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Die institutionelle Architektur nach der Europäischen Verfassung ...

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W. Wessels Juli 04<br />

Jean Monnet Professor<br />

Uni Köln<br />

<strong>Die</strong> <strong>institutionelle</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>nach</strong> <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Verfassung</strong>:<br />

Höhere Dynamik – neue Koalitionen?<br />

gemeinsames Projekt <strong>der</strong> Asko Stiftung und des Instituts für Europäische Politik zu:<br />

„Welche <strong>Verfassung</strong> für Europa“<br />

Beitrag zu<br />

integration 3/04<br />

Langversion


Ein Schlüsseldokument: historische Einordnung und kontroverse Bewertungen<br />

In <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> „Konstitutionalisierung <strong>der</strong> europäischen Integration“ 1 haben die Staatsund<br />

Regierungschefs von erstmals 25 Unionsstaaten einen weiteren „historischen<br />

Meilenstein“ 2 vorgelegt: wie bei vorangegangenen zentralen Weichenstellungen 3 hat erneut<br />

<strong>der</strong> Europäische Rat als Gipfel einer Regierungskonferenz 4 – <strong>nach</strong> einem üblichen Ringen<br />

über zentrale Details – die politische Einigung zu einem „Vertrag über eine <strong>Verfassung</strong> für<br />

Europa“ 5 erzielt. Als Vertreter <strong>der</strong> „Herren <strong>der</strong> Verträge“ 6 haben sie weitgehend die Struktur<br />

und die meisten Formulierungen des Entwurfs des "<strong>Europäischen</strong> Konvents zur Zukunft<br />

Europas" 7 übernommen. 8 Insgesamt sind 90% <strong>der</strong> Konventsreformen unverän<strong>der</strong>t geblieben: 9<br />

„in all its essentials (the constitution) retained the integrity of the European Convention<br />

outcome.“ 10 Än<strong>der</strong>ungen sind insbeson<strong>der</strong>e im Bereich <strong>der</strong> <strong>institutionelle</strong>n <strong>Architektur</strong><br />

vorgenommen worden. <strong>Die</strong>ser Text mit 448 Artikeln und 36 Protokollen ist nun <strong>nach</strong> einer<br />

1 Vgl. zum Begriff u.a. Joseph H.H. Weiler: The Constitution of Europe, Cambridge 1999; Stephan Hobe:<br />

Bedingungen, Verfahren und Chancen europäischer <strong>Verfassung</strong>sgebung: Zur Arbeit des Brüsseler<br />

<strong>Verfassung</strong>skonvents, in: Europarecht 38, Bd. 1/2003, S. 1-16; Wolfgang Wessels: Konstitutionalisierung <strong>der</strong><br />

EU: Variationen zu einem Leitbegriff - Überlegungen zu einer Forschungsagenda, in: Matthias Chardon u.a.<br />

(Hrsg.): Regieren unter neuen Herausfor<strong>der</strong>ungen: Deutschland und Europa im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t. Festschrift für<br />

Rudolf Hrbek zum 65. Geburtstag, Nomos, Baden-Baden 2003, S. 23-45; Armin von Bogdandy (Hrsg.):<br />

Europäisches <strong>Verfassung</strong>srecht, Heidelberg/Berlin 2003; <strong>der</strong>s.: Europäische und nationale Identität: Integration<br />

durch <strong>Verfassung</strong>srecht? In: Veröffentlichungen <strong>der</strong> Vereinigung <strong>der</strong> Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL)<br />

62, Berlin 2003, S. 156-219; Thomas <strong>Die</strong>z/Antje Wiener: Introducing the Mosaic of Integration Theory, in: dies.<br />

(Hrsg.): European Integration Theory, Oxford 2004, S. 1-24.<br />

2 Statement of the Taoiseach, Mr Bertie Ahern TD to the Dáil on the outcome of the European Council and the<br />

Intergovernmental Conference held on 17-18 June, 2004 in Brussels, Mittwoch, 30 Juni 2004, unter<br />

http://www.eu2004.ie, S. 1; vgl. Wilfried Loth: Entwürfe einer europäischen <strong>Verfassung</strong>. Eine historische<br />

Bilanz, Analysen zur <strong>Europäischen</strong> Politik, Institut für Europäische Politik und ASKO Europa-Stiftung, Bonn<br />

2002; „<strong>Verfassung</strong>shürde genommen – Ratifizierung sicherstellen“, in: EBD-News vom 29.06.2004,<br />

http://www.europaeische-bewegung.de/index.php?id=72 - 1280.<br />

3 Vgl. zu diesem Verständnis auch den Ansatz von "Critical Junctures" Paul Pierson: The Path to European<br />

Integration: A Historical Institutionalist Analysis, in: Comparative Political Studies 19/1996/2, S. 123-163; vgl.<br />

zu entsprechenden historischen Untersuchungen Gerhard Brunn: <strong>Die</strong> Europäische Einigung, Stuttgart 2002,<br />

Andrew Moravscik: The Choice of Europe. Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht, Ithaca<br />

1998.<br />

4 Vgl. zu historischen Vorläufern u.a. Brunn, Europäische Einigung, S. 197-205, S. 238-244, S. 275-279 und<br />

298-302; Franz Knipping: Rom, 25. März 1957. <strong>Die</strong> Einigung Europas, München 2004, S. 202-211, S. 224-231,<br />

S 256-267.<br />

5 Internationale Regierungskonferenz in Brüssel: Vorläufige konsolidierte Fassung des Vertrags über eine<br />

<strong>Verfassung</strong> für Europa, http://ue.eu.int/igcpdf/de/04/cg00/cg00086.de04.pdf. Im Folgenden als VVE abgekürzt.<br />

6 Vgl. zu dem nicht unumstrittenen Begriff BVerfG, Entscheidungen, S. 190; Ipsen, Zehn Glossen, S. 5.<br />

7 Europäischer Konvent: Entwurf eines Vertrags über eine <strong>Verfassung</strong> von Europa, CONV 850/03, Brüssel 2003,<br />

http://european-convention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.de03.pdf.<br />

8 vgl. dazu insbeson<strong>der</strong>e die Beiträge in integration 4/2003 und in Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels<br />

(Hrsg.): Jahrbuch <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> Integration 2003/2004, Bonn 2004.<br />

9 Klaus Hänsch, MdEP, Mitglied des Präsidiums des <strong>Verfassung</strong>skonvents: Ein kleiner Schritt für die Staats- und<br />

Regierungschefs, ein großer Schritt für Europa – <strong>Die</strong> EU gibt sich eine <strong>Verfassung</strong>. Pressemitteilung vom 19.<br />

Juni 2004: S. 1; http://www.klaus-haensch.de/htcms/pressemitteilungen-2/mehr-62.html. Von rund 18.000<br />

Wörtern des <strong>Verfassung</strong>svertrags sollen ungefähr 15.000 von dem Entwurf des <strong>Verfassung</strong>skonvents<br />

übernommen worden sein - laut Präsident des <strong>Verfassung</strong>skonvents.<br />

10 Ahern, Statement, S. 1.


weiteren Überarbeitung durch Rechtsexperten 11 entsprechend <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>svorschriften <strong>der</strong><br />

Mitgliedstaaten – in gegenwärtig neun Län<strong>der</strong>n <strong>nach</strong> Referenden – zu ratifizieren. <strong>Die</strong>ser in<br />

vielfacher Sicht bemerkenswerte Grundlagentext wird die europapolitische Debatte intensiv<br />

und auch <strong>nach</strong>haltig beeinflussen – selbst wenn er in den Ratifizierungsprozessen scheitern<br />

sollte.<br />

Als Spiegelbild und als eine weitere Welle jahrzehntelanger Diskussionen um den Charakter<br />

und die Finalität <strong>der</strong> Integrationskonstruktion insgesamt 12 wird die rechtliche und politische<br />

Natur dieses Dokuments kontrovers diskutiert 13 : ist <strong>der</strong> Text als ein letztlich üblicher<br />

völkerrechtlicher Vertrag zu verstehen, <strong>der</strong> die Souveränität <strong>der</strong> Mitgliedstaaten als „Herren<br />

<strong>der</strong> Verträge“ erneut bestätigt? Aus einer <strong>der</strong>artigen Sicht kann die demokratische Legitimität<br />

nur bei den Mitgliedstaaten angesiedelt bleiben: da kein eigenständiges europäisches Volk<br />

existiert, gilt <strong>der</strong> Begriff ‚<strong>Verfassung</strong>’ jedoch als wissenschaftlich unzulässig. 14 In<br />

Verbindung mit dem politischen Reizwort eines „fe<strong>der</strong>al superstate" 15 könnte diese Wortwahl<br />

mit einem beson<strong>der</strong>em Legitimationsanspruch von Euroskeptikern sogar als Kampfparole<br />

gegen das Dokument benutzt werden. 16 Dagegen sieht eine an<strong>der</strong>e Denkschule den Begriff<br />

„<strong>Verfassung</strong>“ als nun auch sprachlichen Nachvollzug gegebener Entwicklungen und als einen<br />

bewusst positiven Legitimationsschritt: das Dokument wird dem<strong>nach</strong> als eine nun wirklich<br />

11 Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf die vorläufige konsolidierte Fassung des Vertrags über eine<br />

<strong>Verfassung</strong> für Europa, CIG 87/04, 6. August 2004, abzurufen unter<br />

http://ue.eu.int/cms3_applications/Applications/igc/doc_register.asp?lang=DE&cmsid=576 (letzter Zugriff<br />

20.8.04).<br />

12 Vgl. Heinrich Schnei<strong>der</strong>: Leitbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Europapolitik 1. Der Weg zur Integration, Europäische Studien des<br />

Instituts für Europäische Politik, Europa Union Verlag Bonn 1977.<br />

13 Vgl. auch Peter-Christian Müller-Graff: Strukturmerkmale des neuen <strong>Verfassung</strong>svertrages für Europa im<br />

Entwicklungsgang des Primärrechts, in diesem Heft.<br />

14 Vgl. <strong>Die</strong>ter Grimm: <strong>Die</strong> größte Erfindung unserer Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung,16.06.03; <strong>der</strong>s.: <strong>Die</strong><br />

Zukunft <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>, Frankfurt am Main 2002; <strong>der</strong>s.: Braucht Europa eine <strong>Verfassung</strong>?, in: Juristenzeitung<br />

1995, S. 581-591, S. 584; Paul Kirchhof: <strong>Die</strong> Identität <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong> in ihren unabän<strong>der</strong>lichen Inhalten, in:<br />

Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland (HStR) 3.<br />

Auflage Heidelberg 2003, Bd. 1, §19, Rn 18ff.; Josef Isensee: Integrationsziel Europastaat?, in: Olle Due/Marcus<br />

Lutter/Jürgen Schwarze (Hrsg.): Festschrift für Ulrich Everling, Bd. 1, Baden-Baden 1995, S. 567-592; Thomas<br />

Schmitz: Das europäische Volk und seine Rolle bei <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>sgebung in <strong>der</strong> EU, Europarecht 2003, S.<br />

217-219; Wessels: Konstitutionalisierung <strong>der</strong> EU: Variationen zu einem Leitbegriff-Überlegungen zu einer<br />

Forschungsagenda, in: Chardon, Matthias u.a. (Hrsg.): Regieren unter neuen Herausfor<strong>der</strong>ungen: Deutschland<br />

und Europa im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t. Festschrift für Rudolf Hrbek zum 65. Geburtstag, Nomos, Baden-Baden 2003, S.<br />

23-45.<br />

15 Vgl. u.a. Primeminister Blair’s Statement to Parliament on the EU Constitution Treaty, 21. Juni 2004, S. 1;<br />

Thomas Christiansen: Constitutionalising the European Union: The Power of Language, in: The Fe<strong>der</strong>al Trust<br />

for education and research EU Constitution Project Newsletter, www: fedtrust.co.uk, 2004, S. 7; Jo Shaw: The<br />

EU Constitution Project – and the EU Constitution, in: The Fe<strong>der</strong>al Trust for education and research. EU<br />

Constitution Project Newsletter, www: fedtrust.co.uk, 2004, S.3; The CER guide to the EU’s constitutional<br />

treaty, in: Centre for European Reform policy brief, www.cer.org.uk , S.1.<br />

16 Vgl. Christiansen: Constitutionalising the European Union, S. 7


konstitutionelle Gründungsurkunde und als ein wichtiger, aber nicht endgültiger Schritt auf<br />

dem Weg zu einer europäischen Fö<strong>der</strong>ation verstanden. 17<br />

Im Vergleich zur Komplexität <strong>der</strong> bestehenden Rechtsgrundlagen ist <strong>der</strong> Inhalt des<br />

<strong>Verfassung</strong>svertrags hervorzuheben: seine Struktur orientiert sich mit einer Präambel, vier<br />

Hauptteilen (Grundlagen, <strong>Die</strong> Charta <strong>der</strong> Grundrechte <strong>der</strong> Union, <strong>Die</strong> Politikbereiche und die<br />

Arbeitsweise <strong>der</strong> Union, Allgemeine und Schlussbestimmungen) – trotz <strong>der</strong> Länge und einer<br />

Vielzahl detaillierter Vorschriften – an Vorbil<strong>der</strong>n konventioneller <strong>Verfassung</strong>en. Für eine<br />

<strong>der</strong>artige Lesart spricht auch die Aufnahme von „Symbolen <strong>der</strong> Union“ (Artikel I-8), die an<br />

die bewusste För<strong>der</strong>ung nationalstaatlicher Identität im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t erinnern.<br />

Gegen diese Interpretation ist – ebenfalls neu – ein Recht auf „freiwilligen Austritt aus <strong>der</strong><br />

Union“ (Artikel I-60) zu erwähnen, <strong>der</strong> die Union eher als „Zweckgemeinschaft“ 18 o<strong>der</strong><br />

‚Bündnis auf Zeit’ erscheinen lässt. Auch die Verfahren zur Än<strong>der</strong>ung des Vertrags bleiben<br />

<strong>der</strong> Einstimmigkeit verpflichtet. So prägt die konventionelle Diskussion um eine eher<br />

intergouvernementale 19 o<strong>der</strong> supranationale 20 bzw. fö<strong>der</strong>ale 21 Ausrichtung <strong>der</strong> Union auch die<br />

Debatte um den <strong>Verfassung</strong>svertrag. Ausgehend von einer „janusköpfigen Doppelnatur … aus<br />

Supranationalität und Intergouvernementalität (des <strong>Verfassung</strong>svertrags)“ 22 bietet sich<br />

deshalb auch erneut ein Ansatz an, die konstitutionellen Entwicklungen als ein Prozess <strong>der</strong><br />

Fusion zwischen mehreren Ebenen und Institutionen zu beschreiben und zu erklären 23 .<br />

Im Kontext <strong>der</strong>artiger politischer und wissenschaftlicher Bewertungen ist dieses Dokument<br />

als ein zentraler Schlüssel zum Verständnis des europäischen Einigungsprozesses in einer<br />

17<br />

Vgl. Jo Leinen: A European Constitution – Without national veto!, in: The Fe<strong>der</strong>alist Debate 27/2004/2, S. 39-<br />

42, S. 42; Andreas von Arnauld: Gedanken im Prozess <strong>der</strong> Konstitutionalisierung, Europarecht 2003, S. 191-<br />

216; Günter Hirsch: EG: Kein Staat, aber eine <strong>Verfassung</strong>?, Neue Juristische Wochenschrift 2000, S. 46-47;<br />

Hobe: Bedingungen, 2003; <strong>der</strong>s.: Eine europäische <strong>Verfassung</strong> – wünschenswert o<strong>der</strong> überflüssig?, Köln 2003;<br />

Christian Koenig: Ist die Europäische Union verfassungsfähig? <strong>Die</strong> Öffentliche Verwaltung, 1998, S. 268-275;<br />

Ingolf Pernice: Europäisches und nationales <strong>Verfassung</strong>srecht, in: Veröffentlichung <strong>der</strong> Vereinigung <strong>der</strong><br />

deutschen Staatslehrer 60 (2000), S. 148-225; <strong>der</strong>s.: Multilevel constitutionalism and the Treaty of Amsterdam:<br />

European Constitution-Making Revisited?, in: Common Market Law Review, 36/1999, S. 703-750; Matthias<br />

Ruffert: Schlüsselfragen <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Verfassung</strong> <strong>der</strong> Zukunft: Grundrechte – Institutionen – Kompetenzen<br />

– Ratifizierung, Europarecht 2004, S. 14-17; Giovanni Grevi: A ‚flexible’ Constitutional Treaty?, in: The<br />

Fe<strong>der</strong>al Trust for education and research. EU Constitution Project Newsletter, www: fedtrust.co.uk, 2004, S. 11.<br />

18<br />

Vgl. zu diesem Begriff Hans-Peter Ipsen: Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, S. 197ff.<br />

19<br />

Vgl. z.B. Vernon Bogdandor: A constitution for a House without Windows; in: The Fe<strong>der</strong>al Trust for<br />

education and research. EU Constitution Project Newsletter, www: fedtrust.co.uk, 2004, S. 6.<br />

20<br />

Kirsty Hughes: A new division of power in the EU, in: The Fe<strong>der</strong>al Trust for education and research. EU<br />

Constitution Project Newsletter, www: fedtrust.co.uk, 2004, S. 12.<br />

21<br />

Vgl. John Pin<strong>der</strong>: The Constitutional Treaty: how fe<strong>der</strong>al?, in: The Fe<strong>der</strong>al Trust for education and research.<br />

EU Constitution Project Newsletter, www.fedtrust.co.uk, 2004, S. 7.<br />

22<br />

Vgl. Müller-Graff: Strukturmerkmale des neuen <strong>Verfassung</strong>svertrages für Europa im Entwicklungsgang des<br />

Primärrechts, in diesem Heft.<br />

23<br />

Vgl. Wolfgang Wessels: <strong>Die</strong> Öffnung des Staates. Modelle und Wirklichkeit grenzüberschreiten<strong>der</strong><br />

Verwaltungspraxis 1960-1995, Opladen 2000; Der <strong>Verfassung</strong>svertrag im Integrationstrend: Eine<br />

Zusammenschau zentraler Ereignisse, in: integration 4/03, Bonn 2003, S. 284-301.


erweiterten Union zu nutzen. Unabhängig von <strong>der</strong> jeweiligen Ausgangsposition lädt uns <strong>der</strong><br />

<strong>Verfassung</strong>svertrag ein, den Suchscheinwerfer auf historische Grundlinien staatlicher<br />

Entwicklungen im Europa zu richten. Aus dieser Untersuchungsperspektive verortet die<br />

Präambel den <strong>Verfassung</strong>svertrag selbst sowohl in einer langen historischen Perspektive, die<br />

„aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas (schöpft)“ (Präambel, Abs.<br />

1), als auch mit Bezug auf die „Wahrung <strong>der</strong> Kontinuität des gemeinschaftlichen<br />

Besitzstandes“ (Präambel, Abs. 5) als Fortführung <strong>der</strong> vertraglichen Gründungakte <strong>der</strong><br />

(west)europäischen Integrations-Konstruktion. Eingeordnet und gelesen werden könnte dieser<br />

Vertrag auch aus <strong>der</strong> Perspektive „eines Europas <strong>der</strong> zweiten Generation“ 24 , die mit den<br />

Beschlüssen des Gipfels von Den Haag 1969 25 einen neuen quasi-konstitutionellen Anlauf<br />

einleitete 26 . Zu prüfen wird sein, ob bzw. inwieweit die nun zur Diskussion stehende Phase<br />

<strong>der</strong> konzeptuellen Konzipierung und politischen Verabschiedung des Dokuments als<br />

beson<strong>der</strong>er „historischen Augenblick <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>sgebung“ („constitutional moment“) 27<br />

bildet. Eine fundierte Aussage zu dieser Fragestellung wird wahrscheinlich erst rückblickend<br />

vorzulegen sein. In diesen historischen Perspektiven wären auch Ursachen eines möglichen<br />

Scheiterns <strong>der</strong> Vorlage bei nationalen Ratifizierungsprozessen als Zeichen für verän<strong>der</strong>te<br />

Grundlagen staatlicher Evolution in Europa zu analysieren.<br />

24<br />

Knipping, Rom, S. 156; <strong>der</strong>s./Matthias Schönwald (Hrsg.): Aufbruch zum Europa <strong>der</strong> zweiten Generation. <strong>Die</strong><br />

europäische Einigung 1969-1984, Trier 2004.<br />

25<br />

Jan van <strong>der</strong> Harst: The 1969 Hague Summit: a New Start for Europe?, in: Journal of European Integration<br />

History 2/2003/9, S. 5-10.<br />

26<br />

Jürgen Mittag/Wolfgang Wessels: <strong>Die</strong> Gipfelkonferenzen von Den Haag (1969) und Paris (1972):<br />

Meilensteine für Entwicklungstrends <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> Union?, in: Knipping/Schönwald, Aufbruch, S. 3-27, S.<br />

5.<br />

27<br />

Vgl. zum Begriff Bruce Ackermann: We the people, 2: transformations: 2, Cambridge, London, und zu einer<br />

ersten Bewertung Kalypso Nicolaidis: Making it our own: A Proposal fort the Democratic Interpretation of the<br />

EU Constitution, in: The Fe<strong>der</strong>al Trust for education and research. EU Constitution Project Newsletter, S. 9


Neue Bausteine <strong>der</strong> <strong>institutionelle</strong>n <strong>Architektur</strong>: Handlungsfähigkeit auf dem Prüfstand<br />

Zur Übersicht und Methode: von <strong>der</strong> geschriebenen zur gelebten <strong>Verfassung</strong>:<br />

Gedankenexperimente<br />

Im Kontext dieser tagespolitischen Bewertungen und historischen Verortungen stellt sich <strong>der</strong><br />

gegenwärtigen Diskussion als zentrale Aufgabe, die Regeln <strong>der</strong> geschriebenen <strong>Verfassung</strong> auf<br />

ihre möglichen Auswirkungen auf die gelebte Praxis einer erweiterten Union zu<br />

untersuchen 28 . Dabei sind insbeson<strong>der</strong>e die Möglichkeiten und Grenzen, die den politischen<br />

Akteuren <strong>der</strong> Zukunft in <strong>der</strong> <strong>institutionelle</strong>n <strong>Architektur</strong> gesetzt werden 29 , bzw. – aus <strong>der</strong><br />

Sicht <strong>der</strong> Union – die Auswirkungen des Regelwerks auf die zukünftige Handlungsfähigkeit<br />

zu erörtern. 30 Bei diesem Vorgehen sind die Vorgaben für einzelne Organe – in <strong>der</strong><br />

Reihenfolge des <strong>Verfassung</strong>svertrags (Artikel I-19 Abs. 1) – zu durchleuchten und darauf<br />

aufbauend Schlussfolgerungen zu möglichen Tendenzen im <strong>institutionelle</strong>n Gleichgewicht<br />

zwischen den Organen zu diskutieren.<br />

Ein <strong>der</strong>artiger Blick in die Zukunft ist zwangsläufig spekulativ: Erfahrungen <strong>der</strong><br />

integrationspolitischen Vergangenheit müssen in – nur begrenzt <strong>nach</strong>weisbaren –<br />

Gedankenexperimenten auf ihre Anwendbarkeit für eine neue Union überprüft werden.<br />

<strong>Die</strong> Regierungskonferenz hat viele <strong>institutionelle</strong> und prozedurale Formulierungen des<br />

<strong>Verfassung</strong>skonvents bestätigt – so etwa zur Zuständigkeitsverteilung (Art. I-11ff.), zum<br />

„Außenminister <strong>der</strong> Union“ (Art. I-28) und zum „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ (Art.<br />

III-396). Entsprechend können einige Analyen und Bewertungen zu diesen Kapiteln des<br />

Konventsentwurfs übernommen werden. 31 Einige Bestimmungen wurden jedoch erst ad hoc<br />

28<br />

Vgl. zu (neo-)institutionalistischen Ansätzen u.a. Johan P. Olsen: Organising European Institutions of<br />

Governance. A Prelude to an Institutional Account of Political Integration, Arena Working Papers WP 00/2;<br />

http://www.arena.uio.no/publications/wp00_2.htm; Andreas Maurer/Wolfgang Wessels: The European Union<br />

matters: structuring self made offers and demands, in: Wolfgang Wessels/Andreas Maurer/Jürgen Mittag<br />

(Hrsg.): Fifteen into one? The European Union and its member states, Manchester/New York 2003, S. 29-65;<br />

Guy Peters: Institutional Theory in Political Science. The 'New Institutionalism', London/New York 1999; Mark<br />

Aspinwall/Gerald Schnei<strong>der</strong> (Hrsg.): The rules of integration, Institutionalist approaches to the study of Europe,<br />

New York/Manchester 2001; Thomas <strong>Die</strong>tz: Postmo<strong>der</strong>ne und europäische Integration. <strong>Die</strong> Dominanz des<br />

Staatsmodells, die Verantwortung gegenüber dem An<strong>der</strong>en und die Konstruktion eines alternativen Horizonts,<br />

in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 3. Jg. 1996, S. 255-281.<br />

29<br />

Vgl. generell Fritz W. Scharpf/ Oliver Treib: Interaktionsformen. Akteurszentrierter Institutionalismus in <strong>der</strong><br />

Politikforschung, Opladen 2000.<br />

30<br />

“[So] stellt sich die Frage, wie gewährleistet werden kann, dass die neu bestimmte Verteilung <strong>der</strong><br />

Zuständigkeiten nicht zu einer schleichenden Ausuferung <strong>der</strong> Zuständigkeiten <strong>der</strong> Union o<strong>der</strong> zu einem<br />

Vordringen in die Bereiche <strong>der</strong> ausschließlichen Zuständigkeit <strong>der</strong> Mitgliedstaaten und – wo eine solche besteht<br />

– <strong>der</strong> Regionen führt. Wie kann man zugleich darüber wachen, dass die europäische Dynamik nicht erlahmt?<br />

Auch in Zukunft muss die Union ja auf neue Herausfor<strong>der</strong>ungen und Entwicklungen reagieren und neue<br />

Politikbereiche erschließen können.” Erklärung von Laeken, http://www.europaweb.de/europa/03euinf/10counc/laeken.htm.<br />

31<br />

Vgl. Peter-Christian Müller-Graff: Systemrationalität in Kontinuität und Än<strong>der</strong>ung des <strong>Europäischen</strong><br />

<strong>Verfassung</strong>svertrags, in: integration 4/2003, S. 301-316; Wolfgang Wessels: Der <strong>Verfassung</strong>svertrag im


ei <strong>der</strong> Kompromisssuche hinzufügt. 32 Trotz einiger – immer wie<strong>der</strong> betonten – Straffungen<br />

und Vereinfachungen 33 zeigen die rechtlichen Vorgaben <strong>der</strong> „legal constitution“ 34 auch<br />

weiterhin eine beträchtliche Bandbreite an Entscheidungsverfahren. Einige Beobachter sehen<br />

sogar einen höheren Grad an Flexibilität als im gegenwärtigen Vertragswerk.<br />

Zum <strong>Europäischen</strong> Parlament: gestärkt auf dem Weg zu einem Zweikammersystem<br />

Bei den Legislativfunktionen hat die Regierungskonferenz die Position des <strong>Europäischen</strong><br />

Parlaments ausgebaut: weitgehend übernommen hat die Regierungskonferenz die Regelwerke<br />

des Konvents zum „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ (Artikel I-34) für „Rechtsakte <strong>der</strong><br />

Union“, insbeson<strong>der</strong>e für „Europäische Gesetze und Europäische Rahmengesetze“ (Artikel I-<br />

33), und zum jährlichen Haushaltsverfahren (Artikel III-404), die im Unterschied zum jetzt<br />

gültigen Verfahren weitgehend <strong>nach</strong> einer gleichen Ablaufprozedur gestaltet werden.<br />

Gegenüber den Fällen des gegenwärtig gültigen Mitentscheidungsverfahrens wird das<br />

ordentliche Gesetzgebungsverfahren in fast doppelt so vielen Artikeln <strong>der</strong><br />

Unionsgesetzgebung Anwendung finden (siehe Abbildung 1). 35 Zusätzlich eingeführt wurde<br />

dieses normale Gesetzgebungsverfahren bei 40 Artikeln; dabei wurde es auch auf weitere<br />

zentrale Politikbereiche ausgedehnt – so auf die Vorschriften zur Asyl- und<br />

Einwan<strong>der</strong>ungspolitik sowie die Maßnahmen im Kampf gegen internationale Kriminalität und<br />

Terrorismus. <strong>Die</strong>se Verän<strong>der</strong>ungen verstärken insgesamt einen Trend hin zu einer<br />

„dreipoligen Gemeinschaftsmethode“, die ausgehend von dem bestätigten und auf neue<br />

Sektoren ausgeweiteten Initiativmonopol <strong>der</strong> Kommission dem <strong>Europäischen</strong> Parlament und<br />

dem Rat Schlüsselrollen in einem legislativen „Zweikammersystem“ 36 zuschreibt. Trotz<br />

fortbestehen<strong>der</strong> Länge und Komplexität <strong>der</strong> vorgeschriebenen Abläufe tragen diese Reformen<br />

zur Klarheit <strong>der</strong> Legislativverfahren bei. Damit entsprechen die normalen<br />

Rechtsetzungsprozeduren den Vorgaben des Konvents. 37 Beim Haushaltsverfahren (Art. III-<br />

Integrationstrend: Eine Zusammenschau zentraler Ergebnisse, in: integration 4/2003, S. 284-300, Übersicht 1: S.<br />

287 und Übersicht 3: S. 290; Andreas Maurer: Orientierungen im Verfahrensdickicht? <strong>Die</strong> neue<br />

Normenhierarchie <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> Union, in: integration 4/2003, S. 440-453, Tabelle 1: S. 445 und Tabelle 3:<br />

S. 447.<br />

32 Vgl.u.a. The CER guide to the EU’s constitutional treaty, S. 1.<br />

33 Vgl. u.a. Elmar Brok: Der Konvent – eine Chance für die Europäische <strong>Verfassung</strong>, in integration 4/2003, S.<br />

338-344: S. 339-340; Hänsch, Ein kleiner Schritt, S. 1.<br />

34 Vgl. zum Begriff Olsen, Organising European Institutions, S. 7.<br />

35 Vgl. zu diesen Zahlen Hänsch: Ein kleiner Schritt, S. 1.<br />

36 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Simon Hix: Legislative behaviour and party competition in the European<br />

Parliament. An application, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 39, November 2001, Oxford, S. 663-<br />

688; Andreas Maurer/Wolfgang Wessels: Das Europäische Parlament <strong>nach</strong> Amsterdam und Nizza: Akteur,<br />

Arena o<strong>der</strong> Alibi?, Baden-Baden 2003, S. 213; Wolfgang Wessels: Gesetzgebung in <strong>der</strong> EG, in: Wolfgang<br />

Ismayr (Hrsg.): Gesetzgebung in den Staaten <strong>der</strong> EU, Opladen 2004, i.E.<br />

37 Vgl. zur Analyse u.a. Maurer, Orientierungen im Verfahrensdickicht?; <strong>Die</strong>tmar Nickel: Das Europäische<br />

Parlament als Legislativorgan – zum neuen <strong>institutionelle</strong>n Design <strong>nach</strong> <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Verfassung</strong>, in:


404) hat die Regierungskonferenz gegenüber dem Konventsentwurf noch kleinere<br />

Verän<strong>der</strong>ungen zugunsten des Rats eingebracht. 38<br />

Abbildung 1: Entwicklung <strong>der</strong> vertraglichen Rechte des <strong>Europäischen</strong> Parlaments 1958-<br />

2006 (in absoluten Zahlen)<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

EWG 1958 EWG 1969 EEA 1987 EUV 1993 EUV 1999 EUV 2002 VVE<br />

2007/2009<br />

Keine Beteiligung<br />

Unterrichtung<br />

Konsultation<br />

Kooperation<br />

Mitentscheidung / ab<br />

2007 ordentliche<br />

Gesetzgebung<br />

Zustimmung<br />

Quelle: Maurer/Wessels: The European Union matters, S. 37; ergänzt um VVE 2007/2009 von Funda Tekin,<br />

Jean Monnet Lehrstuhl.<br />

Zur Wahlfunktion hat die Regierungskonferenz eindeutig das Recht des <strong>Europäischen</strong><br />

Parlaments festgeschrieben: Es „wählt den Präsidenten <strong>der</strong> Kommission“ (Art. I-20 Abs. 1)<br />

mit <strong>der</strong> „Mehrheit seiner Mitglie<strong>der</strong>“ (Art. I-27 Abs. 1); gleichzeitig belässt <strong>der</strong><br />

<strong>Verfassung</strong>svertrag das Initiativrecht für dieses Verfahren beim <strong>Europäischen</strong> Rat.<br />

Im Hinblick auf eine verfassungsgebende Funktion wird das Europäische Parlament nun auch<br />

rechtlich gefasste Möglichkeiten zur Initiative und zur Vorbereitung von<br />

Regierungskonferenzen erhalten: Bei den drei Verfahren zur Än<strong>der</strong>ung des<br />

<strong>Verfassung</strong>svertrags (Artikel IV-443, 444 und 445) hat <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>svertrag dem<br />

<strong>Europäischen</strong> Parlament jedoch nur bei den „vereinfachten Verfahren“ zur Än<strong>der</strong>ung von<br />

integration 4/2003, S. 501-509; Ines Hartwig: Eine neue Finanzverfassung für die Europäische Union, ebd., S.<br />

520-526; Wessels, <strong>Verfassung</strong>svertrag im Integrationstrend.<br />

38 Vgl. Andrew Duff: The Constitution and the IGC, S. 6, http://www.andrewduffmep.org.uk/resources/sites/<br />

217.160.173.25-406d96d1812cb6.84417533/Reports/The+Constitution+and+the+IGC.doc.


prozeduralen Bestimmungen des Vertrags (Art. IV-444) ein unmittelbares Zustimmungsrecht<br />

zugesprochen.<br />

Neu festgelegt hat die Regierungskonferenz neben <strong>der</strong> Höchstzahl an Sitzen (750) die<br />

Prinzipien zur zukünftigen Verteilung zwischen den Mitgliedstaaten sowie die Unter- (sechs<br />

Sitze) und Obergrenzen (96 Sitze) (Art. I-20 Abs. 2). Eindeutig hat die Regierungskonferenz<br />

das Recht des <strong>Europäischen</strong> Parlaments auf die Wahl des Kommissionspräsidenten mit <strong>der</strong><br />

„Mehrheit seiner Mitglie<strong>der</strong>“(Art. I-27 Abs. 1) festgeschrieben.<br />

Angesichts des umfassenden Ausbaus an parlamentarischen Mitentscheidungsrechten (siehe<br />

Abbildung 1) sowie <strong>der</strong> Erhöhung <strong>der</strong> Zahl und Heterogenität <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> 39 wird für die<br />

zukünftige Praxis die Handlungsfähigkeit dieser Institution zu untersuchen sein; da dieses<br />

Organ nun noch zentraler in <strong>der</strong> <strong>institutionelle</strong>n <strong>Architektur</strong> positioniert wird, ist diese Frage<br />

auch für die Handlungsfähigkeit des gesamten EU-Systems von <strong>nach</strong>haltiger Bedeutung. Da<br />

<strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>svertrag für eine rechtswirksame Beschlussfassung bei den relevanten EP-<br />

Funktionen eine Zustimmung <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Abgeordneten – also in Zukunft 376 –<br />

vorschreibt, wird sich angesichts <strong>der</strong> nur relativen parteipolitischen Mehrheiten im<br />

<strong>Europäischen</strong> Parlament <strong>der</strong> Druck auf die Bildung einer ‚großen Koalition’ zwischen den<br />

beiden größeren Fraktionen weiter verstärken 40 . Nicht auszuschließen ist jedoch, dass das<br />

Parlament aufgrund seiner Binnenheterogenität und einer hohen Abwesenheitsrate die<br />

notwendigen Mehrheiten nicht finden kann. Eine Möglichkeit, das Parlament während <strong>der</strong><br />

fünfjährigen Wahlperiode aufzulösen, sieht <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>svertrag jedoch nicht vor.<br />

39 Nach <strong>der</strong> Wahl 2004 sind 183 nationale Parteien vertreten: http://www.elections2004.eu.int/epelection/sites/de/yourparliament/outgoingparl/parties.html<br />

(letzter Zugriff 12.8.04).<br />

40 vgl. zu einer an<strong>der</strong>en Trendanalyse Simon Hix: Parteien, Wahlen und Demokratie in <strong>der</strong> EU, in: Markus<br />

Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch: Europäische Integration, Opladen 2003, S. 165-167.


Zum <strong>Europäischen</strong> Rat: Aufwertung zur obersten Entscheidungsinstanz<br />

Gleichzeitig mit dem Ausbau <strong>der</strong> Rechte für das Europäische Parlament haben die Staats- und<br />

Regierungschefs die Aufgabenbeschreibung ‚ihres’ <strong>Europäischen</strong> Rats als konstitutioneller<br />

Gestalter und zentrales Entscheidungs- und Wahlgremium nicht nur bestätigt, son<strong>der</strong>n auch<br />

ausgebaut. 41 Der Text folgt dabei bei vielen Funktionenzuweisungen <strong>der</strong> in den letzten drei<br />

Jahrzehnten ‚vor’-gelebten Praxis <strong>der</strong> Regierungschefs. <strong>Die</strong>se nun auch in die Liste <strong>der</strong><br />

Organe <strong>der</strong> Union aufgenommene Institution (Artikel I-19 Abs. 1) wird nun auch beim<br />

hauptamtlichen Präsidenten des <strong>Europäischen</strong> Rats (Artikel I-22 Abs. 1) und beim<br />

Außenminister <strong>der</strong> Union (Artikel I-28 Abs. 1) zum Wahlgremium; in vielen Politikbereichen<br />

sollen die Regierungschefs die „Zielvorstellungen“ und „Prioritäten“ (Artikel I-21 Abs. 1 und<br />

Artikel III-293 Abs. 1) festlegen. In bestimmten Fragen <strong>der</strong> Innen- und Justizpolitik (z.B. Art.<br />

III-270), <strong>der</strong> Sozialpolitik (Art.III-136) und in <strong>der</strong> GASP (Art. III-300 Abs. 2d) wird er zur<br />

obersten Berufungsinstanz, wenn ein Mitgliedstaat ein Veto einlegt. In offenen Fragen <strong>der</strong><br />

<strong>institutionelle</strong>n <strong>Architektur</strong> – so bei <strong>der</strong> Verteilung <strong>der</strong> Sitze im Parlament (Art. I-20 Abs. 2)<br />

sowie bei Zusammensetzung (Art. I-24 Abs.4) und beim Vorsitzes des Rats (Art. I-24 Abs. 7)<br />

– entscheidet <strong>der</strong> Europäische Rat über die jeweilige konkrete Ausgestaltung. In <strong>der</strong> Rolle als<br />

„konstitutioneller Architekt“ 42 hat die Regierungskonferenz den Spielraum des <strong>Europäischen</strong><br />

Rats gegenüber dem Entwurf des Konvents verringert: bei dem „vereinfachten Verfahren zur<br />

Än<strong>der</strong>ung des Vertrags“ (Art. IV-444), <strong>nach</strong> dessen Regeln er einen Wechsel von <strong>der</strong><br />

Einstimmigkeit zur Mehrheitsabstimmung im Rat bzw. von einem „beson<strong>der</strong>en“ zu einem<br />

„ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ beschließt, hat die Regierungskonferenz den<br />

<strong>Europäischen</strong> Rat von dem Wohlwollen jedes nationalen Parlaments abhängig gemacht, da<br />

jedes mit einem Einspruch die Initiative aufhalten kann (Art. IV-444 Abs. 3).<br />

Stärken wollen die Regierungschefs ihre Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit: Mit einem<br />

hauptamtlichen Präsidenten, dessen Aufgaben interpretationsoffen angelegt sind (Art. I-22<br />

Abs. 2), könnte <strong>der</strong> Europäische Rat versucht sein, <strong>nach</strong>haltiger in die normale Arbeit <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Organe hineinzuwirken.<br />

41<br />

Vgl. zur Analyse u.a. Philippe de Schoutheete: <strong>Die</strong> Debatte des Konvents über den <strong>Europäischen</strong> Rat, in:<br />

integration 4/2003, November 2003, S. 474; Wessels, <strong>Verfassung</strong>svertrag im Integrationstrend, S. 292.<br />

42<br />

Vgl. Wolfgang Wessels, Europäischer Rat, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Europa von A<br />

bis Z, Bonn 2002, S. 184-188, S. 186.


Zum Rat: neue Mehrheitsformel – verbesserte Gestaltungsfähigkeit?<br />

Zum Rat schreibt <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>svertrag mehrere, teils gravierende Än<strong>der</strong>ungen im<br />

Vergleich zu dem jetzt gültigen Vertrag fest. Geringfügig verän<strong>der</strong>t hat die<br />

Regierungskonferenz die Zusammensetzungen des Ministerrats (Artikel I-24); <strong>der</strong> vom<br />

Konvent vorgesehene Legislativrat wurde gestrichen. 43 Dem <strong>Europäischen</strong> Rat wurde die<br />

Aufgabe zugeteilt, mit <strong>der</strong> Ausnahme des Rats für Auswärtige Angelegenheiten über die<br />

Zusammensetzungen (Artikel I-24 Abs. 4) und den Vorsitz des Rats (Artikel I-24 Abs. 7) zu<br />

beschließen. Nach dem vorliegenden Entwurf eines entsprechenden Beschlusses des<br />

<strong>Europäischen</strong> Rats sollen Vertreter von jeweils drei Mitgliedstaaten den Vorsitz für einen<br />

Zeitraum von 18 Monaten wahrnehmen; diese sollen <strong>nach</strong> dem vertraglich verankerten<br />

Prinzip <strong>der</strong> gleichberechtigten Rotation „unter Berücksichtigung des politischen und<br />

geographischen Gleichgewichts in Europa und <strong>der</strong> Verschiedenartigkeit <strong>der</strong> Mitgliedstaaten“<br />

(Art. I-24 Abs. 7) festgelegt werden. Wesentliche Schritte zur Verbesserung <strong>der</strong> Kohärenz<br />

und Kontinuität sind von dieser Regelung gegenüber dem status quo nicht zu erwarten; auch<br />

von <strong>der</strong> vorgesehenen Mehrjahresplanung <strong>der</strong> Ratsarbeit werden – wertet man die bisherigen<br />

bemühungen in diese Richtung aus – keine Impulse zu einer Effizienzsteigerung ausgehen.<br />

Zu den von <strong>der</strong> Regierungskonferenz bestätigten Reformen des Rats gehört auch die<br />

Einführung eines „Außenministers <strong>der</strong> Union“ (Art. I-28): <strong>Die</strong>se Person soll durch die<br />

„Fusion“ des Amtes des Hohen Repräsentanten und des für Außenbeziehungen zuständigen<br />

Vizepräsidenten <strong>der</strong> Kommission in einem ‚Doppelhut‘ wesentliche Aufgaben beim<br />

„Auswärtigen Handeln <strong>der</strong> Union“ (Titel V in Teil III) übernehmen. 44 Unterstützt wird <strong>der</strong><br />

Außenminister dabei von einem „<strong>Europäischen</strong> Auswärtigen <strong>Die</strong>nst“ (Art. III-296 Abs. 3).<br />

Auf dem Gipfel beson<strong>der</strong>s umstritten waren die Regeln zur qualifizierten Mehrheit als dem<br />

zunehmend bedeutsamen Verfahren zur Beschlussfassung im Rat. <strong>Die</strong> Zahl <strong>der</strong> vertraglichen<br />

Angebote zu Mehrheitsabstimmungen hat auch diese Regierungskonferenz im Vergleich zu<br />

den gegenwärtig gültigen Bestimmungen um 44 neue Gebiete ausgedehnt (siehe Abbildung<br />

2) 45 Bis auf wenige Bereiche – so in <strong>der</strong> Innen- und Justizpolitik 46 – betreffen diese<br />

43 Vgl. Janis A. Emmanouilidis: Historically unique, unfinished in detail – An evaluation of the Constitution, in:<br />

Reform Spotlight <strong>der</strong> Bertelsmann Stiftung 03/2004, S. 3, http://www.euintegration.net/data/comp_files/181/<br />

Reformspotlight-03-04-en-pdf_040629_fisc38.pdf.<br />

44 Vgl. zur Analyse Mathias Jopp/Elfriede Regelsberger: GASP und ESVP im <strong>Verfassung</strong>svertrag – eine neue<br />

Angebotsvielfalt mit Chancen und Mängeln, in: integration 4/2003, S. 550-564; de Schoutheete: <strong>Die</strong> Debatte des<br />

Konvents über den <strong>Europäischen</strong> Rat, S. 474-478; Wolfgang Wessels: Eine <strong>institutionelle</strong> <strong>Architektur</strong> für eine<br />

globale (Zivil-)Macht? <strong>Die</strong> Artikel zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik des Vertrags über eine<br />

<strong>Verfassung</strong> für Europa, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 3/2003, S. 400-430.<br />

45 Hänsch: Ein kleiner Schritt, S. 1.<br />

46 Vgl.u.a. Duff, The Constitution and the IGC, S. 2.


Ausweitungen primär die Durchführungsmaßnahmen in bestehenden Politikfel<strong>der</strong>n, 47 zu<br />

denen auch die Beschlussfassung zu den Struktur- und Kohäsionsfonds zählen wird. 48<br />

Intensivere Verhandlungen fanden jedoch zu Materien statt, die als zentral für die<br />

Souveränität einzelner Staaten deklariert wurden; die Außen- und Verteidigungspolitik (Art.<br />

I-40 Abs. 7) sowie die Sozial- und Steuerpolitik (Art. III-210 Abs. 3), aber auch die<br />

Grundentscheidungen zum mehrjährigen Finanzrahmen (Art. I-55) bleiben zunächst <strong>der</strong><br />

Einstimmigkeit unterworfen. 49<br />

Abbildung 2: Entwicklung des Entscheidungsmodus ‚Qualifizierte Mehrheit’ im Rat<br />

1952-2007/09<br />

200<br />

180<br />

160<br />

140<br />

120<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

5<br />

EGKS<br />

1952<br />

26<br />

EWG<br />

1958<br />

51<br />

99<br />

Quelle: Eigene Zusammenstellung Funda Tekin, Jean Monnet Lehrstuhl, 2004, basierend auf Maurer/Wessels:<br />

Das Europäische Parlament <strong>nach</strong> Amsterdam und Nizza, Tabelle 1, S. 52.<br />

Bei den zur Macht- und Prestigefrage erklärten Bedingungen für eine qualifizierten Mehrheit<br />

im <strong>Europäischen</strong> Rat und im Rat (Art. I-25) 50 mussten die Regierungschefs selbst einen<br />

Kompromiss suchen. Konsens wurde schließlich durch eine Steigerung <strong>der</strong> Komplexität<br />

erreicht. Gegenüber dem gegenwärtig gültigen Vertrag von Nizza ist mit dem einfacher<br />

<strong>nach</strong>vollziehbaren System einer „doppelten Mehrheit“ eine deutliche Effizienzsteigerung zu<br />

erwarten; aber gegenüber dem klareren Vorschlag des <strong>Verfassung</strong>skonvents sind die neuen<br />

Regelungen infolge <strong>der</strong> Höhersetzung von Schwellenwerten und durch prozedurale<br />

47 The CER guide to the EU’s constitutional treaty, S. 2.<br />

48 vgl. u.a. Duff, The Constitutional Treaty and the IGC, S. 2.<br />

49 Vgl. zu diesen Listen fast gleichlautend mit unterschiedlichen Bewertungen Ahern, Statement, S. 4;<br />

Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schrö<strong>der</strong>, Berlin 2004, S. 3; Blair, Erklärung, S. 1.<br />

50 Vgl. u.a. Alain Lamassoure: Histoire secrète de la Convention Européenne, Paris 2004, S. 401-403; Peter<br />

Norman: The Accidental Constitution, Brüssel 2003, S. 98-105, S. 143-145 und S. 314.<br />

105<br />

137<br />

181<br />

EEA 1987 EUV 1993 EUV 1999 EUV 2003 VVE<br />

2007/09<br />

Qualifizierte<br />

Mehrheit


Ergänzungen schwieriger zu verstehen und auch schwerfälliger zu handhaben. Erhöht haben<br />

die Regierungschefs die Hürden für die qualifizierte Mehrheit: im Rat zu erreichen sind 55%<br />

<strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des Rats, die mindestens 65% <strong>der</strong> EU Bevölkerung repräsentieren. Als<br />

zusätzliche Bedingungen, die wohl den kleineren Mitgliedstaaten ein relativ größeres Gewicht<br />

zusprechen soll, wurde eingeführt, dass bei dem ersten Kriterium mindestens 15<br />

Mitgliedstaaten zustimmen müssen und dass im Falle des Bevölkerungsindikators mindestens<br />

vier Mitgliedstaaten eine Sperrminorität bilden müssen. Rechnerisch bedeutet diese<br />

Zusatzbedingung, dass die Bevölkerungsanteile <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs<br />

und Großbritanniens von knapp 42% nicht ausreichen, eine Sperrminorität aufzubauen, diese<br />

müssen noch einen vierten Staat zu einem Veto bewegen. In einer <strong>der</strong>artigen – wenig<br />

wahrscheinlichen – Konstellation würde dann ein Beschluss des Rats auch mit weniger als<br />

65% <strong>der</strong> vertretenen Unionsbürger getroffen werden können. Noch höher ist die Schwelle <strong>der</strong><br />

Mitgliedstaaten für im Vertrag vorgesehene Beschlüsse angesetzt, die nicht auf Vorschlag <strong>der</strong><br />

Kommission o<strong>der</strong> des Außenministers erfolgen (Artikel I-25 Abs. 2).<br />

Für die mögliche Nutzung in <strong>der</strong> gelebten <strong>Verfassung</strong>spraxis <strong>der</strong> Zukunft ist auch ein<br />

Beschluss des Rates über die Anwendung dieses Artikels heranzuziehen, <strong>der</strong> die Interessen<br />

von Staaten in Min<strong>der</strong>heitenpositionen noch weiter schützen soll. Im Geiste des Luxemburger<br />

Kompromisses 51 und in Fortsetzung des Protokolls von Ioannina 52 haben die Regierungschefs<br />

ein suspensives Veto vorgesehen, „wenn Mitglie<strong>der</strong> des Rats, die mindestens über drei Viertel<br />

<strong>der</strong> Bevölkerungsanteile o<strong>der</strong> drei Viertel <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> Mitgliedstaaten vertreten, die für die<br />

Bildung einer Sperrminorität erfor<strong>der</strong>lich sind“, (d.h. 26 % <strong>der</strong> Unionsbürger) gegen eine<br />

Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit plädieren, wird <strong>der</strong> Rat, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Präsident<br />

mit Unterstützung des Kommission „alles in seiner Macht stehende tun, […] eine zufrieden<br />

stellende Lösung zu finden.“ Dabei sind jedoch „zwingende Fristen“ (Erklärung zu Art. I-25<br />

Art. 2) <strong>der</strong> Vertragsverfahren zu beachten. <strong>Die</strong>sen zusätzlichen Beschluss kann <strong>der</strong> Rat mit<br />

qualifizierter Mehrheit im Jahre 2014 aufheben.<br />

Eine spezifische Form eines nationalen Vetos sieht <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>svertrag – wie bisher auch<br />

– bei den wenigen Möglichkeiten von Mehrheitsabstimmungen in <strong>der</strong> GASP vor (Artikel III-<br />

300 Abs. 2); ähnliche Formen einer Notbremse hat die Regierungskonferenz nun auch für drei<br />

weitere sensible Politikfel<strong>der</strong> vorgesehen, für die in Zukunft die qualifizierte Mehrheit gelten<br />

soll: bei möglichen Auswirkungen auf „die Kosten und Finanzstruktur seines Systems <strong>der</strong><br />

51 Vgl. Weidenfeld/Wessels, Europa von A bis Z, S. 409.<br />

52 Vgl. Europäisches Parlament: Weißbuch zur Regierungskonferenz 1996, Absatz 2.2: Rat <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong><br />

Union vom 29. März 1994 und Vereinbarung von Ioannina, unter: http://www.europarl.eu.int/igc1996/postoc_de.htm.


sozialen Sicherheit“ (Artikel III-136 Abs. 2) o<strong>der</strong> bei „grundlegenden Aspekten seiner<br />

Strafrechtsordnung“ im Rahmen <strong>der</strong> justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Artikel III-<br />

271 Abs. 3) kann ein Mitgliedstaat vor einer Abstimmung im Rat die Befassung des<br />

<strong>Europäischen</strong> Rats beantragen. <strong>Die</strong>se politikfeldbezogenen Formulierungen dokumentieren<br />

erneut die Haltung vieler Mitgliedstaaten, durch Rückfalloptionen Möglichkeiten für eine<br />

gemeinsame Problemverarbeitung langsam und vorsichtig abzutasten.<br />

<strong>Die</strong> Bewertung dieses Regelsatzes zur Erreichung einer gestaltenden Mehrheit ist abhängig<br />

von Annahmen über reale Verhaltensmuster von Regierungen im Rat und damit insbeson<strong>der</strong>e<br />

von <strong>der</strong> Anwendungswahrscheinlichkeit in <strong>der</strong> gelebten Praxis. Gegenüber <strong>der</strong> landläufigen<br />

Meinung, dass <strong>der</strong> Rat immer auf Konsens ausgerichtet ist und damit Abstimmungen nur<br />

eine ‚theoretische’ Möglichkeit – eine leere Drohung – darstellen, ist auf durchaus übliche<br />

und akzeptierte Abstimmungsmuster zu verweisen, <strong>nach</strong> denen 8 und 20% <strong>der</strong> möglichen<br />

Abstimmungen auch tatsächlich ausgeführt werden (siehe Abbildung 3). Nach diesen<br />

Erfahrungen stehen Verhandlungen im Rat bei den entsprechenden Regelwerken auch immer<br />

im Schatten möglicher Abstimmungen; marginalisierte Staaten müssen sich damit auf ein<br />

Überstimmt-Werden einrichten: Minister und Beamte müssen bei ihren Strategien insofern<br />

immer das Risiko einer marginalisierten Min<strong>der</strong>heitenposition bedenken. 53<br />

Abbildung 3: „Reale Anwendung“ des qualifizierten Mehrheitsverfahrens<br />

Rechtsakte des Rates<br />

gesamt<br />

QMV real<br />

angewandt<br />

Anteil Anwendung<br />

QMV/Rechtsakte<br />

insgesamt<br />

1999 327 31 9,48 %<br />

2000 191 16 8,38 %<br />

2001 187 20 10,7 %<br />

2002 193 16 8,29 %<br />

2003 195 29 14,87 %<br />

Quelle: Monatliche Aufstellung <strong>der</strong> Rechtsakte des Rates; http://ue.eu.int<br />

(Tabelle aufbauend auf Maurer/Wessels: Fifteen into One, S. 47)<br />

Mit den Bedingungen für die qualifizierte Mehrheit, wie sie im gültigen Vertrag von Nizza<br />

festgeschrieben wurden, sinkt das Risiko, überstimmt werden zu können <strong>nach</strong>haltig, bzw.<br />

umgekehrt formuliert wird die Wahrscheinlichkeit, eine qualifizierte Gestaltungsmehrheit zu<br />

finden, zumindest statistisch erheblich reduziert (siehe Abbildung 4). 54 <strong>Die</strong> Möglichkeit, eine<br />

53 Vgl. u.a. Fiona Hayes-Renshaw/Helen Wallace: The Council of Ministers, New York 1997.<br />

54 Vgl. zu diesen Ausführung insbeson<strong>der</strong>e Richard Baldwin/Mika Widgren: Another failure in the making,<br />

unter: http://www.euractiv.com/ndbtext/eufuture/18jun04essay.pdf, 2004; dies.: Council voting in the<br />

Constitutional Treaty: Devil in the details, unter: http://www.cepr.org/content/en/articles/


eschlussfähige Mehrheitskoalition im Rat zu finden, wird in den nächsten Jahren auf einen<br />

historischen Tiefstand fallen. Nach statistischen Wahrscheinlichkeiten wird es doppelt so<br />

schwer sein, die Schwellen zu überspringen wie bei <strong>der</strong> EU 15. 55 Von diesem Regelsatz geht<br />

ein starker Druck auf Einstimmigkeit aus.<br />

Abbildung 4: Statistische Annahmewahrscheinlichkeit von Entscheidungen im Rat<br />

Annahmewahrscheinlichkeit<br />

25,0%<br />

20,0%<br />

15,0%<br />

10,0%<br />

5,0%<br />

0,0%<br />

EU6 EU9 EU10 EU12 EU15 EU25 EU27 EU28<br />

Historisch 21,9% 14,7% 13,7% 9,8% 7,8%<br />

Nach Nizza: Nov. 2004 - Nov. 2009 3,6% 2,1%<br />

Nach dem VVE: ab Nov. 2009 10,1% 12,9% 11,2%<br />

Quelle: Baldwin/Widgrén: Council voting in the Constitutional Treaty, S. 5. <strong>Die</strong> Balken zeigen die<br />

Wahrscheinlichkeit an, mit <strong>der</strong> ein zufällig gewählter Sachverhalt vom Ministerrat angenommen wird. In einer<br />

EU-25 gibt es über 33 Millionen verschiedener möglicher Kombinationen von ‚Ja‘- und ‚Nein‘-Stimmen. In<br />

einer 27er Union sind es sogar über 134 Millionen. Vgl. ebd., S. 3, Anm. 2.<br />

<strong>Die</strong> nun im VVE vereinbarten Regeln würden dagegen die Möglichkeiten wesentlich<br />

zugunsten einer gestaltenden Mehrheit verän<strong>der</strong>n (siehe Abbildung 4). <strong>Die</strong>ser statistisch<br />

bestimmte Raum von Abstimmungskombinationen determiniert jedoch nicht automatisch das<br />

Verhalten <strong>der</strong> Akteure im Rat, wie die Auswirkung des Luxemburger Kompromisses auf die<br />

Einstimmigkeit als Regelfall zwischen 1966 und 1986 belegt. 56 Geht man jedoch von <strong>der</strong> in<br />

den letzten Jahrzehnten etablierten Praxis von Abstimmungen als einer durchaus erwartbaren<br />

Möglichkeit aus, so werden Politiker und Beamte eine auf Dauer berechenbare Strategie<br />

showarticle.php?ArticleID=10; Werner Kirsch: What is a fair distribution of power in the Council of Ministers<br />

of the EU?, Bochum 2004.<br />

55<br />

Vgl. u.a. Wolfgang Wessels: <strong>Die</strong> Vertragsreformen von Nizza. Zur <strong>institutionelle</strong>n Erweiterungsreife, in<br />

integration 1/2001, S. 8-25, S. 12-14.<br />

56<br />

Christian Engel/Christine Borrmann: Vom Konsens zur Mehrheitsentscheidung, EG-Entscheidungsverfahren<br />

und nationale Interessenpolitik <strong>nach</strong> <strong>der</strong> Einheitlichen <strong>Europäischen</strong> Akte, Bonn 1991.


suchen. Abbildung 5 verdeutlicht einige Möglichkeiten, blockierende Sperrminoritäten o<strong>der</strong><br />

gestaltende qualifizierte Mehrheiten zu erreichen.<br />

Abbildung 5: Modelle für gestaltende Mehrheiten und Sperrminoritäten im Rat in <strong>der</strong><br />

EU-27 (<strong>nach</strong> dem VVE)<br />

Anzahl<br />

<strong>der</strong> Staaten<br />

Bevölkerungsquote<br />

EU-27<br />

gesamt<br />

Gestaltende<br />

Mehrheit<br />

Sperrminorität<br />

EU-6 6 22,22% 46,87% Nein Ja<br />

EU-9 9 33,33% 61,10% Nein Ja<br />

EU-12 12 44,44% 74,00% Nein Ja<br />

EU-15 15 55,56% 78,60% Ja Ja<br />

EU-25 25 92,59% 93,90% Ja Ja<br />

EU-27 27 100% 100% Ja Ja<br />

NATO-Staaten 21 77,78% 94,34% Ja Ja<br />

3 größte MS<br />

(D, GB, F)<br />

Mittelmeerraum<br />

(P, E, F, I, GR, CY, MA)<br />

Ostseeanrainer<br />

(D, DK, S, SF, ES, LIT, LAT)<br />

3 11,11% 41,69% Nein<br />

Nein<br />

(kein 4. MS)<br />

7 25,93% 37,37% Nein Ja<br />

7 25,93% 29,35% Nein Nein<br />

MS mit soz. Regierungen a)<br />

(D, GB, E, PL, CR, B, H, S, LIT,<br />

SLO, CY, RO)<br />

12 44,44% 57,47% Nein Ja<br />

MS mit kons. Regierungen a)<br />

(F, I, NL, GR, P, A, SR, DK, SF,<br />

IRE, LAT, ES, LUX, MA, BL)<br />

15 55,56% 42,53% Nein Ja<br />

„New“ Europe b)<br />

(GB, I, PL, NL, BL, DK, CR, H, RO,<br />

LIT, P, SR, ES)<br />

13 48,15% 51,06% Nein Ja<br />

„Old“ Europe b)<br />

(D, F, E, GR, B, S, A, SF, IRE, LAT,<br />

SLO, CY, LUX, MA)<br />

14 51,85% 48,94% Nein Ja<br />

Alte Nettozahler<br />

(D, F, GB, NL, A, S)<br />

6 22,22% 38,45% Nein Ja<br />

Nettoempfänger 21 77,78% 61,55% Nein Ja<br />

Mitteleuropa<br />

(D, A, PL, CR, SR, H, LIT, LAT,<br />

ES)<br />

9 33,33% 33,37% Nein Nein<br />

a) Stand: 13. Juli 2004.<br />

b) Gemeint sind im Sinne <strong>der</strong> Definition von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Staaten mit<br />

im Irak stationierten Soldaten (Stand Juli 2004).<br />

Quelle: Zusammenstellung <strong>nach</strong> Berechnungen von Ingo Linsenmann und Thomas Latschan, Jean Monnet<br />

Lehrstuhl 2004, basierend auf den Bevölkerungszahlen in Abbildung 6.


Abbildung 6: Bevölkerungsverteilung in <strong>der</strong> 27er Union<br />

Mitgliedstaaten<br />

EU-27<br />

Bevölkerung in<br />

Mio. Ew.<br />

Bev. in %<br />

bei EU 27<br />

Deutschland 82,55 17,04%<br />

Großbritannien 59,52 12,29%<br />

Frankreich 59,90 12,36%<br />

Italien 57,48 11,87%<br />

Spanien 40,98 8,46%<br />

Polen 38,19 7,88%<br />

Rumänien 21,72 4,48%<br />

Nie<strong>der</strong>lande 16,26 3,36%<br />

Griechenland 11,05 2,28%<br />

Tschechien 10,21 2,11%<br />

Ungarn 10,12 2,09%<br />

Belgien 10,40 2,15%<br />

Portugal 10,48 2,16%<br />

Schweden 8,97 1,85%<br />

Stand: Juli 2004.<br />

Mitgliedstaaten<br />

EU-27<br />

Bevölkerung<br />

in Mio. Ew.<br />

Bev. in %<br />

bei EU 27<br />

Bulgarien 7,80 1,61%<br />

Österreich 8,09 1,67%<br />

Slowakei 5,38 1,11%<br />

Dänemark 5,40 1,11%<br />

Finnland 5,22 1,08%<br />

Litauen 3,45 0,71%<br />

Irland 4,02 0,83%<br />

Lettland 2,32 0,48%<br />

Slowenien 2,00 0,41%<br />

Estland 1,35 0,28%<br />

Zypern 0,73 0,15%<br />

Luxemburg 0,45 0,09%<br />

Malta 0,40 0,08%<br />

Summe EU 27 484,41 100,0%<br />

Angesichts <strong>der</strong>artiger Koalitionen, die deutlich die Möglichkeiten zur Verhin<strong>der</strong>ung von<br />

Mehrheiten aufweisen, sind die politischen Folgen <strong>der</strong> Stimmgewichtung im Rat intensiv zu<br />

diskutieren. Nutzt man erneut statistische Modellrechnungen, so sind die Verschiebungen im<br />

potentiellen Stimmgewicht zwischen den Mitgliedstaaten von erheblicher Bedeutung (siehe<br />

Abbildung 7).<br />

Abbildung 7: Gewinner und Verlierer in <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong>zahl des Ministerrats: Vergleich<br />

des status quo mit dem VVE<br />

Machtverschiebung<br />

5,0%<br />

4,0%<br />

3,0%<br />

2,0%<br />

1,0%<br />

0,0%<br />

-1,0%<br />

-2,0%<br />

-3,0%<br />

-4,0%<br />

-5,0%<br />

4,3%<br />

D<br />

1,1%<br />

GB<br />

1,1%<br />

F<br />

0,9%<br />

I<br />

-0,2%<br />

E<br />

-0,3%<br />

PL<br />

-0,7%<br />

NL<br />

-1,3%<br />

GR<br />

-1,3%<br />

CR<br />

-1,4%<br />

B<br />

-1,4%<br />

H<br />

-1,4%<br />

-0,8%<br />

-0,9%<br />

-0,3%<br />

Machtverschiebung, status quo <strong>nach</strong> dem VVE<br />

Quelle: Baldwin/Widgren, Council voting in the Constitutional Treaty, 2004, S. 5. <strong>Die</strong> Abbildung zeigt die<br />

Machtverschiebungen zwischen den Mitgliedstaaten im Ministerrat (Vergleich Status quo und VVE).<br />

P<br />

S<br />

A<br />

SR<br />

-0,3%<br />

DK<br />

-0,4%<br />

SF<br />

-0,5%<br />

IRE<br />

-0,5%<br />

LIT<br />

-0,7%<br />

LAT<br />

-0,7%<br />

SLO<br />

-0,8%<br />

ES<br />

-0,1%<br />

CY<br />

-0,1%<br />

LUX<br />

-0,1%<br />

MA


Im Vergleich zum System <strong>der</strong> gewogenen Stimmen des Unionsvertrags von Nizza wird das<br />

Machtgleichgewicht zugunsten <strong>der</strong> großen, da bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten<br />

verschoben. Auch die noch beim Gipfel in Nizza vom französischen Staatspräsidenten<br />

vehement verteidigte Stimmengleichheit zwischen Deutschland und Frankreich 57 wird<br />

zugunsten Deutschlands verschoben; <strong>der</strong> Status als ‚fast’ große Staaten, den Spanien und<br />

Polen erzielt hatten, wird nun wie<strong>der</strong> zurückgedreht. Verlierer sind aber insbeson<strong>der</strong>e<br />

mittelgroße Staaten um die zehn Millionen Einwohner. Bei <strong>der</strong> im VVE festgeschriebenen<br />

Form <strong>der</strong> doppelten Mehrheit – selbst mit <strong>der</strong> zusätzlichen Bedingung eines vierten Landes<br />

für die Ereichung einer blockierenden Min<strong>der</strong>heit – ist Deutschland vergleichsweise <strong>der</strong> große<br />

Gewinner: sein Gewicht nimmt mehr zu als das <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en großen Staaten zusammen. 58 Eine<br />

blockierende Min<strong>der</strong>heit ist für die Bundesregierung relativ einfach zu erreichen, falls sie<br />

feste Absprachen mit an<strong>der</strong>en größeren Staaten und einem kleineren Land eingeht (siehe<br />

Abbildung 5 oben). Unter dem Eindruck einer <strong>der</strong>artigen Machtverschiebung hat <strong>der</strong><br />

Bundeskanzler einer Reduzierung <strong>der</strong> Sitze für deutsche Abgeordnete im <strong>Europäischen</strong><br />

Parlament um drei zugestimmt. 59 Für eine gestaltende Mehrheit wird die Bundesrepublik<br />

dagegen eine breite Koalition anzustreben haben.<br />

Insgesamt for<strong>der</strong>t <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>svertrag im Rat – wie im <strong>Europäischen</strong> Parlament – jeweils<br />

hohe Mehrheiten, die die Handlungsfähigkeit zu Gunsten eines hohen Zustimmungsbedarfs<br />

verringern.<br />

Zur Kommission: gelenktes Großteam o<strong>der</strong> Gruppenbildungen?<br />

Ein beson<strong>der</strong>er Streitpunkt in <strong>der</strong> Regierungskonferenz war auch die Zahl <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Europäischen</strong> Kommission. Zwischen den Polen eines großen Gremiums mit einer<br />

‚repräsentativen’ Besetzung und eines kleineren Organs mit höherer Handlungsfähigkeit<br />

entschied sich die Regierungskonferenz gegen den wenig überzeugenden<br />

Kompromissvorschlag des Konvents 60 und für das beliebte Mittel einer Aufschiebung <strong>der</strong><br />

endgültigen Entscheidung: <strong>nach</strong> Artikel I-26 Abs. 6 wird bis 2014 je<strong>der</strong> Mitgliedstaat einen<br />

Kommissar vorschlagen können; da<strong>nach</strong> wird die Zusammensetzung auf zwei Drittel <strong>der</strong><br />

57 Vgl. u.a. Florence Deloche-Gaudez/Christian Lequesne: Frankreich, in: Weidenfeld/Wessels, Jahrbuch <strong>der</strong><br />

<strong>Europäischen</strong> Integration 2000/2001, Bonn 2001, S. 337-344, S. 338.<br />

58 Baldwin/Widgren: Council voting in the Constitutional Treaty, S. 6.<br />

59 Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schrö<strong>der</strong> zur Einigung <strong>der</strong> Staats- und Regierungschefs <strong>der</strong><br />

<strong>Europäischen</strong> Union auf eine Europäische <strong>Verfassung</strong>, Berlin 02.07.04, unter:<br />

http://www.bundesregierung.de/Audio_Video/-,413.677387/dokument.htm, S. 3.<br />

60 Vgl. Brok: Der Konvent, S. 341; Eckart Cuntz: Ein ausgewogener Gesamtkompromiss: <strong>Die</strong> Ergebnisse des<br />

Konvents aus Sicht <strong>der</strong> Bundesregierung, in: integration, 4/2003, S. 351-356, S. 353; Joachim Schild: <strong>Die</strong><br />

Reform <strong>der</strong> Kommission: Vorschläge des Konvents, in: integration, 4/2003, S. 493-500, S. 498; Wessels, Der<br />

<strong>Verfassung</strong>svertrag im Integrationstrend, S. 295.


Anzahl <strong>der</strong> Mitgliedstaaten verringert; die <strong>nach</strong> einem System <strong>der</strong> gleichberechtigten Rotation<br />

ausgewählt werden sollen. Freilich kann <strong>der</strong> Europäische Rat diese Zahl nochmals einstimmig<br />

än<strong>der</strong>n. Folgt man Annahmen über die Interessenlage von Regierungschefs, so ist zu<br />

erwarten, dass <strong>der</strong> Europäische Rat im Vorfeld des Jahres 2014 diese Entscheidung<br />

rückgängig machen und bei dem bisherigen System eines Mitglieds pro Staat bleiben wird:<br />

Auch die Regierungschefs des Jahres 2014 werden sich nicht <strong>der</strong> Chance berauben wollen, für<br />

ein <strong>der</strong>artig wichtiges Organ einen Politiker vorzuschlagen. Patronagemacht und <strong>der</strong> davon<br />

erwartete dauernde Einfluss sind schließlich zentrale Instrumente jeglicher Regierungspolitik.<br />

Auch <strong>der</strong> Legitimität <strong>der</strong> Kommission ist ein Ein-Mitglied-pro-Staat-Prinzip nicht<br />

abträglich. 61<br />

Angesichts dieser Vergrößerung <strong>der</strong> Kommission hat die Regierungskonferenz die Aufgaben<br />

des Präsidenten und seine Rechte innerhalb des Kollegiums (Art. I-27) erneut gestärkt – bis<br />

hin zur Möglichkeit, einzelne ‚Kollegen’ nur durch eine von ihm selbst zu verantwortende<br />

Auffor<strong>der</strong>ung zu entlassen (Art. I-27 Abs. 3). <strong>Die</strong> Rechte des designierten Präsidenten bei <strong>der</strong><br />

Auswahl seiner Kollegen werden jedoch – entgegen den Vorschlägen des Konvents – auf ein<br />

„Einvernehmen“ mit dem Rat beschränkt (Art. I-27 Abs. 2). Geht man von einem<br />

Spannungsdreieck zwischen einem Kollegialsystem, einer fachlichen Verantwortung jedes<br />

Kommissars und einem Führungsanspruch des Präsidenten aus, wird <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>svertrag<br />

die Position des Präsidenten stärken; weiter zu beobachten wird sein, ob und wie <strong>der</strong> Präsident<br />

sein großes Team lenken kann. Angesichts <strong>der</strong> Größe und Heterogenität <strong>der</strong> Kommission ist<br />

die Herausbildung von einzelnen mehr o<strong>der</strong> weniger festen Gruppierungen nicht<br />

auszuschließen. Unklarer ist, anhand welcher Kriterien sich <strong>der</strong>artige informelle Koalitionen<br />

bilden könnten: <strong>nach</strong> persönlichen Vertrauen, <strong>nach</strong> fachlicher Zuordnung, <strong>nach</strong><br />

parteipolitischen Präferenzen, <strong>nach</strong> mitgliedstaatlichen Interessen o<strong>der</strong> <strong>nach</strong> einer Mischung<br />

mehrerer dieser Kriterien.<br />

EUGH und nationale Parlamente: Stärkung alter und neuer Mitspieler<br />

Der <strong>Verfassung</strong>svertrag wird auch die Rolle des <strong>Europäischen</strong> Gerichtshofes (EUGH)<br />

stärken. 62 <strong>Die</strong> Jurisdiktion dieses Organs, das die Qualität <strong>der</strong> Union als Rechtsgemeinschaft<br />

sichert, wird auf weitere Politikfel<strong>der</strong> – insbeson<strong>der</strong>e in Fragen <strong>der</strong> Innen- und Justizpolitik –<br />

ausgedehnt. Ausgebaut werden auch Möglichkeiten zum Individualrechtschutz.<br />

61 Vgl. The CER guide to the EU’s constitutional treaty, S.3.<br />

62 Vgl. Thomas Läufer: Der Europäische Gerichtshof – mo<strong>der</strong>ate Neuerungen des <strong>Verfassung</strong>sentwurfs, in:<br />

integration 4/2003, S. 510-519; Müller Graff, Strukturmerkmale des neuen <strong>Verfassung</strong>svertrages.


Eingefügt in die <strong>institutionelle</strong> <strong>Architektur</strong> hat die Regierungskonferenz eine Beteiligung <strong>der</strong><br />

nationalen Parlamente: als „Subsidiaritätswächter“ 63 können sie in einem Frühwarnsystem mit<br />

späterem Klagerecht die Gesetzgebung <strong>der</strong> Union in den Bereichen <strong>der</strong> geteilten<br />

Zuständigkeit beeinflussen 64 (Artikel 5 bis 7 des Protokolls über die Anwendung <strong>der</strong><br />

Grundsätze <strong>der</strong> Subsidiarität und <strong>der</strong> Verhältnismäßigkeit). Außerdem erhält nun auch jedes<br />

nationale Parlament ein Veto-Recht im Falle eines vereinfachten Verfahren zur Än<strong>der</strong>ung des<br />

Vertrages (Artikel IV-444 Abs. 3). Der Zuwachs an Rechten für nationale Parlamente wird<br />

von vielen Akteuren 65 und Beobachtern als Steigerung <strong>der</strong> demokratischen Verfahren<br />

begrüßt; zu beobachten wird sein, ob die nationalen Parlamente die organisatorischen und<br />

politischen Voraussetzungen für eine konstruktive Mitwirkung schaffen können, die sinnvoll<br />

zu einer europäischen Debatte beiträgt, ohne die Transparenz <strong>der</strong> EU-<br />

Gesetzgebungsverfahren zu verringern.<br />

Neue Formen <strong>der</strong> Flexibilisierung: Das Verfahren <strong>der</strong> „Ständig strukturierten<br />

Zusammenarbeit“<br />

Angesichts <strong>der</strong> Unsicherheit über eine ausreichende Handlungsfähigkeit in einer immer<br />

größeren Union wird seit <strong>der</strong> ersten Erweiterungsrunde immer wie<strong>der</strong> über Formeln zur<br />

Flexibilisierung zwischen den Mitgliedstaaten diskutiert. 66 Auch <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>svertrag hat<br />

<strong>der</strong>artige Formen <strong>der</strong> Flexibilisierung bestätigt, handhabbarer gestaltet und ausgebaut (Art. I-<br />

41 Abs. 6; Art. I-44). 67 In <strong>der</strong> Vielzahl und Vielfalt von „opt outs“, „opt ins“, „Notbremsen“<br />

und „Beschleunigern“ wird sogar ein Markenzeichen des <strong>Verfassung</strong>svertrags gesehen. 68<br />

Insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> GASP wie in dem Kapitel zur Innen- und Justizpolitik sind entsprechende<br />

Möglichkeiten vorgezeichnet. Aber auch für die Eurozone werden de facto Entwicklungen<br />

nun zu de jure Bestimmungen (Art.III-194); vorgesehen wird in einem Protokoll zur<br />

Eurogruppe auch die Benennung eines „Herrn“ o<strong>der</strong> einer „Frau Euro“ als Vertreter dieser<br />

Gruppe.<br />

63 Annette Elisabeth Töller: Dimensionen <strong>der</strong> Europäisierung – Das Beispiel des Deutschen Bundestags, in:<br />

Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 1, Jahrgang 35 , März 2004, Wiesbaden, S. 25-50, S. 50.<br />

64 Vgl. Maurer/Wessels: Das Europäische Parlament <strong>nach</strong> Amsterdam und Nizza, S. 229-231; Andreas Maurer:<br />

<strong>Die</strong> nationalen Parlamente im <strong>Europäischen</strong> <strong>Verfassung</strong>svertrag. Anfor<strong>der</strong>ungen für die proaktive Ausgestaltung<br />

<strong>der</strong> Parlamente. SWP-Diskussionspapier, Mai 2004, http://www.swp-berlin.org/common/<br />

get_document.php?id=861&PHPSESSID= 1311c2008e6bc012a83ffeb2c541a507.<br />

65 Blair, Erklärung; Schrö<strong>der</strong>, Regierungserklärung; Ahern, Statement; Jacques Chirac: Constitution pour<br />

l’Europe, Paris, 19. Juni 2004, http://diplomatie.gouv.fr/actu/article.asp?art=42838.<br />

66 Heinrich Schnei<strong>der</strong>: „Kerneuropa“. Ein aktuelles Schlagwort und seine Bedeutung. EI Working Paper Nr. 54<br />

<strong>der</strong> Wirtschaftsuniversität Wien, Februar 2004; Udo <strong>Die</strong>drichs/Wolfgang Wessels: Europäische Union, in:<br />

Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels: Europa von A-Z. Taschenbuch <strong>der</strong> europäischen Integration, Bonn<br />

2002 8 , S. 166-175.<br />

67 Vgl.Emmanouilidis/Giering, In Vielfalt geeint.<br />

68 The CER guide to the EU’s constitutional treaty, S. 1 und 3.


Eine spezifische Dynamik legt <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>svertrag in einer Kombination an, die von <strong>der</strong><br />

Nutzung <strong>der</strong> „Notbremse“ durch einen Mitgliedstaat zur Anwendung eines „Beschleunigers“<br />

für eine Gruppe von mindestens einem Drittel aller Mitgliedstaaten führt: 69 <strong>Die</strong> Blockade<br />

durch ein Veto kann dann <strong>nach</strong> mehreren Verfahrensschritten zur Ermächtigung einer<br />

verstärkten Zusammenarbeit führen.(Art. III-271 Abs.4). Mit diesem Regelwerk wird ein<br />

gewisser Druck auf die Min<strong>der</strong>heitenpositionen ausgeübt werden können. In den Artikeln zur<br />

verstärkten Zusammenarbeit sind auch Öffnungsklauseln vereinbart, <strong>nach</strong> denen die<br />

teilnehmenden Staaten einstimmig beschließen können, mit qualifizierter Mehrheit<br />

abzustimmen (Art. III-422 Abs. 1) o<strong>der</strong> vom beson<strong>der</strong>en Gesetzgebungsverfahren zum<br />

ordentlichen überzugehen (Art. III-422 Abs. 2). Auch diese Regeln könnten eine zusätzliche<br />

Dynamik in die Beratungen des Rats bringen.<br />

Eine beson<strong>der</strong>e Ergänzung dieser Flexibilisierungsangebote ist auf dem Feld <strong>der</strong><br />

Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu erwähnen. Mit einer „ständigen<br />

strukturierten Zusammenarbeit im Rahmen <strong>der</strong> Union“ (Art. I-41 Abs. 6; Art. III-312) hat die<br />

Regierungskonferenz – <strong>nach</strong> erheblichen Än<strong>der</strong>ungen an <strong>der</strong> Vorlage des Konvents – die<br />

Möglichkeiten für ein Vorgehen von „Mitgliedstaaten [geschaffen], die anspruchvollere<br />

Kriterien in Bezug auf militärische Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen<br />

mit höchsten Anfor<strong>der</strong>ungen untereinan<strong>der</strong> festere Verpflichtungen eingegangen sind“ (Art. I-<br />

41 Abs. 6). <strong>Die</strong>se Form von Flexibilität, „schneller als an<strong>der</strong>e voranzugehen“ 70 , wurde von<br />

vielen Teilnehmern als Erfolg verstanden: Da<strong>nach</strong> kann die Union wirksamer handeln, ohne<br />

dass es eine „automatische Verpflichtung für Neutrale“ gibt; 71 gleichzeitig ist diese Form <strong>der</strong><br />

Flexibilität stärker als im Konventsentwurf 72 in den Rahmen des <strong>Verfassung</strong>svertrages<br />

eingebunden. 73 Einer getrennten Entwicklung hin zu einer ‚militärischen Eurogruppe’ haben<br />

die Regierungschefs damit zumindest im <strong>Verfassung</strong>svertrag engere Grenzen gesetzt.<br />

<strong>Die</strong> bisherige ausbleibende Nachfrage <strong>nach</strong> <strong>der</strong>artigen vertraglich angebotenen Regeln und<br />

auch einfache spieltheoretische Überlegungen zu ‚Trittbrettfahrern’, die von den Aktionen<br />

an<strong>der</strong>er profitieren wollen, ohne selbst zur gemeinsamen Problemlösung beizutragen, lassen<br />

jedoch – auch in einer erweiterten Union – zunächst keine intensive Nutzung <strong>der</strong> verstärkten<br />

69<br />

Vgl. The CER guide to the EU’s constitutional treaty, S.5.<br />

70<br />

Schrö<strong>der</strong>, Regierungserklärung, S. 3.<br />

71<br />

Ahern, Statement, S. 4.<br />

72<br />

Vgl.u.a. Jopp/Regelsberger: Regieren und Institutionenbildung, 2003, S. 552-554; Emmanouilidis/Giering, In<br />

Vielfalt geeint, S. 463.<br />

73<br />

Blair, Erklärung, S. 1.


o<strong>der</strong> strukturierten Zusammenarbeit erwarten. Große Hoffnungen sollte man deshalb nicht auf<br />

diesen Satz von nochmals verfeinerten Möglichkeiten setzen. 74<br />

Schlussfolgerungen für die Handlungsfähigkeit <strong>der</strong> EU<br />

Personalisierung, Politisierung und Partnerschaften: auf dem Weg zu einem neuen<br />

<strong>institutionelle</strong>n Gleichgewicht?<br />

Aus <strong>der</strong> Einzelanalyse je<strong>der</strong> Institution sind in einer Gesamtsicht mögliche Erwartungen für<br />

die künftigen Beziehungen zwischen den Organen und damit für die Handlungsfähigkeit des<br />

EU-Systems insgesamt zu diskutieren. <strong>Die</strong> Einrichtung eines hauptamtlichen in Brüssel<br />

ansässigen Präsidenten des <strong>Europäischen</strong> Rats und die Schaffung eines Außenministers <strong>der</strong><br />

Union, aber auch die Stärkung des Präsidenten <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> Kommission werden zur<br />

Personalisierung des Brüsseler Geschehens führen. <strong>Die</strong>se kann die Kontinuität und<br />

Sichtbarkeit <strong>der</strong> politischen Führung verbessern; 75 die im <strong>Verfassung</strong>stext bereits angelegten<br />

Spannungen innerhalb wie zwischen den Institutionen 76 werden aber – zumindest in einer<br />

ersten Phase <strong>der</strong> Anwendung – zu einem Austarieren <strong>der</strong> Einflusssphären zwischen diesen<br />

Ämtern führen und damit das bisherige <strong>institutionelle</strong> Gleichgewicht in <strong>der</strong> gelebten<br />

<strong>Verfassung</strong> verän<strong>der</strong>n.<br />

<strong>Die</strong>se inter<strong>institutionelle</strong>n Entwicklungen könnten durch einen Wandel in <strong>der</strong><br />

Entscheidungslogik des Systems überlagert o<strong>der</strong> sogar verstärkt werden: Zu diskutieren ist, ob<br />

die verän<strong>der</strong>ten Beschlussfassungsregeln die realen Verhaltensmuster von Akteuren in den<br />

nun vorgegebenen <strong>Verfassung</strong>sformen für die <strong>institutionelle</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>nach</strong>haltig<br />

beeinflussen. Angesichts von Kalkulationen für die jeweilige Durchsetzungsfähigkeit werden<br />

Mitgliedstaaten im Rat, mögliche Gruppierungen in <strong>der</strong> Kommission und größere Fraktionen<br />

im <strong>Europäischen</strong> Parlament 77 dazu neigen, durchgängige, sektor- und organübergreifende<br />

‚Partnerschaften’ o<strong>der</strong> ‚Koalitionen’ einzugehen. Abgelöst würden die bisherigen<br />

Abstimmungsmuster, die nur durch jeweils politikfeldbezogene Netzwerke von Akteuren<br />

getragen wurden, die jedoch keine ‚festen‘ Mehrheiten beziehungsweise Min<strong>der</strong>heiten<br />

innerhalb und zwischen den beteiligten Organen entstehen ließen; angesichts <strong>der</strong> Zunahme an<br />

beteiligten Akteuren könnte eine <strong>nach</strong>haltigere Suche <strong>nach</strong> organübergreifenden Koalitionen<br />

einsetzen, die sowohl von ähnlichen Interessenlagen als auch von Stimmgewichten im Rat<br />

74 Schrö<strong>der</strong>, Regierungserklärung.<br />

75 Vgl. u.a. Emmanouilidis, Historically unique, S.1.<br />

76 Vgl. Wessels, <strong>Verfassung</strong>svertrag im Integrationstrend, S. 295.<br />

77 Vgl. für relevante Berechnungen für das EP im Mitentscheidungsverfahren: George Tsebelis: Veto Players.<br />

How Political Institutions Work, Princeton University Press, Princeton NJ 2002.


und Abgeordnetenunterstützung im Parlament ausgehen. In diesem Mehrebenenspiel 78 könnte<br />

sich sowohl infolge <strong>der</strong> Erhöhung <strong>der</strong> Zahl an Mit-Spielern in allen drei Organen wie auch<br />

aus <strong>der</strong>en jeweiligen Gewicht eine von den bisherigen Mustern abweichende<br />

Entscheidungslogik entwickeln. Angesicht <strong>der</strong> neuen intra<strong>institutionelle</strong>n Dynamik ist davon<br />

auszugehen, dass die bisherige Vertragspraxis innerhalb und zwischen den Organen<br />

angesichts einer Erweiterung auf bis zu 30 Mitglie<strong>der</strong> und des neuen Regelwerks nicht so<br />

einfach fortzuschreiben ist. Zu erwarten sind vielmehr intra- und inter<strong>institutionelle</strong> Konflikte,<br />

die in <strong>der</strong> Erprobungsphase des <strong>Verfassung</strong>svertrags zu einer „gelebten <strong>Verfassung</strong>“ führen,<br />

<strong>der</strong>en Verhaltensmuster nur in Umrissen in Gedankenexperimenten vorhersehbar sind. Fragen<br />

<strong>nach</strong> <strong>der</strong> Handlungsfähigkeit dieses erweiterten und vertieften Systems bleiben damit<br />

ungelöst.<br />

Angesichts mancher nur begrenzt Erfolg versprechenden Kompromissformel in <strong>der</strong><br />

<strong>institutionelle</strong>n <strong>Architektur</strong> wird <strong>der</strong> Druck zu weiteren Reformen spätestens <strong>nach</strong> den ersten<br />

Fehlleistungen wie<strong>der</strong> zunehmen. Eine bröckelnde Legitimität aufgrund eines unzureichenden<br />

Outputs <strong>der</strong> Union, <strong>der</strong> insbeson<strong>der</strong>e im Bereich des außen- und sicherheitspolitischen<br />

Auftretens deutlich werden könnte, lässt eine Diskussion um weitere konstitutionelle Schritte<br />

auf einer ‚Integrationsleiter’ erwarten. 79 Ob dieser <strong>Verfassung</strong>svertrag damit für eine<br />

Generation geschrieben ist, 80 erscheint fraglich: Im Trend <strong>der</strong> Konstitutionalisierungsschritte<br />

über die letzen zwei Jahrzehnte und angesichts unvorhersehbarer Erprobungstests mancher<br />

<strong>institutionelle</strong>r Innovationen wird <strong>der</strong> Ruf <strong>nach</strong> weiteren Reformen relativ bald <strong>nach</strong><br />

Inkrafttreten zu hören sein. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass sich die Frage <strong>nach</strong> <strong>der</strong><br />

Verwendung dieses Entwurfs in noch kürzerer Zeit, nämlich <strong>nach</strong> dem Scheitern von<br />

Referenden, stellen wird. Mehrere rechtliche Möglichkeiten des weiteren Aufgreifens sind<br />

denkbar, 81 aber <strong>der</strong>en jeweilige rechtliche Zulässigkeit und politische Sinnhaftigkeit werden<br />

weiter zu erörtern sein.<br />

78<br />

Vgl. Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch: Regieren und Institutionenbildung, in: dies. (Hrsg.):<br />

Europäische Integration, Opladen 2003, S. 11-49; Jürgen Mittag/Wolfgang Wessels: The ‚One’ and the<br />

‚Fifteen’? The Member States between procedural adaptation and structural revolution, in:<br />

Wessels/Maurer/Mittag: Fifteen into one?, S. 414.<br />

79<br />

Vgl. zu den Kategorien Wolfgang Wessels: Der Konvent: Modelle für eine innovative Integrationsmethode,<br />

in: integration 25 Jg., April 2002, S. 83-98.<br />

80<br />

Vgl. The CER guide to the EU’s constitutional treaty, S. 8.<br />

81<br />

vgl. u.a. Lucia Serena Rossi: What if the Constitutional Treaty is not ratified?30.6.04,<br />

http://www.theepc.net/en/default.asp?TYP=TEWN&LV=372&PG=TEWN/EN/detail&l=&AI=372.


Der <strong>Verfassung</strong>skonvent – unmittelbare Erfolge, <strong>nach</strong>haltige Wirkung?<br />

Bildlich gesprochen gehören nun neben den Akteuren <strong>der</strong> Regierungskonferenz auch die<br />

Mitglie<strong>der</strong> des <strong>Verfassung</strong>skonvents zu den ‚Müttern’ und ‚Vätern’ des <strong>Verfassung</strong>svertrags.<br />

In abweichendem Umfang und zu unterschiedlichen Zeitpunkten haben beide Institutionen die<br />

konstitutionellen Grundlagen für eine erweiterte Union geschaffen.<br />

Zeitgeschichtlich zu erforschen ist, welche Abschnitte und welche Anteile welchen Akteuren<br />

im Konvent bzw. in <strong>der</strong> Regierungskonferenz zuzuordnen sind. So wird sicherlich zu<br />

diskutieren sein, ob beziehungsweise bei welchen Formulierungen <strong>der</strong> <strong>Verfassung</strong>skonvent<br />

eher wie eine – weitgehend unabhängige – verfassungsgebende Versammlung o<strong>der</strong> als eine<br />

regierungsgesteuerte, vorgeschaltete Regierungskonferenz gewirkt hat 82 .<br />

Ausgehend von entsprechenden „Grundverständnissen“ 83 und „<strong>Verfassung</strong>sideen“ 84<br />

entwarfen Politiker verschiedener Herkunft Vorstellungen einer optimalen Ordnung, um<br />

„immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten“ (Präambel Abs. 3).<br />

In den nächsten Monaten wird zu beobachten sein, ob und wie sich die „Deliberationen im<br />

Konvent“ 85 und die Verhandlungen in <strong>der</strong> Regierungskonferenz 86 auf nationale<br />

Ratifizierungs- und Referendendebatten nie<strong>der</strong>schlagen: Sind <strong>nach</strong>haltige Fernwirkungen<br />

festzustellen, die – bei vielen fortdauernden Kontroversen – doch ein gemeinsames<br />

<strong>Verfassung</strong>sverständnis in <strong>der</strong> erweiterten Union entstehen lassen? Unter Aufgreifen <strong>der</strong><br />

‚Devise <strong>der</strong> Union’: „In Vielfalt vereint“ (Präambel Abs. 4 und Art. I-8) könnte <strong>der</strong><br />

Grundstock einer politischen Identität entdeckt werden – bis hin zur Herausbildung eines<br />

europäischen „<strong>Verfassung</strong>spatriotismus“ 87 . Zu vermuten ist, dass eine <strong>der</strong>artige<br />

„Konstruktion“ 88 über den Satz tradierter Leitbil<strong>der</strong> hinausgeht und zu einer Neudefinition des<br />

Grundverständnisses führen kann.<br />

82 Vgl. zu den Kategorien Wessels, Konvent; Christine Reh/Wolfgang Wessels: Towards an Innovative Mode of<br />

Treaty Reform? Three Sets of Expectations for the Convention, in: Collegium 24, Sommer 2002, S. 17-42.<br />

83 Vgl. u.a. Heinrich Schnei<strong>der</strong>: Ein Wandel europapolitischer Grundverständnisse? Grundsatzüberlegungen,<br />

Erklärungsansätze und Konsequenzen für die politische Bildungsarbeit, in: Mathias Jopp/Andreas<br />

Maurer/Heinrich Schnei<strong>der</strong> (Hrsg.): Europapolitische Grundverständnisse im Wandel. Analysen und<br />

Konsequenzen für die politische Bildung, Bonn 1998, S. 19-147.<br />

84 Markus Jachtenfuchs: <strong>Die</strong> Konstruktion Europas. <strong>Verfassung</strong>sideen und Institutionelle Entwicklung, Baden-<br />

Baden 2002.<br />

85 Vgl. Maurer: <strong>Die</strong> neue Normenhierarchie, 2003; Daniel Göler/Hartmut Marhold: <strong>Die</strong> Konventsmethode, in:<br />

integration 4/ 03, S. 317-330, S. 323ff.<br />

86 Vgl., zum relevanten Begriffspaar "arguing" vs. "bargaining" u.a. Thomas Risse: “Let’s argue!:<br />

Communicative Action in World Politics“, in: International Organization 54/1, 2000, S. 1-40.<br />

87 Jürgen Habermas: <strong>Die</strong> postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/M. 1998, S. 114.<br />

88 vgl. zu konstruktivistischen Ansätzen u.a. Thomas Risse: A European Identity? Europeanization and the<br />

Evolution of Nation-State Identities, in: James A. Caporaso/Maria Green-Cowles/Thomas Risse (Hrsg.):<br />

Transforming Europe. Europeanization and Domestic Change, 2000, S. 198-216; Mark Aspinwall/Gerald


In diesen Debatten zur Finalität <strong>der</strong> Union könnte aber auch eine – vom "Konventsgeist"<br />

unberührte – ‚Re’-Nationalisierung festzustellen sein. So benutzen Regierungschefs selbst<br />

<strong>nach</strong> dem Gipfel – wie zu erwarten – ein abweichendes Vokabular, das ihren jeweiligen<br />

programmatischen Leitbil<strong>der</strong>n für die Europapolitik entspricht. Betonte <strong>der</strong> französische<br />

Präsident Chirac: „Cette Union européenne, fédération d'Etats-nations, poursuivra sa marche<br />

en avant tout en respectant l'identité et l'originalité de chacun des pays qui la composent” 89 , so<br />

hob <strong>der</strong> britische Premierminister hervor: “a new Europe is taking shape. A Europe in which<br />

Britain can build alliances and feel at home, […] a Europe of flexible and diverse progress, a<br />

Europe where strong nation states cooperate together” 90 . Und noch deutlicher in <strong>der</strong><br />

Begrifflichkeit: “The constitutional treaty makes it clear that Europe […] is not a superstate,<br />

not a fe<strong>der</strong>al state but a group of nations” 91 . Politische Kräfte könnten – wie teilweise bei <strong>der</strong><br />

Wahl zum <strong>Europäischen</strong> Parlament zu beobachten – im Stolz auf ihre „nationale Identität und<br />

Geschichte“ (Präambel) Unterschiede mehr als Gemeinsamkeiten betonen und neue Formen<br />

eines quasi EU-internen bzw. -bezogenen Nationalismus herausbilden. 92 <strong>Die</strong><br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung über eine ‚<strong>Verfassung</strong>’ könnte dann zum Katalysator, Verstärker o<strong>der</strong><br />

sogar zum Auslöser grundlegen<strong>der</strong> und fortdauern<strong>der</strong> Trennlinien (‚cleavages’) innerhalb <strong>der</strong><br />

Union werden; aus einer <strong>der</strong>artigen Konstellation könnte sich dann gegebenenfalls ein<br />

„Kerneuropa“ 93 herausbilden, das dann entwe<strong>der</strong> als „magnetischer Kern“ 94 und<br />

„Pioniergruppe“ 95 wirkt o<strong>der</strong> aber die klassische Unterscheidung zwischen einem alten<br />

Integrationseuropa gegen ein neues Kooperationseuropa dokumentieren. Trennlinien <strong>der</strong><br />

frühen fünfziger Jahre 96 würden sich so, <strong>nach</strong> allen Erweiterungen – vielleicht in einigen<br />

überraschenden Konstellationen – erneut abbilden.<br />

Der Beitrag ist im Rahmen des Forschungsprojekts „Welche <strong>Verfassung</strong> braucht Europa?“ entstanden, das<br />

gemeinsam vom Institut für Europäische Politik (IEP) und <strong>der</strong> ASKO EUROPA-STIFTUNG durchgeführt wird.<br />

Siehe auch: www.iep-berlin.de/forschung/verfassung.<br />

Eine gekürzte Version des Artikels befindet sich in: integration, Heft 03/2004, S. 161-175.<br />

Schnei<strong>der</strong> (Hrsg.): The rules of integration, Institutionalist approaches to the study of Europe, New York,<br />

Manchester 2001; Uwe Schmalz: Deutschlands europäisierte Außenpolitik. Kontinuität und Wandel deutscher<br />

Konzepte zur EPZ und GASP, Opladen 2004, i.E.<br />

89 Chirac, Constitution, S. 1<br />

90 Blair, Erklärung, S. 1.<br />

91<br />

Ebd.<br />

92<br />

Vgl. generell die Beiträge in Osteuropa 5-6/2004: Themenheft „<strong>Die</strong> Einigung Europas – Zugkraft und<br />

Kraftakt.“<br />

93<br />

Vgl. Schnei<strong>der</strong>, Kerneuropa.<br />

94<br />

Vgl. zum Begriff Fischer, Joschka: “Vom Staatenbund zur Fö<strong>der</strong>ation - Gedanken über die Finalität <strong>der</strong><br />

<strong>Europäischen</strong> Integration”, Rede vom 12.5.2000 an <strong>der</strong> Humboldt-Universität Berlin, http://www.auswaertigesamt.de/6_archiv/2/r/r000512a.htm.<br />

95<br />

Vgl. zum Begriff Chirac, Jacques, Notre Europe. Rede vor dem deutschen Bundestag in Berlin am <strong>Die</strong>nstag,<br />

27. Juni 2000, http://www.elysee.fr/cgi-bin/auracom/aurweb/search_all/file?aur_file=discours/2000/<br />

ALLE0003.html<br />

96<br />

Vgl. Brunn, <strong>Die</strong> Einigung Europas; Knipping, Rom.

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