br />

bef<strong>und</strong>en hätte, könne die DNA-Antragung seitlich der späteren Abrisskante erfolgt sein. Hierfür spreche, dass die<br />

Täter bei der Tatausführung Gummihandschuhe getragen hätten, also darauf bedacht gewesen seien, keine Spuren zu<br />

hinterlassen. Das Landgericht hat der Spur T06.06 den Beweiswert rechtsfehlerhaft aufgr<strong>und</strong> lediglich theoretischer<br />

Erklärungsansätze abgesprochen. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte vor der Tat zum Nachteil des<br />

L. <strong>und</strong> ohne Zusammenhang mit dieser die dort verwendete Klebebandrolle angefasst hätte, sind nicht festgestellt.<br />

Soweit das Landgericht darauf abstellt, dass die Täter bei der Tatausführung Gummihandschuhe trugen, ist die Beweiswürdigung<br />

lückenhaft, denn sie setzt sich nicht mit dem Umstand auseinander, dass auch am Tatort in M. DNA-<br />

Spuren des nach der Überzeugung des Landgerichts tatbeteiligten Angeklagten gesichert worden sind. Im Übrigen<br />

belegen auch die Spuren an drei weiteren Gegenständen am Tatort (im Folgenden unter b), insbesondere diejenige<br />

am Küchenmesser des Geschädigten, dass es trotz der von den Tätern getragenen Gummihandschuhe zu Spurenantragungen<br />

am Tatort gekommen ist. Auch dies wird vom Landgericht nicht bedacht.<br />

b) Das Landgericht hat bei weiteren Spuren vom Tatort zu Unrecht eine Indizwirkung für eine Anwesenheit des<br />

Angeklagten verneint. Es wurden DNA-Spuren an einem weiteren Stück Klebeband (Spur RL51.03), an einem Küchenmesser<br />

des Geschädigten <strong>und</strong> an einem Kabelbinder gesichert, die jeweils Mischprofile ergaben. An dem Klebeband<br />

RL51.03 waren in allen bewerteten PCR-Systemen Merkmale nachweisbar, die mit denen des Geschädigten<br />

<strong>und</strong> denen des Angeklagten übereinstimmen. Hinsichtlich des Küchenmessers ergaben sich in allen elf überprüften<br />

PCR-Systemen Hinweise auf Übereinstimmungen des überwiegenden Spurenanteils mit dem Vergleichsprofil des<br />

Angeklagten. An dem Kabelbinder waren neben Merkmalen, die mit denen des Geschädigten übereinstimmen, zusätzliche<br />

Allele nachweisbar, die Hinweise auf Übereinstimmungen mit dem Vergleichsprofil des Angeklagten ergaben.<br />

Das Landgericht hat diesen Spuren jeglichen belastenden Beweiswert abgesprochen, weil sie keine Aussage zur<br />

Identitätswahrscheinlichkeit zuließen. Auch wenn von den drei am Tatort gesicherten Mischspuren jede für sich<br />

allein eine Überführung des Angeklagten nicht zuließ, durfte ihnen ein Indizwert in der Zusammenschau mit anderen<br />

Beweisanzeichen, insbesondere mit der Spur T06.06, nicht abgesprochen werden. Das Vorhandensein von Übereinstimmungen<br />

von DNA-Spuren mit dem Vergleichsprofil des Angeklagten an drei (weiteren) Gegenständen am<br />

Tatort, wovon das Küchenmesser nicht von den Tätern mitgebracht worden war, kann für eine Anwesenheit des<br />

Angeklagten sprechen.<br />

c) Schließlich fehlt hinsichtlich des hier angegriffenen Freispruchs auch die gebotene Gesamtabwägung aller für <strong>und</strong><br />

gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechenden Umstände. Das Landgericht beschränkt sich rechtsfehlerhaft<br />

darauf, den Beweiswert der DNA-Spuren einzeln zu erörtern <strong>und</strong> auf ihren Beweiswert zu prüfen. Es setzt sich hingegen<br />

nicht damit auseinander, ob die Belastungsindizien, die für sich genommen jeweils zum Beweis der Täterschaft<br />

nicht ausreichen, in ihrer Gesamtheit insbesondere auch zusammen mit denjenigen Indizien, die das Landgericht<br />

für die Zuordnung der Tat zu der Bande um M. K. angeführt hat (UA S. 30 f, 33), die für eine Verurteilung<br />

notwendige Überzeugung hätten begründen können. Es ist nicht auszuschließen, dass der Freispruch auf den aufgezeigten<br />

Rechtsfehlern beruht. Die Sache muss daher neu verhandelt <strong>und</strong> entschieden werden.<br />

IV. Die Revision des Angeklagten zeigt keinen ihn belastenden Rechtsfehler auf.<br />

1. Der Angeklagte ist für die Verfolgung der verfahrensgegenständlichen Taten, die auch dem Europäischen Auslieferungshaftbefehl<br />

zugr<strong>und</strong>e lagen, von der Russischen Föderation ausgeliefert worden. Die Revision beanstandet mit<br />

einer Verfahrensrüge, dass das Landgericht Beweiserhebungen zu dem Raubüberfall am 29. August 2007 durchgeführt<br />

hat, der nicht Gegenstand des Europäischen Haftbefehls <strong>und</strong> der Auslieferungsbewilligung war. Als Ergebnis<br />

dieser Beweiserhebungen sei das Landgericht zu der Feststellung gelangt, dass der Angeklagte den Überfall vom<br />

30./31. Dezember 2009 als Bandenmitglied ausgeführt <strong>und</strong> so die Qualifikation des § 250 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> verwirklicht<br />

habe, was sich strafschärfend ausgewirkt habe.<br />

Ob der Verurteilung des Angeklagten mit Rücksicht auf seine Auslieferung gesetzliche oder vertragliche Bestimmungen<br />

entgegenstehen, ist auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfen. Die Nachprüfung ergibt, dass<br />

die Verurteilung nicht gegen den Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität verstößt.<br />

a) Die Auslieferungsbewilligung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 27. August 2010<br />

erfasst ausdrücklich die Verfolgung des Angeklagten wegen Raubes nach § 250 <strong>StGB</strong>. Sie enthält keine Einschränkung<br />

hinsichtlich bestimmter Tatmodalitäten. Darüber hinaus schließt Art. 14 Abs. 3 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens<br />

vom 13. Dezember 1957 (EuAlÜbk) eine Verurteilung unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt<br />

nicht aus, sofern ihr derselbe Sachverhalt zugr<strong>und</strong>e liegt <strong>und</strong> die Tatbestandsmerkmale der rechtlich neu<br />

376


gewürdigten strafbaren Handlung die Auslieferung gestatten würden (BGH, Urteil vom 6. März 1985 – 2 StR<br />

782/84, NStZ 1985, 318; Urteil vom 28. Mai 1986 – 3 StR 177/86, StV 1987, 6). Dies gilt auch im Verhältnis von<br />

Gr<strong>und</strong>tatbestand <strong>und</strong> qualifizierenden bzw. privilegierenden Tatbeständen (vgl. BGH, Urteile vom 6. März 1985 – 2<br />

StR 782/84, NStZ 1985, 318 <strong>und</strong> vom 11. Januar 2000 – 1 StR 505/99, NStZ-RR 2000, 333; vgl. auch Vogel/Burchard<br />

in Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl. § 11 IRG Rn. 43).<br />

Die Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 EuAlÜbk sind im konkreten Fall erfüllt. Der Verurteilung liegt derselbe<br />

Sachverhalt zu Gr<strong>und</strong>e. Der im Europäischen Auslieferungshaftbefehl nicht explizit angeführte Bandenraub ist eine<br />

auslieferungsfähige Straftat. Das Strafgesetzbuch der Russischen Föderation kennt den Tatbestand des Raubes begangen<br />

„von einer organisierten Gruppe“, der mit Freiheitsentzug von acht bis fünfzehn Jahren geahndet wird (Art.<br />

162 Nr. 4a, siehe Schroeder, Strafgesetzbuch der Russischen Föderation nach dem Stand vom 1.1.2007).<br />

b) Das Landgericht war auch nicht gehindert, Feststellungen zur Zugehörigkeit des Angeklagten zu der Bande um M.<br />

K. zu treffen, <strong>und</strong> zu diesem Zweck Beweiserhebungen über frühere Überfälle durchzuführen. Der Spezialitätsgr<strong>und</strong>satz<br />

schließt nicht aus, Umstände, die eine Straftat darstellen, auf die sich die Auslieferung nicht erstreckt, bei<br />

der Überzeugungsbildung hinsichtlich der Täterschaft der Auslieferungstat als Indiz zu berücksichtigen (BGH, Urteil<br />

vom 15. April 1987 – 2 StR 697/86, BGHSt 34, 352 = NStZ 1987, 417; Urteil vom 20. Dezember 1968 – 1 StR<br />

508/67, BGHSt 22, 307, 310 f.; aA Gillmeister NStZ 2000, 344, 345). Art. 14 Abs. 1 EuAlÜbk verbietet u. a. die<br />

Aburteilung <strong>und</strong> die Verfolgung des Ausgelieferten wegen einer anderen Straftat als derjenigen, für welche die Auslieferung<br />

bewilligt worden ist. Von der „Verfolgung“ einer Tat kann aber nur bei einem Verfahren gesprochen werden,<br />

das diese Tat zum Gegenstand hat <strong>und</strong> mit dem Ziel ihrer Ahndung oder der Verhängung einer wegen ihr gebotenen<br />

Maßnahme durchgeführt wird. Gegenstand eines solchen eigenständigen Verfahrens wird eine Tat nicht schon<br />

dadurch, dass die Beweisaufnahme in dem eine andere Tat betreffenden Prozess auf sie erstreckt wird, weil sie als<br />

Indiz zum Nachweis dieser anderen Tat in Betracht kommt.<br />

c) Aufgr<strong>und</strong> der festgestellten Bandenmitgliedschaft hat das Landgericht hinsichtlich der Tat vom 30./31. Dezember<br />

2009 den Tatbestand des § 250 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StGB</strong> neben dem des § 250 Abs. 1 Nr. 1b <strong>StGB</strong> als erfüllt angesehen<br />

<strong>und</strong> dies dem Angeklagten bei der Strafzumessung angelastet. Auch dies begegnet keinen rechtlichen Bedenken.<br />

Zwar darf ein Sachverhalt, der nicht zu der Auslieferungstat im Sinne des § 264 StPO gehört, nicht bei der Bestimmung<br />

der Strafhöhe zum Nachteil des Angeklagten Verwendung finden (BGH, Urteil vom 15. April 1987 – 2 StR<br />

697/86 aaO; Urteil vom 19. Februar 1969 – 2 StR 612/68, BGHSt 22, 318). Danach ist nicht nur die Festsetzung<br />

selbständiger Strafen für andere Taten als die Auslieferungstat ausgeschlossen, sondern auch deren Mitbestrafung<br />

auf dem Wege der Erhöhung der für die Auslieferungstat verwirkten Strafe. Dies schließt jedoch nicht aus, den Strafrahmen<br />

eines festgestellten Qualifikationstatbestandes der Verurteilung wegen der Auslieferungstat auch dann zu<br />

Gr<strong>und</strong>e zu legen, wenn diese Feststellungen mittels Beweiserhebungen zu einer verfahrensfremden Tat getroffen<br />

wurden. Ob dies auch für die Verwirklichung von Regelbeispielen gelten würde, kann der Senat hier offen lassen.<br />

Das Vorliegen eines qualifizierenden Merkmals ist jedenfalls <strong>Teil</strong> des Tatbestandes der Auslieferungstat selbst. Die<br />

dem Qualifikationsstrafrahmen entnommene Strafe ahndet allein die Auslieferungstat, sie kennzeichnet deren Gefährlichkeit.<br />

Eine „Mitbestrafung“ der anderen Tat ist damit nicht verb<strong>und</strong>en. Dies gilt auch dann, wenn – wie hier –<br />

die Erfüllung mehrerer Qualifikationsmerkmale zusätzlich strafschärfend gewertet wird. Die Strafschärfung berücksichtigt<br />

allein die bei der Auslieferungstat erfüllten qualifizierenden Merkmale <strong>und</strong> damit deren erhöhte Gefährlichkeit,<br />

nicht die Begehung einer anderen Tat. Nur der nicht zum Tatbestand der Auslieferungstat gehörige Sachverhalt<br />

als solcher darf innerhalb des Strafrahmens nicht strafschärfend gewertet werden. Dies hat das Landgericht auch<br />

nicht getan; die <strong>Teil</strong>nahme an dem Überfall in M. hat es bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt.<br />

2. Die weitere Überprüfung des Urteils aufgr<strong>und</strong> der Sachrüge hat keinen den Angeklagten belastenden Rechtsfehler<br />

ergeben. Das Landgericht hat zwar übersehen, dass Pfefferspray ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 250 Abs.<br />

2 Nr. 1 <strong>StGB</strong> sein kann (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Oktober 2008 – 5 StR 445/08, BGHSt 52, 376, 377). Dadurch,<br />

dass es nicht geprüft hat, ob das Einnebeln des Schlafzimmers von H. K. mit Pfefferspray geeignet war, erhebliche<br />

Körperverletzungen zuzufügen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2010 – 3 StR 338/10 Rn. 7), ist der Angeklagte<br />

aber nicht beschwert. Dies gilt auch für die Annahme der Strafkammer, dass die tateinheitliche fahrlässige<br />

Körperverletzung hinter der vorsätzlichen Körperverletzung zurück tritt (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juni 1997 – 2<br />

StR 231/97, NStZ 1997, 493).<br />

377


StPO § 261 Wahllichtbildvorlage<br />

BGH, Beschl. v. 09.11.2011 - 1 StR 524/11 - NJW 2012, 791= NStZ 2012, 172, Anm. Eisenberg JR 2012, 168<br />

LS: Bei einer Wahllichtbildvorlage sollten einem Zeugen Lichtbilder von wenigstens acht Personen<br />

vorgelegt werden. Dabei ist es vorzugswürdig, ihm diese nicht gleichzeitig sondern nacheinander<br />

(sequentiell) vorzulegen oder (bei Einsatz von Videotechnik) vorzuspielen. Wird die Wahllichtbildvorlage<br />

vor der Vorlage bzw. dem Vorspielen von acht Lichtbildern abgebrochen, weil der Zeuge<br />

erklärt hat, eine Person wiedererkannt zu haben, macht dies das Ergebnis der Wahllichtbildvorlage<br />

zwar nicht wertlos, kann aber ihren Beweiswert mindern.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Heilbronn vom 30. Mai 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil<br />

des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die<br />

dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Der Angeklagte wurde wegen versuchten Totschlags <strong>und</strong> weiterer Gewaltdelikte sowie wegen mehrerer Unterschlagungen<br />

unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung (ebenfalls wegen vorsätzlicher Körperverletzung) zu einer<br />

Jugendstrafe verurteilt. Seine Revision bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO). Die (gefährliche) Körperverletzung zum<br />

Nachteil des ihm bis dahin nicht bekannten Mi. R. hat der Angeklagte bestritten. Dieser <strong>und</strong> weitere Zeugen der Tat<br />

hatten den Angeklagten bei einer im Ermittlungsverfahren durchgeführten Wahllichtbildvorlage nicht oder nicht<br />

sicher wiedererkannt. Ähnlich war das Ergebnis der Hauptverhandlung, auch soweit dort weitere Tatzeugen vernommen<br />

wurden, mit denen im Ermittlungsverfahren keine Wahllichtbildvorlage durchgeführt worden war. Soweit<br />

Mi. R. den Angeklagten in der Hauptverhandlung erkannte, hat die Jugendkammer zutreffend erwogen, dass er möglicherweise<br />

das ihm früher gezeigte Lichtbild wiedererkannt haben könnte. Die Jugendkammer stützt ihre Überzeugung<br />

von der Täterschaft des Angeklagten entscheidend auf die Aussage des ebenfalls bei der Tat anwesenden M.<br />

R.. Dieser hatte den Angeklagten vor allem deshalb wiedererkannt, weil er einige Monate zuvor selbst einen Streit<br />

<strong>und</strong> eine tätliche Auseinandersetzung mit dem Angeklagten gehabt hatte. Außerdem hat er, wie die Vernehmung des<br />

damit befassten Polizeibeamten bestätigte, den Angeklagten bei einer Wahllichtbildvorlage wiedererkannt. Der Angeklagte<br />

war auf dem fünften dem Zeugen vorgelegten Lichtbild abgebildet gewesen. Nachdem der Zeuge erklärt<br />

hatte, er erkenne den Angeklagten auf diesem Bild als denjenigen wieder, der Mi. R. mit dem Messer verletzt hatte,<br />

wurde die Wahllichtbildvorlage beendet, obwohl die Vorlage von neun Lichtbildern vorbereitet gewesen war. Die<br />

Jugendkammer führt näher aus, dass trotz des Abbruchs der Wahllichtbildvorlage deren Ergebnis, etwa wegen der<br />

Angabe M. R. s, den Angeklagten von der früheren Auseinandersetzung her zu kennen, <strong>und</strong> aus sonstigen, von der<br />

Jugendkammer dargelegten Gründen, „nicht wertlos“ gewesen sei. Die Revision knüpft an den Abbruch der Wahllichtbildvorlage<br />

an <strong>und</strong> meint, dass unter den gegebenen Umständen „der Beweiswert [der Wahllichtbildvorlage] …<br />

gegen Null (strebt)“. Der Senat sieht keinen Rechtsfehler. Allerdings sollen, dies ist ein Ergebnis kriminalistischer<br />

Erfahrung, einem Zeugen bei einer Gegenüberstellung „eine Reihe“ von Vergleichspersonen gegenübergestellt werden<br />

(vgl. Nr. 18 RiStBV), wobei eine Zahl von mindestens acht Vergleichspersonen empfehlenswert ist. Die gleiche<br />

Anzahl von Lichtbildern ist bei Wahllichtbildvorlagen sachgerecht (vgl. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung<br />

vor Gericht, 3. Aufl., Rn. 1257, 1251 mwN). Dabei ist es vorzugswürdig, wenn dem Zeugen die Lichtbilder nicht<br />

gleichzeitig sondern nacheinander (sequentiell) vorgelegt werden (BGH, Beschluss vom 9. März 2000 - 4 StR<br />

513/99, StV 2000, 603; vgl. auch BGH, Urteil vom 14. April 2011 - 4 StR 501/10; generell zur sequentiellen Vorlage<br />

Odenthal NStZ 2001, 580 ff. mwN). Der nicht näher ausgeführte Hinweis des Generalb<strong>und</strong>esanwalts, der Abbruch<br />

einer Wahllichtbildvorlage, sobald eine Person erkannt sei, beruhe (nicht nur) auf „polizeilichen Richtlinien“ (vgl.<br />

insoweit auch Odenthal aaO S. 582), sondern sei auch „in entsprechender Software implementiert“, spricht dafür,<br />

dass hier - die Urteilsgründe äußern sich hierzu nicht ausdrücklich - die Wahllichtbildvorlage nicht in Papierform<br />

sondern (rechtlich unbedenklich) mit Videotechnik durchgeführt wurde. Unabhängig davon ist der Senat der Auffassung,<br />

dass einem Zeugen auf jeden Fall im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage (mindestens) acht Personen gezeigt<br />

bzw. vorgespielt werden sollten, auch wenn er schon zuvor angibt, eine Person erkannt zu haben. Denn er kann bei<br />

einer größeren Vergleichszahl etwaige Unsicherheiten in seiner Beurteilung besser erkennen <strong>und</strong> dementsprechend<br />

offen legen, sodass im Ergebnis eine Wiedererkennung unter (mindestens) acht Vergleichspersonen einen höheren -<br />

in Grenzfällen möglicherweise entscheidenden - Beweiswert gewinnen kann (vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO,<br />

7. Aufl., Rn. 1405, Odenthal aaO, jew. mwN). Daraus folgt jedoch nicht, dass es, wie die Revision im Ergebnis<br />

378


meint, aus Rechtsgründen schlechterdings ausgeschlossen wäre, das Ergebnis einer Wiedererkennung im Rahmen<br />

einer (deshalb) nach Vorlage von fünf Bildern abgebrochenen Wahllichtbildvorlage in die Gesamtwürdigung des<br />

Ergebnisses der Beweisaufnahme einzubeziehen. Möglicher Schwächen dieser Art der Beweisgewinnung war sich<br />

die Jugendkammer bewusst, wie ihre sehr weitgehende Einschränkung, dass das Ergebnis der Wahllichtbildvorlage<br />

„nicht wertlos“ war, zeigt. In diesem Umfang konnte sie es in die eingehend <strong>und</strong> sehr sorgfältig von ihr vorgenommene<br />

Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses einstellen. Die Grenzen möglicher tatrichterlicher Beweiswürdigung<br />

hat sie weder dabei noch sonst überschritten. Auch im Übrigen hat die auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung gebotene<br />

Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler ergeben, wie dies auch der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Stellungnahme<br />

vom 17. Oktober 2011 zutreffend im Einzelnen dargelegt hat.<br />

StPO § 261, § 244 Beweiswürdigung zu aussageepsych. Gutachten bei Aussage gegen Aussage<br />

BGH, Beschl. v. 22.05.2012 - 5 StR 15/12 - BeckRS 2012, 13116<br />

Referiert das Urteil lediglich die Einschätzung der von der Staatsanwaltschaft bereits im Ermittlungsverfahren<br />

beauftragten <strong>und</strong> in der Hauptverhandlung angehörten aussagepsychologischen<br />

Sachverständigen, dass sie hinsichtlich der Bek<strong>und</strong>ungen der Nebenklägerin zu dieser Tat die Feststellung<br />

einer Erlebnisf<strong>und</strong>ierung nicht treffen könne, da die Aussage insoweit nicht detailliert genug<br />

sei, so muss das Gericht, wenn es dessen ungeachtet der Aussage der Nebenklägerin auch hinsichtlich<br />

dieses Tatvorwurfs folgt, die Einwände der Sachverständigen deutlich machen <strong>und</strong> sich<br />

mit ihnen auseinandersetzen.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Land-gerichts Bremen vom 20. Juni 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben (§ 349 Abs. 4 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten<br />

des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten – unter Freispruch im Übrigen – wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in<br />

drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von drei Jahren verurteilt <strong>und</strong> angeordnet, dass sechs Monate der verhängten Freiheitsstrafe wegen erheblicher<br />

rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als bereits vollstreckt gelten. Die Revision des Angeklagten hat mit der<br />

Sachrüge Erfolg.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte die Nebenklägerin, seine leibliche Tochter, zwischen<br />

ihrem achten Geburtstag im Februar 1997 <strong>und</strong> seinem Auszug aus der Familienwohnung Ende Dezember 1999<br />

in einer Reihe von Fällen sexuell missbraucht, von denen drei Taten näher konkretisiert werden konnten (Tat 1: Berührung<br />

des unbedeckten Geschlechtsteils des Kindes mit einem Vibrator; Tat 2: orale Stimulation des Kindes; Tat 3:<br />

gegenseitiger Oralverkehr). Von den Vorwürfen weiterer sexueller Missbräuche hat das Landgericht den Angeklagten<br />

mangels Individualisierbarkeit weiterer Vorfälle oder mangels feststellbarer Erheblichkeit der sexuellen Handlungen<br />

(§ 184g Nr. 1 <strong>StGB</strong>) freigesprochen. Die Nebenklägerin erstattete im Jahre 2006 Anzeige gegen den Angeklagten.<br />

Im März 2008 beauftragte die Staatsanwaltschaft eine psychologische Sachverständige mit der Erstattung<br />

eines aussagepsychologischen Gutachtens, nach dessen Eingang im November 2008 Anklage erhoben wurde. Im<br />

Januar 2011 erließ das Landgericht einen Eröffnungsbeschluss. Im Hinblick auf die nicht hinreichende Förderung<br />

des Verfahrens im Ermittlungs- <strong>und</strong> im Zwischenverfahren hat die Strafkammer – insoweit rechtsfehlerfrei <strong>und</strong> mit<br />

für sich nicht beanstandenswerten rechtlichen Folgerungen – eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von<br />

insgesamt dreieinhalb Jahren festgestellt.<br />

2. Die durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Im Fall 3 referiert<br />

das Landgericht lediglich die Einschätzung der von der Staatsanwaltschaft bereits im Ermittlungsverfahren<br />

beauftragten <strong>und</strong> in der Hauptverhandlung angehörten aussagepsychologischen Sachverständigen, dass sie hinsichtlich<br />

der Bek<strong>und</strong>ungen der Nebenklägerin zu dieser Tat die Feststellung einer Erlebnisf<strong>und</strong>ierung nicht treffen könne,<br />

da die Aussage insoweit nicht detailliert genug sei. Wenn die Strafkammer dessen ungeachtet der Aussage der Nebenklägerin<br />

auch hinsichtlich dieses Tatvorwurfs folgt, muss sie die Einwände der Sachverständigen deutlich machen<br />

<strong>und</strong> sich mit ihnen auseinandersetzen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Strafkammer ihrer Beweiswürdigung<br />

das von ihr für nachvollziehbar, widerspruchsfrei <strong>und</strong> aktuellen wissenschaftlichen Anforderungen<br />

genügend gehaltene Sachverständigengutachten nicht zugr<strong>und</strong>e gelegt hat, nachdem sie zuvor einen Antrag der Ver-<br />

379


teidigung auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens unter Hinweis auf eigene Sachk<strong>und</strong>e (§ 244<br />

Abs. 4 Satz 1 StPO) abgelehnt hatte. Angesichts der vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation hätte das<br />

Landgericht im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung alle möglicherweise entscheidungsbeeinflussenden<br />

Umstände, so auch den genannten, in seine Überlegung einbeziehen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 – 1<br />

StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f., Beschlüsse vom 16. Juli 2009 – 5 StR 84/09 – <strong>und</strong> vom 27. April 2010 – 5 StR<br />

127/10, jeweils mwN). Der Rechtsfehler kann Auswirkungen auf die Beurteilung der Erlebnisbegründetheit der auch<br />

im Übrigen knappen Bek<strong>und</strong>ungen der Nebenklägerin haben. Der Senat hebt deshalb das Urteil insgesamt auf, um<br />

dem neuen Tatgericht eine umfassende Beweiswürdigung zu ermöglichen.<br />

3. Auf die von der Revision erhobene Verfahrensrüge kommt es mithin nicht mehr an. Sie gibt dem Senat allerdings<br />

Anlass zu dem Hinweis, dass die gerügte Behandlung des auf die substantiierte Darlegung methodischer Mängel des<br />

Glaubhaftigkeitsgutachtens gestützten Antrags der Verteidigung auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens<br />

bedenklich war. Nachdem die von der Staatsanwaltschaft hier durchaus sachgerecht beauftragte Gutachterin<br />

in der Hauptverhandlung als Sachverständige <strong>und</strong> nicht lediglich als Zeugin gehört worden war <strong>und</strong> das Landgericht<br />

deren Ausführungen ausweislich der Urteilsgründe für überzeugend erachtet hat, war nicht auszuschließen, dass sich<br />

diese auf die Beweiswürdigung des Landgerichts auswirken würden. Dies begründete wiederum die Gefahr, dass<br />

etwaige methodische Mängel des Gutachtens die Beweiswürdigung der Strafkammer beeinflussen könnten. Deswegen<br />

war es für sie angezeigt, sich in ihrem auf § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO gestützten Ablehnungsbeschluss mit den<br />

von der Verteidigung behaupteten Mängeln des Gutachtens auseinanderzusetzen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 27.<br />

Januar 2010 – 2 StR 535/09, BGHSt 55, 5).<br />

4. Der Senat weist darauf hin, dass – entsprechend der Stellungnahme des Generalb<strong>und</strong>esanwalts – eine Verurteilung<br />

wegen jeweils tateinheitlich begangenen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen nicht mehr erfolgen kann,<br />

weil insoweit Verjährung eingetreten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2004 – 4 StR 165/04, BGHR <strong>StGB</strong> §<br />

78b Abs. 1 Ruhen 12). Die Vorschrift des § 174 <strong>StGB</strong> wurde erst mit Wirkung zum 1. April 2004 in den Katalog des<br />

§ 78b Abs. 1 Nr. 1 <strong>StGB</strong> aufgenommen. Die Regelung gilt rück-wirkend nur für vor dem 1. April 2004 begangene<br />

Taten, die bis dahin nicht verjährt waren. Indes waren die zwischen dem 27. Februar 1997 <strong>und</strong> möglicherweise nur<br />

bis März 1999 begangenen Taten in diesem Zeitpunkt, der vor der Anzeigeerstattung lag, bereits verjährt.<br />

5. Da die Revision des Angeklagten zu einer Aufhebung <strong>und</strong> Zurück-verweisung der Sache nach § 354 Abs. 2 Satz 1<br />

StPO führt, wird seine Kostenbeschwerde gegenstandslos (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 464 Rn. 20).<br />

StPO § 264 Kognitionspflicht, Aufhebungsumfang<br />

BGH, Urt. v. 07.02.2012 - 1 StR 542/11 - BeckRS 2012, 07035<br />

Aufhebung eines Freispruchs vom Vorwurf des versuchten Totschlags wegen mangelnder Prüfung<br />

eines nicht angeklagten BtM-Delikts, das <strong>Teil</strong> der angeklagten Tat im Sinne von § 264 StPO sei,<br />

nach erstmaligem Hinweis auf diesen Gesichtspunkt durch die B<strong>und</strong>esanwaltschaft.<br />

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 7. Juni 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,<br />

an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

I. Dem Angeklagten war in der unverändert zugelassenen Anklage - allein - versuchter Totschlag in Tateinheit mit<br />

gefährlicher Körperverletzung zur Last gelegt worden. Lediglich ergänzend wurde im Anklagesatz angemerkt, die<br />

Tat stehe „im Zusammenhang mit einem Streit um ein Drogengeschäft“, das dann im wesentlichen Ergebnis der<br />

Ermittlungen näher dargestellt wurde. Das Landgericht hat den Angeklagten - von dem genannten Tatvorwurf - freigesprochen.<br />

Sein Stich in den Unterbauch des Geschädigten sei durch Notwehr gerechtfertigt gewesen (§ 32 <strong>StGB</strong>).<br />

Die Staatsanwaltschaft beanstandet den Freispruch mit der Sachrüge. Zum einen beruhten die Feststellungen zur<br />

Notwehrlage auf einer fehlerhaften Beweiswürdigung. Zum anderen verweist die Revision (erstmals der Generalstaatsanwalt<br />

in Karlsruhe in seiner ergänzenden Äußerung zur Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft) auf eine<br />

Verletzung des § 264 StPO. Die Jugendkammer habe ihrer Kognitionspflicht nicht genügt. Das im Anklagesatz angesprochene<br />

Drogengeschäft - ein gescheiterter Versuch des Angeklagten, Marihuana zu erwerben - stehe, auch<br />

wenn es sich nicht als Handeltreiben im Sinne der Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes darstelle, in so engem<br />

zeitlichen, räumlichen, sachlichen <strong>und</strong> persönlichem Zusammenhang mit den Vorgängen, die Gr<strong>und</strong>lage des<br />

380


Vorwurfs der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Tötung sind, dass das Betäubungsmittelgeschäft<br />

<strong>Teil</strong> der angeklagten Tat im Sinne von § 264 StPO sei. Das Landgericht hätte, nach entsprechendem Hinweis<br />

gemäß § 265 StPO, das Tatgeschehen auch im Hinblick auf einen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz prüfen<br />

<strong>und</strong> gegebenenfalls den Angeklagten dementsprechend verurteilen müssen. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat<br />

Erfolg. Das Landgericht hat seiner Kognitionspflicht nicht genügt.<br />

II. Das Landgericht hat festgestellt: Der in Mainz wohnhafte Angeklagte hatte im Herbst 2010 im Alter von 16 Jahren<br />

mit dem Konsum von Marihuana begonnen. Er rauchte regelmäßig am Wochenende Joints.<br />

Im Dezember 2010 besuchte der Angeklagte einige Tage seinen Vetter in Karlsruhe. Am 19. Dezember 2010 entschlossen<br />

sich der Angeklagte, sein Vetter <strong>und</strong> dessen Fre<strong>und</strong> dazu, gemeinschaftlich 200 Gramm Marihuana für<br />

1.200,-- € zu kaufen. Jeder sollte ein Drittel dieser Menge erhalten <strong>und</strong> dementsprechend jeweils mit 400,-- € zur<br />

Bezahlung des Kaufpreises beitragen. Der Angeklagte wollte sich damit einen größeren Vorrat zum Eigenverbrauch<br />

zulegen, damit er das Rauschgift nicht in kleineren, teureren Mengen auf seinem heimischen Drogenmarkt beschaffen<br />

musste. Der Vetter kannte eine - wie er meinte - geeignete Quelle. Dies war W. , das spätere Tatopfer. W. erklärte<br />

sich mit dem Handel einverstanden.<br />

Tatsächlich konnte <strong>und</strong> wollte W. kein Rauschgift liefern. Seine Absicht war, sich mittels eines Täuschungsmanövers<br />

der 1.200,-- € Kaufgeld ohne Gegenleistung zu bemächtigen.<br />

Am Abend des 19. Dezember 2010 trafen sich die drei Käufer gegen 17.30 Uhr in Karlsruhe-Daxlanden mit dem<br />

vermeintlichen Lieferanten, der zur Verstärkung noch eine weitere Person mitgebracht hatte. W. forderte „Vorkasse“.<br />

Sein Dealer sitze in der Nähe in einem Auto. Das bestellte Rauschgift gebe dieser aber nur gegen gleichzeitige<br />

Bezahlung heraus. Er - W. - dürfe sich nur alleine mit ihm treffen. Nach 15 Minuten werde er mit dem bestellten<br />

Betäubungsmittel zurückkommen.<br />

Der Angeklagte <strong>und</strong> seine beiden Begleiter lehnten zunächst ab, vorab zu bezahlen. W. bot daraufhin sein Handy -<br />

Neuwert ca. 270,-- € - als Pfand an. Als der Vetter des Angeklagten dann noch versicherte, man könne W. vertrauen,<br />

übergaben die drei Käufer diesem schließlich den Kaufbetrag, jeder 400,-- €. Das Mobiltelefon nahm der Angeklagte<br />

in Verwahrung. W. hatte von vorneherein vor, sich dieses später wieder zurückzuholen, notfalls mit Gewalt. W. <strong>und</strong><br />

sein Begleiter entfernten sich <strong>und</strong> kehrten - nach drei telefonischen Nachfragen, wo sie denn blieben - verspätet gegen<br />

18.35 Uhr zurück. W. forderte vom Angeklagten in aggressivem Ton, ihm sein Telefon auszuhändigen. Er sei<br />

von seinem Dealer „abgezogen“ worden. Er könne deshalb weder das bestellte Rauschgift liefern noch das übergebene<br />

Geld zurückzahlen. Er benötige sein Telefon, um den, der ihn „abgerippt“ habe, anzurufen. Der Angeklagte<br />

verweigerte die Herausgabe. W. verlieh nun seiner Forderung Nachdruck. Von gleicher Statur <strong>und</strong> Größe wie der<br />

Angeklagte stellte er sich unmittelbar vor diesen hin <strong>und</strong> stieß ihn mit beiden Händen gegen den Brustkorb. Der<br />

Angeklagte musste zurückweichen. W. erhob die Hände zu einem weiteren Stoß. Der Angeklagte schlug sie nach<br />

unten <strong>und</strong> wich noch einige Schritte zurück. W. fasste nach einem Schlagring in seiner Jackentasche, schob ihn über<br />

seine rechte Hand, ballte diese, zog sie auf Höhe seiner Hüfte zurück <strong>und</strong> holte aus, um dem etwa 50 Zentimeter<br />

entfernten Angeklagten mit dem Schlagring ins Gesicht zu schlagen. Der Angeklagte befürchtete, dadurch schwer<br />

verletzt zu werden. Um sich gegen den unmittelbar bevorstehenden Angriff zu wehren <strong>und</strong> diesen zu beenden, holte<br />

der Angeklagte mit schnellem Griff ein Messer aus der Hosentasche, klappte es auf <strong>und</strong> stach W. mit erheblicher<br />

Wucht auf der linken Seite unterhalb des Nabels in den Bauch. Durch den Einstich quollen einige Dünndarmschlingen<br />

aus der Bauchdecke. Mehrere lebenswichtige Blutgefäße wurden verletzt. Dies führte zu hohem Blutverlust. Nur<br />

glücklichen Umständen war es zu verdanken, dass W. nicht auf der Stelle verblutete. Er sackte zu Boden <strong>und</strong> erbrach<br />

sich. Sein Begleiter nahm die in den Schuhen des Schwerverletzten versteckten 1.200,-- € an sich <strong>und</strong> setzte einen<br />

Notruf ab. Ohne die zeitnah im St. Vincentius-Klinikum durchgeführte Notoperation hätte W. nicht überlebt. Der<br />

Angeklagte sah, wie W. zusammenbrach. Er rannte sofort weg zur nächsten Bushaltestelle, fuhr zum Hauptbahnhof<br />

<strong>und</strong> weiter mit dem Zug zurück nach Mainz.<br />

III. Das freisprechende Urteil des Landgerichts hat keinen Bestand.<br />

1. Es kann dahinstehen, ob das Landgericht eine Notwehrsituation rechtsfehlerfrei festgestellt hat.<br />

2. Denn das Urteil verfällt schon deshalb der Aufhebung, da das Landgericht das Tatgeschehen, die angeklagte Tat<br />

im Sinne von § 264 StPO, nicht unter allen tatsächlichen <strong>und</strong> strafrechtlichen Gesichtspunkten gewürdigt hat; es hat<br />

seiner Kognitionspflicht nicht genügt. Dies ist auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts hin zu berücksichtigen.<br />

Ob es einer Verfahrensrüge bedurft hätte, wenn der nicht beachtete <strong>Teil</strong> gemäß § 154a StPO ausgeschieden<br />

gewesen wäre, kann dahinstehen (Sachrüge genügt: BGH, Urteil vom 18. Juli 1995 - 1 StR 320/95; Verfahrensrüge<br />

erforderlich: BGH, Urteil vom 14. Dezember 1995 - 4 StR 370/95 -, BGHR StPO § 154a III Wiedereinbeziehung 3).<br />

Denn eine <strong>Teil</strong>einstellung ist hier nicht erfolgt, auch nicht - in Verkennung der Rechtslage - gemäß § 154 StPO (die<br />

dann als Beschränkung gemäß § 154a StPO anzusehen wäre).<br />

381


Die bisherigen Feststellungen begründen den hinreichenden Verdacht, dass sich der Angeklagte eines versuchten (§<br />

22 <strong>StGB</strong>) Vergehens des Erwerbs von Betäubungsmitteln gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG oder gar eines versuchten<br />

Verbrechens gemäß § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG (Sich-Verschaffen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge<br />

unter Mitführung eines Gegenstandes, der seiner Art nach zur Verletzung von Menschen geeignet <strong>und</strong> bestimmt ist)<br />

schuldig gemacht hat. Die Vorgänge im Zusammenhang mit dem Versuch des Erwerbs von Betäubungsmitteln <strong>und</strong><br />

der Messerstich zur Abwehr des Angriffs mit dem Schlagring bilden einen einheitlichen Lebenssachverhalt. Die Tat<br />

als Gegenstand der Urteilsfindung (§ 264 Abs. 1 StPO) ist der geschichtliche Vorgang, auf den Anklage <strong>und</strong> Eröffnungsbeschluss<br />

hinweisen <strong>und</strong> innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Hierbei<br />

handelt es sich um einen eigenständigen Begriff; er ist weiter als derjenige der Handlung im Sinne des sachlichen<br />

Rechts. Zur Tat im prozessualen Sinn gehört - unabhängig davon, ob Tateinheit (§ 52 <strong>StGB</strong>) oder Tatmehrheit (§ 53<br />

<strong>StGB</strong>) vorliegt - das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen<br />

Vorgang darstellt. Somit umfasst der Lebensvorgang, aus dem die zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf<br />

herleitet, alle damit zusammenhängenden <strong>und</strong> darauf bezüglichen Vorkommnisse, selbst wenn diese Umstände<br />

in der Anklageschrift nicht ausdrücklich erwähnt sind. Bei der Beurteilung des Tatumfangs kommt es auf die Umstände<br />

des Einzelfalles an. Entscheidend ist, ob zwischen den in Betracht kommenden Verhaltensweisen - unter<br />

Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung - ein enger sachlicher Zusammenhang besteht; selbst zeitliches<br />

Zusammentreffen der einzelnen Handlungen ist weder erforderlich noch ausreichend (vgl. zu allem BGH, Urteil vom<br />

17. März 1992 - 1 StR 5/92 -, BGHR StPO § 264 I Tatidentität 21; BGH, Urteil vom 23. September 1999 - 4 StR<br />

700/98 -, BGHSt 45, 211, 212 f. = BGHR StPO § 264 I Tatidentität 30; BGH, Urteil vom 14. März 2001 - 3 StR<br />

446/00 -, BGHR StPO § 264 I Tatidentität 32; BGH, Urteil vom 9. August 2011 - 1 StR 194/11 - Rn. 16 f.; BGH,<br />

Urteil vom 24. Januar 2012 - 1 StR 412/11 -, Rn. 13; BVerfG, Beschluss vom 28. August 2003 - 2 BvR 1012/01).<br />

Gemessen hieran, besteht zwischen der Herbeiführung der Stichverletzung <strong>und</strong> dem versuchten Erwerb der Betäubungsmittel<br />

eine ausreichende Verknüpfung. Die körperliche Auseinandersetzung stellt sich als Eskalation des Geschehens<br />

um den versuchten Erwerb von 200 Gramm Marihuana dar. Sie ist noch dessen <strong>Teil</strong>. W. wollte mit dem<br />

Faustschlag die Rückgabe des als Pfand für den Kaufpreis übergebenen Mobiltelefons gewaltsam durchsetzen. Auch<br />

wenn der Versuch, sich Betäubungsmittel zu verschaffen, mit der Rückkehr des W. ohne das bestellte Marihuana<br />

auch für den Angeklagten erkennbar endgültig gescheitert war, ist der Kampf um das Handy mit dem Erwerbsversuch<br />

situativ, d.h. sachlich, räumlich, persönlich <strong>und</strong> zeitlich so eng verb<strong>und</strong>en, dass von Tatidentität <strong>und</strong> sogar von<br />

natürlicher Handlungseinheit im Sinne von § 52 <strong>StGB</strong> (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2007 - 4 StR 576/07<br />

- Rn. 3, Wegnahme eines Handys nach vollendeter schwerer räuberischer Erpressung) auszugehen ist. Die Mitteilung<br />

über das Scheitern der - angeblichen - Bemühungen, an Marihuana zu kommen <strong>und</strong> den behaupteten Verlust des<br />

Geldes ging unmittelbar in die gewaltsame Auseinandersetzung um das Mobiltelefon über. Die Aburteilung in verschiedenen<br />

erstinstanzlichen Verfahren würde den hier zu beurteilenden Lebenssachverhalt unnatürlich aufspalten.<br />

Das Landgericht hätte deshalb - wie von der Revision vorgetragen - nach einem Hinweis auf die Veränderung des<br />

rechtlichen Gesichtspunkts (§ 265 StPO) gemäß § 264 StPO von Amts wegen, also auch ohne einen entsprechenden<br />

Antrag der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> ohne Bindung an die Einschätzung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft,<br />

den Unrechtsgehalt der prozessualen Tat auch im Hinblick auf das Betäubungsmittelgeschäft ausschöpfen müssen.<br />

Innerhalb derselben prozessualen Tat ist der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft gr<strong>und</strong>sätzlich unteilbar (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 14. März 2001 - 3 StR 446/00 -, BGHR StPO § 264 I Tatidentität 32).<br />

3. Da mit dem möglichen Betäubungsmitteldelikt - sogar materiell rechtliche - Tatidentität besteht, führt die aufgezeigte<br />

Verletzung der Kognitionspflicht zwingend zur Aufhebung des Freispruchs vom Vorwurf des versuchten<br />

Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Denn wenn der Freispruch in Rechtskraft erwachsen<br />

würde, stünde dies der weiteren Verfolgung der Tat unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Drogendelikts wegen<br />

des Verbots aus Art. 103 Abs. 3 GG entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 1997 - 4 StR 642/96 -, BGHR<br />

StPO § 353 Aufhebung 1; BGH, Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 239/09 - Rn. 12; BGH, Urteil vom 17. Januar<br />

2001 - 2 StR 437/00). Auch Feststellungen können im vorliegenden Fall nicht aufrecht erhalten bleiben. Dies gilt<br />

zunächst für diejenigen zum versuchten Erwerb von Marihuana. Ohne Hinweis darauf, dass auch die Verurteilung<br />

wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz in Betracht kommt unter Aufzeigung der Tatsachen, auf<br />

denen diese Möglichkeit beruht, konnte <strong>und</strong> musste der Angeklagte seine Verteidigung nicht hierauf ausrichten.<br />

Auch konnte er sich revisionsrechtlich gegen diese Feststellungen nicht zur Wehr setzen. Feststellungen zu den<br />

Gr<strong>und</strong>lagen des Freispruchs können in der hier gegebenen Konstellation (Freispruch unter Außerachtlassung eines<br />

tateinheitlichen strafrechtlich relevanten Geschehens) zwar gr<strong>und</strong>sätzlich bestehen bleiben (vgl. BGH, Urteil vom<br />

15. September 1983 - 4 StR 535/83 -, BGHSt 32, 84, 86 ff. [Der 4. Strafsenat hat dort entschieden, dass die rechtsfehlerfreien<br />

Feststellungen, auf deren Gr<strong>und</strong>lage der Tatrichter den dortigen Angeklagten vom Vorwurf des versuch-<br />

382


ten Totschlages freigesprochen hatte, von der Urteilsaufhebung nicht mit umfasst werden, wenn die Staatsanwaltschaft<br />

mit ihrer erfolgreichen Revision allein geltend macht, dass es der Tatrichter unter Verstoß gegen § 264 StPO<br />

unterlassen hatte, den zuvor gemäß § 154a Abs. 2 StPO aus den Verfahren ausgeschiedenen Vorwurf eines Verstoßes<br />

gegen das Waffengesetz wieder einzubeziehen, nachdem er zu dem Ergebnis gelangt war, dass eine Verurteilung<br />

wegen versuchten Totschlages nicht in Betracht kommt.]; vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. November 2000 - 3<br />

StR 472/00 -, BGHR StPO § 353 II <strong>Teil</strong>aufhebung 2). Es muss dann aber sicher sein, dass die aufrechterhaltenen<br />

Feststellungen im neuen tatgerichtlichen Verfahren nicht - auch nur teilweise - Gr<strong>und</strong>lage einer Verurteilung werden<br />

könnten. Denn diese den Angeklagten dann belastenden Feststellungen konnte er bei einem Freispruch revisionsrechtlich<br />

nicht beanstanden. Außerdem dürfen die in Frage stehenden strafrechtlich relevanten Vorgänge nicht so eng<br />

mit einander verb<strong>und</strong>en sein, dass bei teilweiser Aufrechterhaltung die Gefahr widersprüchlicher Erkenntnisse im<br />

neuen Verfahren besteht. Die Aufrechterhaltung von Feststellungen bei Freispruch unter Verletzung der Kognitionspflicht<br />

hinsichtlich derselben Tat gemäß § 264 StPO wird daher nur in seltenen Fällen in Betracht kommen. Eine<br />

Überdehnung des § 353 Abs. 2 StPO seitens des Revisionsgerichts berührt auch das Recht auf den gesetzlichen Richter<br />

gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 2006 - 2 BvR 1765/05). Im vorliegenden<br />

Fall kann wegen des engen Zusammenhangs des den Freispruch betreffenden <strong>Teil</strong>s der Tat mit dem möglichen<br />

Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz nur mit einer umfassenden Aufhebung der Weg zu insgesamt widerspruchsfreien<br />

Feststellungen eröffnet werden. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Jugendkammer wird deshalb<br />

den dem Angeklagten zur Last gelegten Sachverhalt in eigener tatrichterlicher Verantwortung in vollem Umfang<br />

erneut zu prüfen <strong>und</strong> darüber zu entscheiden haben.<br />

StPO § 265 Vertrauensschutz nach Zwischenwertungen des Gerichts (Bewährung) ohne Absprache<br />

- Hinweispflicht<br />

BGH, Urt. v. 30.06.2011 – 3 StR 39/11 - NJW 2011, 3463 = StV 2012, 135<br />

1. Nicht jede Äußerung des Gerichts oder eines seiner Mitglieder, die im Laufe des Strafverfahrens<br />

abgegeben wird, begründet ein berechtigtes Vertrauen des Angeklagten oder eines anderen Verfahrensbeteiligten<br />

dahin, dass von der darin zutage getretenen Einschätzung einer materiell- oder verfahrensrechtlich<br />

relevanten Frage nicht abgewichen wird, solange kein entsprechender Hinweis<br />

erteilt worden ist.<br />

2. Anders liegt es hingegen dann, wenn die Äußerung geeignet ist oder gar darauf abzielt, die Verfahrensführung<br />

oder das Verteidigungsverhalten des Angeklagten zu beeinflussen. Dies gilt insbesondere<br />

dann, wenn sie bei fortgeschrittener Hauptverhandlung auf der Gr<strong>und</strong>lage eines bereits<br />

weitgehend gesicherten Beweisergebnisses in (scheinbarer) Abstimmung mit den weiteren Gerichtspersonen<br />

abgegeben wird. Hier bedarf es in der Regel eines vorherigen Hinweises, wenn von dem<br />

Inhalt der Äußerung abgewichen werden soll.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 8. Oktober 2010, soweit es<br />

ihn betrifft, mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt<br />

worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die<br />

Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren<br />

verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten mit einer Verfahrensbeschwerde <strong>und</strong> der allgemeinen<br />

Sachrüge. Das Rechtsmittel hat teilweise Erfolg. Der Schuldspruch sowie die Festsetzung einer zweijährigen Freiheitsstrafe<br />

halten rechtlicher Nachprüfung stand. Die Entscheidung, diese Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung auszusetzen,<br />

kann hingegen nicht bestehen bleiben. Insoweit greift die Verfahrensrüge durch.<br />

1. Ihr liegt folgender Sachverhalt zugr<strong>und</strong>e: Am 3. Hauptverhandlungstag kam es - nachdem sich der Angeklagte<br />

bereits geständig eingelassen hatte - in Unterbrechung der Sitzung zu einer Erörterung über die Möglichkeiten einer<br />

Verständigung. An ihr nahmen die gesamte Strafkammer (einschließlich der Schöffen), der Sitzungsvertreter der<br />

Staatsanwaltschaft sowie sämtliche Verteidiger der insgesamt vier Angeklagten teil. Der Vorsitzende wies dabei den<br />

383


Verteidiger des Angeklagten sowie die Verteidigerin des Mitangeklagten M. darauf hin, dass eine Verständigung nur<br />

die beiden anderen Angeklagten betreffe. Die Angeklagten R. <strong>und</strong> M. bräuchten kein Verständigung, sie bekämen ja<br />

"sowieso Bewährung". Ohne einen Hinweis darauf zu geben, dass in Abweichung von dieser Aussage eine Verurteilung<br />

zu einer unbedingten Freiheitsstrafe beabsichtigt sei, verkündete die Strafkammer später das Urteil.<br />

2. Dieser Sachverhalt steht fest aufgr<strong>und</strong> des eindeutigen Vortrags der Verteidigung, der durch Erklärungen zweier<br />

anderer Verteidiger gestützt wird <strong>und</strong> dem die an dem Termin beteiligten Richter sowie der Staatsanwalt nicht entscheidend<br />

entgegengetreten sind. Der gegenteiligen Ansicht des Generalb<strong>und</strong>esanwalts vermag sich der Senat nicht<br />

anzuschließen. Der Strafkammervorsitzende hat erklärt, eine solche Zusicherung nicht abgegeben zu haben, aber<br />

nicht ausschließen zu können, dass durch seine Erklärung, an deren genauen Wortlaut er sich nicht mehr erinnere,<br />

bei den Verteidigern ein entsprechender Eindruck entstanden sei. Die beisitzenden Richter haben erklärt, eine genaue<br />

Erinnerung an den Wortlaut nicht zu haben. Einer von ihnen konnte nicht vollständig ausschließen, dass bei den<br />

Erörterungen der Begriff "Bewährung" gefallen ist. Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft hat ebenfalls dargelegt,<br />

er könne sich an eine solche Äußerung des Vorsitzenden nicht erinnern. Wäre sie gefallen, dann hätte er diese<br />

nicht unkommentiert gelassen, woraus er wiederum schließe, eine solche Erörterung habe nicht stattgef<strong>und</strong>en.<br />

3. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> macht die Revision mit Recht geltend, dass das Landgericht den Angeklagten nicht zu<br />

einer Strafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung hätte verurteilen dürfen, ohne diesen zuvor davon zu unterrichten,<br />

dass es entgegen der Ankündigung des Vorsitzenden beabsichtige, eine solche Strafe zu verhängen.<br />

a) Allerdings begründet nicht jede Äußerung des Gerichts oder eines seiner Mitglieder, die im Laufe des Strafverfahrens<br />

abgegeben wird, ein berechtigtes Vertrauen des Angeklagten oder eines anderen Verfahrensbeteiligten dahin,<br />

dass von der darin zutage getretenen Einschätzung einer materiell- oder verfahrensrechtlich relevanten Frage nicht<br />

abgewichen wird, solange kein entsprechender Hinweis erteilt worden ist. Äußert sich etwa der Vorsitzende eines<br />

Spruchkörpers in einem Gespräch, das er im Lauf des Zwischenverfahrens mit dem Verteidiger des Angeklagten<br />

führt, zu einem denkbaren Ergebnis der Hauptverhandlung, so ist für den Angeklagten <strong>und</strong> seinen Verteidiger unschwer<br />

erkennbar, dass es sich hierbei um eine vorläufige, mit den übrigen Mitgliedern des Spruchkörpers nicht<br />

abgestimmte Beurteilung handelt, der schon für sich keinerlei Festlegung zukommt <strong>und</strong> der durch den Gang der<br />

Hauptverhandlung ohne weiteres die Gr<strong>und</strong>lage entzogen werden kann. Ein Hinweis darauf, dass an der ursprünglichen<br />

Bewertung nicht mehr festgehalten wird, ist daher nicht erforderlich. Anders liegt es hingegen dann, wenn die<br />

Äußerung geeignet ist oder gar darauf abzielt, die Verfahrensführung oder das Verteidigungsverhalten des Angeklagten<br />

zu beeinflussen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie bei fortgeschrittener Hauptverhandlung auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

eines bereits weitgehend gesicherten Beweisergebnisses in (scheinbarer) Abstimmung mit den weiteren Gerichtspersonen<br />

abgegeben wird. Hier bedarf es in der Regel eines vorherigen Hinweises, wenn von dem Inhalt der Äußerung<br />

abgewichen werden soll. Eine solche, dem Rechtsgedanken des § 265 StPO folgende, der prozessualen Fürsorgepflicht<br />

<strong>und</strong> Verfahrensfairness entsprechende Verpflichtung ist etwa im Bereich des Beweisantragsrechts anerkannt.<br />

Hat beispielsweise der Vorsitzende dem Angeklagten auf einen vor der Verhandlung angebrachten Beweisantrag<br />

mitgeteilt, die Entscheidung über den Antrag werde in der Verhandlung ergehen, so ist er entweder verpflichtet,<br />

dafür zu sorgen, dass diese Zusicherung eingehalten wird, sich das erkennende Gericht also mit dem Antrag befasst,<br />

oder er muss darauf hinweisen, dass der Antrag in der Hauptverhandlung zu wiederholen ist. Sofern nicht der Wille<br />

des Angeklagten, von dem Antrag ohnehin Abstand zu nehmen, zweifelsfrei erkennbar wird, kann eine Verletzung<br />

dieser Pflicht die Revision begründen. Nichts anderes gilt, wenn das Verhalten des Vorsitzenden in sonstiger Weise<br />

in einem Verteidiger den irrigen Glauben hervorruft, dass ein von diesem vor der Verhandlung eingereichter Antrag<br />

eine Sachlage geschaffen habe, die eine Wiederholung des Antrags nicht erforderlich mache. Erklärt der Vorsitzende<br />

etwa im Hinblick auf den vor der Hauptverhandlung angebrachten Beweisantrag, die dort aufgestellte Behauptung<br />

könne als wahr angenommen werden, so braucht der rechtsk<strong>und</strong>ige Verteidiger ohne entsprechenden Hinweis mit<br />

einer abweichenden Auffassung des erkennenden Gerichts nicht ohne weiteres zu rechnen (siehe insgesamt<br />

LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 123 mwN).<br />

b) Nach diesen Maßstäben durfte das Landgericht den Angeklagten nicht zu einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe<br />

verurteilen, ohne zuvor auf diese Möglichkeit hinzuweisen. Die Besonderheit des Falles liegt darin, dass nach zweitägiger<br />

Hauptverhandlung in Unterbrechung der Sitzung ein Gespräch aller Verfahrensbeteiligten zur Klärung der<br />

Frage stattgef<strong>und</strong>en hat, ob eine verfahrensbeschleunigende Absprache in Betracht kommt. Wenn in dieser Situation<br />

der Vorsitzende in Anwesenheit aller Beteiligten <strong>und</strong> ohne Widerspruch der übrigen Mitglieder des Spruchkörpers<br />

darauf verweist, es bedürfe für einen bestimmten Angeklagten keiner Verständigung, weil dieser "sowieso Bewährung"<br />

bekomme, erzeugt dies - zumal vor dem Hintergr<strong>und</strong>, dass der Angeklagte seine Tatbeteiligung bereits vorher<br />

in der Hauptverhandlung eingeräumt hatte - einen erhöhten Grad an Vertrauen. Denn damit wird der Anschein gesetzt,<br />

die Strafkammer habe sich insoweit schon eine Überzeugung gebildet, weshalb es nicht mehr notwendig sei,<br />

384


weitere Argumente für die Annahme einer günstigen Sozialprognose <strong>und</strong> besonderer Umstände im Sinne von § 56<br />

Abs. 1 <strong>und</strong> 2 <strong>StGB</strong> vorzubringen oder entsprechende Tatsachen unter Beweis zu stellen.<br />

c) Die Ergänzungen der Strafprozessordnung durch das Verständigungsgesetz stehen diesem Ergebnis nicht entgegen.<br />

Aus § 257c Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 4, Abs. 4 Satz 1 <strong>und</strong> 2, § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO lässt sich nicht etwa<br />

ableiten, dass sich der Angeklagte nur noch auf solche Aussagen des Gerichts in materiell- oder verfahrensrechtlicher<br />

Hinsicht verlassen darf, die zum Inhalt einer förmlich zustande gekommenen Verständigung <strong>und</strong> damit für das<br />

Gericht gr<strong>und</strong>sätzlich bindend geworden sind. Diese Vorschriften regeln allein die formalen Bedingungen des Zustandekommens<br />

einer Verständigung, die sich aus einer solchen Verständigung ergebende Bindung des Gerichts<br />

sowie die Voraussetzungen, unter denen das Gericht von dieser Bindung frei wird. Sie schließen es indes nicht aus,<br />

dass durch sonstige Äußerungen des Gerichts außerhalb des förmlichen Verständigungsverfahrens ein berechtigtes<br />

Vertrauen des Angeklagten in eine bestimmte Verfahrensweise des Gerichts oder ein bestimmtes Verfahrensergebnis<br />

begründet wird. Der Unterschied liegt in Folgendem: Während die vom Gericht im Rahmen einer Verständigung<br />

gegebenen Zusagen gr<strong>und</strong>sätzlich bindend sind, kommt eine solche Bindungswirkung sonstigen Erklärungen selbst<br />

dann nicht zu, wenn diese ein berechtigtes Vertrauen des Angeklagten begründen. Sie verpflichten das Gericht lediglich,<br />

den Angeklagten darauf hinzuweisen, dass an der geäußerten Auffassung nicht mehr festgehalten wird, damit<br />

dieser sein Prozessverhalten auf die geänderte Ansicht des Gerichts einstellen kann. Schon aus diesem Gr<strong>und</strong> geht<br />

der Hinweis des Generalb<strong>und</strong>esanwalts auf den Beschluss des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 25. Oktober 2006 - 1 StR<br />

487/06, bei Cierniak NStZ-RR 2009, 1 fehl. Es geht hier nicht um die Frage, ob das Landgericht aufgr<strong>und</strong> der Äußerung<br />

des Vorsitzenden nach dem fair-trial-Gr<strong>und</strong>satz geb<strong>und</strong>en war, eine Bewährungsstrafe zu verhängen, sondern<br />

allein um die Verpflichtung des Gerichts, den Angeklagten darauf hinzuweisen, dass es an der geäußerten Bewertung<br />

der Bewährungsfrage durch den Vorsitzenden nicht mehr festhalten wolle.<br />

4. Auf dem aufgezeigten Rechtsfehler beruht die Entscheidung über die Nichtaussetzung der Strafe zur Bewährung.<br />

Die Revision hat unter Benennung von fünf Zeugen <strong>und</strong> konkreten Beweisbehauptungen im Einzelnen vorgetragen,<br />

was der Angeklagte im Falle eines entsprechenden Hinweises hätte unter Beweis stellen können, um das Gericht von<br />

einer positiven Sozialprognose <strong>und</strong> vom Vorliegen besonderer Umstände (§ 56 Abs. 2 <strong>StGB</strong>) zu überzeugen. Der<br />

Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht aufgr<strong>und</strong> einer entsprechenden Beweisaufnahme zu dem Ergebnis<br />

gelangt wäre, trotz der Vielzahl von Vorstrafen des Angeklagten seien die Voraussetzungen für eine Strafaussetzung<br />

zur Bewährung gegeben. Die Sache muss deshalb in diesem Umfang erneut verhandelt <strong>und</strong> entschieden werden.<br />

5. Das Urteil gibt Anlass zu dem Hinweis, dass die detailgetreue Wiedergabe des B<strong>und</strong>eszentralregisterauszugs bei<br />

den Feststellungen zum Lebenslauf des Angeklagten untunlich ist. Die Urteilsgründe werden dadurch aufgebläht,<br />

ohne dass damit ein substantieller Erkenntniszuwachs verb<strong>und</strong>en ist. Es empfiehlt sich im Interesse der Konzentration<br />

auf das Wesentliche (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. Februar 2009 - 1 StR 687/08, NStZ-RR 2009, 183 <strong>und</strong> vom 4.<br />

März 2009 - 1 StR 27/09), die Vorstrafen gestrafft <strong>und</strong> zusammengefasst darzulegen. Einer Mitteilung von genauen<br />

Tatzeiten bzw. den Zeitpunkten der Rechtskraft der Entscheidungen bedarf es nur in wenigen Ausnahmefällen, so<br />

z.B. wenn es um Fragen der Gesamtstrafenbildung oder der sog. Rückfallverjährung bei der Prüfung von Sicherungsverwahrung<br />

geht.<br />

StPO § 265 IV Aussetzung<br />

BGH, Beschl. v. 06.03.2012 - 1 StR 623/11 - BeckRS 2012, 09052 Besprechung M. Jahn JuS 2012, 658<br />

1. Fehlerhafte Ablehnung eines Aussetzungsantrags gemäß § 265 Abs. 4 StPO: Auf von der zugelassenen<br />

Anklage abweichende Vorwürfe braucht sich der Angeklagte nicht einzustellen; daher ist er<br />

ausdrücklich auf eine mögliche Änderung der Beurteilung hinzuweisen. Eine nach einem solchen<br />

Hinweis mögliche Folge kann daher nicht deshalb abgelehnt werden, weil der Angeklagte (bzw. sein<br />

Verteidiger) den Inhalt des Hinweises nicht vorausgesehen <strong>und</strong> sich entsprechend hierauf auch<br />

nicht vorbereitet hat.<br />

2. Fehlerhafte Belehrung durch Polizeibeamte: Unbeschadet der - stets gegebenen, praktisch besonders<br />

bei polizeilichen Vernehmungen bedeutsamen - Möglichkeit, aus ermittlungstaktischen Gründen<br />

nicht stets jedes schon bekannte Detail offen zu legen, ist dem Beschuldigten der ihm vorgewor-<br />

385


fene Sachverhalt zumindest in groben Zügen zu eröffnen. Hinsichtlich der Ausgestaltung der Eröffnung<br />

im Einzelnen hat also der Vernehmende einen gewissen Beurteilungsspielraum. Dessen Grenzen<br />

sind jedoch überschritten, wenn dem Beschuldigten eines Gewaltdelikts der Tod des Opfers<br />

nicht eröffnet wird. Ohne Hinweis auf diesen die Tat prägenden Gesichtspunkt ist sie nicht einmal<br />

in groben Zügen eröffnet.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 18. August 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,<br />

an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Die Strafkammer hat festgestellt: Der Angeklagte hatte seiner geschiedenen Ehefrau zunächst aufgelauert <strong>und</strong> ihr<br />

sofort mit zahlreichen wuchtigen Schlägen mit einem Schlagstock den Schädel eingeschlagen, sie anschließend mit<br />

einer Strumpfhose fest gedrosselt <strong>und</strong> ihr dann noch eine Reihe tiefer Messerstiche zugefügt. Schläge, Drosseln <strong>und</strong><br />

Stiche hätten jeweils schon für sich allein zum Tod geführt. Am Ende schob er die Geschädigte, die Sterbende, unter<br />

ein Auto, damit sie nicht so schnell gef<strong>und</strong>en würde <strong>und</strong> ihr Tod umso sicherer eintrete. Deshalb wurde er wegen<br />

heimtückisch begangenen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.<br />

I. Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Die Strafkammer hat nach Erteilung<br />

eines rechtlichen Hinweises einen Antrag, die Hauptverhandlung auszusetzen, zumindest zu unterbrechen, rechtsfehlerhaft<br />

zurückgewiesen.<br />

1. Folgendes liegt zu Gr<strong>und</strong>e: In der unverändert zugelassenen Anklage, die von im Urteil dann verneinten niedrigen<br />

Beweggründen ausgegangen war, ist der Tatablauf wie folgt geschildert: „Auf dem Parkplatz lauerte der Angeklagte<br />

seiner Ehefrau auf <strong>und</strong> schlug dieser … mit voller Wucht … auf den Kopf.“ Im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen<br />

heißt es: „Von Heimtücke kann … nicht ausgegangen werden, da nach der Einlassung des Angeklagten <strong>und</strong><br />

auch der Zeugin P. nicht auszuschließen ist, dass der Angeschuldigte zwar zunächst dem Opfer aufgelauert hatte, es<br />

dann jedoch vor dem Angriff noch zu einem Streitgespräch kam <strong>und</strong> der Angriff von vorn erfolgte.“<br />

2. In der Hauptverhandlung machte der Angeklagte keine Angaben zur Sache. Noch vor Vernehmung der Zeugin P.<br />

wies die Strafkammer ohne weitere Erläuterung darauf hin, „dass auch in Betracht kommt eine Verurteilung wegen<br />

Mordes aufgr<strong>und</strong> heimtückischer Tötung eines Menschen.“ Daraufhin beantragte die Verteidigung, das Verfahren<br />

auszusetzen, zumindest die Hauptverhandlung zu unterbrechen. Dies lehnte die Strafkammer mit folgender Begründung<br />

ab: „ … die Bejahung des Mordmerkmals der Heimtücke, mit dem sich die Staatsanwaltschaft in der Anklage<br />

ausführlich befasst hat, (würde) nicht zu einer erhöhten Strafbarkeit führen. Die Verteidigung hätte sich längst mit …<br />

Heimtücke auseinandersetzen <strong>und</strong> auf diese Möglichkeit einstellen können. Ferner liegt dem - vorsorglich - erteilten<br />

Hinweis keine Veränderung des angeklagten Lebenssachverhalts zugr<strong>und</strong>e. Letzterer rechtfertigt vielmehr unter<br />

Umständen die Bejahung von Heimtücke (s. Anklagesatz S. 2 2. Abs. ). Auch darauf<br />

konnte sich die Verteidigung seit Zulassung der Anklage einstellen.“<br />

3. Dies beanstandet die Revision zu Recht:<br />

a) Im Ansatz zutreffend ist die Auffassung der Strafkammer, es könne bei der Beurteilung der Frage, ob die Hauptverhandlung<br />

auszusetzen oder zumindest zu unterbrechen ist (§ 265 Abs. 4 StPO), von Bedeutung sein, ob der vorangegangene<br />

Hinweis auf einer Änderung des Sachverhalts oder allein auf einer geänderten rechtlichen Bewertung<br />

des unveränderten Sachverhalts beruht.<br />

b) Hier liegt jedoch die Besonderheit darin, dass Anklage <strong>und</strong> Eröffnungsbeschluss nicht sehr klar letztlich von unterschiedlichen<br />

Sachverhalten - im Anklagesatz einerseits <strong>und</strong> als Gr<strong>und</strong>lage der rechtlichen Bewertung mit näherer<br />

Begründung im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen andererseits - ausgehen. Diese Unklarheit führt unmittelbar<br />

zu einer Unklarheit des Hinweises, die sich noch dadurch steigert, dass, so die Strafkammer ergänzend, die geänderte<br />

rechtliche Bewertung lediglich „unter Umständen“ Platz greifen soll, ohne zu verdeutlichen, welche dies sein könnten.<br />

c) Unabhängig davon bestehen weitere rechtliche Bedenken:<br />

(1) Die Strafkammer ist bei der Erteilung des Hinweises naheliegend davon ausgegangen, Heimtücke sei hier neben<br />

niedrigen Beweggründen ein zusätzliches Mordmerkmal. Soweit sie bei der Entscheidung über Aussetzung oder<br />

Unterbrechung erwogen hat, an der Verurteilung wegen Mordes ändere dies nichts, hat sie nicht erkennbar bedacht,<br />

dass die Annahme mehrerer voneinander unabhängiger Mordmerkmale wie Heimtücke <strong>und</strong> niedrige Bewegründe für<br />

die Schuldschwere (§ 57a <strong>StGB</strong>) bedeutsam sein kann.<br />

386


(2) Nachdem sie dann im weiteren Verlauf aber erkannte, dass allein Heimtücke als Mordmerkmal übrig blieb, konnte<br />

demgegenüber die ohnehin schon wenig klare Erwägung, der Hinweis auf Heimtücke sei nur „vorsorglich“ erfolgt,<br />

keine erkennbare Bedeutung (mehr) haben.<br />

4. Jedenfalls hält aber die Auffassung rechtlicher Prüfung nicht stand, der Angeklagte (bzw. sein Verteidiger) hätte<br />

sich „längst“ auf die Verteidigung gegen einen in der Anklage ausdrücklich verneinten Vorwurf vorbereiten können.<br />

Allerdings ist das tatrichterliche Ermessen bei der Entscheidung gemäß § 265 Abs. 4 StPO vom Revisionsgericht nur<br />

eingeschränkt überprüfbar (vgl. Radtke in Radtke/Hohmann-StPO, § 265 Rn. 138 mwN). Hier ist jedoch der rechtliche<br />

Ansatz fehlerhaft. Auf von der zugelassenen Anklage abweichende Vorwürfe braucht sich der Angeklagte nicht<br />

einzustellen; daher ist er ausdrücklich auf eine mögliche Änderung der Beurteilung hinzuweisen. Eine nach einem<br />

solchen Hinweis mögliche Folge kann daher nicht deshalb abgelehnt werden, weil der Angeklagte (bzw. sein Verteidiger)<br />

den Inhalt des Hinweises nicht vorausgesehen <strong>und</strong> sich entsprechend hierauf auch nicht vorbereitet hat.<br />

5. Der Schwerpunkt der Vorbereitung der Verteidigung war, so der nahe liegende Revisionsvortrag, auf die letztlich<br />

gelungenen Bemühungen gerichtet, die ursprüngliche Annahme niedriger Beweggründe zu entkräften. Die Revision<br />

trägt, zumal im Hinblick auf das Gewicht des Tatvorwurfs <strong>und</strong> die insoweit letztlich zentrale Bedeutung von Heimtücke,<br />

auch hinreichend konkret vor, warum im Blick auf die Änderung der Situation, die durch den insgesamt nur<br />

sehr knapp erläuterten Hinweis eingetreten ist, eine Aussetzung der Hauptverhandlung oder zumindest deren Unterbrechung<br />

noch vor der Vernehmung der Zeugin P. angezeigt gewesen wäre.<br />

6. Deshalb greift die Revision in vollem Umfang durch.<br />

II. Auch wenn es auf die übrigen Verfahrensrügen daher nicht ankommt, sieht der Senat Anlass zu dem Hinweis,<br />

dass das allerdings rechtsfehlerhafte Verhalten der Polizei bei der Vernehmung des Angeklagten entgegen der Auffassung<br />

der Revision nicht zur Unverwertbarkeit seiner dabei angefallenen Aussage führt.<br />

1. Folgendes liegt zu Gr<strong>und</strong>e: Der Angeklagte wurde zu Vernehmungsbeginn ordnungsgemäß über sein Schweigerecht<br />

<strong>und</strong> sein Recht auf Anwaltskonsultation belehrt. Obwohl der Polizei zu diesem Zeitpunkt der Tod des Opfers<br />

bereits bekannt war, wurde ihm jedoch nicht eröffnet, dass wegen eines Tötungsdelikts ermittelt werde, sondern nur,<br />

dieser habe „seiner Frau etwas Schlimmes angetan <strong>und</strong> darum gehe es in der Beschuldigtenvernehmung“. Weiter<br />

heißt es in der Niederschrift der Vernehmung, die sich etwa über fünf St<strong>und</strong>en erstreckte: „T. Du hast vor der Vernehmung<br />

<strong>und</strong> in der Vernehmung gefragt, wie es deiner Frau gehe. War dies nur Ablenkung oder hattest Du eventuell<br />

Hoffnung, dass sie noch lebt?“ Hierauf antwortete der Beschuldigte (Angeklagte): „Ja, ich habe jetzt noch Hoffnung,<br />

dass sie noch lebt.“ An anderer Stelle der Vernehmung erklärte der Angeklagte hinsichtlich seiner geschiedenen<br />

Frau: „ … Ich wollte sie nur … leiden sehen. Sie lebt doch noch, oder?“ Am Ende der Vernehmung fragte er:<br />

„Können Sie mir sagen, wie es meiner Frau geht? Lebt sie noch?“ Darauf wurde ihm - erstmals klar - gesagt: „Wir<br />

müssen Dir leider mitteilen, dass S. tot ist.“ Darauf äußerte der Angeklagte:<br />

„Was habe ich gemacht? Ich habe alles kaputtgemacht. Ich habe gedacht sie lebt noch. Ich habe nicht vorgehabt, sie<br />

zu töten.“<br />

2. An dieses Geschehen knüpft die Revision an. Sie hält § 163a Abs. 4 StPO i.V.m. § 136 Abs. 1 Satz 2 bis 4 StPO<br />

für verletzt. Der Angeklagte sei davon ausgegangen, dass gegen ihn, wie schon öfter, (nur) wegen Körperverletzung<br />

zum Nachteil seiner geschiedenen Ehefrau ermittelt werde. Er hätte nicht erkennen können, „dass ihm ein (versuchtes)<br />

Tötungsdelikt … zur Last gelegt“ werde. Andernfalls hätte er jedenfalls ohne Verteidiger keine Angaben zur<br />

Sache gemacht; nachdem ihm der Tod seiner geschiedenen Frau eröffnet worden sei, habe er keine Angaben zur<br />

Sache mehr gemacht.<br />

3. Die Strafkammer hat gegen die Verwertung dieser (durch Zeugenaussagen der Vernehmungsbeamten eingeführten)<br />

Aussagen entgegen dem hiergegen gerichteten Widerspruch keine Bedenken gehabt: Sie führt hierzu in den<br />

Urteilsgründen aus, der Sachverhalt, um den es gegangen sei, sei klar gewesen. „Ob seine Frau noch lebte … spielt<br />

insoweit keine Rolle“. Wenn überhaupt, handle es sich jedenfalls „nicht um einen schwerwiegenden Verfahrensfehler“,<br />

Polizeibeamte müssten dem Beschuldigten nicht die für die Bewertung seines Verhaltens in Betracht kommenden<br />

Strafvorschriften eröffnen, da sie nicht stets über die hierfür erforderlichen Rechtskenntnisse verfügten. Hinzu<br />

kommt, so ergeben die Urteilsgründe weiter, dass der Angeklagte am nächsten Tag - also als ihm der Tod seiner<br />

geschiedenen Frau bekannt war - das Vernehmungsprotokoll „eigenhändig auf jeder Seite unterschrieb <strong>und</strong> teilweise<br />

auch noch handschriftliche Ausbesserungen vornahm“.<br />

4. Gr<strong>und</strong>sätzlich gelten für die Belehrung eines Beschuldigten dieselben Regeln, gleichgültig ob er von einem Richter<br />

(§ 136 StPO), einem Staatsanwalt (§ 163a Abs. 3 StPO) oder - wie häufig - von einem Polizeibeamten vernommen<br />

wird (§ 163a Abs. 4 StPO). Eine Ausnahme gilt, so auch zutreffend die Strafkammer, lediglich insoweit, als ein<br />

Polizeibeamter, anders als ein Richter oder Staatsanwalt, nicht verpflichtet ist, die möglichen Strafvorschriften zu<br />

387


nennen (§ 163a Abs. 4 Satz 1 StPO), also etwa bei einem Tötungsdelikt zwischen Totschlag <strong>und</strong> Mord zu unterscheiden.<br />

5. Hier geht es aber um die „Tat“ als solche, nicht deren rechtliche Bewertung. Unbeschadet der - stets gegebenen,<br />

praktisch besonders bei polizeilichen Vernehmungen bedeutsamen - Möglichkeit, aus ermittlungstaktischen Gründen<br />

nicht stets jedes schon bekannte Detail offen zu legen, ist dem Beschuldigten der ihm vorgeworfene Sachverhalt<br />

zumindest in groben Zügen zu eröffnen (vgl. Gleß in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 136 Rn. 21 mwN in Fn.<br />

71). Hinsichtlich der Ausgestaltung der Eröffnung im Einzelnen hat also der Vernehmende einen gewissen Beurteilungsspielraum.<br />

Dessen Grenzen sind jedoch überschritten, wenn dem Beschuldigten eines Gewaltdelikts der Tod<br />

des Opfers nicht eröffnet wird. Ohne Hinweis auf diesen die Tat prägenden Gesichtspunkt ist sie nicht einmal in<br />

groben Zügen eröffnet. Der ohnehin nicht sehr klare Hinweis, es gehe um das „Schlimme“, was der Beschuldigte<br />

dem Tatopfer angetan habe, reicht daher nicht aus. Besonderheiten für den Fall, dass der Beschuldigte deutlich<br />

macht, den gegen ihn erhobenen Vorwurf klar zu kennen, können hier im Blick auf die wiederholten, zunächst nicht<br />

sachgerecht beantworteten Fragen nach den Folgen der Tat auf sich beruhen bleiben.<br />

6. Die Frage, ob ein Verwertungsverbot hinsichtlich einer Aussage besteht, der, wie hier, ein Verstoß gegen § 163a<br />

Abs. 4 Satz 1 StPO vorangegangen ist, wird nicht einheitlich beurteilt (bejahend Wohlers in SK-StPO, 4. Aufl., §<br />

163a Rn. 75 mwN in Fn. 210, auch für eine einschränkende Auffassung; offen geblieben bei Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern<br />

wistra 2003, 473, 475). Der Senat kann diese Frage aber deshalb offen lassen, weil jedenfalls in<br />

dem hier vorliegenden konkreten Einzelfall ein Verwertungsverbot selbst dann nicht in Betracht kommt, wenn man<br />

dies gr<strong>und</strong>sätzlich für möglich hielte: Belehrungsdefizite begründen dann kein Verwertungsverbot, wenn sie das<br />

Aussageverhalten des Vernommenen nicht beeinflusst haben. Dieser Gesichtspunkt, der sich insbesondere dann<br />

auswirkt, wenn der Vernommene das Recht, über das er nicht ordnungsgemäß belehrt wurde, trotzdem kannte (vgl.<br />

z.B. BGH, Beschluss vom 23. August 2011 - 1 StR 153/11 ; Urteil vom 10. August<br />

1994 - 3 StR 53/94 ; Urteil vom 15. November 1994 - 1 StR 461/94 mwN), kommt auch hier zum Tragen.<br />

a) Der Senat geht - entgegen dem Vortrag der Revision - davon aus, dass dem Beschuldigten (Angeklagten) bei der<br />

Vernehmung die Möglichkeit vor Augen stand, dass die Geschädigte tot sein könnte. Dies liegt ohnehin schon angesichts<br />

des ungewöhnlich massiven Tatgeschehens nahe <strong>und</strong> wird insbesondere dadurch bestätigt, dass er wiederholt<br />

<strong>und</strong> vor allem auch schon vor seiner Vernehmung gefragt hatte, ob sie noch lebe. Es kann daher auf sich beruhen,<br />

dass überdies der Angeklagte im Rahmen der Vernehmung (anders als an ihrem Ende) immer wieder bestätigt hat,<br />

dass es sein Wunsch <strong>und</strong> sein Ziel war, seine geschiedene Frau zu töten.<br />

b) Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Erkenntnis des Angeklagten, seine geschiedene Frau könne durch sein Verhalten<br />

zu Tode gekommen sein, durch das Verhalten der Polizei in Frage gestellt worden wäre. Zwar ließen deren<br />

Äußerungen (zunächst) die gebotene Klarheit vermissen; sie hat jedoch weder ausdrücklich noch sinngemäß erklärt,<br />

das Opfer lebe noch.<br />

c) Der Angeklagte verfügte also naheliegend über die - durch das polizeiliche Verhalten nicht entkräftete - Erkenntnis,<br />

dass seine Frau tot sein könnte. Wenn er sich auf dieser Gr<strong>und</strong>lage nach im Übrigen ordnungsgemäßer Belehrung<br />

über sein Schweigerecht <strong>und</strong> sein Recht auf Anwaltskonsultation zu Angaben entschloss, so hat sich der vorliegende<br />

Mangel der polizeilichen Belehrung auf die Entscheidung, Angaben zu machen, nicht ausgewirkt. Schon deshalb<br />

ist für die Annahme eines Verwertungsverbotes hinsichtlich dieser Aussagen kein Raum.<br />

d) Die Fragen, ob der Angeklagte nach der präzisen Eröffnung des Tatvorwurfs seine früheren Angaben bestätigt <strong>und</strong><br />

ergänzt hat <strong>und</strong> wie sich - gegebenenfalls ist dies nach Maßgabe des Einzelfalls zu beurteilen - auswirkt, dass eine<br />

„qualifizierte Belehrung“ dabei unterblieben ist (vgl. zusammenfassend BGH, Beschluss vom 9. Juni 2009 - 4 StR<br />

170/09 mwN zu einer zunächst unterbliebenen Belehrung gemäß § 136 Abs.1 Satz 2 StPO), können daher auf sich<br />

beruhen.<br />

7. Mängel der polizeilichen Belehrung können, wie auch hier, das Verfahren erheblich belasten, im Einzelfall sogar<br />

den Bestand eines Urteils gefährden. Es gehört auch zu den Aufgaben der Staatsanwaltschaft, im Rahmen ihrer Verantwortung<br />

für die Gesetzmäßigkeit des Ermittlungsverfahrens, auch soweit es von der Polizei durchgeführt wird,<br />

auf die korrekte Einhaltung der Belehrungsbestimmungen <strong>und</strong> erforderlichenfalls möglichst auf die Korrektur (wie<br />

hier) erkennbarer Mängel hinzuwirken. Dies gilt für alle Ermittlungsverfahren, hat aber in sog. Kapitalsachen besonderes<br />

Gewicht (vgl. zu alledem BGH, Beschluss vom 23. August 2011 - 1 StR 153/11; Beschluss vom 27. Mai 2009<br />

- 1 StR 99/09; Urteil vom 3. Juli 2007 - 1 StR 3/07).<br />

388


StPO § 265, § 244 Erfahrungssätze im Urteil erst nach rechtlichem Gehör<br />

BGH, Urt. v. 22.02.2012 - 1 StR 378/11 - BeckRS 2012, 08059<br />

1. Bevor ein Erfahrungssatz über angebliche Regelmäßigkeiten einem Urteil zu Gr<strong>und</strong>e gelegt wird,<br />

müssen die Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung <strong>und</strong> zur Anbringung von Beweisanträgen gehabt<br />

haben.<br />

2. Zur Frage nach der Bewertung von Einbrüchen in gemischt genutzte Gebäude <strong>und</strong>/oder in Nebenräume<br />

von Wohnhäusern im Rahmen des § 244 <strong>StGB</strong>.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 22. Februar 2012 für Recht erkannt:<br />

1. Die Revision des Angeklagten P. gegen das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 13. April 2011 wird verworfen.<br />

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

2. Auf die Revision des Angeklagten J. wird das vorbezeichnete Urteil, soweit es ihn betrifft, im Ausspruch über die<br />

Dauer des Vorwegvollzugs mit den Feststellungen aufgehoben.<br />

3. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil aufgehoben<br />

a) in den Fällen II B 8, 10, 11, 13, 15, 19, 20, 23, 29 der Urteilsgründe unter Aufrechterhaltung der Feststellungen<br />

zum äußeren Sachverhalt;<br />

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafen.<br />

4. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Die in Leipzig wohnenden Angeklagten finanzierten Lebensunterhalt <strong>und</strong> Drogenkonsum durch Einbrüche, vor allem<br />

in Pfarrhäuser, aber auch Zahnarztpraxen <strong>und</strong> andere Objekte in oft kleineren Orten vorwiegend in Oberfranken.<br />

Der Angeklagte P. steuerte den PKW zum Tatort <strong>und</strong> stand Schmiere, der Angeklagte J. drang in die Häuser ein.<br />

Beide wurden wegen Diebstahls in 15 Fällen - meist in Tateinheit mit Sachbeschädigung -, versuchten Diebstahls in<br />

sechs Fällen sowie - im Zusammenhang mit entwendeten EC- <strong>und</strong> Kreditkarten - Computerbetrugs in 18 Fällen <strong>und</strong><br />

versuchten Computerbetrugs in drei Fällen verurteilt, P. zu zwei Jahren <strong>und</strong> sieben Monaten, der erheblich vorbestrafte<br />

J. zu vier Jahren <strong>und</strong> neun Monaten Gesamtfreiheitsstrafe. J. wurde bei Anordnung eines Vorwegvollzugs von<br />

zwei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten Strafe auch in einer Entziehungsanstalt untergebracht. Während die Revision des<br />

Angeklagten P. erfolglos bleibt (A.), hat die auf die Dauer des Vorwegvollzugs beschränkte Revision des Angeklagten<br />

J. ebenso Erfolg (B.) wie die der Staatsanwaltschaft, die in den angefochtenen Fällen eine Verurteilung wegen<br />

(versuchten) Wohnungseinbruchdiebstahls (§ 244 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong>) anstrebt (C.).<br />

A. Revision des Angeklagten P. :<br />

I. Zum Schuldspruch:<br />

1. Zweimal wurden zwei erbeutete Karten jeweils fast zeitgleich eingesetzt. Offenbar haben die Angeklagten jeweils<br />

gleichzeitig eingekauft. Anders als die Revision meint, war trotzdem jeder Angeklagte wegen sämtlicher Einkäufe zu<br />

verurteilen, da sie gemeinsam geplant <strong>und</strong> im gemeinsamen Interesse arbeitsteilig, also mittäterschaftlich, durchgeführt<br />

wurden.<br />

2. Auch sonst ist der Schuldspruch ohne den Angeklagten beschwerende Rechtsfehler.<br />

II. Zum Strafausspruch:<br />

1. Die Revision hält § 267 Abs. 3 (Satz 4) StPO für verletzt. Ein Antrag auf Bewährung löst aber nur dann eine gesonderte<br />

Begründungspflicht aus, wenn eine aussetzungsfähige Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird. Bei<br />

einer höheren Strafe braucht nicht gesondert begründet zu werden, warum die beantragte Bewährungsstrafe nicht<br />

ausreicht (BGH, Beschluss vom 9. Februar 2012 - 1 StR 438/11 mwN).<br />

2. Auch sonst ist der Strafausspruch nicht zu beanstanden. Die Revision beschränkt sich im Wesentlichen auf eine<br />

eigene Gewichtung auch von der Strafkammer beachteter Gesichtspunkte.<br />

B. Revision des Angeklagten J. :<br />

Die Urteilsgründe behandeln die Dauer des Vorwegvollzugs nicht. Das Ergebnis widerspricht dem Gesetz: Ist teilweiser<br />

Vorwegvollzug bei mehr als drei Jahren Strafe nicht einzelfallbedingt generell ausgeschlossen, so i s t er<br />

gemäß § 67 Abs. 2 Sätze 2 <strong>und</strong> 3 <strong>StGB</strong> in Verbindung mit § 67 Abs. 5 Satz 1 <strong>StGB</strong> so zu bemessen, dass danach <strong>und</strong><br />

nach einer anschließenden Unterbringung eine Halbstrafenentlassung möglich ist. Der Tatrichter hat insoweit keinen<br />

Beurteilungsspielraum. Erwägungen dazu, ob eine Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt zu erwarten ist, sind also<br />

389


ei der Bemessung des Vorwegvollzugs nach gesetzlicher Wertung nicht möglich. Stattdessen ist, naheliegend mit<br />

sachverständiger Hilfe, die erforderliche Unterbringungsdauer genau zu prognostizieren. Der Zeitraum zwischen<br />

dem so bestimmten Ende der Unterbringung <strong>und</strong> dem Halbstrafenzeitpunkt ergibt den - ohne Beurteilungsspielraum<br />

zu errechnenden - vorweg zu vollziehenden <strong>Teil</strong> der Strafe (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2008 - 1 StR 233/08<br />

mwN). Da die Anordnung, vor der Unterbringung über die Hälfte der Strafe zu vollziehen, keinesfalls zutreffen<br />

kann, ist hierüber neu zu befinden.<br />

C. Revisionen der Staatsanwaltschaft: Die Strafkammer hat die Annahme eines (gegebenenfalls versuchten) Wohnungseinbruchdiebstahls<br />

gemäß § 244 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> in allen in Frage kommenden Fällen verneint, weil die<br />

Angeklagten nie in bewohnte Anwesen einbrechen wollten. Die gegen diese Annahme gerichteten Revisionen der<br />

Staatsanwaltschaft sind auf die Fälle beschränkt, in denen die Tatobjekte entweder bewohnt waren oder in denen dies<br />

offen bleibt. Nicht angefochten - etwa im Blick auf einen untauglichen Versuch - sind die Fälle, in denen die Angeklagten<br />

in unbewohnte Pfarrhäuser eingebrochen sind.<br />

I. Im Umfang der Anfechtung haben die Revisionen der Staatsanwaltschaft Erfolg. Die Annahme, die Angeklagten<br />

hätten nicht in bewohnte Anwesen einbrechen wollen (im Ergebnis also die Annahme eines Tatbestandsirrtums, vgl.<br />

hierzu Vogel in LK-<strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 244 Rn. 76), ist nicht auf eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung gestützt.<br />

1. Die Strafkammer hält die Einlassung der Angeklagten, sie hätten keinesfalls in bewohnte Anwesen einbrechen<br />

wollen, für nachvollziehbar. Sie stützt dies unter anderem auf folgende Erwägungen:<br />

a) In fünf der Pfarrhäuser, in die die Angeklagten eingebrochen waren, befanden sich - obwohl sie „durchaus wie<br />

Wohngebäude wirken“ - nur Büros. Daraus folgert die Strafkammer, die Angeklagten hätten sich offensichtlich davon<br />

überzeugt, dass diese Pfarrhäuser nicht bewohnt waren.<br />

b) Hinzu komme, dass die Angeklagten in einem dieser Pfarrhäuser (Himmelkron) eine Innentür aufgebrochen hatten,<br />

die zu einer ungenutzten Wohnung führte. Diese haben sie nicht betreten, was ebenfalls, so die Strafkammer, die<br />

Absicht belege, nicht in Wohnungen einzubrechen.<br />

c) Die Angeklagten haben die Versuche, in das bewohnte Pfarrhaus von Neuhaus <strong>und</strong> in das ebenfalls bewohnte<br />

Pfarrzentrum von Ahorntal einzubrechen, abgebrochen <strong>und</strong> sind geflohen, nachdem sie von Zeugen gestört wurden.<br />

Dadurch hätten sie „dokumentiert, dass sie von bewohnten Einbruchsobjekten Abstand nehmen wollten“.<br />

2. Diese Erwägungen halten rechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />

a) Allein der Hinweis, dies sei „offensichtlich“, macht nicht deutlich, wann - noch in Leipzig oder nach der Ankunft<br />

am jeweiligen Tatort - <strong>und</strong> wie die Angeklagten die Überzeugung gewonnen haben könnten, dass die genannten fünf<br />

Pfarrhäuser unbewohnt waren.<br />

b) Es ist fraglich, wie der Aufbruch der Tür im nicht angefochtenen Fall des Einbruchs in das Pfarrhaus von Himmelkron<br />

mit der Annahme vereinbar ist, die Angeklagten hätten sich zuvor über die Verhältnisse im jeweiligen Tatobjekt<br />

informiert. Unabhängig hiervon lässt dieser Fall Schlussfolgerungen auf andere Fälle nicht zu. Die Absicht<br />

eines Einbrechers, nicht aus bewohnten Häusern zu stehlen, wird nicht dadurch belegt, dass er eine unbewohnte<br />

Wohnung nicht betritt.<br />

c) Auch für die übrigen vier Einbrüche in unbewohnte Pfarrhäuser gilt im Ergebnis nichts anderes: Selbst wenn die<br />

Angeklagten wussten, dass diese unbewohnt sind, kann dies nicht belegen, dass sie in bewohnte Pfarrhäuser nur<br />

einbrachen, weil sie sie für unbewohnt hielten.<br />

d) Auch der Umstand, dass die Angeklagten flohen, als sie in Neuhaus <strong>und</strong> Ahorntal beim Einbruch gestört wurden,<br />

kann ihre Absicht, nicht in bewohnte Häuser einzubrechen, nicht tragfähig belegen. Einen Erfahrungssatz, dass ertappte<br />

Einbrecher nicht flüchten, wenn sie in ein bewohntes Haus einbrechen wollten, gibt es - ohne dass dies weiterer<br />

Darlegung bedürfte - nicht.<br />

3. Darüber hinaus sind Gesichtspunkte, die sich aus einigen abgeurteilten Taten ergeben, nicht erörtert, obwohl nicht<br />

ohne Weiteres klar ist, wie sie mit der Einlassung der Angeklagten zu vereinbaren sind, dass sie niemals in bewohnte<br />

Anwesen einbrechen wollten.<br />

a) Im bewohnten Pfarrhaus von Streitau wurden „diverse Schmuckstücke“ entwendet. In welchem Raum des Hauses<br />

sich diese bef<strong>und</strong>en hatten, ist nicht mitgeteilt. Schmuck wird aber typischerweise nicht in Büros, sondern in Wohnungen<br />

verwahrt.<br />

b) Vergleichbares gilt für das Pfarrhaus von Hassfurt. Es ist nicht erörtert, ob es bewohnt war. Hierfür spricht aber<br />

die Beute, die z.B. aus einer Taschenuhr, einer Handtasche <strong>und</strong> Silbertalern bestand.<br />

c) Es ist auch weder dargelegt noch ersichtlich, warum die Angeklagten bei dem Einbruch in das Pflegeheim König<br />

David in Naila dieses für ein unbewohntes (Büro-)Gebäude gehalten haben sollten.<br />

390


d) Gleiches gilt für den Einbruch in ein bewohntes privates Wohnhaus in Berg. Hier kommt hinzu, dass Garage <strong>und</strong><br />

Keller durchsucht wurden. Die Annahme, dass die Angeklagten geglaubt hätten, in Garage oder Keller eines unbewohnten<br />

Hauses würden stehlenswerte Gegenstände aufbewahrt, liegt nicht nahe.<br />

4. In den in Rede stehenden Fällen war das Urteil daher aufzuheben. Dies führt zugleich zur Aufhebung der Gesamtstrafen,<br />

während die von der Staatsanwaltschaft nicht gesondert angefochtene Unterbringungsentscheidung (vgl.<br />

hierzu BGH, Urteil vom 20. September 2011 - 1 StR 120/11) von der durch deren Revision bewirkten (nur) teilweisen<br />

Aufhebung des Schuldspruchs unberührt bleibt. Die bisher getroffenen Feststellungen zum äußeren Geschehensablauf<br />

können bestehen bleiben, weil sie rechtsfehlerfrei getroffen sind.<br />

II. Der Senat sieht Anlass zu folgenden Hinweisen:<br />

1. Die Strafkammer hat ihre Annahme, die Angeklagten hätten nicht in bewohnte Anwesen einbrechen wollen, ergänzend<br />

auch darauf gestützt, es sei „allgemein bekannt“, dass in Pfarrhäusern „Wohn- <strong>und</strong> Bürobereich … getrennt<br />

sind … die Büros im Erdgeschoss <strong>und</strong> die Wohnräume im ersten Stock“. Die Staatsanwaltschaft meint demgegenüber,<br />

zumindest auf dem Land diene das Pfarrhaus einheitlich als Arbeits- <strong>und</strong> Wohnraum. Dem geht der Senat nicht<br />

näher nach, da die Beweiswürdigung der Strafkammer zur inneren Tatseite schon aus den dargelegten Gründen keinen<br />

Bestand haben kann. Er bemerkt jedoch, dass ein Erfahrungssatz über eine regelhafte Nutzungsstruktur von<br />

Pfarrhäusern nicht zum allgemein verbreiteten Wissen gehört. Bevor ein solcher Erfahrungssatz einem Urteil zu<br />

Gr<strong>und</strong>e gelegt wird, müssen die Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung <strong>und</strong> zur Anbringung von Beweisanträgen<br />

gehabt haben (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO, 25. Aufl., § 261 Rn. 24, 25; Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag<br />

im Strafprozess, 5. Aufl., S. 570, 571 jew. mwN).<br />

2. Da die Strafkammer Wohnungseinbruchdiebstahl schon aus subjektiven Gründen abgelehnt hat, ist sie seinen<br />

objektiven Voraussetzungen nicht näher nachgegangen. Dies wird gegebenenfalls nachzuholen sein, nicht jeder Einbruch<br />

in ein bewohntes Haus ist Wohnungseinbruchdiebstahl:<br />

a) Wohnungseinbruchdiebstahl ist - zusammengefasst - wegen der damit verb<strong>und</strong>enen Verletzung der Privatsphäre<br />

des Opfers ein eigener Tatbestand mit erhöhter Strafdrohung (BGH, Beschluss vom 24. April 2008 - 4 StR 126/08,<br />

NStZ 2008, 514, 515 mwN). Nach seinem Wortlaut muss der Täter „in“ eine Wohnung eingebrochen (bzw. eingestiegen,<br />

eingedrungen oder in ihr verborgen gewesen) sein, aber er muss nicht „aus“ ihr gestohlen haben (vgl. zusammenfassend<br />

Vogel in LK-<strong>StGB</strong>, 12. Aufl., § 244 Rn. 76 mwN).<br />

b) Für die auch hier (möglicherweise) einschlägigen Fragen nach der Bewertung von Einbrüchen in gemischt genutzte<br />

Gebäude <strong>und</strong>/oder in Nebenräume von Wohnhäusern ergibt sich daher nach dem Schutzzweck des Gesetzes <strong>und</strong><br />

seinem Wortlaut - der die Grenze einer Gesetzesauslegung zum Nachteil des Angeklagten bildet - Folgendes:<br />

(1) Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat bei gemischt - also zugleich zu Wohn- <strong>und</strong> Geschäftszwecken - genutzten Gebäuden<br />

Wohnungseinbruchdiebstahl bejaht, wenn der Täter nur deshalb in einen privaten Wohnraum einbrach, um von dort<br />

ungehindert in Geschäftsräume zu gelangen <strong>und</strong> dort zu stehlen. Bei einem Einbruch in einen Geschäftsraum gilt<br />

dagegen die Annahme eines Wohnungseinbruchdiebstahls auch dann als mit dem Gesetzeswortlaut unvereinbar,<br />

wenn es dem Täter nur darum geht, von dort ohne weitere Hindernisse in den Wohnbereich vorzudringen <strong>und</strong> dort zu<br />

stehlen (BGH aaO mwN), jedoch nur soweit die Räumlichkeiten, in die eingebrochen wurde, vom Wohnbereich<br />

völlig getrennt untergebracht sind (BGH aaO). Dagegen liegt Wohnungseinbruchdiebstahl vor, wenn der Täter in<br />

einen Raum einbricht, der zwar ausschließlich beruflich genutzt, aber so in den Wohnbereich integriert ist, dass insgesamt<br />

eine in sich geschlossene Einheit vorliegt (offen gelassen b. BGH aaO). Ein Raum in einer Wohnung bleibt<br />

auch dann <strong>Teil</strong> der Wohnung, wenn der Bewohner ihn zu seinem Arbeitsraum bestimmt hat. Dies gilt nicht nur für<br />

das Büro eines Rechtsanwalts in dessen Wohnung (vgl. hierzu BGH aaO; Vogel aaO), sondern auch für das Amtszimmer<br />

in der Wohnung eines Pfarrers. Die Verletzung der Privatsphäre wiegt nicht weniger schwer, wenn der Täter<br />

in diesen Raum der Wohnung einbricht. Greift aber der Schutzzweck des Gesetzes in gleicher Weise ein wie bei<br />

einem Einbruch in einen anderen Wohnungsteil <strong>und</strong> steht der Wortlaut des Gesetzes nicht entgegen, so führt dies in<br />

derartigen Fällen zur Annahme eines Wohnungseinbruchdiebstahls (im Ergebnis ebenso Vogel aaO).<br />

(2) Vergleichbares gilt für Einbrüche in Nebenräume wie z.B. Keller oder Garagen. Auch hier wird Wohnungseinbruchdiebstahl<br />

verneint, wenn diese, auch bei räumlicher Nähe zur Wohnung, abgeschlossen oder selbständig sind<br />

(vgl. näher Vogel aaO mwN). Jedoch liegt aus den genannten Gründen Wohnungseinbruchdiebstahl vor, wenn der<br />

Täter in Räume einbricht, die dem Begriff des Wohnens typischerweise zuzuordnen sind, wie z.B. den Keller eines<br />

Einfamilienhauses. Dies gilt sowohl, wenn er sich von dort ungehindert Zugang zum ohne Weiteres erreichbaren<br />

Wohnbereich im Erd- oder Obergeschoß verschafft (Vogel aaO; offen geblieben bei BGH aaO, in der Tendenz aber<br />

ebenso) als auch dann, wenn er aus derartigen Räumen stiehlt (Vogel aaO).<br />

a) Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage bemerkt der Senat zu den einzelnen, von der Revision betroffenen Fällen:<br />

391


(1) Fall II B 8 der Urteilsgründe, Pfarrhaus in Streitau: Hier wurde (auch) Schmuck gestohlen (vgl. oben C. I. 3. a)),<br />

die Annahme, dass aus einer Wohnung gestohlen wurde, liegt nahe. Feststellungen darüber, wo eingebrochen wurde,<br />

werden nachzuholen sein.<br />

(2) Fall II B 10 der Urteilsgründe, Pflegeheim König David in Naila: Hier ist nur festgestellt, dass aus dem Inneren<br />

des Pflegeheims gestohlen wurde. Ein Wohnungseinbruchdiebstahl läge zweifelsfrei vor, wenn in ein Zimmer des<br />

Pflegeheims eingebrochen worden wäre (vgl. zum insoweit vergleichbaren Einbruch in ein Hotelzimmer BGH, Beschluss<br />

vom 3. Mai 2001 - 4 StR 59/01). Für den Fall eines Einbruchs in den Flur <strong>und</strong>/oder den Empfangsbereich des<br />

Heims käme es darauf an, ob diese Räumlichkeiten als Nebenräume der Zimmer der Heimbewohner (also deren<br />

Wohnungen) zu bewerten sind (BGH, Beschluss vom 20. Mai 2005 - 2 StR 129/05, NStZ 2005, 631).<br />

(3) Fall II B 11 der Urteilsgründe, Pfarrhaus in Joditz: Das Pfarrhaus war bewohnt, gestohlen wurde aus einem Büro.<br />

Entscheidend ist daher, wo genau eingebrochen wurde.<br />

(4) Fall II B 13 der Urteilsgründe, privates Wohnhaus in Berg: Das Haus war bewohnt. Eingedrungen wurde in die<br />

Kellerräume, (vergeblich) durchsucht wurden die Räume im Keller <strong>und</strong> die Garage (vgl. C. I. 3. d)). Es kommt also<br />

darauf an, ob Keller <strong>und</strong>/oder Garage unmittelbar mit dem Wohnbereich verb<strong>und</strong>en oder hiervon baulich getrennt<br />

waren.<br />

(5) Fall II B 15 der Urteilsgründe, Pfarramt in Neuhaus: Hier ist nur festgestellt, dass J. gerade versuchte, ein Fenster<br />

aufzubrechen, als der im Haus wohnende Pfarrer kam (vgl. C. I. 2. d)). In welchen Raum J. im Erfolgsfalle eingedrungen<br />

wäre, ist nicht festgestellt.<br />

(6) Fall II B 19 der Urteilsgründe, Pfarramt in Hollfeld: Ob das Pfarramt bewohnt war, ist nicht festgestellt. Hier<br />

könnte gegen einen Wohnungseinbruchdiebstahl sprechen, dass im Urteil nur von dem Pfarrsaal, den Jugendräumen<br />

<strong>und</strong> dem Büro des Pfarrers die Rede ist. Eine abschließende Beurteilung ist jedoch nicht möglich, da auch hier nicht<br />

festgestellt ist, wo genau eingebrochen wurde.<br />

(7) Fall II B 20 der Urteilsgründe, Pfarramt in Altenkunstadt: Hier ist weder festgestellt, ob das Pfarramt bewohnt<br />

war, noch, wo genau eingebrochen wurde. Nachdem „sämtliche“ Schränke <strong>und</strong> Behältnisse durchsucht wurden,<br />

erscheint ein Wohnungseinbruchdiebstahl möglich.<br />

(8) Fall II B 23 der Urteilsgründe, Pfarrhaus in Hassfurt: Feststellungen darüber, ob das Objekt bewohnt war, fehlen<br />

ebenso wie Feststellungen darüber, wo genau eingebrochen wurde. Die Beute, u.a. eine Taschenuhr, eine Handtasche<br />

<strong>und</strong> Silbertaler, spricht dagegen, dass ausschließlich aus einem Büro gestohlen wurde (vgl. C. I. 3. b)), wenngleich<br />

nur von „Büroschränken“ die Rede ist.<br />

(9) Fall II B 29 der Urteilsgründe, Pfarrzentrum in Ahorntal: J. hatte sich durch Einschlagen eines Kellerfensters<br />

schon Zutritt zum bewohnten Pfarrzentrum verschafft. Als er von einer Zeugin überrascht wurde, entfernte er sich<br />

ohne Beute (vgl. oben C. I. 2. d)). Für die Annahme eines versuchten Wohnungseinbruchdiebstahls kommt es auch<br />

hier auf die genauen örtlichen Verhältnisse an.<br />

3. Sollten aus den dargelegten Gründen ergänzende Feststellungen notwendig werden, wären hierfür noch erforderliche<br />

Ermittlungen zweckmäßigerweise schon vor der neuen Hauptverhandlung nachzuholen. Damit könnte entsprechend<br />

§ 202 StPO auch die Staatsanwaltschaft betraut werden (vgl. näher Lindemann, Ermittlungsrechte <strong>und</strong> -<br />

pflichten der Staatsanwaltschaft nach Beginn der Hauptverhandlung S. 221 f. mwN).<br />

4. Würde festgestellt, dass die Angeklagten billigend in Kauf nahmen, in einen von § 244 Abs. 1 Nr. 3 <strong>StGB</strong> umfassten<br />

Raum einzubrechen, der dann diese Voraussetzungen nicht erfüllte, käme untauglicher Versuch in Betracht.<br />

5. Im Blick auf § 2 Abs. 3 <strong>StGB</strong> wird gegebenenfalls zu beachten sein, dass § 244 Abs. 3 <strong>StGB</strong> nF einen minder<br />

schweren Fall vorsieht (vgl. Artikel 1 Ziffer 5 des Vier<strong>und</strong>zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs<br />

vom 1. November 2011, BGBl. I S. 2130).<br />

6. Werden, wie hier, im Urteil Feststellungen gemäß § 111i Abs. 2 Satz 1 StPO getroffen, sollten diese tunlichst auch<br />

in die Urteilsformel aufgenommen werden (Nack in KK-StPO, 6. Aufl., § 111i Rn. 14).<br />

392


StPO § 265, § 257, § 261 Faires Verfahren, rechtlicher Hinweis erst nach Plädoyer der StA<br />

BGH, Beschl. v. 10.01.2012 - 5 StR 508/11 - StraFo 2012, 101<br />

Erteilt das Gericht erst nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft einen Hinweis auf veränderte<br />

Konkurrenzen, so erfordert die Beanstandung in der Revision als verspätet einen Zwischenrechtsbehelf;<br />

wenn die Verteidigung widerspruchslos der Aufforderung an den Verteidiger, den Schlussvortrag<br />

zu halten, folgt, ist die Rüge eines Verstoßes gegen das Gebot des fairen Verfahrens unzulässig.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 19. Juli 2011 gemäß § 349<br />

Abs. 4 StPO aufgehoben<br />

a) mit den zugehörigen Feststellungen, soweit der Angeklagte im Fall 3 der Urteilsgründe verurteilt ist, <strong>und</strong><br />

b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.<br />

2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen dreier Fälle des unerlaubten Handeltreibens mit Kokain in nicht geringer<br />

Menge, im Fall 3 in Tateinheit mit Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben<br />

Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge hinsichtlich der Verurteilung im Fall 3 Erfolg.<br />

Das Rechtsmittel ist im Übrigen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Das Landgericht hat sich im Wesentlichen auf der Gr<strong>und</strong>lage der Verurteilung des Drogenkuriers O. durch das<br />

Amtsgericht Heggen <strong>und</strong> Fröland (Norwegen) am 29. April 2008 sowie der in großem Umfang ausgewerteten Geodaten<br />

der durch O. genutzten Mobiltelefone sowie dessen mit dem Angeklagten geführten Telefongespräche rechtsfehlerfrei<br />

davon überzeugt, dass der Angeklagte im Dezember 2007 mindestens 500 g sowie 987 g Kokain höherer<br />

Konzentration von Hamburg nach Oslo exportieren ließ. Die dieserhalb gef<strong>und</strong>enen Schuld- <strong>und</strong> Strafaussprüche (je<br />

vier Jahre Freiheitsstrafe) sind beanstandungsfrei. Die in diesem Zusammenhang erhobene Rüge eines Fairnessverstoßes<br />

ist unzulässig. Der erst nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft erteilte Hinweis des Landgerichts auf veränderte<br />

Konkurrenzen hätte, wenn die Verteidigung ihn als verspätet beanstanden wollte, einen Zwischenrechtsbehelf<br />

erfordert: Die als Maßnahme der Verhandlungsleitung unmittelbar danach ergangene Aufforderung an den Verteidiger,<br />

den Schlussvortrag zu halten, wäre gemäß § 238 Abs. 2 StPO zu beanstanden gewesen (vgl. Meyer-Goßner,<br />

StPO, 54. Aufl., § 238 Rn. 22), anstatt – wie geschehen – widerspruchslos den Schlussvortrag zu halten.<br />

2. Dem Schuldspruch hinsichtlich des unerlaubten Handeltreibens in Tateinheit mit Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr<br />

von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Einsatzstrafe: fünf Jahre Freiheitsstrafe) hat das Landgericht<br />

ausschließlich die Zeugenaussage des am 3. Juni 2008 nach Einreise in die B<strong>und</strong>esrepublik mit 987 g Kokain (50 %<br />

HHC) festgenommenen, in Hamburg ansässigen Zeugen Am. zugr<strong>und</strong>e gelegt. Dieser hatte bereits in seiner polizeilichen<br />

Vernehmung vom 6. Oktober 2008 den Angeklagten als Auftraggeber der Kurierfahrt benannt (UA S. 19) <strong>und</strong><br />

ist am 22. Oktober 2008 durch das Landgericht Kleve zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten<br />

verurteilt worden.<br />

3. Die Bewertung der den Angeklagten allein belastenden Zeugenaussage ist unter mehreren Aspekten fehlerhaft <strong>und</strong><br />

vermag letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2001 – 5 StR<br />

520/01, StV 2002, 235; Beschluss vom 13. September 2011 – 5 StR 308/11).<br />

a) Das Landgericht hat es unterlassen, die sich widersprechenden Angaben des Zeugen <strong>und</strong> des die Tat bestreitenden<br />

Angeklagten zu ihrem Kennenlernen für die Glaubhaftigkeitsprüfung heranzuziehen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli<br />

1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f.). Der Zeuge Am. hat – für sich wenig plausibel – ausgeführt, der Angeklagte<br />

habe ihn in Hamburg während eines Friseurbesuchs angesprochen, ob er bereit sei, Kokain aus Amsterdam<br />

nach Hamburg zu transportieren (UA S. 18). Demgegenüber hat sich der Angeklagte dahingehend eingelassen, er<br />

kenne Am. als häufigen Besucher des von ihm betriebenen Callshops; Am. habe bei ihm Schulden gehabt (UA S.<br />

10).<br />

b) Die Strafkammer hat daneben Besonderheiten der Zeugenaussage ohne kritische Prüfung von deren Auswirkungen<br />

auf die Bewertung der belastenden Aussage im Übrigen hingenommen (vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 2002 –<br />

393


5 StR 130/01, BGHSt 47, 220, 223 f.). Das Landgericht hat festgestellt, dass der Belastungszeuge nicht umfassend<br />

ausgesagt hat <strong>und</strong> „in weitem Umfang von seinem Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO Gebrauch gemacht<br />

hat“ (UA S. 19), ohne hierzu Einzelheiten darzustellen <strong>und</strong> deren Relevanz für die Beweiswürdigung zu erwägen.<br />

Soweit das Landgericht die Aussage des Zeugen hinsichtlich mitgeführter 3.500 € Bargeld als eher nicht der Wahrheit<br />

entsprechend <strong>und</strong> zu einem kriminellen Hintergr<strong>und</strong> gehörend gewürdigt hat (UA S. 19 f.), fehlt es an der Einbeziehung<br />

dieses Aspektes in die gebotene – hier indes gar nicht angestellte – Gesamtbetrachtung aller die Glaubhaftigkeit<br />

der Aussage in Frage stellenden Umstände (vgl. Brause, NStZ 2007, 505, 512 mwN). Der Senat besorgt ferner,<br />

dass die Strafkammer der Aussagekonstanz hinsichtlich der Umstände der Kurierfahrt (UA S. 19) eine zu große<br />

Bedeutung hinsichtlich der Glaubhaftigkeit der Belastung des Angeklagten als Auftraggeber der Einfuhr zugemessen<br />

hat. Der Zeuge konnte nämlich ohne weiteres viele Details der selbst erlebten Kurierfahrt wiederholt schildern, ohne<br />

dass hierdurch die eher detailarm bek<strong>und</strong>ete Beauftragung gerade durch den Angeklagten gestützt werden musste<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 13. September 2011 – 5 StR 308/11).<br />

4. Die Sache bedarf demnach hinsichtlich des Einfuhrfalles neuer Aufklärung <strong>und</strong> Bewertung. Sollte die gebotene –<br />

bis jetzt nach dem Inhalt freilich nicht durchgreifender Verfahrensrügen unterbliebene – Aufklärung des Kommunikationsverhaltens<br />

des Belastungszeugen keine Verbindung zu dem Angeklagten erbringen, könnte ressourcenschonend<br />

§ 154 Abs. 2 StPO angewandt werden.<br />

StPO § 267 Abs. 1 Satz 3 – Bezugnahme auf Videoaufzeichnung<br />

BGH, Beschl. v. 14.09.2011 - 5 StR 355/11 - BGHR StPO § 67 I 3 Verweisung 3<br />

Zur Bezugnahme im Urteil auf bei den Akten befindliche auf CD gespeicherte Videofilmsequenzen.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 28. Januar 2011 wird nach § 349 Abs. 2<br />

StPO als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die dadurch der Adhäsions-<br />

<strong>und</strong> Nebenklägerin J. entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Ergänzend bemerkt der Senat:<br />

1. Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass es sich bei den gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO in Bezug genommenen,<br />

auf CD gespeicherten Videofilmen (zwei CD „Überwachung“ <strong>und</strong> eine CD „sequenzielle Videowahlgegenüberstellung“)<br />

um Abbildungen im Sinne dieser Vorschrift handeln würde (vgl. OLG Dresden, NZV 2009, 520 mwN; aA<br />

Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 267 Rn. 9 f.; OLG Brandenburg, DAR 2005, 635, 636), läge hier eine wirksame<br />

Inbezugnahme nicht vor. Hinsichtlich der Videowahlgegenüberstellung wird schon die F<strong>und</strong>stelle in der Akte nicht<br />

angegeben. Bezüglich des Überwachungsvideos ist der Umfang der – hier auf den gesamten Inhalt der beiden Datenträger<br />

bezogenen – Verweisung nicht so ausreichend bestimmt, um daraus den auf dem Überwachungsvideo erkennbaren<br />

Täter zu identifizieren. Die gebotene Klarheit des Inhalts der Urteilsgründe wird bei einer solchen Fassung<br />

verfehlt (vgl. OLG Brandenburg aaO). Es kann zudem nicht Aufgabe des Revisionsgerichts sein, anhand der Beschreibungen<br />

des Tatverdächtigen im Urteil die Körpermerkmale des auf dem Videofilm in Bezug genommenen<br />

Mannes nach wertender Betrachtung selbst an parater Stelle des Films aufzufinden. Hierbei handelte es sich nicht<br />

mehr um eine Nachvollziehung des Urteils, sondern um einen Akt der Beweiswürdigung, der dem Revisionsgericht<br />

gemäß § 337 Abs. 1 StPO versagt ist. Indes enthalten bereits die Gründe des angefochtenen Urteils auch ohne die<br />

Verweisungen eine aus sich heraus verständliche, allein tragfähige Identifizierung des Angeklagten als Täter, die auf<br />

möglichen <strong>und</strong> nachvollziehbaren Schlussfolgerungen beruht (vgl. BGH, Urteil vom 4. November 1988 – 1 StR<br />

262/88 – BGHSt 36, 1, 14).<br />

2. Aus einem von der ersten Geschädigten bek<strong>und</strong>eten Wiedererkennen des Angeklagten außerhalb des Verfahrens<br />

ergaben sich jedenfalls keine im Urteil unerlässlich erörterungsbedürftigen potentiellen Fehlerquellen für das Beweiswürdigungsergebnis.<br />

394


StPO § 267 I Satz 3 - Verweisung auf ein elektronisches Speichermedium (Video)<br />

BGH, Urt. v. 02.11.2011 - 2 StR 332/11 - NJW 2012, 244 = StV 2012, 272 Anm. Deutscher NStZ 2012, 229<br />

LS: In der Verweisung auf ein elektronisches Speichermedium liegt keine wirksame Bezugnahme<br />

im Sinne von § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO.<br />

Die Revision des Nebenklägers F. B. gegen das Urteil des Landgerichts Marburg vom 15. März 2011 wird verworfen.<br />

Der Nebenkläger hat die Kosten seines Rechtsmittels sowie die den Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen<br />

Auslagen zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die hiergegen gerichtete Revision<br />

des Nebenklägers F. B. hat keinen Erfolg.<br />

1. Die Anklage der Staatsanwaltschaft vom 15. Juni 2009 legte den Angeklagten Folgendes zur Last: Am 8. Juni<br />

2007 gegen 23.00 Uhr erschienen die Geschädigten J. B., F. B. <strong>und</strong> R. L. zu einem zuvor mit den Angeklagten S.<br />

<strong>und</strong> Br. vereinbarten Treffen auf dem Gelände des u.a. von diesen Angeklagten geführten Bordellbetriebes. Hintergr<strong>und</strong><br />

dieses Treffens war die von den Angeklagten S. <strong>und</strong> Br. in Aussicht gestellte Klärung bzw. Begleichung offener<br />

Forderungen der Zeugen B. gegen den Angeklagten S. wegen für diesen in dem Bordellbetrieb vor dem Verkauf<br />

an den Angeklagten H. im Februar 2007 erbrachter Sicherheitsdienste. Wie zuvor zwischen allen Angeklagten verabredet,<br />

begrüßten die Angeklagten S. <strong>und</strong> Br. die Geschädigten auf dem Parkplatz des Bordellbetriebes mit vorgetäuschter<br />

Herzlichkeit, um sie in Sicherheit zu wiegen <strong>und</strong> ihre eigentlichen Absichten zu verschleiern. Sodann geleiteten<br />

sie die Geschädigten in die Küche des Bordellbetriebes. Während der dort zunächst geführten Verhandlungen<br />

hinsichtlich der Höhe der noch offenen Forderungen der Zeugen B. gegen den Angeklagten S. kamen - wie zuvor<br />

besprochen - weitere Personen aus dem Umfeld der Angeklagten S. <strong>und</strong> Br., unter anderem die übrigen Angeklagten<br />

hinzu. Als der Zeuge J. B. , bei dem der zutreffende Eindruck entstanden war, in eine Falle gelockt worden zu sein,<br />

das Gespräch beenden wollte <strong>und</strong> seine Begleiter aufforderte, zu gehen, äußerte der Angeklagte Br. , dass niemand<br />

den Raum verlassen werde, bis "die Sache" geklärt sei, erhob sich von seinem Stuhl <strong>und</strong> stieß den geschädigten J. B.<br />

zu Boden. Gleichzeitig griffen - wie im Vorfeld besprochen - die Angeklagten F. , M. <strong>und</strong> K. sowie weitere namentlich<br />

nicht ermittelte Personen aus der Türsteherszene um den Angeklagten M. die Geschädigten mit Messern, Baseball-,<br />

Totschlägern <strong>und</strong> ähnlichen Schlagwerkzeugen an. Der Angeklagte Ka. zog eine Pistole, forderte die Geschädigten<br />

auf, den Raum nicht zu verlassen <strong>und</strong> hielt dem am Boden liegenden J. B. die Waffe an den Kopf. Im Verlaufe<br />

des Überfalls taten sich namentlich die Angeklagten Br., M. <strong>und</strong> K. hervor, die mit Fäusten <strong>und</strong> verschiedenen<br />

Schlagwerkzeugen auf die Geschädigten einschlugen. Darüber hinaus fügte der Angeklagte K. dem Geschädigten F.<br />

B. mit einem Messer eine Bauchstichw<strong>und</strong>e <strong>und</strong> der Angeklagte Br. dem Geschädigten L. eine Schnittverletzung im<br />

Gesicht zu. Als es den Zeugen gelang, aus der Küche zu entkommen <strong>und</strong> das Gebäude zu verlassen, folgten ihnen<br />

mehrere Angreifer <strong>und</strong> schlugen weiter auf sie ein. Der Angeklagte Br. verfolgte die Geschädigten bis an das angrenzende<br />

Gelände eines Autohauses <strong>und</strong> brachte dem Geschädigten J. B. einen weiteren Stich - dieses Mal in den<br />

Oberschenkel - bei. Die Zeugen erlitten durch die Angriffshandlungen multiple Prellungen, Hämatome <strong>und</strong> Schürfw<strong>und</strong>en<br />

an Kopf <strong>und</strong> Körper sowie verschiedene Stich- <strong>und</strong> Schnittverletzungen. Durch den geschilderten Überfall<br />

wollten die Angeklagten die Zeugen dazu zwingen, auf die Geltendmachung der ihnen für die erbrachten Security-<br />

Dienste zustehenden Forderungen gegen den Angeklagten S. endgültig zu verzichten. Die Angeklagten Ma., Bö. <strong>und</strong><br />

T. unterstützten das Vorgehen der übrigen Angeklagten durch ihre Anwesenheit <strong>und</strong> trugen dazu bei, eine Situation<br />

großer zahlenmäßiger Überlegenheit zu schaffen, die den Geschädigten eine Verteidigung gegen die körperlichen<br />

Angriffe seitens der weiteren Angeklagten von vorneherein erschweren sollte.<br />

2. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt: Die Zeugen F. <strong>und</strong> J. B. erschienen am Abend des 8. Juni 2007 gegen<br />

22.40 Uhr zusammen mit dem Zeugen L. <strong>und</strong> einer vierten, unbekannt gebliebenen Begleitperson aufgr<strong>und</strong> einer<br />

vorherigen telefonischen Verabredung auf dem Gelände des Bordellbetriebes. Zu diesem Zeitpunkt waren zumindest<br />

alle Angeklagten mit Ausnahme des Angeklagten T., der erst gegen 22.46 Uhr vor Ort eintraf, verschiedene Bedienstete<br />

<strong>und</strong> Prostituierte sowie drei unbekannt gebliebene männliche Personen im Gebäude des Bordells anwesend. Im<br />

Außenbereich wurden die Ankommenden von den Angeklagten Bö. <strong>und</strong> Br. in Empfang genommen <strong>und</strong> von dem<br />

Angeklagten Bö. durch den Privateingang bis in die Küche des Gebäudes geleitet. Sodann kamen in den Privatbereich<br />

des Bordells in kurzer zeitlicher Abfolge die Angeklagten S., H., Ka., Br. <strong>und</strong> K. sowie ein unbekannt gebliebener<br />

Mann mit hellen Schuhen. Einige Zeit später kamen zwei weitere unbekannte Männer <strong>und</strong> der Angeklagte M.,<br />

nochmals deutlich später der Angeklagte T. in den Privatbereich des Bordells. Nur wenige Zeit später begleitete der<br />

395


Angeklagte Bö. den Zeugen L. dann wieder durch den Privateingang des Bordells ins Freie. Nach kurzer Zeit bewegten<br />

sich beide wieder auf den Privateingang zu, aus dem in diesem Moment die B. -Brüder, ihr unbekannt gebliebener<br />

Begleiter sowie der Angeklagte Br. kamen. Die B. -Brüder, der Zeuge L. <strong>und</strong> ihr Begleiter verließen das Bordell<br />

aufrechten Ganges <strong>und</strong> augenscheinlich ohne jede körperliche Einschränkung. J. <strong>und</strong> F. B. gestikulierten noch in<br />

Richtung des Angeklagten Br., bevor sie dem R. L. sowie dem unbekannten Begleiter folgten <strong>und</strong> zu Fuß in Richtung<br />

des Parkplatzes weggingen. In der Nähe des Bordells wurden am 8. Juni 2007 mindestens zwei Personen notärztlich<br />

versorgt, die anschließend mit Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht wurden. Im Krankenhaus wurden<br />

ab 23.40 Uhr u.a. bei J. B. multiple Prellungen sowie eine 5 cm lange Stichw<strong>und</strong>e im Bereich der rückwärtigen Flanke,<br />

bei F. B. Zeichen multipler stumpfer Gewalteinwirkung <strong>und</strong> eine die Motorik nicht beeinträchtigende Schnittw<strong>und</strong>e<br />

mit Durchtrennung der starken Muskelfaszie <strong>und</strong> bei R. L. multiple Prellungen sowie Schnittverletzungen im<br />

Gesicht festgestellt. Bei den Angeklagten Br. <strong>und</strong> M. wurden leichtgradige Verletzungen festgestellt. Weitergehende,<br />

zur Verurteilung der Angeklagten erforderliche Feststellungen vermochte das Landgericht nicht zu treffen. Insbesondere<br />

sah es die Strafkammer nicht als erwiesen an, dass es innerhalb der Küche des Bordellbetriebes <strong>und</strong> sodann auf<br />

dem angrenzenden Gelände, zu von einigen Angeklagten ausgehenden <strong>und</strong> von anderen Angeklagten unterstützten<br />

Aggressionen mit Messern <strong>und</strong> Schlagwerkzeugen gegen die Zeugen J. <strong>und</strong> F. B. sowie L. kam, durch die diese<br />

ursächlich die festgestellten Verletzungen erlitten. Außerdem sei nicht erwiesen, dass die Angeklagten die Brüder B.<br />

durch die - zur Überzeugung der Kammer nicht erwiesenen Aggressionen - dazu zwingen wollten, auf die Geltendmachung<br />

etwaiger den Brüdern B. für erbrachte Sicherheitsdienste zustehender Forderungen gegen den Angeklagten<br />

S. endgültig zu verzichten.<br />

3. Die auf Verfahrensrügen <strong>und</strong> die Sachrüge gestützte Revision des Nebenklägers, die sich vor allem gegen die<br />

Beweiswürdigung des Landgerichts richtet, ist unbegründet.<br />

a) Die allgemeinen Anforderungen an die Begründung eines freisprechenden Urteils sind erfüllt (vgl. zu diesen Meyer-Goßner,<br />

StPO, 54. Aufl., 2011, § 267 Rn. 33 ff.; Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 28. Aufl. 2008,<br />

Rn. 621 ff.; jeweils mwN.). Das Landgericht hat, nachdem es Feststellungen zur Person der Angeklagten getroffen<br />

<strong>und</strong> den der Anklage zugr<strong>und</strong>eliegenden Tatvorwurf skizziert hat, in einem ersten Schritt die in der Hauptverhandlung<br />

getroffenen Feststellungen zusammenhängend dargestellt. Soweit die Revision geltend macht, das Landgericht<br />

habe durch Vernehmung von Richter am Amtsgericht O. weitere Feststellungen zur "Substanz der Aussage des Zeugen<br />

R. L. , insbesondere dessen Erinnerungsvermögen <strong>und</strong> den Eindruck des Ermittlungsrichters zu der Aussage der<br />

Tüchtigkeit des Zeugen L. näher ergründen müssen", ist die damit erhobene Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO)<br />

unzulässig, da die Revision nicht mitteilt, was die Vernehmung des Ermittlungsrichters inhaltlich ergeben hätte <strong>und</strong><br />

aufgr<strong>und</strong> welcher Tatsachen sich das Landgericht hätte konkret zu der Beweiserhebung gedrängt sehen müssen.<br />

b) In der nachfolgenden Beweiswürdigung hat das Landgericht die Einlassungen der Angeklagten, die Sachbeweise,<br />

die von ihm für besonders bedeutsam erachteten Videoaufzeichnungen der Örtlichkeiten, sowie den wesentlichen<br />

Inhalt von Zeugenaussagen, namentlich der Angaben von J. <strong>und</strong> F. B. sowie R. L. , wiedergegeben <strong>und</strong> im Einzelnen<br />

ausführlich gewürdigt.<br />

aa) Die Einwendungen der Revision, die sich namentlich gegen die Bewertung der DNA-Gutachten <strong>und</strong> die Beurteilung<br />

der Glaubwürdigkeit der Zeugen F. <strong>und</strong> J. B. sowie des Zeugen L. durch das Landgericht richten, bestehen in<br />

der Substanz darin, die Würdigungen des Landgerichts seien unzutreffend <strong>und</strong> erschöpfen sich in dem Versuch, mit<br />

urteilsfremden Erwägungen eine eigene Würdigung an die Stelle der vom Tatrichter vorgenommenen zu setzen;<br />

einen durchgreifenden Rechtsfehler zeigen sie nicht auf. Dies gilt namentlich auch für die von der Revision im Rahmen<br />

der Würdigung der Aussage des Zeugen F. B. vermisste Berücksichtigung der Angaben des Angeklagten Br. in<br />

seiner ersten polizeilichen Vernehmung. Soweit hierin - wie der Zuschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts entnommen<br />

werden könnte - zusätzlich eine Verfahrensrüge unter dem Blickwinkel des § 261 StPO enthalten sein sollte, wäre<br />

diese jedenfalls unzulässig, da der Wortlaut der betreffenden Vernehmung nur auszugsweise mitgeteilt wird.<br />

bb) Auch soweit das Landgericht im Urteil die Angaben des R. L. vor dem Ermittlungsrichter, die im allseitigen<br />

Einverständnis durch Verlesen in die Hauptverhandlung eingeführt wurden, nicht im Einzelnen wiedergegeben <strong>und</strong><br />

gewürdigt hat, hält dies revisionsgerichtlicher Überprüfung stand. Eine Beweiswürdigung kann ihrer Natur nach<br />

nicht erschöpfend in dem Sinne sein, dass alle irgendwie denkbaren Gesichtspunkte <strong>und</strong> Würdigungsvarianten in den<br />

Urteilsgründen ausdrücklich abgehandelt werden. Aus einzelnen denkbaren oder tatsächlichen Lücken in der ausdrücklichen<br />

Erörterung kann nicht abgeleitet werden, der Tatrichter habe nach den sonstigen Urteilsfeststellungen<br />

auf der Hand liegende Wertungsgesichtspunkte nicht bedacht (Senat, Urteil vom 23. Juni 2010, 2 StR 35/10; BGH,<br />

Urteil vom 28. Oktober 2010, 4 StR 285/10). Dass sich eine Wiedergabe <strong>und</strong> Würdigung der Angaben des R. L. vor<br />

dem Ermittlungsrichter dem Landgericht mit Rücksicht auf die sonstigen Feststellungen im Urteil aufdrängen muss-<br />

396


te, ist nicht ersichtlich <strong>und</strong> von der Revision auch nicht konkret - etwa durch eine Inbegriffsrüge nach § 261 StPO -<br />

dargelegt.<br />

cc) Rechtlichen Bedenken begegnet allerdings die an mehreren Stellen des Urteils vorgenommene Verweisung „wegen<br />

der weiteren Einzelheiten … der Videoaufzeichnung … auf die bei den Akten befindliche CD-ROM“. In der<br />

Verweisung auf ein elektronisches Speichermedium als solches liegt keine wirksame Bezugnahme im Sinne von §<br />

267 Abs. 1 Satz 3 StPO (vgl. auch OLG Brandenburg NStZ-RR 2010, 89; DAR 2005, 635; OLG Schleswig SchlHA<br />

1997, 170; a.A. OLG Dresden NZV 2009, 520; OLG Zweibrücken VRS 102, 102 f.; KG VRS 114, 34; OLG Bamberg<br />

NZV 2008, 469). Nach dieser Vorschrift darf wegen der Einzelheiten auf (nur) „Abbildungen“ verwiesen werden,<br />

die sich bei den Akten befinden. Abbildungen sind Wiedergaben der Außenwelt, die unmittelbar durch den<br />

Gesichts- oder Tastsinn wahrgenommen werden können (Meyer-Goßner StPO 54. Aufl. § 267 Rn. 9; Fischer <strong>StGB</strong><br />

58. Aufl. § 11 Rn. 37). In seiner Sprachbedeutung als „bildliches Darstellen“ (Duden – Deutsches Universalwörterbuch,<br />

7. Aufl. 2011 S. 78) erfasst der Begriff vor allem statische bildliche Wiedergaben wie Fotografien, gemalte<br />

Bilder, Zeichnungen, Skizzen, Landkarten, technische Diagramme, grafische Darstellungen <strong>und</strong> Statistiken (vgl.<br />

Duden – Das Synonymwörterbuch – 5. Aufl. 2010 S. 32). Ob sich der Wortsinn auch auf Filme oder Filmsequenzen<br />

erstreckt, die in einer kontinuierlichen Abfolge einer Vielzahl von visuellen Eindrücken den Ablauf eines Geschehens<br />

dokumentieren, mag bereits zweifelhaft erscheinen. Dagegen könnte auch sprechen, dass der Gesetzgeber § 11<br />

Abs. 3 <strong>StGB</strong>, der bereits den Begriff der „Abbildungen“ enthielt, durch Art. 4 Nr. 1 luKDG um den Begriff des „Datenspeichers“<br />

erweitert hat, der auch CD-ROMs erfassen soll (vgl. BT-Drucks. 13/7385 S. 36). Selbst wenn man von<br />

dem Begriff – etwa im Kontext von § 184 <strong>StGB</strong> - gr<strong>und</strong>sätzlich auch Filme umfasst sieht (Fischer aaO), setzt eine<br />

Bezugnahme nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO aber voraus, dass diese selbst Aktenbestandteil geworden sind. Dies ist<br />

jedenfalls bei auf elektronischen Medien gespeicherten Bilddateien nicht der Fall. Bei diesen wird nicht der Film als<br />

solcher <strong>und</strong> damit das durch das menschliche Auge unmittelbar wahrnehmbare Geschehen, Bestandteil der Akten,<br />

sondern es bedarf für die Wahrnehmung der Vermittlung durch das Speichermedium sowie weiterer technischer<br />

Hilfsmittel, die das Abspielen ermöglichen. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber mit § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO eine<br />

Öffnung für Bezugnahmen in den Urteilsgründen nur in „einer vorsichtigen, die Verständlichkeit des schriftlichen<br />

Urteils nicht beeinträchtigenden Form“ (BT-Drucks. 8/976 S. 55) ermöglichen wollte. Bei Bezugnahmen auf Speichermedien<br />

mit – unter Umständen mehrstündigen – Videoaufnahmen wären die Urteilsgründe dagegen nicht mehr<br />

aus sich heraus verständlich. Darüber hinaus ist es nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, das Urteil möglicherweise<br />

tragende Umstände selbst an passender Stelle herauszufinden <strong>und</strong> zu bewerten; bei einem solchen Vorgehen handelt<br />

es sich nicht mehr um ein Nachvollziehen des Urteils, sondern um einen Akt eigenständiger Beweiswürdigung, der<br />

dem Revisionsgericht verwehrt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 14. September 2011, 5 StR 355/11). Dies gilt nicht nur<br />

für pauschale, sondern auch für Bezugnahmen, welche die Sequenz auf dem Speichermedium konkret bezeichnen<br />

<strong>und</strong> eingrenzen. Zwar ist die Videoaufzeichnung damit nicht Bestandteil der Urteilsgründe geworden. Indes beruht<br />

das Urteil nicht auf dem Rechtsfehler. Die Gründe enthalten auch ohne die ergänzenden Verweisungen eine aus sich<br />

heraus verständliche Beschreibung <strong>und</strong> Würdigung des sich aus den Filmaufnahmen ergebenden Geschehens, die<br />

eine umfassende Beurteilung ihres Aussagegehaltes durch den Senat ermöglicht. Die von der Revision unter Hinweis<br />

auf das Überwachungsvideo geltend gemachten Lücken <strong>und</strong> Widersprüche sind urteilsfremd.<br />

c) Schließlich hat das Landgericht die Beweisergebnisse <strong>und</strong> Indizien auch zusammenfassend unter dem Gesichtspunkt<br />

einer Gesamtschau gewürdigt.<br />

StPO § 302 Rechtsmittelverzicht<br />

BGH, Beschl. v. 25.04.2012 - 1 StR 80/12 - BeckRS 2012, 10466<br />

Ein trotz Rechtsmittelverzichts eingelegtes Rechtsmittel ist als unzulässig zu verwerfen, wenn die<br />

Wirksamkeit des Verzichts nicht bestritten wird.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bamberg vom 18. Oktober 2011 wird als unzulässig<br />

verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Die Revision des Angeklagten ist als unzulässig zu verwerfen (§ 349 Abs. 1 StPO). Durch am 25. Oktober 2011<br />

beim Landgericht mit Posteinlauf eingegangenes Schreiben vom 21. Oktober 2011 hat der Angeklagte ausdrücklich<br />

auf Rechtsmittel verzichtet ("… mein Urteil … hiermit vollkommen annehme <strong>und</strong> nicht in Revision gehe"). Mit am<br />

397


selben Tag, jedoch erst nach 18.00 Uhr, eingegangenem Fax-Schreiben hat der Verteidiger des Angeklagten Revision<br />

eingelegt. Im Schreiben vom 12. März 2012 hat der Angeklagte dazu mitgeteilt, dass er "keine Revision möchte<br />

<strong>und</strong> das Urteil vom 18. Oktober 2011 nochmals annehme". Nach Aktenlage, insbesondere auch den Ausführungen<br />

des Vorsitzenden der Strafkammer (SA Bl. 943, 944) ist davon auszugehen, dass der Rechtsmittelverzicht zeitlich<br />

vor Einlegung der Revision erklärt wurde. Hat der Verurteilte wirksam einen Rechtsmittelverzicht erklärt, ist die<br />

Rechtsmitteleinlegung seines Verteidigers nach eingetretener Rechtskraft des Urteils unwirksam (vgl. u.a. BGH<br />

NStZ 1986, 208; BGH NJW 1978, 330). Ein trotz Rechtsmittelverzichts eingelegtes Rechtsmittel ist als unzulässig<br />

zu verwerfen, wenn - wie hier - die Wirksamkeit des Verzichts nicht bestritten wird (vgl. u.a. Meyer-Goßner, StPO,<br />

54. Aufl., § 302 Rn. 26). Anhaltspunkte dafür, dass der Rechtsmittelverzicht unwirksam sein könnte, sind nicht ersichtlich.<br />

Der wirksame Rechtsmittelverzicht führt daher zur Unzulässigkeit der Revision.<br />

StPO § 338 Nr. 4; GVG § 24, § 26, § 74b Keine Willkür durch Jugendschutzkammer<br />

BGH, Beschl. v. 07.03.2012 - 1 StR 6/12 - NStZ 2012, 401<br />

LS: Die Jugendschutzkammer hat ihre Zuständigkeit nicht deshalb willkürlich bejaht, weil ihr die<br />

Sache durch das Beschwerdegericht zur Eröffnungsentscheidung vorgelegt wurde.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hechingen vom 12. Oktober 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht - Jugendschutzkammer - hat den Angeklagten wegen Körperverletzung im Amt in drei Fällen zu<br />

einer Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 70 € verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten,<br />

mit der er die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts rügt. Sein Rechtsmittel ist unbegründet (§ 349 Abs. 2<br />

StPO).<br />

I. Nach den Feststellungen der Jugendschutzkammer war der Angeklagte in den Schuljahren 2007/2008 <strong>und</strong><br />

2008/2009 als verbeamteter Lehrer an einer Realschule tätig <strong>und</strong> betreute dort eine wegen "ihres teilweise respektlosen<br />

Verhaltens gegenüber den Lehrkräften" auffällige siebente bzw. (im Folgejahr) achte Schulklasse, zu der auch<br />

die Schüler M. <strong>und</strong> B. gehörten. Bei zwei zeitlich nicht genau bestimmbaren Gelegenheiten zwischen dem 15. September<br />

2008 <strong>und</strong> Dezember 2008 verletzte der Angeklagte vorsätzlich <strong>und</strong> ohne rechtfertigenden Gr<strong>und</strong> den Schüler<br />

B. , indem er bei einer Gelegenheit dessen Oberkörper zwischen dem Rahmen <strong>und</strong> dem geöffneten Flügel eines<br />

Fensters im zweiten Obergeschoss einklemmte, wodurch dieser ein Hämatom unterhalb der Rippen <strong>und</strong> Schmerzen<br />

erlitt, <strong>und</strong> ihn bei einer anderen Gelegenheit mit dem Ellenbogen in den Bauch stieß, was bei diesem Bauchschmerzen<br />

verursachte. Zu einem nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt zwischen dem 15. September 2008 <strong>und</strong> dem<br />

31. Juli 2009 schlug der Angeklagte dem Schüler M. ohne rechtfertigenden Gr<strong>und</strong> mit einem Klassenbuch auf den<br />

Kopf, sodass dieser Kopfschmerzen erlitt.<br />

II. Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.<br />

1. Ohne Erfolg beanstandet der Angeklagte, die Jugendschutzkammer habe ihre sachliche Zuständigkeit willkürlich<br />

angenommen <strong>und</strong> ihn dadurch seinem gesetzlichen Richter entzogen (vgl. hierzu u.a. auch BGH, Urteil vom 22.<br />

April 1997 - 1 StR 701/96 = BGHSt 43, 53 ff.; BGH, Urteil vom 27. Februar 1992 - 4 StR 23/92 = BGHSt 38, 212<br />

ff.). Der absolute Revisionsgr<strong>und</strong> des § 338 Nr. 4 StPO ist nicht gegeben.<br />

a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugr<strong>und</strong>e: Die Staatsanwaltschaft Hechingen hatte am 7. Dezember<br />

2010 wegen der genannten Taten <strong>und</strong> eines weiteren, in der Hauptverhandlung nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellten<br />

Vorwurfs Anklage zum Amtsgericht - Strafrichter -Albstadt erhoben. Mit Beschluss vom 12. Mai 2011 lehnte<br />

der Strafrichter die Eröffnung des Hauptverfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts ab. Auf die hiergegen<br />

gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft (§ 210 Abs. 2, § 311 StPO) hob die zuständige Beschwerdekammer<br />

des Landgerichts Hechingen mit Beschluss vom 30. Juni 2011 den Ablehnungsbeschluss auf <strong>und</strong> entschied<br />

zugleich, dass die Akten über die Staatsanwaltschaft Hechingen der Großen Jugendkammer - Jugendschutzkammer -<br />

des Landgerichts Hechingen zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens vorzulegen seien, wobei sie<br />

zur Begründung der Vorlage auf die besondere Bedeutung der Sache (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG) verwies. Die Staatsanwaltschaft<br />

Hechingen legte daraufhin die Akten mit dem Antrag, das Hauptverfahren dort selbst zu eröffnen, der<br />

Jugendschutzkammer vor. Die - hinsichtlich der Berufsrichter mit der Beschwerdekammer personenidentisch besetzte<br />

- Jugendschutzkammer ließ gegen die schriftsätzlich vorgebrachten Einwände des Verteidigers mit Beschluss vom<br />

398


8. August 2011 die Anklage zu <strong>und</strong> eröffnete (vor sich selbst) das Hauptverfahren. In der Hauptverhandlung wurde<br />

keine Zuständigkeitsrüge erhoben.<br />

b) Die Rüge ist unbegründet. Die Jugendschutzkammer (§ 74b GVG) hat ihre sachliche Zuständigkeit nicht willkürlich<br />

(vgl. hierzu Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 338 Rn. 32) angenommen. Ein Richterspruch ist willkürlich,<br />

wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist, sodass sich der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden<br />

Erwägungen beruht (BVerfG NJW 1996, 1336; BVerfGE 87, 273, 278 f.; BGH, Urteil vom 8. Dezember<br />

1992 - 1 StR 594/92, NJW 1993, 1607 f.). Eine gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung darf sich bei Auslegung <strong>und</strong><br />

Anwendung der Zuständigkeitsnormen nicht so weit von dem Gr<strong>und</strong>satz des gesetzlichen Richters entfernen, dass sie<br />

nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 1992 - 1 StR 594/92, NJW 1993, 1607 f.). Bei der<br />

Auslegung <strong>und</strong> Anwendung des Gesetzes kann von Willkür dann nicht gesprochen werden, wenn sich ein Gericht<br />

mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt <strong>und</strong> seine Auffassung nicht jeden sachlichen Gr<strong>und</strong>es entbehrt<br />

(BVerfG NJW 1996, 1336; BVerfGE 87, 273, 279). Selbst eine objektiv falsche Anwendung von Zuständigkeitsnormen<br />

genügt unter diesen Umständen für eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG regelmäßig nicht (vgl.<br />

BVerfGE 29, 198, 207; 9, 223, 230; ebenso BGH, Urteil vom 13. Februar 1980 - 3 StR 57/80 (S), BGHSt 29, 216,<br />

219). Bei Anwendung dieser Maßstäbe vermag der Senat in der Bejahung ihrer Zuständigkeit durch die Jugendschutzkammer<br />

keine Willkür zu erkennen.<br />

aa) Unbehelflich ist in diesem Zusammenhang der Verweis der Revision auf die personenidentische Besetzung der<br />

Jugendschutzkammer mit der Beschwerdekammer. Die Zuständigkeit ist allein nach Maßgabe der Gerichte <strong>und</strong><br />

Spruchkörper zu beurteilen. Sind diese nach der Geschäftsverteilung mit denselben Richtern besetzt, bleibt die Lösung<br />

hieraus etwaig resultierender Konflikte im Einzelfall ausschließlich den §§ 22 ff. StPO vorbehalten, wobei es<br />

über die Personenidentität hinaus des Hinzukommens weiterer Umstände bedarf.<br />

bb) Aus der Tatsache, dass die Jugendschutzkammer den Eröffnungsbeschluss als solchen - auch im Hinblick auf die<br />

strittige Frage der sachlichen Zuständigkeit - nicht begründet hat, lässt sich der Vorwurf willkürlichen Verhaltens<br />

nicht ableiten. Zwar kann eine Entscheidung im Einzelfall willkürlich sein, wenn sie jeder Begründung entbehrt (vgl.<br />

BVerfG NJW 1995, 2911 f.; NJW 1996, 1336); dies gilt jedoch nur dann, wenn sich die Gründe nicht schon aus den<br />

für die Verfahrensbeteiligten erkennbaren Besonderheiten des Falles ergeben (vgl. BVerfG NJW 1996, 1336). So<br />

aber liegt der Fall hier, da durch das vorausgegangene Beschwerdeverfahren, namentlich den sorgfältig begründeten<br />

Beschluss vom 30. Juni 2011, die maßgeblichen Erwägungen der Zuständigkeitsbestimmung bereits offengelegt<br />

waren. Wie auch das Revisionsvorbringen zeigt, war für alle Verfahrensbeteiligten offensichtlich, dass die Jugendschutzkammer<br />

sich diese Begründung bei ihrer Eröffnungsentscheidung zu Eigen gemacht hat.<br />

cc) Die Annahme "besonderer Umstände" i.S.d. § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG erfolgte ebenfalls ohne Willkür. Die von der<br />

Beschwerdekammer aufgeführten <strong>und</strong> von der Jugendschutzkammer ersichtlich übernommenen Kriterien - u.a. die<br />

besondere Stellung des Angeklagten als verbeamteter Lehrer, das lokalmediale Interesse an der Aufklärung vor dem<br />

Hintergr<strong>und</strong> einer aktuellen gesamtgesellschaftlichen Diskussion um Übergriffe in Erziehungsverhältnissen, das<br />

öffentliche Aufsehen, welches die Vorfälle in der eher ländlichen Gegend erregten, die Unruhe im Alltag der Schule<br />

- sind unter Beachtung der einschlägigen obergerichtlichen Rechtsprechung herangezogen worden. Auch im Hinblick<br />

auf die Zuständigkeit der Jugendschutzkammer als eines Jugendgerichts (§§ 26, 74b GVG) wurde rechtsfehlerfrei<br />

auf das Kriterium der notwendigen Einvernahme jugendlicher Zeugen abgestellt (§ 26 Abs. 2, 1. Alt. GVG). Der<br />

von der Revision in diesem Zusammenhang vorgebrachte Einwand des Zeitablaufs vermag den Vorwurf der Willkür<br />

nicht zu begründen. Auch unter Berücksichtigung der Zeitspanne zwischen den Tatzeiten <strong>und</strong> der Durchführung des<br />

Strafverfahrens werden die aufgezeigten Kriterien jedenfalls nicht in einem solchen Maße abgeschwächt, dass ihre<br />

weitere Berücksichtigung fehlerhaft oder gar willkürlich wäre.<br />

dd) Auch in der Sache trifft der Vorwurf nicht zu, die Jugendschutzkammer habe durch ihre Eröffnungsentscheidung<br />

die Bestimmungen über das Vorlageverfahren (§§ 209, 210 StPO) willkürlich umgangen. Es kann hier dahinstehen,<br />

ob ein fehlerhaftes Vorlageverfahren die Annahme von Willkür bei der Bejahung seiner Zuständigkeit bei dem letztlich<br />

erkennenden Gericht begründen kann. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn das Vorlageverfahren seinerseits<br />

nicht willkürlich erfolgt ist. Die Begründung des Beschlusses vom 30. Juni 2011 zeigt, dass sich die Beschwerdekammer<br />

eingehend mit dem Umfang ihrer Prüfungs- <strong>und</strong> Entscheidungskompetenz beschäftigt hat. Sie hat dabei<br />

die unterschiedlichen Rechtsansichten dargelegt <strong>und</strong> ist mit überzeugenden Gründen zu einem vertretbaren Ergebnis<br />

gelangt.<br />

(1) Die Annahme einer eigenen Prüfungskompetenz des Beschwerdegerichts hinsichtlich der sachlichen Zuständigkeit<br />

des Strafrichters unterliegt keinen Bedenken. Insbesondere war die Beschwerdekammer weder durch die in der<br />

Anklage von der Staatsanwaltschaft getroffene Zuständigkeitsbestimmung noch durch die Zielrichtung der staatsanwaltschaftlichen<br />

Beschwerde in ihrer Prüfungskompetenz beschränkt. Bei der Beurteilung der sachlichen Zuständig-<br />

399


keit sind die Gerichte an Anträge der Staatsanwaltschaft nicht geb<strong>und</strong>en. Vor Entscheidungen des angerufenen erstinstanzlichen<br />

Gerichts die sachliche Zuständigkeit betreffend (§§ 225a, 270 StPO) bestehen ab dem Zeitpunkt der<br />

Anklageerhebung allenfalls (vorherige) Anhörungspflichten (vgl. Meyer-Goßner aaO, § 270 Rn. 14 mwN); selbst<br />

diese entfallen bei § 209 Abs. 2 StPO (vgl. Stuckenberg in Löwe/ Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 209 Rn. 41 mwN;<br />

Schneider in KK, StPO, 6. Aufl., § 209 Rn. 15). Gleiches gilt im Beschwerdeverfahren. Zwar richtete sich im vorliegenden<br />

Fall die Beschwerde maßgeblich gegen die Ablehnung des hinreichenden Tatverdachts durch den Strafrichter<br />

<strong>und</strong> nicht gegen die der Ablehnungsentscheidung immanente Zuständigkeitsbestimmung. Eine Beschränkung des<br />

Prüfungsumfangs trat dadurch jedoch nicht ein. Das Beschwerdegericht prüft bereits gr<strong>und</strong>sätzlich die angefochtene<br />

Entscheidung nicht nur im Hinblick auf das konkrete Beschwerdebegehren, sondern umfassend (vgl. Cirener in Graf<br />

(Hrsg.), BeckOK StPO, Edit. 13, § 309 Rn. 5). Dieser Gr<strong>und</strong>satz wird für Beschwerden nach § 210 Abs. 2 StPO<br />

allerdings teilweise eingeschränkt. Bei einer Beschwerde gegen die Eröffnung vor einem Gericht niederer Ordnung<br />

(§ 210 Abs. 2, 2. Alt. StPO) soll dem Beschwerdegericht nach einer in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung<br />

die Prüfung der weiteren Voraussetzungen der Eröffnung, namentlich des hinreichenden Tatverdachts, gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

untersagt sein (vgl. KG NStZ-RR 2005, 26 mwN; OLG Saarbrücken wistra 2002, 118; aA jedoch BayObLG NJW<br />

1987, 511; Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 210 Rn. 22; Meyer-Goßner aaO, § 210 Rn. 2). Für den umgekehrten<br />

Fall, in dem sich - wie im vorliegenden Fall geschehen - die Beschwerde gegen die Ablehnung der Eröffnung<br />

des Hauptverfahrens richtet (§ 210 Abs. 2, 1. Alt. StPO), wird ein Prüfungsverbot hinsichtlich der Zuständigkeitsfrage<br />

demgegenüber nicht vertreten. Vielmehr wird hier eine Prüfungskompetenz ausdrücklich angenommen;<br />

lediglich über den weiteren Verfahrensgang, namentlich über die zu treffende Entscheidung des Beschwerdegerichts,<br />

besteht Uneinigkeit (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 14. Februar 1986 - 1 Ws 27/85, MDR 1986, 605 f.; Stuckenberg<br />

aaO, § 210 Rn. 29; Schneider aaO, § 210 Rn. 11; Julius in Heidelberger Kommentar zur StPO, 4. Aufl., §<br />

210 Rn. 12; Reinhart in Radtke/Hohmann, StPO, 1. Aufl., § 210 Rn. 7; Meyer-Goßner JR 1986, 471 ff.). Der Senat<br />

teilt die Auffassung, dass sich jedenfalls bei einer Beschwerde gemäß § 210 Abs. 2, 1. Alt. StPO die Prüfungskompetenz<br />

des Beschwerdegerichts auch auf die Zuständigkeit erstreckt. Für eine durchgreifende Prüfungskompetenz<br />

spricht insbesondere, dass nach § 6 StPO die Gerichte zur Prüfung der sachlichen Zuständigkeit in jeder Lage des<br />

Verfahrens verpflichtet sind; die Kontrolle der Zuständigkeit der Ausgangsgerichte erfolgt auch in den Rechtsmittelinstanzen<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar 1957 - 2 StR 575/56, BGHSt 10, 74 ff.; Meyer-Goßner aaO, § 309 Rn.<br />

6; § 328 Rn. 7).<br />

(2) Auch die von der Beschwerdekammer im Ergebnis gewählte weitere Vorgehensweise, die Akten zur Entscheidung<br />

über die Eröffnung an die Jugendschutzkammer (vgl. hierzu auch § 209a Nr. 2 StPO) des Landgerichts vorzulegen,<br />

ist zumindest vertretbar <strong>und</strong> unter dem Gesichtspunkt der Willkür nicht zu beanstanden.<br />

(a) Die Berechtigung zur Vorlage der Akten an das für zuständig bef<strong>und</strong>ene ranghöhere Gericht wird in Rechtsprechung<br />

<strong>und</strong> Schrifttum befürwortet (vgl. OLG Frankfurt aaO; dem folgend z.B. Julius aaO, § 210 Rn. 12; für den Fall,<br />

in dem - wie hier - das zuständige Gericht auch gegenüber dem Beschwerdegericht ein solches höherer Ordnung<br />

darstellt, auch Stuckenberg aaO, § 210 Rn. 31, der im Übrigen eine direkte Eröffnung vor dem im Vergleich zum<br />

Ausgangsgericht höherrangigen Gericht fordert, aaO, § 210 Rn. 29 <strong>und</strong> Reinhart aaO, § 210 Rn. 7, der im Übrigen<br />

für eine Zurückverweisung an das Ausgangsgericht votiert). Demgegenüber wird auch vertreten, dass sich das Beschwerdegericht<br />

einer Sachentscheidung zu enthalten habe <strong>und</strong> unter Aufhebung der Ausgangsentscheidung die<br />

Sache lediglich zur erneuten Entscheidung über die Eröffnung an das Ausgangsgericht zurückverweisen dürfe (vgl.<br />

Meyer-Goßner JR 1986, 471 ff.; grds. auch Reinhart aaO, § 210 Rn. 7). Nach einer weiteren Auffassung soll das<br />

Beschwerdegericht das Hauptverfahren vor dem rangniederen Ausgangsgericht eröffnen können (vgl. Schneider<br />

aaO, § 210 Rn. 11). Nach den beiden letzten Auffassungen hat das Beschwerdegericht nur die Möglichkeit, eine<br />

Verweisung der Sache durch das Ausgangsgericht an das höhere Gericht anzuregen (vgl. Meyer-Goßner aaO <strong>und</strong><br />

Schneider aaO). Mit diesen widerstreitenden Auffassungen hat sich die Kammer im Beschluss vom 30. Juni 2011<br />

auseinandergesetzt <strong>und</strong> sich für die Möglichkeit der Vorlage an das ranghöhere Gericht ausgesprochen.<br />

(b) Für diese Vorlageentscheidung sprechen gewichtige sachliche Gründe: Durch die Vorlage an das ranghöhere<br />

Gericht bleibt diesem die eigenständige Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens vorbehalten; die gesetzliche<br />

Systematik des Vorlageverfahrens wird gewahrt. Darüber hinaus sichert diese Vorgehensweise die Durchsetzung<br />

der Rechtsauffassung des Beschwerdegerichts gegenüber dem Ausgangsgericht, während die auf eine - unverbindliche<br />

- Anregung beschränkten Auffassungen im Streitfalle nur auf die Möglichkeit der Zurückverweisung<br />

oder Eröffnung vor einem anderen, dem Ausgangsgericht gleichgeordneten Gericht (§ 210 Abs. 3 StPO) zurückgreifen<br />

können. Die direkte Vorlage durch das Beschwerdegericht trägt zudem prozessökonomischen Aspekten <strong>und</strong> dem<br />

Gedanken der Verfahrensbeschleunigung Rechnung. Ein Instanzenverlust ist nicht zu befürchten; vielmehr wird<br />

durch die Vorlage ein neuer Instanzenzug für die Eröffnungsentscheidung gewährt. Sinn <strong>und</strong> Zweck der §§ 209, 210<br />

400


StPO legen eine Vorlageentscheidung des Beschwerdegerichts nahe. Die in § 209 Abs. 2 StPO enthaltene Formulierung,<br />

wonach die Vorlage durch das Gericht zu erfolgen hat, "bei dem die Anklage eingereicht ist", zwingt im Hinblick<br />

auf § 309 Abs. 2 StPO, der dem Beschwerdegericht aufgibt, "die in der Sache erforderliche Entscheidung" zu<br />

treffen, nicht dazu, die Vorlageberechtigung ausschließlich dem erstinstanzlichen Gericht zuzusprechen. Für die<br />

Entscheidungen des Beschwerdegerichts im Zwischenverfahren sind die §§ 209, 210 StPO vielmehr gemeinsam mit<br />

§ 309 Abs. 2 StPO zu lesen. Nach dem Wortlaut des § 210 Abs. 3 StPO, der mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar<br />

ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 1999 - 2 BvR 1067/99 mwN), gibt das Beschwerdegericht lediglich "der<br />

Beschwerde statt" <strong>und</strong> kann - zusätzlich - das Hauptverfahren vor einem anderen, dem Ausgangsgericht gleichgeordneten<br />

Gericht eröffnen. Die gr<strong>und</strong>sätzlich notwendige Entscheidungsformel i.S.d. "Stattgabe" wird jedoch allein<br />

aus § 210 Abs. 3 StPO heraus nicht verständlich, sondern erschließt sich erst unter Hinzuziehung des § 309 Abs. 2<br />

StPO, der "die in der Sache erforderliche Entscheidung" fordert. Auch die in § 210 Abs. 3 StPO gegebene Möglichkeit,<br />

vor einem anderen, mit dem Ausgangsgericht gleichrangigen Gericht zu eröffnen, führt nicht im Umkehrschluss<br />

dazu, dass - materiell - eine andere Entscheidung als die Eröffnung des Hauptverfahrens ausgeschlossen ist. Denn die<br />

Bestimmung des § 210 Abs. 3 StPO ist dem § 354 Abs. 2 StPO nachempf<strong>und</strong>en (vgl. bereits BT-Drucks. I/530, S. 44<br />

zu Nr. 83). Während dessen Vorgängernorm - § 394 Abs. 2 StPO aF - bereits in der 1877 in Kraft getretenen Fassung<br />

der StPO vorhanden war, fand § 210 Abs. 3 StPO - als § 204 Abs. 1 Satz 3 StPO aF - erst durch Verordnung vom 13.<br />

August 1942 im Zuge des Versuchs einer Beseitigung des Eröffnungsverfahrens Eingang in das Gesetz (RGBl. 1942,<br />

S. 512). Nach Kriegsende wurde diese Bestimmung als § 210 Abs. 3 StPO dem im Übrigen in der vor dem Krieg<br />

geltenden Fassung wiederhergestellten § 210 (Abs. 1 <strong>und</strong> 2) StPO angegliedert (BGBl. 1950 I, S. 455). Nach den<br />

Motiven (BT-Drucks. I/530, S. 44 zu Nr. 83) handelt es sich um eine "Fortentwicklung des Verfahrensrechts, die<br />

beibehalten werden kann". Daraus erhellt, dass die zusätzliche Entscheidungsmöglichkeit in § 210 Abs. 3 StPO eine<br />

Erweiterung, aber keine inhaltliche Begrenzung der aus § 210 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 StPO eigenständig zu ermittelnden Entscheidungsmöglichkeiten<br />

im Eröffnungsverfahren bewirken sollte. Dass ungeachtet der sprachlichen Fassung des §<br />

210 Abs. 3 StPO auch andere Entscheidungen als lediglich die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Ausgangs-<br />

oder einem diesem gleichgeordneten Gericht möglich sind, zeigt sich auch aus Folgendem: Obwohl § 210 Abs. 3<br />

StPO keine Zuständigkeitsbestimmung für ein Gericht anderer Ordnung als der des Ausgangsgerichts vorsieht - eine<br />

dem § 354 Abs. 3 StPO vergleichbare Bestimmung fehlt -, darf nach einhelliger (<strong>und</strong> richtiger) Ansicht das Beschwerdegericht<br />

- im Hinblick auf § 209 Abs. 1 StPO - das Hauptverfahren auch vor einem rangniedrigeren als dem<br />

Ausgangsgericht eröffnen (vgl. Stuckenberg aaO, § 210 Rn. 28; Rieß aaO, § 210 Rn. 21; Ritscher in Graf, StPO, 1.<br />

Aufl., § 210 Rn. 7; Reinhart aaO, § 210 Rn. 7; Schneider aaO, § 210 Rn. 11). § 209 Abs. 1 StPO ist (auch hier) gemeinsam<br />

mit § 309 Abs. 2 StPO zu lesen, obwohl auf den ersten Blick alleiniger Normadressat das "Gericht ist, bei<br />

dem die Anklage eingereicht ist". Ergibt sich aus alledem aber eine über § 210 Abs. 3 StPO hinausgehende Entscheidungskompetenz<br />

für das Beschwerdegericht in Fragen der sachlichen Zuständigkeit, so besteht kein Gr<strong>und</strong>, in umgekehrter<br />

Richtung eine Sperrwirkung anzunehmen, die eine einander ergänzende Anwendung der §§ 209 Abs. 2 <strong>und</strong><br />

309 Abs. 2 StPO mit dem Ergebnis einer Vorlage an das zuständige höhere Gericht ausschließt. Die Jugendschutzkammer<br />

hat daher ihre Zuständigkeit keinesfalls willkürlich angenommen.<br />

2. Die Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO), mit der die Revision beanstandet, der - zur Begründung widersprüchlichen<br />

Einlassungsverhaltens des Angeklagten herangezogene - Inhalt seiner früheren Einlassungen sei nur durch<br />

Vorhalte, jedoch nicht durch eine sich aufdrängende Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt worden, bleibt<br />

ohne Erfolg.<br />

a) Die Rüge ist zulässig; sie ist in einer § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Form erhoben. Auf den hilfsweise<br />

gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, der gr<strong>und</strong>sätzlichen Bedenken begegnen würde, da bei<br />

rechtzeitig erhobener Sachrüge nur in Ausnahmefällen Wiedereinsetzung zur formgerechten Erhebung von Verfahrensrügen<br />

gewährt wird (st. Rspr.; vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 28. Dezember 2011 - 2 StR 411/11), kommt es hier<br />

nicht an. Denn der wesentliche Inhalt der fehlenden Seite 34 der Revisionsbegründungsschrift ergibt sich in noch<br />

hinreichendem Umfang aus dem weiteren Revisionsvorbringen, insbesondere der Synopse der verschiedenen Einlassungen<br />

des Angeklagten (S. 43 ff. der Revisionsbegründungsschrift).<br />

b) Die Rüge ist aber unbegründet. Das Gericht ist nicht stets verpflichtet, Widersprüche zwischen der Einlassung des<br />

Angeklagten in der Hauptverhandlung <strong>und</strong> seinen vorprozessualen Einlassungen durch Verlesung früherer Vernehmungsprotokolle<br />

oder Schriftsätze des Verteidigers festzustellen. Vielmehr kann, worauf auch der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

in seiner Antragsschrift zutreffend hinweist, der Inhalt früherer Einlassungen zulässigerweise auch durch<br />

Vorhalt in die Hauptverhandlung eingeführt werden (vgl. BGH, Urteil vom 11. September 1997 - 4 StR 287/97;<br />

BayObLG, Beschluss vom 22. März 1999 - 5 St RR 35/99; Kuckein in KK, aaO § 344 Rn. 58 mwN). Der Angeklagte<br />

hat sich im vorliegenden Fall auf Vorhalt seiner widersprüchlichen vorprozessualen Einlassungen nicht nur geäu-<br />

401


ßert, sondern die Abgabe widersprüchlicher Erklärungen ausweislich der Urteilsfeststellungen (UA S. 8 unter b.aa.)<br />

sogar ausdrücklich eingeräumt. Umstände, die bei dieser Sachlage eine weitergehende Aufklärungspflicht der Kammer<br />

auslösten, hat die Revision nicht vorgetragen <strong>und</strong> sind auch nicht ersichtlich. Die lediglich aufgestellte Behauptung<br />

der Revision, durch eine Verlesung der Einlassungen - anstelle des Vorhalts - wäre der Sachverhalt besser aufgeklärt<br />

worden, ist vor diesem Hintergr<strong>und</strong> nicht hinreichend substantiiert.<br />

III. Die auf die Sachrüge vorzunehmende Nachprüfung des angefochtenen Urteils hat keinen Rechtsfehler zum<br />

Nachteil des Angeklagten ergeben. Der von der Revision geltend gemachte Erörterungsmangel liegt nicht vor. Den<br />

Urteilsgründen ist zu entnehmen, dass dem Angeklagten vorgehalten worden ist, widersprüchliche Angaben gemacht<br />

zu haben, <strong>und</strong> dass er dies eingeräumt hat. Damit hat die Kammer ihrer Erörterungspflicht hier Genüge getan. Dies<br />

gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als das Landgericht seine Überzeugungsbildung im Kern auf die glaubhaften<br />

Angaben mehrerer Zeugen gestützt hat.<br />

StPO § 344 -II - unzulässige Revision Nebenkläger<br />

BGH, Beschl. v. 26.07.2011 – 1 StR 297/11 - StV 2012, 5<br />

Die Gerichte sind unabhängig <strong>und</strong> nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Darum dürfen<br />

sie eine gebotene Beweiserhebung nicht deshalb ablehnen, weil Staatsanwaltschaft oder Polizei die<br />

Identität eines Informanten geheim halten wollen.<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 7. Dezember 2010 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum<br />

Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels<br />

zu tragen.<br />

Ergänzend zur Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom 7. Juni 2011 bemerkt der Senat: Die Verfahrensrüge,<br />

das Landgericht habe den von der Verteidigung in der Hauptverhandlung gestellten Antrag, den Zeugen „KOK B.<br />

anzuweisen, die Personalien sowie die ladungsfähige Anschrift der“ von diesem geführten „VP ´ G. ` bekannt zu<br />

geben“, ist auch deshalb nicht zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), weil die Revision es versäumt, Inhalt<br />

<strong>und</strong> Reichweite der KOK B. erteilten Aussagegenehmigung (vgl. § 54 StPO), die im Rahmen der Hauptverhandlung<br />

seitens der Staatsanwaltschaft abgegebene Gegenerklärung sowie den „vorstehenden Sachverhalt“ mitzuteilen, über<br />

den LOStA J. vor seiner Geheimhaltungsentscheidung vom 20. Mai 2009 unterrichtet worden war. Soweit das Landgericht<br />

den Antrag allein unter Hinweis „auf die zugesicherte Geheimhaltung“ abgelehnt <strong>und</strong> in den - dem Senat<br />

durch die erhobene Sachrüge eröffneten - Urteilsgründen die Ansicht vertreten hat, eine Vernehmung der polizeilichen<br />

Vertrauensperson habe nicht erfolgen können, „weil dieser Person durch die Staatsanwaltschaft Geheimhaltung<br />

zugesichert wurde“ (UA S. 6), steht dies allerdings nicht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs,<br />

auf die die Revision - für sich genommen zutreffend - hingewiesen hat. Denn danach bindet eine solche<br />

Zusicherung der Vertraulichkeit zwar - mit Einschränkungen - die Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> die Polizei (vgl. Nummer<br />

4 der Gemeinsamen Richtlinien der Justizminister/-senatoren <strong>und</strong> der Innenminister/-senatoren der Länder über die<br />

Inanspruchnahme von Informanten sowie über den Einsatz von Vertrauenspersonen [V-Personen] <strong>und</strong> Verdeckten<br />

Ermittlern im Rahmen der Strafverfolgung/Anlage D zu den RiStBV). Für das gerichtliche Verfahren hat sie aber<br />

keine Bedeutung. Die Gerichte sind unabhängig <strong>und</strong> nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Darum dürfen<br />

sie eine gebotene Beweiserhebung nicht deshalb ablehnen, weil Staatsanwaltschaft oder Polizei die Identität<br />

eines Informanten geheim halten wollen. Lassen sich der Name <strong>und</strong> die Anschrift des Informanten nicht anders feststellen,<br />

so kann <strong>und</strong> muss das Gericht von allen öffentlichen Behörden - auch von der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der<br />

Polizei - diejenigen Auskünfte verlangen, die es zur Ermittlung der Beweisperson für erforderlich hält (§§ 161, 202,<br />

244 Abs. 2 StPO). Die Auskunft darf in entsprechender Anwendung des § 96 StPO nur verweigert werden, wenn die<br />

oberste Dienstbehörde erklärt, dass das Bekanntwerden ihres Inhalts dem Wohl des B<strong>und</strong>es oder eines deutschen<br />

Landes Nachteile bereiten würde. Solange eine solche sog. Sperrerklärung nicht vorliegt, darf der Gewährsmann<br />

insbesondere nicht als ein unerreichbares Beweismittel i.S.d. § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO angesehen werden (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 3. November 1987 - 5 StR 579/87, BGHSt 35, 82, 84 ff. mwN).<br />

402


StPO § 347 Erstreckung der Aufhebung auf Nichtrevidenten bei Fehlern der Beweiswürdigung<br />

BGH, Beschl. v. 22.09.2011 - 2 StR 383/11 - StV 2012, 133<br />

Nur ein Sachverhalt, der auf einer Überzeugungsbildung des Gerichts unter vollständiger Ausschöpfung<br />

des Beweismaterials beruht, kann die Gr<strong>und</strong>lage einer Verurteilung bilden. Eine Anklageschrift<br />

kann auch dann nicht Gr<strong>und</strong>lage sein, wenn ihr nicht entgegengetreten wird.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 4. Februar 2011 aufgehoben,<br />

a) soweit es ihn <strong>und</strong> den Mitangeklagten P. betrifft, mit den Feststellungen,<br />

b) soweit es den Mitangeklagten M. betrifft, im Fall B. 2) der Urteilsgründe sowie im Ausspruch über die Gesamtstrafe<br />

mit den zugehörigen Feststellungen.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten D. sowie die nichtrevidierenden Mitangeklagten P. <strong>und</strong> M. wegen versuchten<br />

schweren Raubes (Fall B. 2), den Mitangeklagten M. ferner wegen versuchten Betruges (Fall B. 1), zu Freiheitsstrafen<br />

von zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten (D.), von zwei Jahren (P.) <strong>und</strong> zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten (M.) verurteilt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten D. hat mit der Sachrüge Erfolg.<br />

Die Aufhebung des Urteils erstreckt sich in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang auf die nichtrevidierenden<br />

Mitangeklagten.<br />

1. Das Urteil ist, soweit es den Angeklagten D. betrifft, bereits deswegen aufzuheben, weil es eine Beweiswürdigung<br />

im Sinne des § 261 StPO vermissen lässt. Ausweislich der Urteilsgründe beruhen die Feststellungen zur Sache allein<br />

"auf der Anklageschrift", welcher der Angeklagte D. sowie die Mitangeklagten P. <strong>und</strong> M. "nach Maßgabe" der getroffenen<br />

Verständigung "nicht entgegengetreten" sind (UA S. 26). Das Urteil genügt damit nicht den Mindestanforderungen,<br />

die an die richterliche Überzeugungsbildung auch dann zu stellen sind, wenn die Entscheidung, wie hier,<br />

nach einer Verständigung ergangen ist. Auch bei einer Verständigung hat das Gericht von Amts wegen den wahren<br />

Sachverhalt aufzuklären (§ 257c Abs. 1 S. 2, § 244 Abs. 2 StPO). Die Bereitschaft eines Angeklagten, wegen eines<br />

bestimmten Sachverhalts eine Strafe hinzunehmen, die das gerichtlich zugesagte Höchstmaß nicht überschreitet,<br />

entbindet nicht von dieser Pflicht (vgl. BGH, NStZ 2009, 467; NStZ-RR 2010, 54; Senat, NStZ-RR 2010, 336; Beschluss<br />

vom 9. März 2011 - 2 StR 428/10). Nur ein Sachverhalt, der auf einer Überzeugungsbildung des Gerichts<br />

unter vollständiger Ausschöpfung des Beweismaterials beruht, kann die Gr<strong>und</strong>lage einer Verurteilung bilden. Eine<br />

Anklageschrift kann auch dann nicht Gr<strong>und</strong>lage sein, wenn ihr neben dem Angeklagten, wie vorliegend, seine wegen<br />

gemeinschaftlichem Handelns angeklagten Mittäter ebenfalls nicht entgegengetreten sind. Diesem Einlassungsverhalten<br />

lässt sich ein irgendwie geartetes - auch nur "schlankes" - Geständnis, das einen als glaubhaft bewertbaren<br />

inhaltlichen Gehalt hätte, auf den einen Schuldspruch tragende Feststellungen gestützt werden könnten, nicht entnehmen<br />

(vgl. BGH, NStZ 2004, 509, 510). Es fehlt schon an einem tatsächlichen Einräumen des dem Anklagevorwurf<br />

zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Sachverhalts.<br />

2. Die Aufhebung ist gemäß § 357 StPO auf die nichtrevidierenden Angeklagten P. <strong>und</strong> M. zu erstrecken, soweit sie<br />

wegen der nämlichen Tat verurteilt worden sind. Der materiell-rechtliche Fehler der nicht vorgenommenen Beweiswürdigung,<br />

der der Verurteilung des Angeklagten D. im Fall B. 2 der Urteilsgründe zu Gr<strong>und</strong>e liegt, betrifft die<br />

Mitangeklagten P. <strong>und</strong> M. in gleicher Weise. Dass sich die Anforderungen an die Urteilsgründe hinsichtlich der<br />

nichtrevidierenden Mitangeklagten nur nach dem Maßstab des § 267 Abs. 4 StPO bestimmen, steht einer Erstreckung<br />

nicht entgegen, denn es handelt sich hier nicht nur um einen Erörterungsmangel (vgl. BGH, NStZ 2005, 223;<br />

Beschluss vom 4. Februar 1997 - 5 StR 12/97) oder eine sonst fehlerhafte Beweiswürdigung, sondern um das Fehlen<br />

einer Beweiswürdigung, wovon auch § 267 Abs. 4 StPO, der nur Darstellungspflichten betrifft, nicht befreien kann.<br />

Das Urteil hinsichtlich des Angeklagten P. war daher insgesamt aufzuheben. Betreffend den Mitangeklagten M.<br />

erstreckt sich die Aufhebung nur auf Fall B. 2 der Urteilsgründe, was zum Wegfall der dazugehörigen Einzelstrafe<br />

sowie des Gesamtstrafenausspruchs führt.<br />

403


StPO § 396 Abs. 2 Satz 2; StPO § 395 Abs. 3<br />

BGH, Beschl. v. 09.05.2012 – 5 StR 523/11 - BeckRS 2012, 11283<br />

LS: Das Revisionsgericht bindende Nebenklagezulassung gemäß § 396 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 395<br />

Abs. 3 StPO.<br />

Die Revision des Nebenklägers gegen das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 24. Juni 2011 wird nach § 349<br />

Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels <strong>und</strong> die dem<br />

Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Untreue freigesprochen. Hiergegen wendet sich der Nebenkläger<br />

mit seiner auf die Beanstandung formellen wie sachlichen Rechts gestützten Revision ohne Erfolg (§ 349 Abs.<br />

2 StPO).<br />

1. Die Revision ist zulässig. Die von Amts wegen durch das Revisionsgericht zu prüfende Rechtsmittelbefugnis des<br />

Nebenklägers ist hier gegeben.<br />

a) Anders als im Falle einer lediglich feststellenden Entscheidung über die Zulässigkeit der Anschlusserklärung in<br />

den Fällen des § 396 Abs. 2 Satz 1 StPO, die das Rechtsmittelgericht nicht bindet (BGH, Beschluss vom 18. Oktober<br />

1995 – 2 StR 470/95, BGHSt 41, 288, 289), ist die durch das Tatgericht nach § 395 Abs. 3 i.V.m. § 396 Abs. 2 Satz<br />

2 StPO festgestellte Nebenklageberechtigung konstitutiv (Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 396 Rn. 14 aE). Ob sich<br />

die Bindung auch auf die formellen Anschlussvoraussetzungen erstreckt (vgl. Meyer-Goßner aaO, Rn. 19), bedarf im<br />

vorliegenden Fall keiner Entscheidung, weil diese hier unzweifelhaft gegeben sind.<br />

Der Nebenkläger ist Verletzter der von der Staatsanwaltschaft angeklagten Untreuehandlung. Nach § 395 Abs. 3<br />

StPO kann ausnahmsweise auch die Untreue gemäß § 266 <strong>StGB</strong> zum Nebenklageanschluss berechtigen. Mit der<br />

Neufassung des § 395 Abs. 3 StPO durch das Zweite Opferrechtsreformgesetz vom 1. Oktober 2009 (BGBl. I S.<br />

2280) wurde ein Auffangtatbestand für die Nebenklagebefugnis von Opfern mit besonders schwerwiegenden Tatfolgen<br />

geschaffen (vgl. BT-Drucks. 16/12098, S. 9, 30 f.). Entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift sind nunmehr alle<br />

rechtswidrigen Taten gr<strong>und</strong>sätzlich anschlussfähig. Auch den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass besonderer<br />

Wert auf einen nicht abschließenden Regelungsbereich des § 395 Abs. 3 StPO gelegt worden ist (BT-Drucks. aaO, S.<br />

30). Dieses Normverständnis liegt auch der – überwiegend kritischen – Rezeption im Schrifttum zugr<strong>und</strong>e (vgl. nur<br />

Hilger, GA 2009, 657, 658; Weigend in Festschrift Schöch 2009, S. 947, 956; Safferling, ZStW 2010, 87, 95; Bung,<br />

StV 2009, 430, 435; Hermann, ZIS 2010, 236, 241).<br />

b) Eine Prüfung, ob das Tatgericht den besonderen Gr<strong>und</strong> als materielle Anschlussvoraussetzung im Sinne der § 395<br />

Abs. 3, § 396 Abs. 2 Satz 2 StPO rechtsfehlerfrei angenommen hat, ist dem Revisionsgericht dagegen nicht eröffnet.<br />

Mit der vom Landgericht vorgenommenen Zulassungsentscheidung nach § 396 Abs. 2 Satz 2 StPO ist dessen Vorliegen<br />

für das Revisionsgericht bindend festgestellt.<br />

aa) Der als Korrektiv zur ansonsten uferlosen Weite der Norm (vgl. BT-Drucks. 16/12098, S. 29) geschaffene materielle<br />

Anschlussgr<strong>und</strong> erfordert, dass besondere Gründe den Anschluss zur Wahrnehmung der Interessen des Verletzten<br />

gebieten. Maßgeblich für die Zuerkennung der privilegierten Rechtsstellung eines Nebenklägers ist die im Einzelfall<br />

zu prüfende prozessuale Schutzbedürftigkeit des möglicherweise durch die Tat Verletzten. Eine solche ist in<br />

aller Regel bei rechtswidrigen Taten nach §§ 242, 263 <strong>und</strong> 266 <strong>StGB</strong> ausgeschlossen.<br />

(1) Durch die Neuregelung des Rechts der Nebenklage sollte – über die durch das Opferschutzgesetz vom 18. Dezember<br />

1986 (BGBl. I S. 2496) generell erstrebte Verbesserung der Rechtsstellung sämtlicher möglicher Verletzter<br />

hinaus (BT-Drucks. 10/5305, S. 8) – staatlichen Schutzpflichten für besonders schutzwürdige Verletzte entsprochen<br />

werden (BT-Drucks. aaO, S. 11; vgl. hierzu Weigend aaO, S. 957 f.). Diese besondere Schutzbedürftigkeit antizipierte<br />

der Gesetzgeber bei den vom Katalog des § 395 Abs. 1 StPO erfassten Taten. Aber auch der damals eingeführte<br />

Absatz 3, ursprünglich auf die fahrlässige Körperverletzung (§ 229 <strong>StGB</strong>) beschränkt, trug diesem Regelungskonzept<br />

Rechnung. Anerkannt werden sollte eine Nebenklageberechtigung danach im Einzelfall etwa bei schweren Tatfolgen<br />

(BT-Drucks. aaO, S. 12). Daran hat auch der Gesetzgeber des 2. Opferrechtsreformgesetzes vom 29. Juli 2009<br />

(BGBl. I S. 2280) im Gr<strong>und</strong>satz festgehalten (vgl. BT-Drucks. 16/12098, S. 29 ff.; systemfremd bleibt freilich § 395<br />

Abs. 1 Nr. 6 StPO).<br />

(2) Anhaltspunkte für die notwendige besondere Schutzbedürftigkeit können nach dem Willen des Gesetzgebers<br />

schwere Folgen der Tat darstellen, etwa durch Aggressionsdelikte ausgelöste körperliche oder seelische Schäden<br />

sowie Traumata oder Schockzustände, die bereits eingetreten oder zu erwarten sind. In Betracht zu ziehen ist ferner<br />

404


eine im Verfahren möglicherweise notwendige Abwehr von Schuldzuweisungen durch den Angeklagten (vgl. BT-<br />

Drucks. 10/5305, S. 11; BT-Drucks. 16/12098, S. 12, 29 ff.; vgl. hierzu bereits Rieß, Gutachten C zum 55. DJT,<br />

1984, Rn. 120; Weigend aaO, S. 958; Böttcher in Festschrift Widmaier, 2008, S. 81, 82).<br />

(3) Allein das wirtschaftliche Interesse eines möglichen Verletzten an der effektiven Durchsetzung zivilrechtlicher<br />

Ansprüche gegen den Angeklagten ist zur Begründung besonderer Schutzbedürfnisse unzureichend. Hierfür stellt das<br />

Zivilprozessrecht hinreichende Möglichkeiten zur Verfügung (vgl. BVerfG [Kammer], NJW 1988, 405), welche<br />

durch die ohnehin bestehenden Möglichkeiten des Adhäsionsverfahrens (§§ 403 ff. StPO) <strong>und</strong> die Verletztenbefugnisse<br />

nach §§ 406d ff. StPO strafprozessual bereits erheblich zu Lasten des Angeklagten erweitert werden. Der anderenfalls<br />

gerade in umfangreichen Betrugsverfahren mit zahlreichen möglichen Verletzten verursachte zeitliche <strong>und</strong><br />

organisatorische Aufwand ist regelmäßig geeignet, vorrangigen Zielen des Strafverfahrens sowie dem Gebot zügiger<br />

Verfahrensführung zuwiderzulaufen (vgl. BGH, Beschluss vom 15. April 2010 – 5 StR 96/10, wistra 2010, 272).<br />

Einer solchen ersichtlich nicht beabsichtigten Wesensänderung der Nebenklage hat der Gesetzgeber gerade durch das<br />

beibehaltene materielle Anschlusserfordernis entgegengewirkt (aA Herrmann, ZIS 2010, 236, 241).<br />

bb) Die Entscheidung des Landgerichts nach § 395 Abs. 3 StPO wird ersichtlich diesem rechtlichen Maßstab nicht<br />

gerecht. Die dem Angeklagten zur Last gelegte Untreue betraf in besonderem Maße in der Schweiz angelegtes Wertpapierdepotvermögen<br />

in Millionenhöhe, das der Nebenkläger „den deutschen Steuerbehörden verheimlichte“ (UA S.<br />

7). Ausweislich seiner Anschlusserklärung ist er durch die Tat in einen „wirtschaftlichen Engpass“ geraten. Damit ist<br />

kein besonderer Gr<strong>und</strong> dargetan (vgl. auch BGH, Beschluss vom 2. August 2011 – 1 StR 633/10). Denkbar wäre<br />

allenfalls eine zu besonderer Schützbedürftigkeit führende gravierende Beweisnot, die durch einen Auslandsbezug<br />

begründet sein kann <strong>und</strong> eine nur von den Strafgerichten herbeizuführende Rechtshilfe erforderlich macht. Hierauf<br />

hat das Landgericht seine Zulässigkeitsentscheidung aber nicht gestützt.<br />

cc) Gleichwohl bindet der Beschluss nach § 396 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 395 Abs. 3 StPO das Revisionsgericht <strong>und</strong><br />

begründet so die notwendige Zulässigkeitsvoraussetzung für das Revisionsverfahren. Dies folgt zunächst aus der<br />

Systematik des Regelungsregimes der Nebenklage, weil nach § 396 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 StPO die Entscheidung<br />

über den materiellen Anschlussgr<strong>und</strong> (§ 395 Abs. 3 StPO) unanfechtbar ist. Einer revisionsgerichtlichen Nachprüfung<br />

ist sie daher entzogen (§ 336 Satz 2 StPO). Gleiches gilt für eine rügeunabhängige Überprüfung, etwa im Wege<br />

der von Amts wegen gebotenen Nachprüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Revision. Der Gesetzgeber hat<br />

eine eigene Bewertung der besonderen Gründe durch das Revisionsgericht <strong>und</strong> damit eine nachträgliche oder rückwirkende<br />

Änderung der wertenden Entscheidung des mit der Sache zuvor befassten Gerichts bewusst ausschließen<br />

wollen (vgl. BT-Drucks. 10/5305, S. 13). Anderenfalls wäre – gerade mit Blick auf die maßgeblich vom Gesetzgeber<br />

erstrebte verbesserte Rechtsstellung des Verletzten (BT-Drucks. aaO, S. 3) – eine Regelung über die Folgen in der<br />

Rechtsmittelinstanz aberkannter besonderer Gründe zu erwarten gewesen. Daher streitet auch der Gesichtspunkt des<br />

Vertrauensschutzes für die gesetzliche Konzeption einer Unabänderbarkeit der Entscheidung.<br />

2. In der Sache bleibt der Revision indes aus den zutreffenden, hilfsweise ausgeführten Gründen der Antragsschrift<br />

des Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom 19. März 2012 der Erfolg versagt (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

StPO § 454b Abs. 2; StVollstrO § 43 Vollstreckungsreihenfolge bei Widerruf Strafaussetzung<br />

BGH, Beschl. v. 09.02.2012 - 5 AR (VS) 40/11 - NJW 2012, 1016<br />

LS: Strafreste, deren Aussetzung widerrufen worden ist, nehmen nicht an der durch § 454b Abs. 2<br />

Satz 1 StPO in Verbindung mit §§ 57, 57a <strong>StGB</strong> gewährleisteten gemeinsamen Aussetzungsentscheidung<br />

teil (§ 454b Abs. 2 Satz 2 StPO) <strong>und</strong> sind deshalb regelmäßig der Vorwegvollstreckung<br />

überantwortet.<br />

Die Rechtsbeschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 20. Mai 2011<br />

wird zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Oberlandesgerichts Karlsruhe hat den Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung (§ 23 Abs. 1 Satz 1<br />

EGGVG) gegen eine Verfügung der Vollstreckungsbehörde verworfen, mit der die Vorwegvollstreckung mehrerer<br />

widerrufener Strafrestaussetzungen vor einer unbedingt verhängten Freiheitsstrafe angeordnet wurde. Gegen diesen<br />

Beschluss wendet sich der Verurteilte mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde (§ 29 Abs. 1 EGGVG). Das Rechtsmittel<br />

ist unbegründet.<br />

405


I. Folgender Sachverhalt liegt zugr<strong>und</strong>e: Das Landgericht Baden-Baden hatte gegen den Beschwerdeführer wegen<br />

mehrfachen Betrugs eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verhängt sowie ein Berufsverbot <strong>und</strong> die – zwischenzeitlich<br />

nach Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EG<strong>StGB</strong> für erledigt erklärte – Sicherungsverwahrung angeordnet. Drei Monate<br />

nach Beginn der Vollstreckung dieser Strafe hat die Strafvollstreckungskammer Strafrestaussetzungen hinsichtlich<br />

zweier durch länger zurückliegende Verurteilungen verhängter Freiheitsstrafen widerrufen. Daraufhin hat die Vollstreckungsbehörde<br />

die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe unterbrochen <strong>und</strong> aus wichtigem Gr<strong>und</strong> die Vorwegvollstreckung<br />

beider Strafreste angeordnet (§ 43 Abs. 4 StVollstrO). Die Beschwerde des Verurteilten (§ 24 Abs. 2<br />

EGGVG) mit dem Ziel, diese Entscheidung rückgängig zu machen <strong>und</strong> eine – nochmalige – Bewährungsentscheidung<br />

auch hinsichtlich der widerrufenen Strafrestaussetzungen zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt der Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von fünf Jahren zu ermöglichen (vgl. § 454b Abs. 2 Satz 1 StPO), hat die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe zurückgewiesen.<br />

Den dagegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG hat<br />

das Oberlandesgericht als unbegründet verworfen <strong>und</strong> die Rechtsbeschwerde zugelassen. Das Oberlandesgericht<br />

erblickt in § 43 Abs. 4 StVollstrO eine Rechtsgr<strong>und</strong>lage für die angeordnete Vorwegvollstreckung der vom Widerruf<br />

der Strafaussetzung betroffenen Strafreste. Diese Regelung sei § 43 Abs. 3 StVollstrO vorrangig. Mit seiner auf<br />

vollstreckungs- <strong>und</strong> verfassungsrechtliche Einwände sowie auf die Rüge einer Verletzung des Resozialisierungsgebots<br />

gestützten Rechtsbeschwerde begehrt der Verurteilte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.<br />

II. Der Rechtsbeschwerde, die nach herkömmlicher (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 1990 – 2 ARs 570/90,<br />

NStZ 1991, 205), hier nicht in Frage gestellter Auffassung statthaft <strong>und</strong> auch im Übrigen zulässig ist (§ 29 Abs. 3<br />

EGGVG i.V.m. § 71 FamFG), bleibt der Erfolg versagt. Die durch die Vollstreckungsbehörde angeordnete Vollstreckungsreihenfolge<br />

entspricht der in § 454b Abs. 2 Satz 1, 2 StPO zum Ausdruck kommenden Wertung des Gesetzgebers.<br />

Danach nehmen Strafreste, die aufgr<strong>und</strong> Widerrufs ihrer Aussetzung vollstreckt werden, nicht an der durch §<br />

454b Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. §§ 57, 57a <strong>StGB</strong> gewährleisteten gemeinsamen Aussetzungsentscheidung teil (§<br />

454b Abs. 2 Satz 2 StPO). Die hier angewendeten Verwaltungsvorschriften nach § 43 Abs. 4, Abs. 2 Nr. 1 Satz 2<br />

StVollstrO setzen diesen gesetzlichen Auftrag in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise für das Verfahren<br />

der Vollstreckungsbehörde um.<br />

1. Im Gr<strong>und</strong>satz in Übereinstimmung mit dem Generalb<strong>und</strong>esanwalt geht der Senat davon aus, dass § 454b Abs. 2<br />

StPO den vollstreckungsrechtlichen Rahmen für den hier zu entscheidenden Fall vorgibt.<br />

a) Nach der durch das 23. Strafrechtsänderungsgesetz vom 13. April 1986 (BGBl. I S. 393) eingeführten Vorschrift<br />

des § 454b Abs. 2 Satz 1 StPO ist die Vollstreckung mehrerer nacheinander zu vollstreckender Freiheitsstrafen zum<br />

Halbstrafen- (Nr. 1) oder Zwei-Drittel-Zeitpunkt (Nr. 2) sowie, bei lebenslangen Freiheitsstrafen (Nr. 3), nach fünfzehn<br />

Jahren zu unterbrechen. Die Regelung dient dem Zweck, hinsichtlich der Reste sämtlicher Strafen eine einheitliche<br />

Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung nach §§ 57, 57a <strong>StGB</strong> zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschlüsse<br />

vom 4. August 2010 – 5 AR (VS) 22 <strong>und</strong> 23/10, BGHSt 55, 243, 246 f. <strong>und</strong> NStZ-RR 2010, 353, 354; Regierungsentwurf<br />

in BT-Drucks. 10/2720 S. 9, 15). Dem Verurteilten steht ein gesetzlicher Anspruch auf eine diesen<br />

Vorgaben entsprechende Unterbrechung der Strafvollstreckung zur frühestmöglichen Verwirklichung eines gemeinsamen<br />

Aussetzungszeitpunkts bei mehreren zu vollstreckenden Freiheitsstrafen zu (vgl. BVerfG [Kammer], NStZ<br />

1988, 474, 475).<br />

b) Von dieser Regelung nimmt § 454b Abs. 2 Satz 2 StPO ausdrücklich Strafreste aus, die nach einem Widerruf der<br />

Strafaussetzung vollstreckt werden, <strong>und</strong> überantwortet sie folglich jedenfalls gr<strong>und</strong>sätzlich der Vorabvollstreckung.<br />

Die Vorschrift ist eindeutig <strong>und</strong> – entgegen dem Vortrag des Beschwerdeführers – nicht etwa dem bloßen Umstand<br />

geschuldet, dass es bei Strafresten (in der Regel) keinen Zwei-Drittel-Zeitpunkt mehr gibt. Gegen die Auffassung des<br />

Beschwerdeführers spricht schon, dass der Gesetzgeber bei Einführung des § 454b StPO die heute in § 43 Abs. 2 Nr.<br />

1 Satz 2 StVollstrO eingestellte Verwaltungsvorschrift zur Vorabvollstreckung von Strafresten nach Widerruf der<br />

Strafaussetzung gerade vor Augen hatte (vgl. Regierungsentwurf aaO). Zudem hätte es für eine bloße Selbstverständlichkeit<br />

keiner gesetzlichen Normierung bedurft <strong>und</strong> wäre dann konsequenterweise zumindest eine Ausnahmeregelung<br />

für Halbstrafenaussetzungen zu erwarten gewesen. Dass dem Gesetzgeber die Problematik bewusst ist, erweist<br />

ferner die für das Jugendstrafrecht getroffene Spezialbestimmung des § 89a Abs. 1 Satz 4 JGG, nach der die Vollstreckung<br />

eines Strafrests, der auf Gr<strong>und</strong> Widerrufs seiner Aussetzung vollstreckt wird, unterbrochen werden kann,<br />

wenn ein <strong>Teil</strong> des Strafrests verbüßt ist <strong>und</strong> eine erneute Aussetzung in Betracht kommt. Eine vergleichbare Regelung<br />

hält § 454b StPO für das allgemeine Strafrecht nicht bereit.<br />

c) Hinter der gesetzgeberischen Entscheidung stehen in der Sache schlüssige Erwägungen. Für sie streitet, dass das<br />

Bedürfnis, einem Verurteilten nach einem Bewährungsversagen die Chance auf abermalige Strafaussetzung zu gewähren,<br />

deutlich geringer wiegt (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 1990 – 2 ARs 570/90, NStZ 1991, 205;<br />

HansOLG Hamburg, MDR 1993, 261, 262). Ferner bliebe die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung<br />

406


im Hinblick auf den Aufschub der Strafvollstreckung bis zur Verbüßung von zwei Dritteln der originär vollstreckten<br />

Freiheitsstrafe(n) andernfalls regelmäßig ohne alsbald spürbare Wirkung auf den Verurteilten. Dies zu vermeiden,<br />

mithin die mit dem Bewährungswiderruf vorrangig verfolgte negative spezialpräventive Zielsetzung nicht leerlaufen<br />

zu lassen, entspricht dem in § 454b Abs. 2 Satz 2 StPO verankerten gesetzgeberischen Willen (vgl. hierzu auch Greger,<br />

JR 1986, 353, 357; Funck, NStZ 1992, 511; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 454b Rn. 7; vgl. ferner OLG<br />

Frankfurt, NStZ-RR 2000, 282, 284). Ob dieser darüber hinaus etwa gar dahin ging, dass eine erneute Aussetzung<br />

der Vollstreckung eines Strafrests nach deren Widerruf mit Blick auf die abschließenden Regelungen des § 57 <strong>StGB</strong><br />

generell ausscheidet (vgl. hierzu Wendisch, NStZ 1989, 293), kann der B<strong>und</strong>esgerichtshof abermals (vgl. BGH aaO)<br />

dahingestellt lassen.<br />

2. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Zusammenspiel von gesetzlicher Regelung <strong>und</strong> Verwaltungsvorschrift<br />

unter dem Blickwinkel von Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GG <strong>und</strong> Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 29,<br />

312, 315) hegt der Senat nicht. Gr<strong>und</strong>lagen der Reststrafenvollstreckung sind das verurteilende Erkenntnis (BVerfGE<br />

aaO, S. 316; 1, 418, 420) <strong>und</strong> die Widerrufsentscheidung der Strafvollstreckungskammer. Die die Rechtsstellung des<br />

Verurteilten nachrangig berührenden Rahmenbedingungen der Vollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen – Anschlussvollstreckung<br />

<strong>und</strong> Unterbrechung der Vollstreckung – sind normenklar in § 454b StPO festgelegt. Wenn § 43 Abs. 4<br />

StVollstrO der Vollstreckungsbehörde durch Einräumung eines – gerichtlich nachprüfbaren (vgl. BGH aaO) – Ermessens<br />

erlaubt, unter besonderen Umständen, etwa bei bereits begonnener Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe<br />

<strong>und</strong> einem dann erfolgten Widerruf des Rests einer zeitigen Freiheitsstrafe, zugunsten des Verurteilten<br />

von der gesetzlich vorgegebenen, in § 43 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 StVollstrO näher ausgeformten Reihenfolge abzuweichen<br />

(vgl. auch Appl in KK, 6. Aufl., StPO, § 454b Rn. 17), so beeinträchtigt dies – nicht anders bei anderen Ermessensentscheidungen<br />

(vgl. etwa §§ 455, 456, 456a StPO) oder bei Gnadenentscheidungen (vgl. etwa Weber, BtMG, 3.<br />

Aufl., vor §§ 29 ff. Rn. 1211 f.) im Rahmen der Strafvollstreckung – dessen Rechtsstellung nicht. Dies gilt namentlich<br />

auch mit Blick auf die Gesamtlänge der Strafvollstreckung (vgl. BVerfG [Kammer], NStZ 1994, 452, 453).<br />

Besondere Umstände für eine anderweitige Vollstreckungsreihenfolge sind hier nicht ersichtlich.<br />

IRG § 83h II Nr. 3; BtMG § 29a - Spezialität <strong>und</strong> nachträgliche Gesamtstrafe<br />

BGH, Beschl. v. 27.07.2011 - 4 StR 303/11 - NStZ 2012, 100<br />

Die Annahme des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.<br />

Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl <strong>und</strong> die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten<br />

[= § 83h Abs. 2 Nr. 3 IRG] verbietet es nicht, die übergebene Person einer freiheitsbeschränkenden<br />

Maßnahme zu unterwerfen, bevor die Zustimmung eingegangen ist, wenn diese Beschränkung<br />

durch andere Anklagepunkte im Europäischen Haftbefehl gerechtfertigt wird.<br />

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom<br />

14. Januar 2011 im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit der Maßgabe aufgehoben, dass eine nachträgliche gerichtliche<br />

Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 StPO zu treffen ist.<br />

2. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.<br />

3. Die Entscheidung über die Kosten der Rechtsmittel bleibt dem für das Nachverfahren nach §§ 460, 462 StPO<br />

zuständigen Gericht vorbehalten.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in<br />

zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge, unter Einbeziehung der durch das Urteil des Amtsgerichts Herford vom 26. März 2010 verhängten Einzelstrafen<br />

<strong>und</strong> unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren <strong>und</strong><br />

sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es bestimmt, dass die in Bulgarien erlittene Auslieferungshaft im Maßstab 1:1<br />

auf die Strafe angerechnet wird. Die auf die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts gestützte Revision des<br />

Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen <strong>Teil</strong>erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne<br />

des § 349 Abs. 2 StPO. Die zu Gunsten des Angeklagten eingelegte <strong>und</strong> wirksam auf den Ausspruch über die Gesamtstrafe<br />

beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützt ist, hat<br />

Erfolg. Das Urteil hat keinen Bestand, soweit das Landgericht unter Einbeziehung der durch das Urteil des Amtsgerichts<br />

Herford vom 26. März 2010 verhängten Einzelstrafen eine nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe nach § 55 Abs.<br />

407


1 <strong>StGB</strong> gebildet hat. Hierzu hat der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift ausgeführt: „Der Angeklagte ist<br />

aufgr<strong>und</strong> des Europäischen Haftbefehls vom 26. Juli 2010 (SA Bd. III, Bl. 670), der Bezug nimmt auf den Haftbefehl<br />

des Amtsgerichts Bielefeld vom 25. Juni 2010 (SA Bd. III, Bl. 612) aus Bulgarien ausgeliefert worden (SA Bd. III,<br />

Bl. 687), nachdem das Bezirksgericht Burgas mit Beschluss vom 30. August 2010 wegen der im Haftbefehl aufgeführten<br />

Betäubungsmitteldelikte die Auslieferung bewilligt hatte (SA Bd. IV, Bl. 882). Der Angeklagte hat der<br />

Durchführung des vereinfachten Auslieferungsverfahrens widersprochen <strong>und</strong> auf die Beachtung des Gr<strong>und</strong>satzes der<br />

Spezialität nicht verzichtet (SA Bd. IV, Bl. 882). Eine Auslieferungsbewilligung zur Vollstreckung der Strafe aus<br />

dem Urteil des Amtsgerichts Herford liegt bisher nicht vor.<br />

a) Der das Auslieferungsrecht beherrschende Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität – Art. 14 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens,<br />

§ 83h IRG – verbietet es gr<strong>und</strong>sätzlich, die mangels Zustimmung der bulgarischen Behörden nicht<br />

vollstreckbare Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Herford in eine neue Gesamtstrafe einzubeziehen (Senat,<br />

Beschluss vom 12. August 1997, 4 StR 345/97 m.w.N.; vgl. auch BGH, Beschluss vom 22. April 2004, 3 StR<br />

115/04).<br />

b) Die Strafkammer weist zwar zu Recht darauf hin, dass § 83h Abs. 2 IRG im Hinblick auf Personen, die – wie<br />

vorliegend – von einem EU-Mitgliedsstaat aufgr<strong>und</strong> eines Europäischen Haftbefehls überstellt worden sind, Ausnahmen<br />

vom Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität vorsieht. Diese greifen jedoch für den vorliegenden Fall nicht durch. Nach §<br />

83h Abs. 2 Nr. 3 IRG entfällt die Spezialität, wenn die Strafverfolgung im konkreten Fall nicht zu einer Freiheitsbeschränkung<br />

führt. Diese – ursprünglich für Geldstrafen vorgesehene (vgl. Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler<br />

Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 83h IRG, Rdn. 5 m.w.N.) – Ausnahme dürfte nach der Entscheidung<br />

des EuGH vom 1. Dezember 2008 (NStZ 2010, 35) zwar – wie vom Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg<br />

entschieden (Beschluss vom 29. Juli 2010, 3 Ws 96/10 = StraFo 2010, 469) – einen Widerrufsbeschluss hinsichtlich<br />

einer Strafaussetzung zur Bewährung ermöglichen. Anderes muss jedoch für die Einbeziehung einer Strafe in eine<br />

Gesamtfreiheitsstrafe gelten, da – worauf die Staatsanwaltschaft in ihrer Revision zutreffend hinweist – die Sach-<br />

<strong>und</strong> Rechtslage nicht vergleichbar ist. Zwar bleiben bei einer nach § 55 <strong>StGB</strong> gebildeten Gesamtstrafe – anders als<br />

bei der Einheitsjugendstrafe nach § 31 JGG – die zugr<strong>und</strong>e liegenden Einzelstrafen in gewissem Umfang selbständig,<br />

dies ändert jedoch nichts daran, dass – im Falle der Rechtskraft – die Gesamtfreiheitsstrafe vollstreckt wird. Dies<br />

kann aber nur mit Zustimmung des ausliefernden Staates erfolgen (EuGH, aaO). … Rechtshilferechtlich zulässig<br />

wäre wohl allenfalls eine vollständige Zurückstellung der Vollstreckung der verhängten Gesamtstrafe. Dies würde<br />

jedoch zum einen eklatant dem Gebot widersprechen, die Vollstreckung unverzüglich nach Eintritt der Rechtskraft<br />

einzuleiten (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 449 Rdn. 2), <strong>und</strong> wäre im Falle von Untersuchungshaft – wie<br />

vorliegend – praktisch nicht durchführbar, da die Untersuchungshaft mit der Rechtskraft des Urteils unmittelbar in<br />

die Strafhaft übergeht (BGHSt 38, 63).<br />

c) Das Landgericht wird somit aus den für die abgeurteilten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz rechtsfehlerfrei<br />

bestimmten Einzelstrafen von vier <strong>und</strong> fünf Jahren unter Beachtung des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO eine neue<br />

Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden haben. Dies kann im Beschlusswege nach den §§ 460, 462 StPO erfolgen (§ 354<br />

Abs. 1 b StPO). Im Falle einer nachträglichen Zustimmung Bulgariens zur Vollstreckung des Urteils des Amtsgerichts<br />

Herford wird – ebenfalls gemäß § 460 StPO – nachträglich eine neue Gesamtstrafe zu bilden sein (Senat, Beschluss<br />

vom 12. August 1997, 4 StR 345/97).“ Dem tritt der Senat bei. Nach der vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt zitierten<br />

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 1. Dezember 2008 ist die in Art. 27 Abs. 3 Buchst. c des Rahmenbeschlusses<br />

2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl <strong>und</strong> die Übergabeverfahren<br />

zwischen den Mitgliedstaaten (= § 83h Abs. 2 Nr. 3 IRG) vorgesehene Ausnahme dahin auszulegen, dass bei einer<br />

"anderen Handlung" als derjenigen, die der Übergabe zugr<strong>und</strong>e liegt, nach Art. 27 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses<br />

um Zustimmung ersucht werden <strong>und</strong> diese Zustimmung spätestens dann eingegangen sein muss, wenn eine Freiheitsstrafe<br />

oder freiheitsentziehende Maßnahme zu vollstrecken ist. Die übergebene Person kann wegen einer solchen<br />

Handlung verfolgt <strong>und</strong> verurteilt werden, bevor diese Zustimmung eingegangen ist, sofern während des diese<br />

Handlung betreffenden Ermittlungs- <strong>und</strong> Strafverfahrens keine freiheitsbeschränkende Maßnahme angewandt wird.<br />

Die Ausnahme des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c des Rahmenbeschlusses verbietet es jedoch nicht, die übergebene Person<br />

einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme zu unterwerfen, bevor die Zustimmung eingegangen ist, wenn diese Beschränkung<br />

durch andere Anklagepunkte im Europäischen Haftbefehl gerechtfertigt wird. Jedenfalls in der hier vorliegenden<br />

Fallgestaltung, in der Untersuchungshaft wegen der Taten vollzogen wird, derentwegen die Auslieferung<br />

bewilligt wurde, steht der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe mit Einzelstrafen aus einer nicht von der Auslieferungsbewilligung<br />

umfassten Vorverurteilung bereits das vom Europäischen Gerichtshof angenommene Vollstreckungshindernis<br />

entgegen. In einem solchen Fall ginge nicht nur die Untersuchungshaft mit Rechtskraft (§ 34a<br />

408


StPO) in Strafhaft über (§ 449 StPO), sondern die Gesamtfreiheitsstrafe wäre infolge der Anrechnung nach § 51 Abs.<br />

1 <strong>StGB</strong> bereits teilweise vollstreckt.<br />

MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 34<br />

BGH, Beschl. v. 23.08.2011 – 1 StR 153/11 - NJW 2011, 3314 = NStZ 2012, 152 = StV 2012, 81<br />

LS: Nach Übernahme eines Ermittlungsverfahrens durch die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland ist eine<br />

in dem abgebenden Vertragsstaat der MRK bereits eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung<br />

nicht zu kompensieren.<br />

1. Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 10. November 2010 werden<br />

als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO). Jeder Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels <strong>und</strong> die dem<br />

Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

2. Die Revisionen des Nebenklägers gegen das vorbezeichnete Urteil werden hinsichtlich des Angeklagten C. als<br />

unzulässig (§ 349 Abs. 1 StPO), hinsichtlich der Angeklagten A. <strong>und</strong> T. als unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO) verworfen.<br />

Der Nebenkläger hat die Kosten seiner Rechtsmittel <strong>und</strong> die den Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen<br />

Auslagen zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Die Jugendkammer hat festgestellt: Die Angeklagten waren mit Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Bekannten am Karsamstag 2008 in<br />

einer Diskothek in Hard (Österreich), ebenso der Nebenkläger M.. Dieser wollte eine schon abflauende Auseinandersetzung,<br />

an der der Angeklagte C. beteiligt war, schlichten. C. schlug ihn mit der Faust ins Gesicht, es entstand eine<br />

aggressive Stimmung. Nunmehr wollten die Angeklagten A. <strong>und</strong> T., die zuvor mit C. zusammen am Tisch gewesen<br />

waren, C. helfen, der allerdings bald die Diskothek verließ. M. erhielt, auch von A. <strong>und</strong> T., Schläge <strong>und</strong> Tritte, ging<br />

zu Boden, konnte sich zunächst aber wieder aufrichten. Es gab weitere, namentlich nicht ermittelte Beteiligte an der<br />

Auseinandersetzung. Es flogen Flaschen, eine davon traf auch A., der seinerseits eine Flasche nahm <strong>und</strong> sie „in<br />

Bauchhöhe“ gegen M. warf. Eine Flasche traf M. so heftig am Kopf, dass er „k.o. ging <strong>und</strong> völlig hilflos zu Boden<br />

sackte“. Dass A. d i e s e Flasche geworfen hatte, steht nicht fest. Er trat aber gemeinsam mit anderen - darunter auch<br />

T. - auf den bewusstlos am Boden liegenden M. ein. M. wurde dabei auch gegen den Kopf getreten, ohne dass einem<br />

der Beteiligten einzelne Tritte genau zugeordnet werden konnten. M. zog sich sehr schwere Verletzungen zu, z.B.<br />

Brüche im Bereich des Jochbeins, der Augenhöhle <strong>und</strong> des Kiefers. Wegen der Gefahr, Blut einzuatmen, hätte er<br />

ohne fremde Hilfe ersticken können. Durch das Gesamtgeschehen wurde er auf einem Auge blind <strong>und</strong> kann, zu 40%<br />

erwerbsgemindert, seinen Beruf nicht mehr ausüben. Auch muss er lebenslang eine Platte im Gesicht tragen. Auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage dieser Feststellungen wurde C. wegen Körperverletzung (§ 223 <strong>StGB</strong>) zu einer Freiheitsstrafe von einem<br />

Jahr verurteilt. Hinsichtlich der beiden anderen, heranwachsenden Angeklagten konnte sich die Jugendkammer nicht<br />

von den in der Anklage noch enthaltenen Vorwürfen des versuchten Totschlags, hinsichtlich A. auch der schweren<br />

Körperverletzung (Verlust eines Auges) überzeugen, <strong>und</strong> verurteilte sie wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224<br />

Abs. 1 Nr. 4 <strong>StGB</strong>) wegen der Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 JGG) jeweils zu einer zur Bewährung ausgesetzten<br />

Jugendstrafe, A. zu zehn Monaten, T. zu einem Jahr. Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen der Angeklagten<br />

<strong>und</strong> des Nebenklägers. Sämtliche Rechtsmittel bleiben erfolglos.<br />

A. Die Revisionen der Angeklagten<br />

Sämtliche Revisionen erheben die Sachrüge, die der Angeklagten A. <strong>und</strong> T. führen sie näher aus. Die Revision des<br />

Angeklagten A. ist zusätzlich noch auf Verfahrensrügen gestützt.<br />

I. Die Verfahrensrügen des Angeklagten A. wenden sich gegen die Verwertung der Angaben, die er am 24. März<br />

2009 gegenüber KHK H. gemacht hatte; dieser hatte ihn als Beschuldigten vernommen, nachdem die österreichischen<br />

Behörden das Ermittlungsverfahren an die Staatsanwaltschaft Ravensburg abgegeben hatten. Schon in der<br />

Hauptverhandlung war ein Widerspruch gegen die Zeugenvernehmung von KHK H. , gestützt auf die Vernehmungsniederschrift,<br />

(u.a.) damit begründet worden, er habe ihn nur über sein Schweigerecht, aber nicht über sein<br />

Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt <strong>und</strong> seinen Wunsch nach Unterrichtung des von ihm benannten Verteidigers<br />

abgelehnt. Außerdem habe er ihn durch die in der Vernehmungsniederschrift dokumentierten Vorhalte „Du<br />

weißt doch genau, dass der M. durch diese [von A. geworfene] Flasche das Auge verloren hat“ <strong>und</strong> später „Laut<br />

bisherigen Ermittlungen ist klar, dass durch deinen Flaschenwurf die schweren Verletzungen am linken Auge des M.<br />

entstanden sind“ i.S.d. § 136a StPO über den bisherigen Stand der Ermittlungen getäuscht, da er, wie näher darge-<br />

409


legt, gewusst habe, dass es keine den Angeklagten konkret belastenden Erkenntnisse über das Zustandekommen der<br />

Augenverletzung gäbe. Zu alledem befragt, erinnerte sich KHK H. genau, A. auch über sein Recht auf Verteidigerkonsultation<br />

belehrt zu haben, was er aber versehentlich nicht protokolliert habe. A. habe erklärt, seine Rechte aus<br />

einem früheren Verfahren - ein 2006 gemäß § 45 Abs. 1 JGG behandeltes Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruchs<br />

- zu kennen, jedoch nicht den Wunsch nach Kontakt mit (s)einem Rechtsanwalt geäußert. Außerdem<br />

erläuterte KHK H. seine damaligen Kenntnisse vom Ermittlungsstand. Die Jugendkammer hielt seine Angaben für<br />

„uneingeschränkt überzeugend“, wies den Widerspruch mit näher begründetem Beschluss zurück <strong>und</strong> vernahm ihn<br />

zur Sache. Hieran knüpft die Revision an. Sie hält sowohl § 136 StPO als auch § 136a StPO für verletzt.<br />

1. Ein Verstoß gegen § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO liege vor, weil der Angeklagte keinen Kontakt mit seinem Verteidiger<br />

aufnehmen durfte; das Urteil begründe die Verwertbarkeit der Aussage von KHK H. nicht konkret. Seine Angaben<br />

seien wegen der entgegen Nr. 45 Abs. 1 RiStBV nicht dokumentierten Belehrung unglaubhaft, zumal er - so die<br />

Revision - erklärt habe, er dokumentiere die Beschuldigtenbelehrung nie in einem gesonderten Formular. Daher<br />

ergebe die Prüfung des Vernehmungsablaufs hier „ausschließlich“ das Ergebnis, „dass die Belehrung … nicht stattgef<strong>und</strong>en<br />

hat“. Die Behauptung von KHK H. , der Angeklagte habe geäußert, seine Rechte aus einem früheren Verfahren<br />

zu kennen, werde den Gegebenheiten nicht gerecht. Da insgesamt genügende Hinweise auf eine Belehrung<br />

fehlten, seien die Angaben des Angeklagten unverwertbar.<br />

a) Im Urteil ist die Verwertbarkeit der Aussage von KHK H. nicht konkret begründet. Ob dies als eigenständiger<br />

Rechtsfehler gerügt sein soll, mag dahinstehen. Ausführungen zur Verwertbarkeit von Beweismitteln im Urteil sind<br />

rechtlich nicht geboten <strong>und</strong> würden es nur überfrachten (BGH, Beschluss vom 27. Mai 2009 - 1 StR 99/09, NJW<br />

2009, 2612, 2613 mwN).<br />

b) Im Übrigen sprechen die genannten ineinander übergehend beide Gesichtspunkte ansprechenden Ausführungen<br />

der Revision dafür, dass Gr<strong>und</strong>lage eines Beweisverwertungsverbots offenbar sowohl die unterbliebene Belehrung<br />

über das Recht auf Verteidigerkonsultation (BGH, Urteil vom 22. November 2001 - 1 StR 220/01, BGHSt 47, 172,<br />

173 f.), als auch die Verhinderung der ausdrücklich gewünschten Kontaktaufnahme mit dem Verteidiger (BGH,<br />

Urteil vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 126/92, BGHSt 38, 372, 374; vgl. auch Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK; hierzu<br />

Schädler in KK-StPO 6. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 50 mwN) sein soll. Unbeschadet der Frage nach der gebotenen Klarheit<br />

der „Angriffsrichtung“ dieser Rüge (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2010 - 1 StR 620/09, NStZ 2010, 403,<br />

404 mwN) in tatsächlicher Hinsicht, erscheint zweifelhaft, ob, wie für eine zulässige Verfahrensrüge stets erforderlich<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2010 - 1 StR 157/10, StV 2011, 399; BGH, Beschluss vom 19. Oktober<br />

2005 - 1 StR 117/05, NStZ-RR 2006, 181, 182 mwN), der Vortrag widerspruchsfrei ist. Einerseits sei der Hinweis<br />

von KHK H. auf die bei der Vernehmung aktuelle Kenntnis des Angeklagten von seinem Recht auf Verteidigerkonsultation<br />

- sie stünde trotz unterbliebener Belehrung einem Verwertungsverbot entgegen (BGH, Urteil vom 22. November<br />

2001 - 1 StR 220/01, BGHSt 47, 172, 174) - unzutreffend, andererseits habe der Angeklagte Kontakt mit<br />

seinem Verteidiger verlangt. Wie es miteinander vereinbar ist, dass ein Recht unbekannt ist, aber dennoch geltend<br />

gemacht wird, liegt nicht auf der Hand.<br />

c) Letztlich kann dies aber auf sich beruhen, da der Senat das tatsächliche Vorbringen der Revision, hinsichtlich der<br />

unterbliebenen Belehrung ebenso wie hinsichtlich der verwehrten Kontaktaufnahme, nicht für bewiesen hält (zum<br />

Maßstab vgl. BGH, Urteil vom 20. Juni 1997 - 2 StR 130/97, StV 1999, 354). Er hat keinen Gr<strong>und</strong>, die Angaben von<br />

KHK H. hierzu anders zu bewerten als die Jugendkammer. Er teilt nicht die Auffassung, dass wegen einer entgegen<br />

Nr. 45 Abs. 1 RiStBV teilweise unterbliebenen Protokollierung einer Belehrung bei Gericht „ausschließlich“ oder<br />

nahe liegend Lügen des hierfür verantwortlichen Polizeibeamten zum Vernehmungsablauf zu erwarten seien. Auch<br />

konkret spricht hier für diese Möglichkeit nichts.<br />

d) Die Belastung des Verfahrens durch unsorgfältige Protokollierung wäre leicht bei Verwendung eines entsprechenden<br />

Formulars vermieden worden. Macht im Übrigen, wie hier, ein Angeklagter in der Hauptverhandlung keine<br />

Angaben, oder sagt er - erfahrungsgemäß ebenfalls nicht ungewöhnlich - dort anders aus als im Ermittlungsverfahren,<br />

können seine früheren Angaben sehr bedeutsam werden. Da hinsichtlich dieser Angaben hier keine ordnungsgemäße<br />

Belehrung aktenk<strong>und</strong>ig war, stand das Verbot ihrer Verwertung dann im Raum, wenn die Belehrung <strong>und</strong><br />

nicht nur deren Dokumentation unzulänglich war. Diese anhand der Akten nicht klärbare Frage hätte bereits vor der<br />

Hauptverhandlung überprüft werden können, auch schon von der Staatsanwaltschaft. Deren Gesamtverantwortung<br />

für ein rechtmäßiges Ermittlungsverfahren - auch soweit von der Polizei geführt - verlangt auch hinsichtlich etwaiger<br />

Beweisverwertungsverbote effektiv ausgeübte Leitungs- <strong>und</strong> Kontrollbefugnisse, damit gegebenenfalls gebotene<br />

Maßnahmen ergriffen werden können, wo nötig in Form allgemeiner Weisungen. Dies gilt in allen Verfahren, hat<br />

aber in Kapitalsachen (versuchter Totschlag) besonderes Gewicht (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Mai 2009 - 1 StR<br />

99/09, NJW 2009, 2612, 2613 mwN).<br />

410


2. Eine Täuschung des Angeklagten über den Ermittlungsstand (§ 136a StPO) liegt nicht vor. Als der Angeklagte,<br />

der auch schon zuvor erklärt hatte, er wisse nicht, wo die von ihm geworfene Flasche getroffen habe, erneut auch auf<br />

den ersten als Beleg für eine Täuschung genannten Vorhalt „Du weißt doch genau …“ (oben A. I. vor 1.) nicht bestätigte,<br />

M. am Auge getroffen zu haben, hielt ihm KHK H. als nächstes vor: „Aber es ist in der Gruppe bekannt, dass<br />

deine Flasche den M. am Auge getroffen hat“, worauf der Angeklagte erwiderte: „Man sagt das deswegen, weil man<br />

gesehen hat, dass ich die eine Flasche geworfen habe“. Es gab also - vom Angeklagten sogar als richtig bestätigte -<br />

polizeiliche Erkenntnisse, dass mehrere bei dem Vorfall anwesende Personen (die „Gruppe“) - unabhängig von Angaben<br />

bei der Polizei - geäußert hatten, der Angeklagte habe M. mit der Flasche am Auge verletzt. Schon deshalb hat<br />

die Annahme einer Täuschung durch KHK H. keine Gr<strong>und</strong>lage. Außerdem hat die Jugendkammer lediglich festgestellt,<br />

dass der Angeklagte - wie von vielen Anwesenden gesehen <strong>und</strong> auch von ihm schon vor der angeblichen Täuschung<br />

eingeräumt - eine Flasche geworfen, aber nicht, dass sie M. am Auge getroffen hat. Selbst wenn, was nicht so<br />

ist, eine Täuschung vorläge, hätte sie sich schon nicht auf die Aussagen des Angeklagten bei der Polizei <strong>und</strong> erst<br />

Recht nicht auf das Urteil ausgewirkt.<br />

II. Die auf Gr<strong>und</strong> der von allen Angeklagten erhobenen Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils hat keinen<br />

Rechtsfehler zum Nachteil eines Angeklagten ergeben. Ergänzend bemerkt der Senat:<br />

1. Zum Schuldspruch:<br />

a) Vorbringen für den Angeklagten A. :<br />

(1) Die Behauptung, die Jugendkammer habe nur Feststellungen zum Flaschenwurf getroffen <strong>und</strong> nichts festgestellt,<br />

was die Beteiligung des Angeklagten an den vorangegangenen Gewalttätigkeiten belege, widerspricht den Urteilsgründen.<br />

Danach hatte sich C. unmittelbar vor Beginn seiner Auseinandersetzung mit M. „an den Nachbartisch zu …<br />

A. <strong>und</strong> T. begeben“. M. hat bek<strong>und</strong>et, nachdem ihn C. geschlagen hatte, seien dessen „Begleiter oder Fre<strong>und</strong>e …<br />

aufgestanden <strong>und</strong> hätten auf ihn eingeschlagen“. Zweifel an der Glaubwürdigkeit M. s hatte die Jugendkammer<br />

nicht, Gründe, warum sie sie hätte haben müssen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.<br />

(2) Weite <strong>Teil</strong>e des sonstigen Vorbringens gegen die Feststellungen zum Tatgeschehen erschöpfen sich in Überlegungen<br />

zu alternativen Geschehensabläufen (der Angeklagte könne nach dem Flaschenwurf den Tatort alsbald verlassen<br />

oder dort nur zur Beobachtung des weiteren Geschehens „verweilt“ haben), die in den Urteilsgründen keine<br />

Anknüpfungspunkte finden. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten<br />

Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte erbracht sind (st. Rspr.;<br />

vgl. BGH, Urteil vom 27. April 2010 - 1 StR 454/09, wistra 2010, 310, 312 mwN). Dementsprechend braucht das<br />

Urteil bloß theoretische Möglichkeiten auch nicht zu erörtern (BGH, Urteil vom 26. Mai 2011 - 1 StR 20/11). Eine<br />

auf den Beleg der Richtigkeit ihrer Vermutungen gerichtete Aufklärungsrüge hat die Revision nicht erhoben.<br />

(3) Nach den Feststellungen der Jugendkammer traten „umstehende Personen“ auf den am Boden liegenden M. „mit<br />

Füßen … ein. ... Hieran waren auch die Angeklagten A. <strong>und</strong> T. beteiligt“. Angesichts dessen ist die Annahme der<br />

Revision, zur Art der Beteiligung des Angeklagten sei nichts festgestellt, nicht nachvollziehbar.<br />

b) Vorbringen für den Angeklagten T. :<br />

Die Revision verkennt, dass weder die Sach- noch eine Verfahrensrüge auf einen Abgleich der Urteilsgründe mit<br />

dem Akteninhalt gestützt werden kann (st. Rspr.; zuletzt BGH, Urteil vom 26. Mai 2011 - 1 StR 20/11; vgl. zusammenfassend<br />

Wahl in NJW-SH f. G. Schäfer, 2002, 73 mwN). Deshalb ist auch für die von ihr angeregte Anhörung<br />

eines Zeugen durch den Senat kein Raum. Sollte ein Zeuge im weiteren Verlauf wegen eines Aussagedelikts rechtskräftig<br />

verurteilt werden, könnte dies Gr<strong>und</strong>lage einer Wiederaufnahme des Verfahrens sein (§ 359 Nr. 2 StPO).<br />

Soweit die Revision darüber hinaus im Rahmen der Begründung der Sachrüge wegen der Ablehnung des „Beweisantrag(s)<br />

Anlage 8“ eine Verletzung der Aufklärungspflicht sieht, kommt eine Umdeutung in eine Verfahrensrüge nicht<br />

in Betracht, da das Vorbringen den Anforderungen von § 344 Abs. 2 StPO nicht genügt. Weder der Antrag noch der<br />

Beschluss sind mitgeteilt.<br />

2. Zum Strafausspruch:<br />

a) Ausführungen zum Strafausspruch enthält nur die Revisionsbegründung für den Angeklagten A.. Soweit sich<br />

fehlende Feststellungen zur Art der Tatbeteiligung auf den Strafausspruch ausgewirkt haben sollen, gilt nichts anderes<br />

als hinsichtlich des Schuldspruchs (vgl. A. II. 1. a (3)). Das übrige Vorbringen erschöpft sich in dem im Revisionsverfahren<br />

unbeachtlichen Versuch, Bewertungen, die die dem Tatrichter hierbei gezogenen Grenzen an keiner<br />

Stelle zum Nachteil des Angeklagten überschreiten, durch eigene zu ersetzen. Zu Unrecht ist die Jugendkammer<br />

allerdings davon ausgegangen, der Angeklagte sei „nicht strafrechtlich vorbelastet“ gewesen. Tatsächlich ist er schon<br />

2006 wegen Landfriedensbruchs in Erscheinung getreten (vgl. A. I. vor 1.). Auch wenn nähere Feststellungen hierzu<br />

fehlen, handelt es sich dabei jedenfalls um ein Delikt, bei dem es, ähnlich wie hier, um Gewalttätigkeiten aus einer<br />

411


wegen etlicher Beteiligter unübersichtlichen Situation heraus geht. Die unterbliebene Erörterung dieses Gesichtspunkts<br />

hat sich jedoch nur zu Gunsten des Angeklagten ausgewirkt.<br />

b) Auch sonst sind bei der Strafzumessung Rechtsfehler weder zum Nachteil des Angeklagten A. noch zum Nachteil<br />

der übrigen Angeklagten ersichtlich.<br />

3. Zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensdauer:<br />

Die Jugendkammer hat die Verfahrensdauer nicht nur als bedeutsamen Strafmilderungsgr<strong>und</strong> angesehen, sondern<br />

insoweit auch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung festgestellt, weil<br />

- bis zur Abgabe des zunächst in Österreich anhängigen Ermittlungsverfahrens an die Staatsanwaltschaft Ravensburg<br />

„in erster Linie durch die zögerliche Behandlung bzw. Nichtbehandlung der Ermittlungen seitens der österreichischen<br />

Ermittlungsbehörden schon neun Monate ins Land gegangen“ sind;<br />

<strong>und</strong><br />

- wegen vieler vorrangiger Haftsachen zwischen Eingang der Anklage <strong>und</strong> Urteil zwölf Monate gelegen haben.<br />

In beiden Abschnitten sei das Verfahren in einer Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK zuwiderlaufenden Weise für die Dauer<br />

von je neun Monaten verzögert worden, was mit je drei Monaten zu kompensieren sei.<br />

Dementsprechend wurden von der gegen den Angeklagten C. verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate (im Urteilstenor)<br />

für vollstreckt erklärt. Anders sei, so die Jugendkammer in den Urteilsgründen, demgegenüber hinsichtlich der<br />

Angeklagten A. <strong>und</strong> T. zu verfahren. Da gegen sie Jugendstrafe verhängt sei, sei nicht ein <strong>Teil</strong> der Strafe für vollstreckt<br />

zu erklären, sondern ein Abschlag von der an sich für angemessen gehaltenen Strafe vorzunehmen. Dementsprechend<br />

wurde eine Jugendstrafe von einem Jahr statt von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten gegen T. <strong>und</strong> von zehn<br />

Monaten statt von einem Jahr <strong>und</strong> vier Monaten gegen A. verhängt. Der Senat bemerkt:<br />

a) Die Dauer eines Strafverfahrens kann unabhängig von ihren Gründen für die Strafzumessung bedeutsam sein<br />

(BGH, Urteil vom 21. Februar 2002 - 1 StR 538/01, StV 2002, 598 mwN). Der Senat ist jedoch nicht der Auffassung,<br />

dass eine (von der Jugendkammer nur knapp geschilderte, nach ihrer Auffassung) mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1<br />

MRK unvereinbare Verfahrensverzögerung durch österreichische Behörden hier darüber hinaus auch als konventionswidrig<br />

zu kompensieren ist. Eine solche Kompensation ist Wiedergutmachung. Sie soll die „Opferstellung“ eines<br />

Betroffenen (Art. 34 MRK) beenden <strong>und</strong> so den jeweiligen Vertragsstaat (hier die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland) vor<br />

einer möglichen Verurteilung durch den EGMR auf Gr<strong>und</strong> einer Individualbeschwerde wegen Verletzung der MRK<br />

bewahren (BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 137).<br />

Letztlich wird durch eine solche Kompensation eine „im Verantwortungsbereich des Staates“ (BGH aaO 129; vgl.<br />

hierzu auch BGH, Beschluss vom 4. August 2009 - 5 StR 253/09, NStZ 2010, 230 mwN) entstandene „Art Staatshaftungsanspruch“<br />

erfüllt (BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52,<br />

124, 138). Dem entspricht, dass Individualbeschwerden gemäß Art. 35 Abs. 3 MRK zurückgewiesen werden, wenn<br />

die gerügten Handlungen oder Unterlassungen dem beklagten Staat nicht zuzurechnen wären (vgl. EGMR, Entscheidung<br />

vom 15. Juni 1999, Nr. 18360/91; EKMR, Entscheidung vom 14. April 1998, Nr. 20652/92). Dies spricht dagegen,<br />

dass ein (etwa) konventionswidriger Verfahrensgang in einem Mitgliedsstaat der MRK einem anderen Mitgliedsstaat,<br />

der hierauf keinen Einfluss nehmen konnte, gleichwohl zuzurechnen <strong>und</strong> von ihm zu kompensieren ist,<br />

wenn seine Ermittlungsbehörden das Ermittlungsverfahren erst nach Eintritt der Verzögerung übernommen haben<br />

(so in vergleichbarem Sinne, wenn auch anderen prozessualen Zusammenhängen, BGH, Beschluss vom 17. März<br />

2010 - 2 StR 397/09, BGHSt 55, 70, 77 f. [mögliche Verletzung des Konfrontationsrechts durch einen anderen Staat<br />

im Rahmen von Rechtshilfe] <strong>und</strong> OLG Rostock, NStZ-RR 2010, 340 [mögliche konventionswidrige Verfahrensverzögerung<br />

durch einen anderen Staat bei einer hier zur Vollstreckung übernommenen Verurteilung] jew. mwN).<br />

b) Der Senat kann auf der Gr<strong>und</strong>lage der hierzu ebenfalls knappen Feststellungen nicht beurteilen, ob <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />

wie lange das Verfahren durch die Jugendkammer konventionswidrig verzögert wurde (vgl. zu hierfür wesentlichen<br />

Punkten BGH, Beschluss vom 20. März 2008 - 1 StR 488/07, NJW 2008, 2451, 2453 f.). Jedenfalls handelt<br />

es sich hier um eine „Jugendschwurgerichtssache“ (§ 41 Abs. 1 Nr. 1 JGG) gegen (ursprünglich) fünf nicht inhaftierte<br />

Angeklagte. Diesen lagen, hinsichtlich der einzelnen Angeklagten differenziert, unterschiedliche Delikte<br />

teilweise sehr erheblichen Gewichts (gefährliche Körperverletzung, schwere Körperverletzung, versuchter Totschlag)<br />

zum Nachteil des am Verfahren als Nebenkläger beteiligten Geschädigten zur Last. Sämtliche Taten sollten<br />

die nicht geständigen Angeklagten im Rahmen eines tumultartigen <strong>und</strong> daher schwer klärbaren Geschehens begangen<br />

haben, wobei einige Zeugen der im Ausland begangenen Tat(en) im Ausland wohnten. Der Senat hält es danach<br />

jedenfalls nicht für menschenrechtswidrig, dass hier nicht schon etwa drei Monate nach Eingang der Anklage ein<br />

Urteil erging.<br />

c) Außerdem ist bei der Prüfung einer etwaigen konventionswidrigen Verfahrensverzögerung stets die Dauer des<br />

gesamten Verfahrens in den Blick zu nehmen (BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 - 1 StR 238/08, wistra 2009, 147,<br />

412


148 mwN). Es ist daher kein zutreffender Ansatz, nach jeweils nur isolierter Bewertung für mehrere Verfahrensabschnitte<br />

jeweils gesonderte Kompensationen zu bestimmen <strong>und</strong> diese dann zu addieren.<br />

d) Eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung kann gegebenenfalls schon durch ihre Feststellung genügend<br />

kompensiert sein (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2010 - 5 StR 330/10, StraFo 2011, 56, 57 mwN). Jedenfalls<br />

hätte die Jugendkammer, die diese hier nahe liegende Möglichkeit nicht geprüft hat, bei der Bemessung der<br />

Kompensation aber erkennbar zu erwägen gehabt, dass sie, wie dargelegt, schon bei der Strafzumessung die Verfahrensdauer<br />

strafmildernd bewertet hat, sodass darüber hinaus nur noch deren konventionswidrige Verursachung auszugleichen<br />

ist. Dies wird, von hier nicht erkennbaren besonderen Fallgestaltungen abgesehen, vielfach dazu führen,<br />

dass sich eine Kompensation nur noch auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken hat (BGH, Großer<br />

Senat für Strafsachen, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 146, 147; BGH, Urteil vom<br />

9. Oktober 2008 - 1 StR 238/08, wistra aaO mwN). Die Jugendkammer hat demgegenüber zwischen einem Drittel<br />

<strong>und</strong> der Hälfte der von ihr für angemessen gehaltenen Strafen für vollstreckt erklärt bzw. nicht ausgesprochen. Bei<br />

der Bemessung der Höhe einer Kompensation ist jedoch auch in den Blick zu nehmen, dass eine überzogene Berücksichtigung<br />

des Zeitfaktors als Ausgleich für Justiz <strong>und</strong> Ermittlungsbehörden anzulastenden Mängeln den Zielen<br />

effektiver Verteidigung der Rechtsordnung zuwider läuft (BGH, Beschluss vom 17. November 2010 - 1 StR 145/10,<br />

wistra 2011, 115, 116 mwN).<br />

e) Einer abschließenden Entscheidung der aufgezeigten Gesichtspunkte hinsichtlich der Verfahrensverzögerung<br />

bedarf es hier aber nicht, da sie sich ersichtlich nur zu Gunsten der Angeklagten ausgewirkt haben.<br />

f) Im Übrigen ist die Umsetzung der von der Jugendkammer für erforderlich gehaltenen Kompensation nur hinsichtlich<br />

des Angeklagten C. („Vollstreckungsmodell“) rechtsfehlerfrei. Die Annahme, bei Verhängung von Jugendstrafe<br />

sei demgegenüber nicht das Vollstreckungsmodell anzuwenden, sondern ein Strafabschlag vorzunehmen, entspricht<br />

nicht der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs, jedenfalls, wenn die Jugendstrafe, wie jeweils hier, allein auf eine<br />

Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 JGG) gestützt ist (BGH, Beschluss vom 28. September 2010 - 5 StR 330/10, StraFo<br />

2011, 56, 57; Urteil vom 9. Mai 2010 - 2 StR 278/09 jew. mwN). Die Angeklagten sind dadurch jedoch nicht beschwert.<br />

Ein Angeklagter kann schon generell ohnehin allenfalls unter sehr ungewöhnlichen Umständen beschwert<br />

sein, wenn eine niedrigere statt einer höheren - sei es auch teilweise als vollstreckt geltenden - Strafe ausgesprochen<br />

wird (BGH, Beschluss vom 20. März 2008 - 1 StR 488/07, NJW 2008, 2451, 2454; vgl. auch Pohlit in FS Rissingvan<br />

Saan, 453, 457). Hier kommt hinzu, dass der Strafabschlag dazu führte, dass die Jugendstrafen schon nach Maßgabe<br />

von § 21 Abs. 1 JGG zur Bewährung ausgesetzt werden konnten <strong>und</strong> nicht wie die von der Jugendkammer an<br />

sich für angemessen gehaltenen Strafen nur unter den demgegenüber (schon ausweislich des Gesetzeswortlauts)<br />

engeren Voraussetzungen des § 21 Abs. 2 JGG (vgl. hierzu Brunner/Dölling JGG 11. Aufl., § 21 Rn. 11, 11a; vgl.<br />

auch BGH, Beschluss vom 5. März 2008 - 2 StR 54/08, StV 2008, 400 zum strukturell identischen Fall, dass der<br />

Strafabschlag § 56 Abs. 1 <strong>StGB</strong> anwendbar macht, während bei dem Vollstreckungsmodell nur § 56 Abs. 2 <strong>StGB</strong><br />

anwendbar wäre).<br />

B. Die Revisionen des Nebenklägers<br />

I. Revision zum Nachteil des Angeklagten C. :<br />

1. Die Revision wurde uneingeschränkt in der „Strafsache gegen A. u.a.“ eingelegt. Ebenso uneingeschränkt ist im<br />

Rahmen der Revisionsbegründung beantragt (§ 344 Abs.1 StPO), das Urteil aufzuheben. Die auf die Sachrüge gestützte<br />

Begründung erwähnt den Angeklagten C. nicht, sondern legt ausschließlich dar, warum das Urteil hinsichtlich<br />

der Angeklagten A. <strong>und</strong> T. rechtsfehlerhaft ist. Zur Begründung herangezogen sind ausschließlich Feststellungen<br />

zum Geschehen, das sich ereignete, nachdem C. die Diskothek verlassen hatte.<br />

2. Der Senat hatte daher zu prüfen, ob das Urteil auch zum Nachteil des Angeklagten C. angefochten ist. Die Revisionseinlegungsschrift<br />

spricht eher dafür, da sich die Nebenklage auch gegen den auch wegen eines nebenklagefähigen<br />

Delikts verurteilten Angeklagten C. richtete. Gleiches gilt im Ergebnis für den Revisionsantrag. Gegen eine Revision<br />

zum Nachteil des Angeklagten C. spricht die Revisionsbegründung, die ihn weder erwähnt, noch sich auf die ihm zur<br />

Last gelegte Tat bezieht. Der Senat hat erwogen, ob hier, wie auch sonst bei Zweifeln über den Umfang einer Revision,<br />

deren Begründung maßgeblich ist (vgl. BGH, Urteil vom 7. Mai 2009 - 3 StR 122/09; BGH, Urteil vom 25.<br />

November 2003 - 1 StR 182/03, NStZ-RR 2004, 118 mwN). Dies hat er verneint. Wird, sei es auch in nur einem<br />

Schriftsatz, ein gegen mehrere Angeklagte ergangenes Urteil uneingeschränkt angefochten, gilt dies regelmäßig<br />

hinsichtlich jedes Angeklagten. Es liegen der Sache nach mehrere, voneinander unabhängige Rechtsmittel vor. Dann<br />

kann aber nicht allein der späteren Begründung des Rechtsmittels zum Nachteil eines Angeklagten inzident entnommen<br />

werden, dass zum Nachteil eines anderen Angeklagten doch kein Rechtsmittel eingelegt sein soll. Die Frage<br />

nach dem Umfang eines Rechtsmittels ist von anderer Art als die Frage, ob überhaupt ein Rechtsmittel eingelegt ist.<br />

Insoweit kommt es allein auf die Einlegungsschrift an.<br />

413


3. Die danach (auch) zum Nachteil des Angeklagten C. eingelegte Revision ist unzulässig (§ 349 Abs. 1 StPO), da<br />

mangels konkreter Begründung nicht erkennbar ist, dass sie ein von einer Nebenklägerrevision erreichbares Ziel (§<br />

400 Abs. 1 StPO) verfolgte.<br />

II. Revisionen zum Nachteil der Angeklagten A. <strong>und</strong> T. :<br />

Insoweit hat die auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung(en) gebotene Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler<br />

ergeben, der diesen Revisionen des Nebenklägers zum Erfolg verhelfen könnte.<br />

1. Die Annahme, dass insbesondere bei Tritten gegen den Kopf eines am Boden liegenden Menschen ein Tötungsvorsatz<br />

in Betracht kommen kann, liegt im Gr<strong>und</strong>satz nicht fern (vgl. BGH, Urteil vom 20. September 2005 - 1 StR<br />

288/05, NStZ-RR 2006, 10, 11; Beschluss vom 28. Juni 2005 - 1 StR 178/05). Die insoweit freilich sehr knappen<br />

Ausführungen der Jugendkammer ergeben im Kontext mit den sonstigen Urteilsgründen, dass der Jugendkammer<br />

auch im Blick auf ein eher spontanes, sich rasch intensivierendes Geschehen Zweifel an einem solchen Vorsatz verblieben.<br />

Dies gilt auch, soweit die Jugendkammer angesichts des in seiner ständigen Bewegung schnell wechselnden<br />

<strong>und</strong> nur begrenzt zuverlässig zu rekonstruierenden tumultartigen Geschehens keine Handlungen der Angeklagten<br />

festzustellen vermochte, die die Annahme eines Tötungsvorsatzes aufdrängten. Vergleichbares gilt hinsichtlich des<br />

beim Nebenkläger eingetretenen Verlusts des Auges <strong>und</strong> der sonstigen schweren Verletzungen, von deren Verursachung<br />

durch die Angeklagten sich die Jugendkammer ebenfalls nicht zweifelsfrei überzeugen konnte. All dies liegt<br />

auch unter Berücksichtigung des hiergegen gerichteten Revisionsvorbringens noch im Rahmen möglicher tatrichterlicher<br />

Beweiswürdigung, sodass es nicht darauf ankommt, ob auch eine andere Würdigung vertretbar erschiene.<br />

2. Näher noch als die Annahme eines versuchten Totschlags <strong>und</strong>/oder einer schweren Körperverletzung hätte die<br />

Annahme einer Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231 <strong>StGB</strong>, zweite Alternative) gelegen, da die Angeklagten sich<br />

gemeinsam mit anderen an einem u.a. auch durch Flaschenwürfe begangenen Angriff auf M. beteiligten, durch den<br />

dieser ein Auge verlor, ohne dass es darauf ankäme, welche konkrete Handlungen ihnen im Blick auf die hier, wie in<br />

solchen Fällen typisch, vorliegende Beweisnot zugerechnet werden können (vgl. zusammenfassend Fischer <strong>StGB</strong> 58.<br />

Aufl., § 231 Rn. 1, 2, 4 ff. mwN). Näher nachzugehen braucht der Senat dem aber nicht, weil § 231 <strong>StGB</strong> kein zur<br />

Nebenklage berechtigendes Delikt ist; ein nur hierauf bezogener etwaiger Rechtsfehler zu Gunsten der Angeklagten<br />

kann einer hinsichtlich der Anwendung von Nebenklagedelikten erfolglosen Nebenklägerrevision nicht zum Erfolg<br />

verhelfen (BGH, Urteil vom 21. August 2008 - 3 StR 236/08, NStZ-RR 2009, 24, 25; BGH, Urteil vom 12. März<br />

1997 - 3 StR 627/96, NStZ 1997, 402, 403 jew. mwN). Gleiches gilt im Ergebnis insoweit, als die Jugendkammer<br />

nicht geprüft hat, ob eine nur nach ihrer einzelfallbezogen abstrakten Gefährlichkeit, nicht nach ihren konkreten<br />

Folgen zu beurteilende lebensgefährdende Behandlung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5 <strong>StGB</strong> (vgl. Fischer aaO § 224 Rn.<br />

12 mwN) vorliegt, oder ob im Blick auf bei den Tritten nahe liegend von den Angeklagten getragene Schuhe gefährliche<br />

Werkzeuge gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 (vgl. BGH, Urteil vom 24. September 2009 - 4 StR 347/09, NStZ 2010,<br />

151 mwN) verwendet wurden. Das Hinzutreten weiterer Tatbestandsalternativen eines ohnehin abgeurteilten Delikts<br />

betrifft den Schuldumfang <strong>und</strong> daher den Strafausspruch (BGH, Urteil vom 21. April 1999 - 5 StR 714/98, NJW<br />

1999, 2449; BGH, Beschluss vom 3. Juli 1997 - 4 StR 266/97, NStZ-RR 1997, 371 jew. mwN) <strong>und</strong> kann daher einer<br />

Nebenklägerrevision ebenso wenig zum Erfolg verhelfen wie sonstige nur den Strafausspruch betreffende Rechtsfehler<br />

(§ 400 StPO).<br />

StrRehaG § 17a - Zuwendung Haftopfer nach StrRehaG; Opfer im Strafvollzug<br />

BGH, Beschl. v. 14.07.2011 - 4 StR 548/10 - BGHSt 56, 289 = NJW 2011, 2981<br />

LS: Die für den Anspruch auf Gewährung der besonderen Zuwendung für Haftopfer erforderliche<br />

besondere Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage beurteilt sich bei Berechtigten, die sich im<br />

Strafvollzug befinden, ausschließlich nach den Voraussetzungen des § 17a Abs. 2 StrRehaG.<br />

Der 4. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts am 14. Juli 2011 beschlossen:<br />

Die für den Anspruch auf Gewährung der besonderen Zuwendung für Haftopfer erforderliche besondere Beeinträchtigung<br />

der wirtschaftlichen Lage beurteilt sich bei Berechtigten, die sich im Strafvollzug befinden, ausschließlich<br />

nach den Voraussetzungen des § 17a Abs. 2 StrRehaG.<br />

Gründe:<br />

I. Mit Beschluss vom 23. Juni 1992 hob das Bezirksgericht Magdeburg die Verurteilung des Betroffenen durch Urteil<br />

des Kreisgerichts Wolmirstedt vom 28. August 1970 in der Fassung des Urteils des Bezirksgerichts Magdeburg<br />

414


vom 9. Oktober 1970 auf, rehabilitierte den Betroffenen <strong>und</strong> stellte fest, dass dem Betroffenen für die vom 6. April<br />

1970 bis 8. Januar 1973 sowie vom 7. März bis 1. Juni 1974 erlittene Freiheitsentziehung ein Anspruch auf soziale<br />

Ausgleichsleistungen zusteht. Für den Zeitraum ab Dezember 2007 bezog der Betroffene, der sich nach Widerruf der<br />

Reststrafenaussetzung zur Bewährung seit Mai 1999 zur Verbüßung einer im Jahr 1977 verhängten lebenslangen<br />

Freiheitsstrafe im Strafvollzug befindet, die monatliche besondere Zuwendung für Haftopfer nach § 17a StrRehaG.<br />

Mit Bescheid vom 9. März 2010 nahm das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt den Bescheid über die Gewährung<br />

der besonderen Zuwendung für Haftopfer vom 2. April 2008 mit Wirkung ab April 2010 zurück, weil der inhaftierte<br />

Betroffene auf Gr<strong>und</strong> der umfassenden Versorgung im Vollzug in seiner wirtschaftlichen Lage nicht besonders<br />

beeinträchtigt sei. Der gegen den Rücknahmebescheid vom 9. März 2010 gestellte Antrag des Betroffenen auf gerichtliche<br />

Entscheidung wurde vom Landgericht Magdeburg mit Beschluss vom 18. Juni 2010 als unbegründet zurückgewiesen.<br />

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Betroffene mit seiner frist- <strong>und</strong> formgerecht eingelegten<br />

Beschwerde.<br />

II. Das Oberlandesgericht Naumburg möchte der Beschwerde unter Aufhebung des Rücknahmebescheids des Landesverwaltungsamts<br />

Sachsen-Anhalt vom 9. März 2010 stattgeben, da der Betroffene die in § 17a Abs. 2 StrRehaG<br />

geregelten wirtschaftlichen Voraussetzungen erfülle <strong>und</strong> das anspruchsbegründende Merkmal der besonderen wirtschaftlichen<br />

Beeinträchtigung einer einschränkenden Auslegung, welche auf die umfassende Versorgung von Strafgefangenen<br />

im Vollzug abstelle, nicht zugänglich sei. An der beabsichtigten Entscheidung sieht es sich durch den<br />

Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 8. April 2009 – I Ws RH 5/09 – (NJ 2009, 395) gehindert. In diesem<br />

Beschluss hat das Oberlandesgericht Rostock – entscheidungstragend – die Auffassung vertreten, dass Personen, die<br />

in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung untergebracht sind, während der Dauer<br />

ihres dortigen Aufenthalts auch dann nicht im Sinne des § 17a StrRehaG in ihrer wirtschaftlichen Lage besonders<br />

beeinträchtigt sind, wenn sie rechnerisch die Voraussetzungen des § 17a Abs. 2 StrRehaG erfüllen. Zur Begründung<br />

hat das Oberlandesgericht Rostock darauf verwiesen, dass die betreffenden Personen während der gesamten Dauer<br />

einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung im Sinne einer umfassenden Daseinsvorsorge angemessen <strong>und</strong><br />

ausreichend aus Mitteln des Staates alimentiert werden. Der Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Rostock hat sich<br />

das Oberlandesgericht Dresden in Beschlüssen vom 13. Juli 2009 – 1 Reha Ws 52/09 – <strong>und</strong> vom 8. Februar 2010 – 1<br />

Reha Ws 13/10 – angeschlossen (vgl. auch Beschluss des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen vom 27.<br />

September 2010 – Vf. 27-IV-10). Das Oberlandesgericht Naumburg hat daher mit Beschluss vom 6. Oktober 2010<br />

die Sache gemäß § 121 Abs. 2 GVG i.V.m. § 25 Abs. 1 Satz 4, § 13 Abs. 4 StrRehaG dem B<strong>und</strong>esgerichtshof zur<br />

Beantwortung folgender Frage vorgelegt: „Fehlt es Berechtigten im Sinne von §§ 17 Abs. 1, 16 Abs. 1, Abs. 3<br />

StrRehaG an einer besonderen Beeinträchtigung ihrer wirtschaftlichen Lage nach § 17a Abs. 1 Satz 1 StrRehaG,<br />

wenn <strong>und</strong> solange sie sich im Strafvollzug befinden?“ Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat sich der Rechtsauffassung der<br />

Oberlandesgerichte Rostock <strong>und</strong> Dresden angeschlossen <strong>und</strong> beantragt zu beschließen: „Dem Berechtigten im Sinne<br />

von § 17 Abs. 1, § 16 Abs. 1, Abs. 3 StrRehaG fehlt es an einer besonderen Beeinträchtigung seiner wirtschaftlichen<br />

Lage nach § 17a Abs. 1 Satz 1 StrRehaG, wenn <strong>und</strong> solange er sich im Strafvollzug befindet.“ Im Hinblick darauf,<br />

dass das Oberlandesgericht Naumburg in seinem Vorlagebeschluss davon ausgeht, dass die Voraussetzungen für eine<br />

besondere Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage des Berechtigten auch für Personen, die sich im Strafvollzug<br />

befinden, in § 17a Abs. 2 StrRehaG abschließend geregelt sind, hat der Senat die Vorlegungsfrage wie folgt präzisiert<br />

<strong>und</strong> neu gefasst: „Beurteilt sich die für den Anspruch auf Gewährung der besonderen Zuwendung für Haftopfer<br />

erforderliche besondere Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage bei Berechtigten, die sich im Strafvollzug befinden,<br />

ausschließlich nach den Voraussetzungen des § 17a Abs. 2 StrRehaG?“<br />

III. Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 121 Abs. 2 GVG i.V.m. § 25 Abs. 1 Satz 4, § 13 Abs. 4 StrRehaG sind<br />

erfüllt.<br />

1. Die Vorlegungsfrage betrifft die – hier entscheidungserhebliche – Auslegung des für die Gewährung der besonderen<br />

Zuwendung für Haftopfer nach § 17a Abs. 1 Satz 1 StrRehaG anspruchsbegründenden Merkmals der besonderen<br />

Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage in Fällen, in denen sich der Berechtigte im Strafvollzug befindet. Es<br />

handelt sich um eine Rechtsfrage, die bereits durch andere Oberlandesgerichte entschieden worden ist. Das Oberlandesgericht<br />

Naumburg kann nicht wie beabsichtigt erkennen, ohne von den Entscheidungen der Oberlandesgerichte<br />

Rostock <strong>und</strong> Dresden abzuweichen.<br />

2. An der Entscheidungserheblichkeit der Vorlegungsfrage würde es allerdings fehlen, wenn ein Anspruch des Betroffenen<br />

nach § 17a Abs. 1 Satz 1 StrRehaG auf Gewährung der besonderen Zuwendung für Haftopfer schon deshalb<br />

zu verneinen wäre, weil seine gegebenenfalls zu bejahende besondere wirtschaftliche Beeinträchtigung nicht<br />

ursächlich auf den erlittenen rechtsstaatswidrigen Freiheitsentzug zurückzuführen ist. Der Anspruch auf Gewährung<br />

der besonderen Zuwendung für Haftopfer ist aber, wie der Wortlaut des § 17a Abs. 1 Satz 1 StrRehaG zeigt, nicht<br />

415


davon abhängig, dass die gegenwärtige wirtschaftliche Beeinträchtigung des Berechtigten kausal mit der infolge der<br />

rechtsstaatswidrigen Entscheidung oder Maßnahme erlittenen Freiheitsentziehung verknüpft ist. Ein solches Kausalitätserfordernis<br />

lässt sich auch nicht daraus ableiten, dass die besondere Zuwendung für Haftopfer neben der Kapitalentschädigung,<br />

der Unterstützungsleistung nach § 18 StrRehaG <strong>und</strong> den in §§ 21 ff. StrRehaG vorgesehenen Versorgungsansprüchen<br />

gemäß § 16 Abs. 3 StrRehaG zu den sozialen Ausgleichsleistungen zählt, denen nach § 16 Abs. 1<br />

StrRehaG eine auf die zu Unrecht erlittene Freiheitsentziehung bezogene Ausgleichsfunktion zukommt (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 10. August 2010 – 4 StR 646/09, BGHSt 55, 249 Rn. 17). Schließlich geben auch die Entstehungsgeschichte<br />

des § 17a StrRehaG <strong>und</strong> der mit der Zuwendung verfolgte Zweck keinen Anhalt dafür, dass die besondere<br />

Zuwendung für Haftopfer nur bei Bestehen eines Ursachenzusammenhangs zwischen wirtschaftlicher Beeinträchtigung<br />

<strong>und</strong> rechtsstaatswidriger Freiheitsentziehung gewährt werden sollte. Dagegen spricht insbesondere der Umstand,<br />

dass es bei der knapp 17 Jahre nach der Wiedervereinigung erfolgten Einführung der besonderen Zuwendung<br />

für Haftopfer durch das Dritte Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen<br />

Verfolgung in der ehemaligen DDR vom 21. August 2007 (BGBl I 2118) für den Gesetzgeber auf der Hand<br />

lag, dass der Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer mindestens die Dauer von sechs Monaten<br />

erreichenden rechtsstaatswidrigen Freiheitsentziehung im Beitrittsgebiet vor dem 2. Oktober 1990 <strong>und</strong> einer gegenwärtigen<br />

besonderen Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage nur in Ausnahmefällen zu führen sein wird. Die<br />

Anspruchsnorm des § 17a Abs. 1 Satz 1 StrRehaG liefe bei einer solchen Auslegung weitestgehend leer.<br />

3. Die Entscheidungserheblichkeit der Vorlegungsfrage ist durch die am 9. Dezember 2010 in Kraft getretene Änderung<br />

des § 17a StrRehaG durch das Vierte Gesetz zur Verbesserung rehabilitationsrechtlicher Vorschriften für Opfer<br />

der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR vom 2. Dezember 2010 (BGBl I 1744) nicht entfallen. Nach der<br />

nun in das Gesetz eingefügten Regelung des § 17a Abs. 7 StrRehaG wird die besondere Zuwendung für Haftopfer<br />

Personen nicht gewährt, gegen die eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat<br />

rechtskräftig verhängt worden ist, sofern die Entscheidung in einer Auskunft aus dem Zentralregister enthalten ist.<br />

Diese Bestimmung schließt seit ihrem Inkrafttreten am 9. Dezember 2010 einen Anspruch des Betroffenen, der 1977<br />

u.a. wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, auf Gewährung der besonderen Zuwendung<br />

für Haftopfer bis auf weiteres aus. Für den Zeitraum von April 2010 bis zum Inkrafttreten des § 17a Abs. 7 StrRehaG<br />

ist die aufgeworfene Rechtsfrage aber weiterhin für die vom Oberlandesgericht Naumburg zu treffende Beschwerdeentscheidung<br />

von entscheidungserheblicher Bedeutung.<br />

IV. Der Senat beantwortet die Vorlegungsfrage wie aus dem Tenor ersichtlich.<br />

1. Nach § 17a Abs. 1 Satz 1 StrRehaG erhalten Berechtigte nach § 17 Abs. 1 StrRehaG (vgl. hierzu BGH, Beschluss<br />

vom 10. August 2010 – 4 StR 646/09, aaO Rn. 14), die in ihrer wirtschaftlichen Lage besonders beeinträchtigt sind,<br />

auf Antrag eine monatliche besondere Zuwendung für Haftopfer, wenn sie eine mit wesentlichen Gr<strong>und</strong>sätzen einer<br />

freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbare Freiheitsentziehung von insgesamt mindestens 180 Tagen (§<br />

17a Abs. 1 Satz 1 StrRehaG aF: sechs Monate) erlitten haben. Während die Bestimmung des § 18 Abs. 2 StrRehaG<br />

für die Unterstützungsleistungen nach § 18 StrRehaG, die wirtschaftlich bedürftige Berechtigte nach § 17 Abs. 1<br />

StrRehaG beanspruchen können, die eine rechtsstaatswidrige Freiheitsentziehung von kürzerer, die Grenze des § 17a<br />

Abs. 1 Satz 1 StrRehaG unterschreitender Dauer erlitten haben <strong>und</strong> nicht in den Genuss der Härteregelung des § 19<br />

StrRehaG kommen, die nähere Festlegung der Voraussetzungen der Leistungsgewährung sowie der Höhe der Leistungen<br />

den Richtlinien des Stiftungsrates der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge überlässt, wird die für den<br />

Anspruch auf Gewährung der besonderen Zuwendung für Haftopfer erforderliche besondere wirtschaftliche Beeinträchtigung<br />

im Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz selbst definiert. Nach § 17a Abs. 2 StrRehaG (zuletzt geändert<br />

durch Art. 11 des Gesetzes zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa vom 22. Juni 2011<br />

) gelten Berechtigte als in ihrer wirtschaftlichen Lage besonders beeinträchtigt, deren nach Maßgabe<br />

der Vorschrift zu bestimmendes Einkommen die in § 17a Abs. 2 Satz 7 StrRehaG nF (§ 17a Abs. 2 Satz 3 StrRehaG<br />

aF) normierten Grenzen nicht übersteigt. Diese gesetzliche Regelung ist eindeutig <strong>und</strong> abschließend. Sie lässt für<br />

eine Auslegung, welche das Vorliegen einer besonderen wirtschaftlichen Beeinträchtigung von engeren Voraussetzungen<br />

abhängig macht, keinen Raum.<br />

2. Das Recht der Gr<strong>und</strong>sicherung für Arbeitsuchende sowie das Sozialhilferecht enthalten jeweils Bestimmungen,<br />

die einen Leistungsbezug durch Strafgefangene ausschließen. So regelt § 2 Abs. 1 SGB XII den Nachrang der Sozialhilfe<br />

<strong>und</strong> bestimmt, dass Sozialhilfe nicht erhält, wer die erforderlichen Leistungen von anderen erhält. Gemäß § 7<br />

Abs. 4 SGB II erhalten Personen keine Leistungen der Gr<strong>und</strong>sicherung für Arbeitsuchende, die in einer stationären<br />

Einrichtung untergebracht sind, wobei dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung der Aufenthalt in einer Einrichtung<br />

zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung ausdrücklich gleichgestellt ist. Eine vergleichbare<br />

Regelung hat der Gesetzgeber in das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz nicht aufgenommen.<br />

416


3. Weder die Entstehungsgeschichte des § 17a StrRehaG noch der Zweck der besonderen Zuwendung für Haftopfer<br />

rechtfertigen eine Gesetzesauslegung, welche das Vorliegen der besonderen wirtschaftlichen Beeinträchtigung von<br />

engeren, über die Regelung des § 17a Abs. 2 StrRehaG hinausgehenden Voraussetzungen abhängig macht.<br />

a) Der im Jahr 2007 in das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz aufgenommene Anspruch auf Gewährung einer<br />

besonderen Zuwendung für Haftopfer geht auf Überlegungen zur Einführung einer Opferpension zurück, die in einem<br />

Entschließungsantrag der B<strong>und</strong>estagsfraktionen von CDU/CSU <strong>und</strong> SPD vom 21. Januar 2007 zur Unterstützung<br />

für Opfer der SED-Diktatur – Eckpunkte für ein Drittes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz – (BT-Drucks.<br />

16/4167) aufgegriffen worden sind <strong>und</strong> in den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Verbesserung rehabilitationsrechtlicher<br />

Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR (BT-Drucks. 16/4842) Eingang<br />

gef<strong>und</strong>en haben. Danach sollte als Anerkennung <strong>und</strong> Würdigung des Widerstands der ehemaligen politischen Häftlinge<br />

gegen die SED-Diktatur eine Opferpension eingeführt werden, um den Opfern politischer Verfolgung in der<br />

ehemaligen DDR eine nicht nur symbolische Anerkennung der erlittenen Nachteile <strong>und</strong> Schädigungen zu gewähren<br />

(vgl. BT-Drucks. 16/4167 S. 3). Um die als regelmäßige monatliche Zuwendung ausgestaltete Opferpension in das<br />

System der übrigen Rehabilitierungs- <strong>und</strong> Entschädigungsregeln einzupassen, war sowohl in dem Entschließungsantrag<br />

als auch in dem Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen vorgesehen, als Kriterium für die zusätzliche Leistung<br />

auf die wirtschaftliche Bedürftigkeit der Betroffenen abzustellen (vgl. BT-Drucks. 16/4167 aaO; BT-Drucks.<br />

16/4842 S. 5). Im anschließenden Gesetzgebungsverfahren stand die Verknüpfung von Opferpension <strong>und</strong> wirtschaftlicher<br />

Bedürftigkeit der Betroffenen im Mittelpunkt der Diskussion. Die vielfältigen Einwände (vgl. nur die schriftlichen<br />

Stellungnahmen der Sachverständigen Beleites, Guckes, Knabe, Neubert, Schrade <strong>und</strong> Schüler zur Anhörung<br />

des Rechtsausschusses des B<strong>und</strong>estages) führten in den Beratungen des Rechtsausschusses dazu, dass zwar an der<br />

wirtschaftlichen Bedürftigkeit als Zuwendungsvoraussetzung festgehalten, die Regelung über das zu berücksichtigende<br />

Einkommen in § 17a Abs. 2 Satz 2 StrRehaG jedoch dahin ergänzt wurde, dass Renten wegen Alters, verminderter<br />

Erwerbsfähigkeit, Arbeitsunfalls oder Berufskrankheit sowie wegen Todes oder vergleichbare Leistungen<br />

unberücksichtigt bleiben (vgl. Beschlussempfehlung <strong>und</strong> Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/5532 S. 4).<br />

Mit dieser Gesetz gewordenen Änderung des § 17a Abs. 2 Satz 2 StrRehaG verfolgten die Regierungsfraktionen<br />

erklärtermaßen das Ziel, die Bedürftigkeitsprüfung nachhaltig zu reduzieren <strong>und</strong> auf das nach Gleichbehandlungsgr<strong>und</strong>sätzen<br />

erforderliche Mindestmaß zu beschränken (vgl. BT-Drucks. 16/5532 S. 8; Stellungnahme der B<strong>und</strong>esregierung<br />

zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes, BT-Drucks.<br />

17/1215 S. 13). Angesichts der im Gesetzgebungsverfahren vorgenommenen partiellen Zurücknahme des ursprünglich<br />

vorgesehenen Bedürftigkeitskriteriums gibt die Entstehungsgeschichte keinen Anhalt für eine über die ausdrückliche<br />

Regelung des § 17a Abs. 2 StrRehaG hinausgehende Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen im Wege<br />

ergänzender Auslegung.<br />

b) Zweck der besonderen Zuwendung für Haftopfer nach § 17a Abs. 1 Satz 1 StrRehaG ist unbeschadet der auf eine<br />

besondere Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage abstellenden Anspruchsvoraussetzung die Anerkennung <strong>und</strong><br />

Würdigung des Verfolgungsschicksals des Betroffenen in der ehemaligen DDR (vgl. BT-Drucks. 16/4167 S. 3; Entwurf<br />

eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes, BT-Drucks. 17/1215 S. 2, 8). Dieser<br />

mit der Zuwendungsgewährung verfolgte Zweck als auch die Regelung des § 17a Abs. 2 Satz 2 StrRehaG, wonach<br />

die dort näher aufgeführten Renten <strong>und</strong> vergleichbaren Leistungen bei der Einkommensermittlung unberücksichtigt<br />

bleiben, <strong>und</strong> die in § 17a Abs. 2 Satz 7 StrRehaG nF (§ 17a Abs. 2 Satz 3 StrRehaG aF) auf das Drei- bzw.<br />

Vierfache der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 SGB XII festgelegten Einkommensgrenzen belegen, dass<br />

das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz mit der Zuerkennung der besonderen Zuwendung für Haftopfer nicht auf<br />

die Gewährleistung der Gr<strong>und</strong>versorgung der Betroffenen abzielt. Die besondere Zuwendung für Haftopfer hat deshalb<br />

gerade keinen sozialhilfeähnlichen Charakter, der es rechtfertigen könnte, die Zuwendung unter Hinweis auf<br />

eine anderweitig gewährleistete Gr<strong>und</strong>versorgung zu versagen.<br />

c) Die Frage, ob die Gewährung der monatlichen besonderen Zuwendung für Haftopfer, die als Dauerleistung der<br />

besonderen Würdigung <strong>und</strong> Anerkennung des Widerstands ehemaliger politischer Häftlinge gegen das SED-<br />

Unrechtsregime <strong>und</strong> der deswegen erlittenen Haft dienen soll (BT-Drucks. 17/1215 S. 2), auch dann angemessen<br />

erscheint, wenn sich der Berechtigte – möglicherweise auf Gr<strong>und</strong> einer Verurteilung wegen schwerer Straftaten zu<br />

langjähriger Freiheitsstrafe – in Strafhaft befindet, betrifft schließlich nicht die wirtschaftlichen Voraussetzungen des<br />

Zuwendungsanspruchs, sondern berührt Gr<strong>und</strong>sätze der Unwürdigkeit <strong>und</strong> der Verwirkung, denen der Gesetzgeber<br />

durch Einfügung der an eine qualifizierte Verurteilung anknüpfenden Ausschlussnorm des § 17a Abs. 7 StrRehaG in<br />

das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz zwischenzeitlich Rechnung getragen hat (vgl. BT-Drucks. 17/1215 S. 2,<br />

8).<br />

417


418<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort ............................................................................................................................................ 3<br />

<strong>StGB</strong> <strong>Allgemeiner</strong> <strong>Teil</strong> .................................................................................................................... 4<br />

<strong>StGB</strong> § 2 VI; <strong>StGB</strong> § 66b; GVG § 132 II - Zurückstellung nachträgliche Sicherungsverwahrung 4<br />

BGH, Urt. v. 14.07.2011 - 4 StR 16/11 - NStZ 2011, 693 ................................................................................... 4<br />

<strong>StGB</strong> § 6, BtMG § 29 – Besitz BtM Auslandsbezug .......................................................................... 6<br />

BGH, Beschl. v. 03.11.2011 - 2 StR 201/11 - StV 2012, 286 .............................................................................. 6<br />

<strong>StGB</strong> § 9 I; <strong>StGB</strong> § 25 II; StPO § 7 I; StPO § 338 Nr. 4 - örtliche Zuständigkeit Handeltreiben ... 7<br />

BGH, Beschl. v. 14.07.2011 - 4 StR 139/11 - StraFo 2011, 391 .......................................................................... 7<br />

<strong>StGB</strong> § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c, § 299 Vertragsarzt kein Amtsträger ........................................... 8<br />

BGH, Beschl. v. 29.03.2012 - GSSt 2/11 ZWH 2012, 275 m. Anm. Brockhau, NZWiSt 2012, 268 m. Anm.<br />

Kraatz ................................................................................................................................................................... 8<br />

<strong>StGB</strong> § 13 Abs. 1, § 323c Garantenpflicht Vorgesetzter für Untergebene ..................................... 15<br />

BGH, Urt. v. 20.10.2011 - 4 StR 71/11 - NJW 2012, 1237 = NStZ 2012, 142 = wistra 2012, .......................... 15<br />

<strong>StGB</strong> § 21 – Situationsgerechtes Verhalten bei Alkoholikern kein Indiz gegen verm.<br />

Schuldfähigkeit ................................................................................................................................ 18<br />

BGH, Beschl. v. 10.01.2012 - 5 StR 517/11 - StraFo 2012, 109 ........................................................................ 18<br />

<strong>StGB</strong> § 21 bei BAK über 2 ‰ .......................................................................................................... 19<br />

BGH, Beschl. v. 07.02.2012 - 5 StR 545/11 ....................................................................................................... 19<br />

<strong>StGB</strong> § 21 Verminderte Schuldfähigkeit durch Suchtdruck .......................................................... 21<br />

BGH, Beschl. v. 13.12.2011 - 5 StR 423/11 ....................................................................................................... 21<br />

<strong>StGB</strong> § 24 II Trotz allgemeiner Furcht vor Entdeckung freiwilliger Rücktritt............................. 22<br />

BGH, Beschl. v. 08.02.2012 - 4 StR 621/11 - NStZ-RR 2012, 167 ................................................................... 22<br />

<strong>StGB</strong> § 24 Rücktrittshorizont .......................................................................................................... 24<br />

BGH, Urt. v. 02.02.2012 - 3 StR 401/11 - NStZ 2012, 343 ............................................................................... 24<br />

<strong>StGB</strong> § 30 Versuchsbeginn „Skimming“ ......................................................................................... 26<br />

BGH, Beschl. v. 11.08.2011 - 2 StR 91/11 - wistra 2011, 422 ........................................................................... 26<br />

<strong>StGB</strong> § 30, BtMG § 29 a – Versuchsbeginn bei Handeltreiben mit BtM ....................................... 29<br />

BGH, Beschl. v. 03.08.2011 - 2 StR 228/11 - NStZ 2012, 43 ............................................................................ 29<br />

<strong>StGB</strong> § 32 Notwehr, Putativnotweh; Hells-Angels-Fall .................................................................. 30<br />

BGH, Urt. v. 02.11.2011 - 2 StR 375/11 - ZJS 2012, 109 Anm. Rotsch; JR 2012, 207 Anm. Erb .................... 30<br />

<strong>StGB</strong> § 32; WaffG § 52 - Notwehr <strong>und</strong> Waffendelikt ..................................................................... 36<br />

BGH, Beschl. v. 27.12.2011 - 2 StR 380/11 - StV 2012, 338 ............................................................................ 36<br />

<strong>StGB</strong> § 46 - Beteiligte vergleichende Strafzumessung .................................................................... 37<br />

BGH, Beschluss vom 28. Juni 2011 - 1 StR 282/11 - NJW 2011, 2597............................................................. 37


<strong>StGB</strong> § 46 – Nach vier Jahren Verfahrensstillstand bei inhaftiertem Angeklagten � 5 Monate<br />

Vollstreckungskompensation nicht genug ...................................................................................... 40<br />

BGH, Urt. v. 13.03.2012 - 5 StR 411/11 - NStZ-RR 2012, 244 ......................................................................... 40<br />

<strong>StGB</strong> § 46 Keine straferschwerende Berücksichtigung der zivilprozessualen Weiterverfolgung . 41<br />

BGH, Beschl. v. 15.05.2012 - 3 StR 121/12 - FD-StrafR 2012, 333569 ............................................................ 41<br />

<strong>StGB</strong> § 46 Prüfungsreihenfolge bei Strafrahmenwahl <strong>und</strong> Strafzumessung ................................. 43<br />

BGH, Beschl. v. 26.10.2011 - 2 StR 218/11 - NStZ 2012, 271 .......................................................................... 43<br />

<strong>StGB</strong> § 46 Strafzumessung ausländische Vorstrafe Tilgungsfrist .................................................. 44<br />

BGH, Beschl. v. 19.10.2011 - 4 StR 425/11 - StV 2012, 149 ............................................................................ 44<br />

<strong>StGB</strong> § 46 Strafzumessung muss persönliche Verhältnisse würdigen ........................................... 45<br />

BGH, Beschl. v. 29.11.2011 - 3 StR 378/11 - StV 2012, 282 ............................................................................ 45<br />

<strong>StGB</strong> § 46a 1, § 224 Täter-Opfer-Ausgleich setzt Kommunikation voraus ................................... 47<br />

BGH, Urt. v. 26.04.2012 - 4 StR 51/12 - BeckRS 2012, 10712 ......................................................................... 47<br />

<strong>StGB</strong> § 52 Natürliche Handlungseinheit trotz Angriffe auf höchstpersönliche Rechtsgüter ........ 49<br />

BGH, Urt. v. 29.03.2012 - 3 StR 422/11 - BeckRS 2012, 10159 ....................................................................... 49<br />

<strong>StGB</strong> § 52, § 24 Tateinheit bei Dauerschießen trotz höchstpers. Rechtsgut .................................. 52<br />

BGH, Urt. v. 23.05.2012 - 5 StR 54/12 - BeckRS 2012, 12760 ......................................................................... 52<br />

<strong>StGB</strong> § 55 Gesamtstrafe aus Vorverurteilung teilweise vollstreckt ............................................... 54<br />

BGH, Urt. v. 06.03.2012 - 1 StR 530/11 - NStZ 2012, 380 ............................................................................... 54<br />

<strong>StGB</strong> § 56 II Urteil muss nicht ausnahmslos Ablehnung der Bewährung begründen ................... 55<br />

BGH, Beschl. v. 21.03.2012 - 1 StR 100/12 - NStZ-RR 2012, 201 ................................................................... 55<br />

<strong>StGB</strong> § 56 Zeitablauf zwischen Tat <strong>und</strong> Hauptverhandlung bei Sozialprognose zu erörtern ....... 56<br />

BGH, Beschl. v. 08.02.2012 - 2 StR 136/11 - NStZ-RR 2012, 170 = wistra 2012, 222 .................................... 56<br />

<strong>StGB</strong> § 63 – Hang – Unterbringung oder Sicherungsverwahrung ................................................. 57<br />

BGH, Beschl. v. 20.12.2011 - 3 StR 374/11 - NStZ-RR 2012, 106 ................................................................... 57<br />

<strong>StGB</strong> § 63 – Schwachsinn, Unterbringung ...................................................................................... 59<br />

BGH, Beschl. v. 05.07.2011 - 3 StR 173/11 – NStZ 2012, 209 ......................................................................... 59<br />

<strong>StGB</strong> § 63 Tatrichter muss über SV-Bef<strong>und</strong>analyse hinaus prüfen ............................................... 60<br />

BGH, Beschl. v. 24.04.2012 - 5 StR 150/12 - NStZ-RR 2012, 239 ................................................................... 60<br />

<strong>StGB</strong> § 63 Unterbringung <strong>und</strong> Bewährung .................................................................................... 61<br />

BGH, Beschl. v. 13.12.2011 - 5 StR 422/11 - NStZ-RR 2012, 107 = StV 2012, 209 ........................................ 61<br />

<strong>StGB</strong> § 63, § 64 Gefahrenprognose Schizophrenie ......................................................................... 63<br />

BGH, Urt. v. 11.08.2011 - 4 StR 267/11 - NStZ-RR 2011, 240 ......................................................................... 63<br />

<strong>StGB</strong> § 64 Ausländereigenschaft ..................................................................................................... 66<br />

BGH, Beschl. v. 17.08.2011 - 5 StR 255/11 . StV 2012, 281 ............................................................................. 66<br />

<strong>StGB</strong> § 64 Keine Unterbringung, wenn zu erwartende Dauer Höchstfrist überschreiten wird .... 68<br />

BGH, Beschl. v. 17.04.2012 - 3 StR 65/12 - NJW 2012, 2292 .......................................................................... 68<br />

<strong>StGB</strong> § 64 Rausch, Hang Konflikttat .............................................................................................. 69<br />

BGH, Urt. v. 20.09.2011 - 1 StR 120/11 - NStZ-RR 2012, 46, 72 ..................................................................... 69<br />

<strong>StGB</strong> § 66 - Hang ............................................................................................................................ 73<br />

BGH, Urt. v. 07.07.2011 - 2 StR 184/11 - NStZ 2012, 32 ................................................................................. 73<br />

419


420<br />

<strong>StGB</strong> § 66, GVG § 74f Abs. 3; Dreierbesetzung bei Sicherungsverwahrung ................................. 75<br />

BGH, Beschl. v. 13.09.2011 - 5 StR 189/11 - StV 2012, 196 m. Anm. Ventzke ............................................... 75<br />

<strong>StGB</strong> § 66 aF, EG<strong>StGB</strong> Art. 316e Abs. 3 Satz 1 Sicherungsverwahrung Altfälle .......................... 78<br />

BGH, Beschl. v. 25.04.2012 – 5 StR 451/11 - NJW 2012, 1824 ........................................................................ 78<br />

<strong>StGB</strong> § 66, § 184b Sicherungsverwahrung Hang nach BVerfG-Entscheidung ............................. 83<br />

BGH, Beschl. v. 26.10.2011 - 2 StR 328/11 - StV 2012, 212 ............................................................................ 83<br />

<strong>StGB</strong> § 66b Abs. 1 Satz 1, Abs. 2; EG<strong>StGB</strong> Art. 316e Abs. 1; MRK Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e -<br />

nachträgliche Sicherungsverwahrung bei Persönlichkeitsstörung ................................................ 84<br />

BGH, Urt. v. 21.06.2011 – 5 StR 52/11 - BGHSt 56, 254 = NJW 2011, 2744 = JR 2012, 173 Anm. Schöch .. 84<br />

<strong>StGB</strong> § 73; AWG § 34 I S. 1 Nr. 1 – Verfall nur i.H. der ersparten Aufwendungen ..................... 87<br />

BGH, Urt. V. 19.01.2012 - 3 StR 343/11 - NJW 2012, 1159; Anm. Rönnau/Kreuzer NZWiSt2012, 147 ........ 87<br />

<strong>StGB</strong> § 74, 74a; <strong>StGB</strong> § 184b Unbrauchbarmachung statt Einziehung des PC<br />

(Kinderpornografie) ........................................................................................................................ 92<br />

BGH, Beschl. v. 11.01.2012 - 4 StR 612/11 - BeckRS 2012, 04841 ................................................................. 92<br />

<strong>StGB</strong> § 78c; EuAlÜbk Art. 14 I b IRG § 72 Spezialität in Revision Auslieferung Schweiz ........... 93<br />

BGH, Beschl. v. 09.02.2012 - 1 StR 148/11 - NJW 2012, 1301 ........................................................................ 93<br />

<strong>StGB</strong> Besonderer <strong>Teil</strong> .................................................................................................................... 98<br />

<strong>StGB</strong> § 129, § 129b - kriminellen Vereinigung in der EU ............................................................... 98<br />

BGH, Beschl. v. 13.09.2011 - 3 StR 231/11 - NJW 2012, 325 ......................................................................... 98<br />

<strong>StGB</strong> § 129a IV, § 129b - Deutschlandverantwortliche der DHKP-C als Rädelsführer .............. 103<br />

BGH, Urt. v. 16.02.2012 - 3 StR 243/11 - NJW 2012, 1973 ............................................................................ 103<br />

<strong>StGB</strong> § 130 – Volksverhetzung gegen Ausländer durch NPD ...................................................... 107<br />

BGH, Urt. v. 20.09.2011 - 4 StR 129/11 - BeckRS 2011, 24305 ..................................................................... 107<br />

<strong>StGB</strong> § 152a - Maestro-Karte wie frühere Euroscheck-Karte ..................................................... 112<br />

BGH, Beschl. v. 13.10.2011 - 3 StR 239/11 - NStZ 2012, 318 ........................................................................ 112<br />

<strong>StGB</strong> § 174c I, - Anvertrautsein; StPO § 338 Nr. 5 ...................................................................... 113<br />

BGH, Urt. v. 01.12.2011 - 3 StR 318/11 - BeckRS 2012, 03434 .................................................................... 113<br />

<strong>StGB</strong> § 176 Versuchsbeginn bei bloßer Aufforderung? ............................................................... 116<br />

BGH, Beschl. v. 27.09.2011 - 4 StR 454/11 - BGHR <strong>StGB</strong> § 176 I Versuch 1 ............................................... 116<br />

<strong>StGB</strong> § 177 I Nr. 1 - Vergewaltigung Gewalt ................................................................................ 117<br />

BGH, Beschl. v. 28.06.2011 - 1 StR 255/11 - BeckRS 2011, 19718 ............................................................... 117<br />

<strong>StGB</strong> § 179 I; Beweisanforderungen für die Widerstandsunfähigkeit des Opfers ...................... 118<br />

BGH, Beschl. v. 10.08.2011 - 4 StR 338/11 - NStZ 2012, 150 ........................................................................ 118<br />

<strong>StGB</strong> § 182 Körperverletzungen (Legen von Kathedern) als sexuelle Handlungen .................... 119<br />

BGH, Urt. v. 14.03.2012 - 2 StR 561/11 - BeckRS 2012, 08188 ..................................................................... 119<br />

<strong>StGB</strong> § 184 g Nr. 1, § 177 sexuelle Handlung Berühren ............................................................... 123<br />

BGH, Urt. v. 01.12.2011 - 5 StR 417/11 - NStZ 2012, 269 ............................................................................. 123<br />

<strong>StGB</strong> § 184b Zugänglichmachen ................................................................................................... 125<br />

BGH, Urt. v. 18.01.2012 - 2 StR 151/11 - BeckRS 2012, 06061 ..................................................................... 125<br />

<strong>StGB</strong> § 185 Nicht jede sexuell motivierte Handlung (Begrapschen) ist auch Ehrverletzung ...... 128<br />

BGH, Beschl. v. 16.02.2012 - 3 StR 13/12 - NStZ-RR 2012, 206 ................................................................... 128


<strong>StGB</strong> § 211 - Mordversuch, Tritte gegen den Kopf ..................................................................... 129<br />

BGH, Beschl. v. 31.01.2012 - 3 StR 453/11 –NStZ-RR 2012, 169, Anm. Jünemann FD-StrafR 2012, 329511<br />

.......................................................................................................................................................................... 129<br />

<strong>StGB</strong> § 211, 212 - "Hemmschwellentheorie" bei Tötungsdelikten ............................................... 130<br />

BGH, Urt. v. 22.03.2012 - 4 StR 558/11 .......................................................................................................... 130<br />

<strong>StGB</strong> § 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3; § 13 Abs. 2 ................................................................................. 135<br />

BGH, Beschl. v. 19.10.2011 - 1 StR 233/11 - NJW 2012, 546 = NStZ 2012, 210 Anm. Jäger JA 2012, 154 . 135<br />

<strong>StGB</strong> § 224 I 4 Gemeinschaftliches Handeln nicht schon bei mehreren Tätern .......................... 137<br />

BGH, Urt. v. 20.03.2012 - 1 StR 447/11 - BeckRS 2012, 11487 ..................................................................... 137<br />

<strong>StGB</strong> § 224 Pumpsprühflasche für Haushaltsreiniger kein gefährliches Werkzeug ................... 140<br />

BGH, Beschl. v. 20.03.2012 - 4 StR 20/12 - BeckRS 2012, 08189 ................................................................. 140<br />

<strong>StGB</strong> § 225 Abs. 1 Quälen ............................................................................................................. 141<br />

BGH, Beschl. v. 20.03.2012 - 4 StR 561/11 - BeckRS 2012, 10713 ............................................................... 141<br />

<strong>StGB</strong> § 227 Tötungsvorsatz Arzt Schönheitsoperation mit Komplikation .................................. 146<br />

BGH, Urt. v. 07.06.2011 – 5 StR 561/10 BGHSt 56, 277= NJW 2011, 2895 m. Anm. Kudlich 2856 ............ 146<br />

<strong>StGB</strong> § 239 Strafbar nur bei Erzwingung einer stabilen Bemächtigungslage ............................. 151<br />

BGH, Urt. v. 02.02.2012 - 3 StR 385/11 - StraFo 2012, 153 ........................................................................... 151<br />

<strong>StGB</strong> § 242 Handydatenklau ohne Zueignungsabsicht ................................................................ 154<br />

BGH, Beschl. v. 14.02.2012 - 3 StR 392/11 - StraFo 2012, 155 ...................................................................... 154<br />

<strong>StGB</strong> § 242 I, § 244a I Bandendiebstahl ........................................................................................ 156<br />

BGH, Urt. v. 26.04.2012 - 4 StR 665/11 - BeckRS 2012, 10714 ..................................................................... 156<br />

<strong>StGB</strong> § 247 Voraussetzungen müssen nicht bei allen (Kommanditisten) vorliegen .................... 159<br />

BGH, Beschl. v. 23.02.2012 - 1 StR 586/11 - BeckRS 2012, 06322 ............................................................... 159<br />

<strong>StGB</strong> § 250 Konkurrenzen mehrfaches Ansetzen ......................................................................... 162<br />

BGH, Beschl. v. 22.11.2011 - 4 StR 480/11 - StV 2012, 283 .......................................................................... 162<br />

<strong>StGB</strong> § 250, § 24 Abs. 2 Mittäterschaft trotz Fehlvorstellung über Raubvollendung ................. 164<br />

BGH, Beschl. v. 08.05.2012 - 5 StR 88/12 - BeckRS 2012, 11286 ................................................................. 164<br />

<strong>StGB</strong> § 250, § 24 Schwerer räuberische Erpressung, subj. Voraussetzungen ............................. 164<br />

BGH, Beschl. v. 22.03.2012 - 4 StR 541/11 - NStZ-RR 2012, 239 ................................................................. 164<br />

<strong>StGB</strong> § 257 I Begünstigung, Tatlohn als Vorteil ........................................................................... 168<br />

BGH, Beschl. v. 03.11.2011 - 2 StR 302/11 - StraFo 2012, 156 ...................................................................... 168<br />

<strong>StGB</strong> § 259 Abgrenzung Beihilfe zur Vortat vs. Hehlerei ............................................................ 170<br />

BGH, Beschl. v. 17.11.2011 - 3 StR 203/11 - BeckRS 2012, 04724 ............................................................... 170<br />

<strong>StGB</strong> § 261 II, 2 Verwahrung durch Vortäter betrügerisch erlangter Gegenstände .................. 172<br />

BGH, Beschl. v. 26.01.2012 - 5 StR 461/11 - StraFo 2012, 144 ...................................................................... 172<br />

<strong>StGB</strong> § 263 Abrechnungsbetrug eines privatliquidierenden Arztes .......................................... 174<br />

BGH, Beschl. v. 25.01.2012 - 1 StR 45/11 - NJW 2012, 1377 ........................................................................ 174<br />

<strong>StGB</strong> § 263 Betrug durch Mahnbescheid automatisiertes Verfahren .......................................... 189<br />

BGH, Beschl. v. 20.12.2011 - 4 StR 491/11 - StraFo 2012, 102 ...................................................................... 189<br />

<strong>StGB</strong> § 263 Schadensberechnung bei ertrogenem Darlehen ........................................................ 192<br />

BGH, Beschl. v. 13.04.2012 – 5 StR 442/11 - NJW 2012, 2370 = .................................................................. 192<br />

421


422<br />

<strong>StGB</strong> § 263 Täuschung muss Irrtum nicht alleine verursacht haben .......................................... 194<br />

BGH, Beschl. v. 13.10.2011 - 1 StR 407/11 - NStZ 2012, 147 ........................................................................ 194<br />

<strong>StGB</strong> § 266 Abs. 1 - Vermögensbetreuungspflicht Zwangsverwalter <strong>und</strong> Rechtspfleger........... 195<br />

BGH, Urt. v. 28.07.2011 - 4 StR 156/11 - NJW 2011, 2819 = StV 2011, 734; Anm. Waßmer NZWiSt 2012,<br />

36 ...................................................................................................................................................................... 195<br />

<strong>StGB</strong> § 266; Untreue Schaden; Fertigstellung Protokoll, Verfahrensverzögerung ..................... 198<br />

BGH, Urt. v. 07.09.2011 - 2 StR 600/10 - NJW 2011, 3528 = NStZ 2012, 151 = StV 2012, 82 ..................... 198<br />

<strong>StGB</strong> § 266a Abs. 2 – Unmöglichkeit der Beitragsentrichtung bei illegaler Beschäftigung ........ 200<br />

BGH, Beschl. v. 11.08.2011 - 1 StR 295/11 - NJW 2011, 3047m. Anm Bittmann.......................................... 200<br />

<strong>StGB</strong> § 276 Verschaffen von falschen amtlichen Ausweisen ........................................................ 202<br />

BGH, Beschl. v. 07.10.2011 - 1 StR 321/11- NStZ-RR 2012, 50 .................................................................... 202<br />

<strong>StGB</strong> § 283 Aufgabe der Interessentheorie ................................................................................... 204<br />

BGH, Beschl. v. 15.05.2012 - 3 StR 118/11 - BeckRS 2012, 14980 - ............................................................. 204<br />

<strong>StGB</strong> § 306 a § 306 b, § 263 - Brandstiftung Wohnzwecke Versuch Betrug ................................ 209<br />

BGH, Urt. v. 21.09.2011 - 1 StR 95/11 - NStZ 2012, 39 ................................................................................. 209<br />

<strong>StGB</strong> § 306 I - Brandstiftung Gewicht einer <strong>Teil</strong>zerstörung - gewerbliches Gebäude ................ 212<br />

BGH, Beschl. v. 20.10.2011 - 4 StR 344/11 - NJW 2012, 693 NStZ 2012, 215 ............................................. 212<br />

<strong>StGB</strong> § 315b gefährlicher Eingriff: Besucherparkplatz öffentlicher Verkehrsraum .................. 214<br />

BGH, Beschl. v. 05.10.2011 - 4 StR 401/11 – StV 2012, 218 .......................................................................... 214<br />

<strong>StGB</strong> § 3315 c, § 316 rauschmittelbedingte (Kokain) Fahruntüchtigkeit ................................... 215<br />

BGH, Beschl. v. 21.12.2011 - 4 StR 477/11 - StV 2012, 285 .......................................................................... 215<br />

Nebenstrafrecht ........................................................................................................................... 217<br />

AO § 370 Abs. 1; UStG § 4 Nr. 1 Buchstabe b, § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 3 - Vorlage an<br />

EuGH: USt-Hinterziehung Scheinrechnung innergemeinschaftliche Lieferung ......................... 217<br />

BGH, Beschl. v. 20.10.2011 - 1 StR 41/09 - wistra 2009, 441 ......................................................................... 217<br />

AO § 370 III S. 2 Nr. 1 – Großes Ausmaß ..................................................................................... 221<br />

BGH, Beschl. v. 15.12.2011 - 1 StR 579/11 - NJW 2012, 1015 = NZWiSt 2012, 154 .................................... 221<br />

AO § 370, § 373 I; <strong>StGB</strong> § 46 Strafzumessung bei Millionenhinterziehung ............................... 224<br />

BGH, Urt. v. 22.05.2012 - 1 StR 103/12 - BeckRS 2012, 12750 ..................................................................... 224<br />

AO § 370; <strong>StGB</strong> § 46 - Strafzumessung bei Steuerhinterziehung „in Millionenhöhe“ ................ 229<br />

BGH, Urt. v. 07.02.2012 - 1 StR 525/11 - NJW 2012, 1458 = wistra 2012, 236 ............................................. 229<br />

AO § 374 Steuerhehlerei vor Beendigung der Vortat .................................................................. 235<br />

BGH, Beschl. v. 09.02.2012 - 1 StR 438/11 - StraFo 2012, 157 ...................................................................... 235<br />

AO § 378 Leichtfertigkeit <strong>und</strong> Erk<strong>und</strong>igungspflicht des Kaufmanns ......................................... 237<br />

BGH, Urt. v. 08.09.2011 - 1 StR 38/11 - NStZ 2012, 160 = wistra 2011, 465; Anm. Schützeberg NZWiSt<br />

2012, 74; Meyberg PStR 2011, 308.................................................................................................................. 237<br />

AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 7 – Wiederholter Verstoß auch ohne Ahndung des Erstverstoßes .... 241<br />

BGH, Beschl. v. 05.07.2011 - 3 StR 87/11 - BGHSt 56, 271 = NJW 2011, 3174 = StV 2012, 286 ................ 241<br />

AufenthG § 95 Abs. 6 Täuschung über Reisezweck ..................................................................... 244<br />

BGH, Beschluss vom 24. Mai 2012 – 5 StR 567/11 - NJW 2012, 2210 .......................................................... 244<br />

BtmG § 29, § 13 I S.2 rechtlichen Grenzen einer Substitutionsbehandlung ............................... 247


BGH, Urt. V. 02.02.2012 - 3 StR 321/11 - NStZ 2012, 337............................................................................ 247<br />

BtmG § 29 Gewinnung von Blütenständen aus Cannabispflanzen noch kein Beginn des<br />

Handeltreibens ............................................................................................................................... 251<br />

BGH, Urt. vom 15.03.2012 - 5 StR 559/11 - BeckRS 2012, 08371 ................................................................. 251<br />

BtMG § 29 Handeltreiben nur bei eigennützigen Motiven .......................................................... 253<br />

BGH, Beschl. v. 27.03.2012 - 3 StR 64/12 - BeckRS 2012, 11065 ................................................................. 253<br />

BtMG § 29, <strong>StGB</strong> § 25 BtM-spezifischer Mittäterbegriff ............................................................. 254<br />

BGH, Beschl. v. 17.04.2012 - 3 StR 131/12 - BeckRS 2012, 11531 ............................................................... 254<br />

BtMG § 29 a Unrechtsgehalt Gesamtmenge Einzelstrafen .......................................................... 257<br />

BGH, Beschl. v. 15.06.2011 - 2 StR 645/10 - BGHR <strong>StGB</strong> § 46 III Handeltreiben 6 ..................................... 257<br />

BtMG § 29a I Nr. 2, § 30 I Nr. 4 nicht geringe Menge Methamphetaminracemat = 10g Base .... 258<br />

BGH, Urt. v. 17.11.2011 - 3 StR 315/10 - NJW 2012, 400 .............................................................................. 258<br />

BtMG § 30 Bande .......................................................................................................................... 262<br />

BGH, Urt. v. 29.02.2012 - 2 StR 426/11 - BeckRS 2012, 09345 ..................................................................... 262<br />

HeilprG § 5 Strafbarkeit (nur) bei genereller Gefährlichkeit der konkreten Tat ....................... 264<br />

BGH, Urt. v. 22.06.2011 - 2 StR 580/10 – NJW 2011, 3591 Anm. Duttge/Weber JZ 2012, 210 .................... 264<br />

Verfahrensrecht ........................................................................................................................... 268<br />

GG Art. 1 I, Art. 2 Abs. 1, StPO § 100 f Selbstgespräch unverwertbar, Kernbereich ................ 268<br />

BGH, Urt. v. 22.12.2011 - 2 StR 509/10 - NJW 2012, 945 = StV 2012, 269 Anm. Allgayer NStZ 2012, 399 268<br />

GG Art 101 I 2, Gesetzlicher Richter Vorsitz 2. Und 4. Strafsenat BGH .................................... 271<br />

BGH, Beschl. v. 11.01.2012 - 4 StR 523/11 - StV 2012, 209, dazu Bernsmann StV 2012, 274, Sowada NStZ<br />

2012, 353 .......................................................................................................................................................... 271<br />

GG Art. 101 I 2 Besetzung des Vorsitzenden 2. Strafsenat des BGH ........................................... 272<br />

BGH, Urt. v. 08.02.2012 - 2 StR 346/11 - StV 2012, 204 dazu Bernsmann StV 2012, 274, Sowada NStZ 2012,<br />

353 .................................................................................................................................................................... 272<br />

GG Art. 101 I 2, Gesetzlicher Richter – Vorsitz 2. Strafsenat des BGH ...................................... 275<br />

BGH, Beschl. v. 11.01.2012 - 2 StR 346/11 – StV 2012, 204, dazu Bernsmann StV 2012, 274, Sowada NStZ<br />

2012, 353 .......................................................................................................................................................... 275<br />

GG 101 I 2 Doppelvorsitz 2. BGH-Strafsenat ............................................................................... 281<br />

BVerfG, Beschl v. 23.05.2012 - 2 BvR 610/12 - 2 BvR 625/12 – NJW 2012, 2334, Bespechungsaufsatz<br />

Fischer/Krehl demnächst in StV ....................................................................................................................... 281<br />

GVG § 184, StPO § 200 I - Gerichtssprache deutsch gilt auch für Anklageschrift ..................... 285<br />

BGH, Urt. v. 09.11.2011 - 1 StR 302/11 - BeckRS 2011, 29860 ..................................................................... 285<br />

StPO § 24 Besetzungsproblem 2. Strafsenat des BGH � keine Befangenheit ............................. 292<br />

BGH, Beschl. v. v. 09.05.2012 - 2 StR 620/11 - BeckRS 2012, 10585............................................................ 292<br />

StPO § 24 Befangenheit nach Dealgesprächen ............................................................................. 294<br />

BGH, Beschl. v. 10.01.2012 - 3 StR 400/11 - StraFo 2012, 134 ...................................................................... 294<br />

StPO § 24, § 257c Befangenheit Absprache mit Mittäter im Parallelverfahren .......................... 298<br />

BGH, Beschl. v. 09.02.2012 - 1 StR 438/11 – StraFo 2012, 157 ..................................................................... 298<br />

StPO § 27 I Richterablehnung Besetzung ..................................................................................... 299<br />

BGH, Beschl. v. 27.10.2011 - 5 StR 376/11 - NStZ 2012, 45 .......................................................................... 299<br />

StPO § 52 Kindliche Zeugen ......................................................................................................... 300<br />

423


424<br />

BGH, Beschl. v. 17.04.2012 - 1 StR 146/12 - BeckRS 2012, 09847 ............................................................... 300<br />

StPO § 53 Nicht alle „Zeugenhelfer“ haben Zeugnisverweigerungsrecht – Beschränkung der<br />

Verteidigung, Amoklauf Winnenden ............................................................................................ 301<br />

BGH, Beschl. v. 22.03.2012 - 1 StR 359/11 - BeckRS 2012, 09450 ............................................................... 301<br />

StPO § 111i II 4 Nr. 1; StPO § 111i II 4 Nr. 2; StPO § 111i V - Rückgewinnungshilfe <strong>und</strong><br />

Schadensersatz ............................................................................................................................... 305<br />

BGH, Beschl. v. 22.06.2011 - 5 StR 109/11 - StV 2012, 133 = wistra 2011, 430 ........................................... 305<br />

StPO § 111i, <strong>StGB</strong> § 73a - Verfall Gesamtschuldner "gemeinsamer Topf" ................................ 306<br />

BGH, Beschl. v. 23.11.2011 - 4 StR 516/11 - wistra 2012, 147 ....................................................................... 306<br />

StPO § 112 Î S. 2, § 70 Ges<strong>und</strong>heitszustand kann gegen U-Haft oder Beugehaft sprechen ........ 307<br />

BGH, Beschl. v. 10.01.2012 - StB 20/11 - StraFo 2012, 58 ............................................................................. 307<br />

StPO § 140 II RVG § 51 I, II; VV Nrn. 4130, 4132 Verteidigerbestellung Pauschgebühr Revison -<br />

Fall Wörz ....................................................................................................................................... 310<br />

BGH, Beschl. v. 25.10.2011 - 1 StR 254/10 - NJW 2012, 167 ........................................................................ 310<br />

StPO § 141, § 350 Pflichtverteidigung für Revisionsverfahren .................................................... 311<br />

BGH, Beschl. v. 02.02.2012 - 4 StR 541/11 - BeckRS 2012, 04069 ............................................................... 311<br />

StPO § 153a I; <strong>StGB</strong> § 266a; AEntG; OWi-Verfolgung trotz endgültiger Einstellung ............... 312<br />

BGH, Beschl. v. 15.03.2012 – 5 StR 288/11- NJW 2012, 2051 ....................................................................... 312<br />

StPO § 200, 264 Umgrenzungsfunktion der Anklage bei Bandentaten ........................................ 315<br />

BGH, Urt. v. 24.01.2012 - 1 StR 412/11 - NJW 2012, 867 .............................................................................. 315<br />

StPO § 231 Abs. 2; AO § 371 Abs. 1 - Eigenmächtigkeit Entfernen Suizidversuch; Vollständigkeit<br />

Selbstanzeige .................................................................................................................................. 318<br />

BGH, Beschl. v. 25.06.2011 – 1 StR 631/10 - BGHSt 56, 298 = NJW 2011, 3249 ......................................... 318<br />

StPO § 231 II, § 338 Nr. 5 Eigenmacht ......................................................................................... 327<br />

BGH, Beschl. v. 25.10.2011 - 3 StR 282/11 - StV 2012, 72 = wistra 2012, 73 ............................................... 327<br />

StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Beweisantrag Bedeutungslosigkeit ....................................................... 328<br />

BGH, Beschl. v. 27.10.2011 - 3 StR 351/11 - NStZ 2012, 151 ........................................................................ 328<br />

StPO § 244 Abs. 3, § 337 Rechtsfehlerhafte Zurückweisung von Beweisanträgen, Konnexität,<br />

fehlendes Beruhen ......................................................................................................................... 329<br />

BGH, Urt. v. 19.10.2011 - 1 StR 336/11 - StV 2012, 151= wistra 2012, 69 .................................................... 329<br />

StPO § 244 Abs. 4 <strong>und</strong> 6 – Eigene B(„Frei“-)Beweiserhebung durch das Revisionsgericht zum<br />

Vorwurf wahrheitswidrigen Revisionsvortrags ............................................................................ 332<br />

BGH, Beschl. v. 25.04.2012 – 5 StR 444/11- NJW 2012, 2212 ....................................................................... 332<br />

StPO § 244 III 2 Prozessverschleppung; StPO § 246 I - Fristsetzung Beweisantrag; Bescheidung<br />

nur im Urteil .................................................................................................................................. 334<br />

BGH, Beschl. v. 20.07.2011 - 3 StR 44/11 - NJW 2011, 2821 = NStZ 2011, 647 = StV 2011, 646 ............... 334<br />

StPO § 245 <strong>StGB</strong>; 244; § 46b I; <strong>StGB</strong> § 250 - Aufklärungshilfe................................................... 336<br />

BGH, Urt. v. 06.07.2011 – 2 StR 124/11 - StV 2011, 711 ............................................................................... 336<br />

StPO § 246a S. 2; <strong>StGB</strong> § 64 – Sachverständiger vor Unterbringung .......................................... 338<br />

BGH, Beschl. v. 20.09.2011 - 4 StR 434/11 - StV 2012, 194 .......................................................................... 338<br />

StPO § 247a Videokonferenz, Beschlussfassung außerhalb Hauptverhandlung Besetzung ....... 339<br />

BGH, Beschl. v. 28.09.2011 – 5 StR 315/11- StV 2012, 65 m. Anm. Eisenberg ............................................. 339


StPO § 249 II – Selbstleseverfahren, Gelegenheit zur Kenntnisnahme bei Richtern unzureichend<br />

........................................................................................................................................................ 340<br />

BGH, Beschl. v. 10.01.2012 - 1 StR 587/11 - StraFo 2012, 101 ...................................................................... 340<br />

StPO § 250, § 251, 344 II 2, Rügevoraussetzungen Protokollverlesung Verzicht ........................ 341<br />

BGH, Beschl. v. 25.10.2011 - 3 StR 315/11 - StV 2012, 202 = StraFo 2012, 64 ............................................. 341<br />

StPO § 251, 261 - Mitschriften aus Hauptverhandlung Protokollverlesung ................................ 345<br />

BGH, Beschl. v. 23.11.2011 - 2 StR 112/11 - wistra 2012, 158 ....................................................................... 345<br />

StPO § 252, § 53 Vernehmung des Vernehmungsbeamten nach Schweigen des Arztes als Zeuge<br />

........................................................................................................................................................ 345<br />

BGH, Beschl. v. 20.12.2011 - 1 StR 547/11 - StV 2012, 195 .......................................................................... 345<br />

StPO § 255a II – Verwertungsverbot, kein Gerichtsbeschluss bei Einführung Videoprotokoll . 347<br />

BGH, Beschl. v. 26.08.2011 - 1 StR 327/11 - NJW 2011, 3382 = StraFo 2011, 396 m. Anm. Eisenberg ....... 347<br />

StPO § 256 Abs. 1 Nr. 2, § 250 Verlesung ärztl. Attest statt Vernehmung des Arztes ................ 348<br />

BGH, Beschl. v. 21.09.2011 - 1 StR 367/11 - NJW 2012, 694 Anm. Heintschel-Heinegg JA 2012, 73; Gössel<br />

JR 2012, 220 ..................................................................................................................................................... 348<br />

StPO § 257c Abs. 3 Satz 4, Abs. 4 Satz 1 Verständigungserklärung der StA unwiderruflich ..... 350<br />

BGH, Urt. v. 21.06.2012 - 4 StR 623/11 - BeckRS 2012, 15540 ..................................................................... 350<br />

StPO § 257c Dealvorbereitung außerhalb der Hauptverhandlung – „Dracula“ ......................... 354<br />

BGH, Urt. v. 29.11.2011 - 1 StR 287/11 - StraFo 2012, 151 ........................................................................... 354<br />

StPO § 257c, § 261 Nicht jedes Dealgeständnis ist gelogen ........................................................... 359<br />

BGH, Beschl. v. 23.05.2012 - 1 StR 208/12 - BeckRS 2012, 11778 ............................................................... 359<br />

StPO § 257c, § 273 Protokollierung von Dealgesprächen ............................................................. 360<br />

BGH, Beschl. v. 22.02.2012 - 1 StR 349/11 - BeckRS 2012, 07034 ............................................................... 360<br />

StPO § 257c, § 338 Nr. 4; GVG § 74a Abs. 1 Nr. 4 Rechtsmittelbefugnis nach Absprache ........ 364<br />

BGH, Beschl. v. 13.09.2011 - 3 StR 196/11 - NJW 2012, 468 = StV 2012, 137 ............................................. 364<br />

StPO § 257c; StPO § 261; AO § 41 II; AO § 370 - Steuerhinterziehung ; keine Bindung informelle<br />

Absprache ...................................................................................................................................... 368<br />

BGH, Beschl. v. 12.07.2011 - 1 StR 274/11 - StV 2011, 645 .......................................................................... 368<br />

StPO § 258, § 338 1 kein Schlussvortrag durch abwesenden Verteidiger .................................... 369<br />

BGH, Beschl. v. 12.01.2012 - 1 StR 373/11 - BeckRS 2012, 05589 ............................................................... 369<br />

StPO § 261 Beweiswürdigung bei belastender Aussage eines Dealzeugen ................................... 372<br />

BGH, Beschl. v. 06.03.2012 - 1 StR 17/12 - NStZ-RR 2012, 179 ................................................................... 372<br />

StPO § 261 Beweiswürdigung bei DNA-Spuren ........................................................................... 373<br />

BGH, Beschl. v. 06.03.2012 - 3 StR 41/12 - BeckRS 2012, 08060 ................................................................. 373<br />

StPO § 261 Beweiswürdigung; Auslieferung Spezialität Qualifikation ....................................... 374<br />

BGH, Urt. v. 12.01.2012 - 4 StR 499/11 - StraFo 2012, 146 ........................................................................... 374<br />

StPO § 261 Wahllichtbildvorlage .................................................................................................. 378<br />

BGH, Beschl. v. 09.11.2011 - 1 StR 524/11 - NJW 2012, 791= NStZ 2012, 172, Anm. Eisenberg JR 2012, 168<br />

.......................................................................................................................................................................... 378<br />

StPO § 261, § 244 Beweiswürdigung zu aussageepsych. Gutachten bei Aussage gegen Aussage 379<br />

BGH, Beschl. v. 22.05.2012 - 5 StR 15/12 - BeckRS 2012, 13116 ................................................................. 379<br />

StPO § 264 Kognitionspflicht, Aufhebungsumfang ...................................................................... 380<br />

425


426<br />

BGH, Urt. v. 07.02.2012 - 1 StR 542/11 - BeckRS 2012, 07035 ..................................................................... 380<br />

StPO § 265 Vertrauensschutz nach Zwischenwertungen des Gerichts (Bewährung) ohne<br />

Absprache - Hinweispflicht ........................................................................................................... 383<br />

BGH, Urt. v. 30.06.2011 – 3 StR 39/11 - NJW 2011, 3463 = StV 2012, 135 .................................................. 383<br />

StPO § 265 IV Aussetzung ............................................................................................................. 385<br />

BGH, Beschl. v. 06.03.2012 - 1 StR 623/11 - BeckRS 2012, 09052 Besprechung M. Jahn JuS 2012, 658 .... 385<br />

StPO § 265, § 244 Erfahrungssätze im Urteil erst nach rechtlichem Gehör ................................ 389<br />

BGH, Urt. v. 22.02.2012 - 1 StR 378/11 - BeckRS 2012, 08059 ..................................................................... 389<br />

StPO § 265, § 257, § 261 Faires Verfahren, rechtlicher Hinweis erst nach Plädoyer der StA .... 393<br />

BGH, Beschl. v. 10.01.2012 - 5 StR 508/11 - StraFo 2012, 101 ...................................................................... 393<br />

StPO § 267 Abs. 1 Satz 3 – Bezugnahme auf Videoaufzeichnung ................................................ 394<br />

BGH, Beschl. v. 14.09.2011 - 5 StR 355/11 - BGHR StPO § 67 I 3 Verweisung 3 ......................................... 394<br />

StPO § 267 I Satz 3 - Verweisung auf ein elektronisches Speichermedium (Video) .................... 395<br />

BGH, Urt. v. 02.11.2011 - 2 StR 332/11 - NJW 2012, 244 = StV 2012, 272 Anm. Deutscher NStZ 2012, 229<br />

.......................................................................................................................................................................... 395<br />

StPO § 302 Rechtsmittelverzicht ................................................................................................... 397<br />

BGH, Beschl. v. 25.04.2012 - 1 StR 80/12 - BeckRS 2012, 10466 ................................................................ 397<br />

StPO § 338 Nr. 4; GVG § 24, § 26, § 74b Keine Willkür durch Jugendschutzkammer .............. 398<br />

BGH, Beschl. v. 07.03.2012 - 1 StR 6/12 - NStZ 2012, 401 ............................................................................ 398<br />

StPO § 344 -II - unzulässige Revision Nebenkläger ...................................................................... 402<br />

BGH, Beschl. v. 26.07.2011 – 1 StR 297/11 - StV 2012, 5 .............................................................................. 402<br />

StPO § 347 Erstreckung der Aufhebung auf Nichtrevidenten bei Fehlern der Beweiswürdigung<br />

........................................................................................................................................................ 403<br />

BGH, Beschl. v. 22.09.2011 - 2 StR 383/11 - StV 2012, 133 .......................................................................... 403<br />

StPO § 396 Abs. 2 Satz 2; StPO § 395 Abs. 3 ................................................................................ 404<br />

BGH, Beschl. v. 09.05.2012 – 5 StR 523/11 - BeckRS 2012, 11283 ............................................................... 404<br />

StPO § 454b Abs. 2; StVollstrO § 43 Vollstreckungsreihenfolge bei Widerruf Strafaussetzung 405<br />

BGH, Beschl. v. 09.02.2012 - 5 AR (VS) 40/11 - NJW 2012, 1016 ................................................................ 405<br />

IRG § 83h II Nr. 3; BtMG § 29a - Spezialität <strong>und</strong> nachträgliche Gesamtstrafe .......................... 407<br />

BGH, Beschl. v. 27.07.2011 - 4 StR 303/11 - NStZ 2012, 100 ........................................................................ 407<br />

MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 34 ................................................................................................. 409<br />

BGH, Beschl. v. 23.08.2011 – 1 StR 153/11 - NJW 2011, 3314 = NStZ 2012, 152 = StV 2012, 81 ............... 409<br />

StrRehaG § 17a - Zuwendung Haftopfer nach StrRehaG; Opfer im Strafvollzug ..................... 414<br />

BGH, Beschl. v. 14.07.2011 - 4 StR 548/10 - BGHSt 56, 289 = NJW 2011, 2981.......................................... 414

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