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WILHELMSBURG UM 1790<br />

66<br />

IGS-2013 HAMBURG - Wilhelmsburg - PROGRAMM-ANHANG - HISTORIE


ANHANG C.2 HISTORISCHER ABRISS<br />

DER ENTWICKLUNG DER ELBINSEL WILHELMSBURG<br />

SCHACKEN UND GROTEN<br />

Die kleinen Inseln zwischen den Elbarmen südlich<br />

von Hamburg sind seit dem 12. Jahrhundert besiedelt.<br />

Im Stromspaltungsgebiet der Elbe, wo<br />

sich heute Europas größte Flussinsel befindet, lag<br />

seit dem Abschmelzen der letzten eiszeitlichen<br />

Gletscher eine Vielzahl kleinerer Inseln, deren<br />

Größe und Form durch die wiederkehrenden Fluten<br />

ständiger Veränderung unterworfen war. Die<br />

größten dieser Inseln waren Gorrieswerder, Hohe<br />

Schaar und Stillhorn. Schon früh wurde hier auf<br />

den fruchtbaren Auenböden Viehzucht und Ackerbau<br />

betrieben. Aus Hamburg und Harburg<br />

kamen die Leute zum Fischen auf die Inseln.<br />

Auch der Vogelfang war von Bedeutung, worauf<br />

heute noch die Namen Vogelhüttendeich, Finkenriek,<br />

Kuckuckshorn, Finkenwerder usw. hinweisen.<br />

Wichtigste Grundbesitzer im frühen Mittelalter waren<br />

die Schacken, ein Lüneburger Burgmannsgeschlecht.<br />

Da die Inseln immer wieder von Sturmfluten<br />

heimgesucht und zerrissen wurden, konnte<br />

das uneingedeichte Land oft nur als Weide, kaum<br />

als Acker genutzt werden. Im Jahre 1333 schloss<br />

der Ritter Johann Schacke mit den Bewohnern<br />

Ochsenwerders einen Vertrag, der diesen die Nutzung<br />

von Stillhorn (heute der südliche Teil Wilhelmsburgs)<br />

erlaubte, wenn sie ihm im Gegenzug<br />

das Land eindeichten. Diese erste große Eindeichung<br />

begann mit dem ‚Alten Feld’(1333) und ‚Jenerseite’(1363).<br />

1361 und 1367 verkauften die Schacken ihren<br />

Besitz in Stillhorn an die Groten, ebenfalls Burgmannen<br />

in Lüneburg. Diese setzten die Maßnahmen<br />

fort, deichten 1372 das ‚Neue Feld’ und 1374<br />

das ‚Finkenried’ ein. Auf Stillhorn erbaute Otto VI.<br />

Grote die erste Burg der Groten. Sein Vetter und<br />

Erbe Otto V. Grote begründete 1388 direkt neben<br />

der Burg die erste Kirche auf Stillhorn. Eine<br />

schwere Sturmflut (sog. Cäcilienflut) im Jahre<br />

1412 verwüstete große Teile der Elbinseln und<br />

kostete 30.000 Bewohner das Leben. Nach diesem<br />

Rückschlag setzten die Groten die Eindeichungen<br />

mit dem ‚Schönen Feld’, der ‚Kornweide’<br />

und dem ‚Reiherstieg’ fort.<br />

Um 1527 hielt die Reformation auf den Inseln Einzug.<br />

Ritter Otto X. Grote errichtete 1585 auf Stillhorn<br />

eine Windmühle, deren Verpachtung nebst<br />

Bierschank, Korn- und Brotverkauf den Groten gute<br />

Einnahmen bescherte. Alle ansässigen Bauern<br />

durften ihr Korn nur hier mahlen lassen. Otto X.<br />

deichte 1594 Rotehaus und 1609 Georgswerder<br />

ein. 1614 baute er die Stillhorner Kirche (Kreuzkirche)<br />

neu.<br />

In der Zeit vor der Eindeichung der Bauwiese um<br />

1624, als der Kornweider Deich noch nicht die nötige<br />

Stärke hatte, entstanden wahrscheinlich auch<br />

zwei der heute noch vorhandenen Bracks im Wilhelmsburger<br />

Zentrum, das Kükenbrack und das<br />

Galgenbrack. Ein Brack (von niederdeutsch:<br />

Brack) ist ein durch einen Deichbruch im Zuge einer<br />

Sturmflut entstandener See oder Teich. Da<br />

das Wasser von Bracks, die an der Nordsee oder<br />

im Mündungsbereich der Tideflüsse entstanden<br />

sind, salzhaltig ist, durch Regen und Grundwasser<br />

aber aussüßt, wurde dafür der Name Brackwasser<br />

geprägt, der als Lehnwort (englisch: brackish water)<br />

auch in anderen Sprachen üblich ist.<br />

In den Jahren 1620 – 1630 wurde unter Johann<br />

Grote das Schloss der Groten an die jetzige Stelle,<br />

d.h. den Standort des 1724 auf den Grundmauern<br />

des Schlosses erbauten Amtshauses, des<br />

heutigen Museums der Elbinsel Wilhelmsburg,<br />

verlegt.<br />

HERZOG GEORG WILHELM<br />

Am 4. September 1672 erwarb Herzog Georg<br />

Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg (1624-1705)<br />

von Otto XI. Grote den Groteschen Besitz im<br />

Tausch gegen seine Domäne Kirchhof, das fortan<br />

Neuhof hieß, sowie 163770 Taler. Georg Wilhelm<br />

wollte damit einen Besitz für seine Geliebte Eleonore<br />

Desmier d´Olbreuse (1639 – 1722) und die<br />

aus ihrer Verbindung hervorgegangene Tochter<br />

Sophie Dorothea (1666-1726) schaffen.<br />

Herzog Georg Wilhelm, der im Alter von 17 Jahren<br />

die Fürstentümer Hannover, Calenberg und<br />

Göttingen geerbt hatte, war, so steht es in den<br />

Geschichtsbüchern, "in seiner Jugend der zügellosen<br />

Vergnügungssucht ergeben“. Auch als er<br />

zur Regierung gekommen war, vernachlässigte er<br />

seine Pflichten und überließ lieber seinen Ministern<br />

die Regierungsgeschäfte. Die Verlobung mit<br />

der Fürstentochter Sophie von der Pfalz konnte<br />

ihn nicht von seinen Reisen, vor allem nach Italien,<br />

und rauschenden Festen abhalten. Weil er<br />

seiner Verlobten nicht mehr unter die Augen treten<br />

mochte, bat er seinen Bruder Ernst August,<br />

sie an seiner statt zu heiraten, und erklärte sich<br />

dafür bereit, den Söhnen aus dieser Ehe die<br />

Thronfolge zu überlassen. Fünf Jahre danach<br />

lernte Georg Wilhelm am Hofe des Landgrafen<br />

von Hessen Eleonore Desmier d´Olbreuse kennen.<br />

Von ihrem "angenehmen Wesen" war er so<br />

beeindruckt, dass er für immer mit ihr zusammenleben<br />

wollte.<br />

IGS-2013 HAMBURG - Wilhelmsburg - PROGRAMM-ANHANG - HISTORIE 67


Seine Stellung als regierender Fürst ließ aber nur<br />

eine morganatische Verbindung (mittelhochdeutsch:<br />

Ehe auf bloße Morgengabe) zu, sie<br />

konnte ihm nur "zur linken Hand" angetraut werden.<br />

In einem von Georg Wilhelm und Eleonore,<br />

seinem Bruder Ernst August und Sophie von der<br />

Pfalz unterschriebenen "Vertrag über eine Gewissensehe"<br />

versprach er ihr, sie niemals zu verlassen<br />

und immer für sie zu sorgen. Sie erhielt den<br />

Titel "Madam d´Harbourg". Zur gleichen Zeit erhielt<br />

Georg Wilhelm das Fürstentum Lüneburg<br />

und ließ in der Hauptstadt Celle das Schloss als<br />

Wohnsitz herrichten. Am 15. September 1666<br />

wurde ihr einziges Kind Sophie Dorothea geboren.<br />

Sie war "lebhaft und von großem Reiz".<br />

Eleonore d‘ Olbreuse war Hugenottin. Sie und ihr<br />

Mann haben für die Restaurierung des Schlosses<br />

und aus religiöser Überzeugung viele hugenottische<br />

Facharbeiter, Wissenschaftler, Künstler und<br />

Verwandte nach Celle geholt. Dadurch erhielt das<br />

Herzogtum Braunschweig-Lüneburg-Celle großen<br />

wirtschaftlichen und intellektuellen Aufschwung.<br />

Die aufgeklärte Geisteshaltung und Gläubigkeit<br />

des Herzogs und der Herzogin hatten Vorbildfunktion<br />

und führten zu einem sicher auch glänzenden,<br />

aber maßvollen und sittlichen Leben am Celler<br />

Hof.<br />

Wenn man sich den Stammbaum der Desmier d‘<br />

Olbreuses und der Welfenherzöge ansieht, kann<br />

man mit gutem Gewissen sagen, dass Eleonore d‘<br />

Olbreuse die Großmutter Europas der Zeit nach<br />

dem Dreißigjährigen Krieg gewesen ist. Ihre Verwandtschaft<br />

und ihre Nachkommen haben in alle<br />

bedeutenden Dynastien eingeheiratet. Auch der<br />

ehemalige französische Staatspräsident Francois<br />

Mitterand ist mit ihr in erster Linie verwandt; genauso<br />

wie die Könige von Frankreich, Preußen,<br />

Dänemark und England.<br />

Die 1672 von den Groten neu erworbenen Gebiete<br />

Stillhorn, Reiherstieg-Rotehaus und Georgswerder,<br />

vereinigte Herzog Georg Wilhelm mit seinen<br />

alten Besitzungen im Westen, dem Reiherstieg<br />

und dem Vorwerk Schluisgrove, und bestimmte,<br />

dass "solche zusammengebrachten Stücke<br />

und Güter nun und ins künftige die Herrschaft<br />

Wilhelmsburg titulieret und genannt werden sollte".<br />

Seither trägt Wilhelmsburg seinen Namen.<br />

Durch diesen Verwaltungsakt, die wichtige Stellung,<br />

die Georg Wilhelm im Reich einnahm, und<br />

wegen der tatkräftigen Hilfe, die er Kaiser Leopold<br />

V. in Wien im Feldzug gegen Frankreich leistete,<br />

erreichte er 1674 eine Erhebung seiner Frau in<br />

den Stand einer ‚Gräfin von Harburg’, wodurch<br />

auch eine offizielle Trauung erst möglich wurde.<br />

Sophie Dorothea wurde mit derselben Urkunde<br />

von Kaiser Leopold zur ‚Gräfin von Wilhelmsburg’<br />

erhoben.<br />

68<br />

SOPHIE DOROTHEA<br />

Geschichtsbewusste Wilhelmsburger Bürger verweisen<br />

noch heute mit Stolz darauf, dass auf ihrer<br />

Elbinsel die ‚Wiege des englischen Königshauses’<br />

stand. Tatsächlich wurde Sophie Dorothea zur<br />

Stammmutter des englischen, hannoverschen und<br />

preußischen Königshauses. Doch sie selbst erlitt<br />

ein tragisches Schicksal, das, nachgewiesen<br />

durch noch vorhandene Briefdokumente, in seiner<br />

Einzigartigkeit bis in unsere Zeit hineinstrahlt.<br />

Noch als Sophie Dorothea ein Kind war, versuchten<br />

die Eltern, einen geeigneten Mann für sie zu<br />

finden. Sie war eine sehr reiche, kluge und schöne<br />

Erbin, für die es viele Bewerber gab. Als zehnjährige<br />

wurde sie mit ihrem Cousin Prinz Friedrich<br />

August von Wolfenbüttel verlobt, der allerdings<br />

schon wenige Monate später im Krieg bei Philipsburg<br />

fiel. Die Ehe, die sie dann 16jährig mit ihrem<br />

Vetter Georg Ludwig (1660-1727) am 2. Dezember<br />

1682 eingehen musste, war keine Liebesheirat,<br />

sondern ein Zusammenschluss zweier unerfahrener<br />

Menschen aus dynastischen Gründen.<br />

Georg Ludwig war 22 Jahre alt, verschlossen und<br />

unzugänglich. Der Vater Georg Wilhelm und sein<br />

Bruder Ernst August haben mit dieser Ehe den<br />

Besitz der Fürstentümer Hannover und Lüneburg<br />

verbunden. Als Sophie Dorothea mit 17 Jahren<br />

einen Sohn und mit 21 Jahren eine Tochter bekam,<br />

war die Hoffnung, die mit dieser Ehe verbunden<br />

war, erfüllt: Die Thronfolge war gesichert.<br />

1689 trat Philipp Christoph Graf Königsmarck als<br />

Oberst in den hannoverschen Dienst. Er wurde<br />

bald danach der Liebhaber der Prinzessin. Sophie<br />

Dorothea, zu diesem Zeitpunkt 22, und Königsmarck,<br />

26 Jahre alt, hatten die gleichen Interessen<br />

und harmonierten sofort miteinander. Das<br />

Fürstentum Hannover erhielt 1692 die 9. Kurwürde<br />

und Sophie Dorothea war nun Kurprinzessin<br />

von Hannover. Ob sie sich darüber gefreut hat,<br />

weiß man nicht, denn schon zu dieser Zeit<br />

wünschte sie nichts sehnlicher, als die Trennung<br />

von ihrem Mann.<br />

In ihren Briefen erkennt man die große Herzensnot,<br />

die Sophie-Dorothea in die Arme von Königsmarck<br />

trieb. Auch Königsmarck fand in der<br />

Huld der Prinzessin die Erfüllung seines Lebens.<br />

Über das Denken und Fühlen, Wünschen und<br />

Wollen der beiden bekommt man in diesem einmaligen<br />

Zeitdokument Aufschluss. Mit innerer<br />

Bewegung verfolgt man ihren Liebes- und Leidensweg,<br />

ihre heimlichen Treffen, ihre chiffrierten<br />

Briefe, ihre Angst, entdeckt zu werden, und ihre<br />

Verzweiflung, sich nicht offen zueinander bekennen<br />

zu dürfen. Das Leitmotiv des gesamten Briefwechsels<br />

wird deutlich in den ergreifenden Versen<br />

des Dichters Benjamin Neukirch (1665-1729), die<br />

von Königsmarck zitiert wurden:<br />

IGS-2013 HAMBURG - Wilhelmsburg - PROGRAMM-ANHANG - HISTORIE


„Und also liebe ich mein Verderben und häge ein<br />

feuer in meiner brust daran ich noch zu lest mus<br />

sterben. Mein Unterganck ist mir gar wol bewust;<br />

das magst ich habe lieben wollen, was ich viel<br />

mehr anbäten sollen.“<br />

Königsmarck opferte Sophie Dorothea sein Leben.<br />

Als die Affäre aufflog, fand er durch einen<br />

hinterhältigen Mord im Leineschloss jenen Tod,<br />

den er längst geahnt hatte. Sophie Dorothea wurde<br />

auf das Schloss Ahlden verbannt, wo sie sich<br />

zwar innerhalb des Walles frei bewegen konnte,<br />

das sie aber bis zum ihrem Tode am 23. November<br />

1726 nicht wieder verlassen durfte. Ihr tief enttäuschter<br />

Vater wollte sie nie wieder sehen, nur<br />

ihre Mutter besuchte sie ab und zu.<br />

Sophie Dorothea erlebte noch, dass Georg-<br />

Ludwig aufgrund alter Erbverträge König Georg I.<br />

von England wurde. Ihr Sohn bestieg als Georg II:<br />

den englischen Königsthron, und ihre Tochter, die<br />

auch Sophie-Dorothea hieß, heiratete den preußischen<br />

König Friedrich Wilhelm I. So war Sophie<br />

Dorothea, einstmals Gräfin von Wilhelmsburg,<br />

auch die Großmutter Friedrichs des Großen. Fast<br />

alle Briefe des gemeinsamen Schriftwechsels waren<br />

im Besitz von Philipp Christoph Königsmarck.<br />

Er hob nicht nur die an ihn gerichteten Briefe von<br />

der Prinzessin auf, sondern ließ sich auch einen<br />

großen Teil seiner Briefe wiedergeben, da sie bei<br />

ihm sicherer schienen als in der Obhut der Prinzessin.<br />

Nach seinem nie aufgeklärten Tode wurden<br />

die Briefe von seiner Schwester nach Schweden<br />

in Sicherheit gebracht. Ein kleiner Teil dieser<br />

Korrespondenz ist durch Diebstahl in die Hände<br />

Friedrichs des Großen gelangt. Diese "nicht recht<br />

ehrenhaften" Andenken an seine Großmutter bewahrte<br />

er in Sanssouci auf, versehen mit der eigenhändigen<br />

Aufschrift "Lettres d´amour de la<br />

Duchesse d´Allen au conte Königsmarck" und<br />

seinem Siegel.<br />

WILHELMSBURG NACH GEORG WILHELM<br />

Nach dem Tode des Herzogs Georg Wilhelm im<br />

Jahre 1705 fiel Wilhelmsburg an seinen Schwiegersohn<br />

Georg Ludwig und wurde hannoversches<br />

Amt. Als Teil der landesherrlichen Domänen wurde<br />

es fortan von einem Amtmann verwaltet, der<br />

seinen Sitz im Grotenschloss hatte. Der erste<br />

Amtmann war Johann Jakob Sperl, der bereits<br />

seit 1669 den Groten gedient hatte. Zu seiner Zeit<br />

wurde der nach ihm genannte Sperlsdeich gebaut.<br />

Das alte Schloss, auch ‚Adeliger Sitz Stillhorn’ genannt,<br />

musste bald wegen Baufälligkeit abgerissen<br />

werden. Auf seinen Grundmauern wurde<br />

1724 das Wilhelmsburger Amtshaus errichtet.<br />

Dieses Gebäude steht noch heute und wird als<br />

‚Museum der Elbinsel Wilhelmsburg genutzt’. Der<br />

Gewölbekeller von 1620 sowie der Burggraben<br />

des Schlosses sind noch vorhanden und können<br />

besichtigt werden. Das Amtshaus steht unter<br />

Denkmalschutz und bildet mit der Kreuzkirche,<br />

dem Dorfkrug und alten Häusern das Milieuschutzgebiet<br />

Kirchdorf, den historischen Kern des<br />

Stadtteils Wilhelmsburg.<br />

Am 7. Oktober 1756 wurde Wilhelmsburg von der<br />

bis dahin schwersten Sturmflut (sog. Markusflut)<br />

heimgesucht. Es brachen der Hamburger Stadtdeich,<br />

die Deiche Billwerders, Wilhelmsburgs und<br />

Finkenwerders. In Francop entstanden das Huckerbrack<br />

und das Gutsbrack. Auf Wilhelmsburg<br />

ertranken 27 Menschen und 393 Stück Großvieh.<br />

Johann Anton von Döhren, Wilhelmsburger Amtmann<br />

von 1747 bis 1762 berichtet: „Das Elend ist<br />

diesmal gar zu stark gewesen, indem viele Menschen<br />

und Scheunen wegtrieben und wohl alle<br />

Gebäude im Lande so hart beschädigt sein werden,<br />

dass sie vor dem Winter schwerlich alle wider<br />

hergestellt werden können... Die Überschwemmung<br />

(ist) diesmal, gegen die von 1751<br />

zu rechnen, fünf ganze Fuß höher gewesen,<br />

gleich denn die Wellen gegen das Amtshaus solchergestalt<br />

getobt, dass sie im Zurückschlagen<br />

bis an die zweite Etage hinaufgeworfen worden,<br />

und auch zwei Löcher in die massive Mauer geschlagen..."<br />

Die Königliche Kammer in Hannover unter der<br />

Regierung von Georg II. August (1683-1760, Sohn<br />

von Sophie Dorothea und Georg-Ludwig), half den<br />

Geschädigten mit Krediten von insgesamt 9882<br />

Talern.<br />

In der Franzosenzeit (1806-1814) wurde Wilhelmsburg<br />

zu einem strategisch wichtigen Punkt,<br />

der zwischen den napoleonischen Angreifern und<br />

den Hamburgischen und Schwedischen Verteidigern<br />

hart umkämpft war. Unter Napoleons Marschall<br />

Davout wurden 1813/14 Harburg, Wilhelmsburg<br />

und Hamburg zum ersten mal über<br />

Straßen und Holzbrücken verbunden.<br />

Dieser frühe ‚Sprung über die Elbe’ verfiel nach<br />

dem Abzug der Franzosen zunächst, doch 1852<br />

wurde die Georg-Wilhelm-Straße, die älteste noch<br />

heute erhaltene Straße, auf derselben Trasse gebaut.<br />

Ab 1866 gehörte Wilhelmsburg zur preußischen<br />

Provinz Hannover und war die größte<br />

preußische Landgemeinde.<br />

Die erste Elbbrücke entstand mit dem Bau der Eisenbahn<br />

1872. Die erste Straßenverkehrs-Brücke<br />

über die Norderelbe entstand 1887. Oberingenieur<br />

Franz Andreas Meyer, der auch die Errichtung der<br />

Speicherstadt leitete, hatte den Portalen dieser<br />

Elbbrücken die gleiche ästhetische Ausrichtung<br />

gegeben wie der Architektur und den Portalen der<br />

Speicherstadt. Mittelalterliche hanseatische Stadttore<br />

sollten den Eingang wie den Ausgang kennzeichnen.<br />

1899 wurde auch die Brücke über die<br />

Süderelbe vollendet.<br />

IGS-2013 HAMBURG - Wilhelmsburg - PROGRAMM-ANHANG - HISTORIE 69


WILHELMSBURG 1911<br />

WILHELM CORDES<br />

Am 11. März 1840 wurde Wilhelm Cordes als<br />

Sohn des Besitzers der Stillhorner Mühle, Christoph<br />

Cordes und seiner Frau Lucie geb. Clasen<br />

geboren.<br />

Er schuf nach der Architekturausbildung in Hannover<br />

als erster Friedhofsdirektor Hamburgs die<br />

Anlage des Ohlsdorfer Friedhofes und leitete ihn<br />

von 1879 bis zu seinem Tode 1917 auch.<br />

INDUSTRIALISIERUNG UND FREIHAFEN<br />

Holzhandel und Werften gab es auf Wilhelmsburg<br />

schon seit dem 17. Jh. Davon abgesehen bildeten<br />

den Hauptteil der Bevölkerung bis etwa zur Mitte<br />

des 19. Jh. die milch- und gemüseproduzierenden<br />

Bauern und die damit wirtschaftlich verbundenen<br />

Händler sowie die zur dörflichen Wirtschaft gehörenden<br />

Handwerker, wie Schmiede, Stellmacher,<br />

Schuster, Schneider, Böttcher und Fischer.<br />

70<br />

In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts begannen<br />

grundlegende Veränderungen.<br />

Mit Einsetzen der Industrialisierung gewann Wilhelmsburg<br />

aufgrund seiner äußerst günstigen Lage<br />

in der Nähe Hamburgs am seeschifftiefen<br />

Wasser der Elbe an Bedeutung, zumal das niedrige<br />

Marschland für Hafenbauten sehr günstig erschien.<br />

Der Kleine Grasbrook war die erste Hafenerweiterungsfläche<br />

Hamburgs südlich der Elbe. Hier findet<br />

man noch heute vereinzelt Spuren der damaligen<br />

Hafenentwicklung: Kaimauern, Speicherblocks<br />

und Schuppen.<br />

Mit der Einrichtung des Hamburger Freihafens<br />

1888 setzte ein grundlegender Strukturwandel im<br />

Wilhelmsburger Norden und Westen ein, während<br />

östlich der 1872 erbauten Bahnlinie die ländliche<br />

Kulturlandschaft mit ihrer Bewirtschaftung erhalten<br />

blieb. Insbesondere das Reiherstiegviertel wurde<br />

zu einem bevorzugten Industriestandort. Von den<br />

sich hier ansiedelnden Betrieben war wohl die<br />

Wollkämmerei der Bedeutendste.<br />

IGS-2013 HAMBURG - Wilhelmsburg - PROGRAMM-ANHANG - HISTORIE


Sie nahm ihren Betrieb 1890 auf. Zeitweise wurden<br />

mehr als 1000 Arbeitskräfte eingesetzt. Ihr<br />

Fabrikbereich umfasste 30 Hektar. Sie verarbeitete<br />

1906 etwa 12 Millionen Kilogramm Schafwolle.<br />

Weitere gründerzeitliche Betriebe waren z.B. die<br />

Weizenmühle Georg Plange (‚Diamant-Mehl’,<br />

1896 als größte Mühle Europas erbaut), die Deutschen<br />

Erdölwerke, die Georgswerder Ziegeleien<br />

und die 1906 errichtete Honigfabrik (heute Kommunikationszentrum),<br />

die als Margarinefabrik, Öl-<br />

und Fettraffinerie, Schmelzkäsefabrik und zuletzt<br />

als Honigabfüllerei genutzt wurde.<br />

Um 1890 traten auch die Gebrüder Vering, Ingenieure<br />

und Bauinvestoren aus Hannover, auf den<br />

Plan. Sie begründeten eine der größten Baufirmen<br />

des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die unter anderem<br />

verantwortlich für die Errichtung des Nord-<br />

Ostsee-Kanals, des Frankfurter Hauptbahnhofes<br />

und großer Teile des Hamburger Hafens war. Sie<br />

ließen 250 ha Wilhelmsburger Land sturmflutsicher<br />

aufhöhen, Ackerland zu Wasserstraßen ausbauen,<br />

und auf Wiesen Brücken und Straßen errichten.<br />

1896 wurde eine neue evangelische Kirche am<br />

Reiherstieg (heute Emmaus-Kirche) eingeweiht.<br />

Ringsherum entstand in der Folge ein kleines bürgerliches<br />

Villenviertel, in dem sich z.B. Ärzte und<br />

Fabrikanten niederließen. Im Jahre 1909 wurde<br />

Neuhof nach Wilhelmsburg eingemeindet. 1911<br />

wurde der Wilhelmsburger Wasserturm in Betrieb<br />

genommen.<br />

1925 wird Wilhelmsburg zur Kreisfreien Stadt und<br />

1927 wird es mit Harburg zur Großstadt Harburg-<br />

Wilhelmsburg vereinigt. Ende der 20er Jahre bemühten<br />

sich Hamburg und Preußen im Unterelbegebiet<br />

um eine gemeinsame Planung, insbesondere<br />

für die Hafen- und Verkehrsentwicklung.<br />

Die Rolle der Elbinseln wurde vom Hamburger<br />

Oberbaudirektor Fritz Schumacher in den 20er<br />

Jahren so definiert: „Die Geest (ist)das natürliche<br />

großstädtische Wohngebiet, die Marsch (ist)durch<br />

ihre fünf Meter tiefere nicht sturmflutfreie Lage nur<br />

künstlich und deshalb nur teuer zum großstädtischen<br />

Wohngebiet herrichtbar. Wohl aber ist die<br />

Marsch das natürliche Arbeitsgebiet, die tiefe Lage<br />

erleichtert das Herstellen von Einschnitten und<br />

so wird sie das Gebiet der Hafenbecken und Industriekanäle.“<br />

JOHANN HERMANN VERING<br />

Johann Hermann Vering wurde am 04.11.1846 in<br />

Ahlen, Kreis Borkum, im Münsterland geboren. Er<br />

besuchte das Gymnasium in Münster und wollte<br />

eigentlich Priester werden. 1865 entschied er sich<br />

dann doch für ein Technisches Studium am Polytechnikum<br />

in Hannover, der damals führenden<br />

Bauschule Preußens. 1870 meldete er sich freiwillig<br />

zum deutsch-französischen Krieg. 1883 siedelte<br />

die Familie nach Hamburg über, hier lernte er<br />

den Reichskanzler Otto von Bismarck kennen. Es<br />

entstand eine freundschaftliche Beziehung.<br />

Johann Hermann und sein Bruder Carl schrieben<br />

in Wilhelmsburg Stadtgeschichte. Nach ihren Plänen<br />

wurde das Reiherstiegviertel für die Industrie<br />

erschlossen und zum Arbeiterwohnort entwickelt.<br />

Seit 1894 gehörte Johann Hermann 18 Jahre lang<br />

dem Gemeinderat von Wilhelmsburg und dem<br />

Kreistag in Harburg an. Im Jahr 1900 gewann er<br />

auf der Pariser Weltausstellung eine Goldmedaille<br />

für die Mitarbeit am Nord-Ostsee Kanal.<br />

Elf Jahre später, auf dem Höhepunkt seiner Karriere<br />

angelangt, wurde ihm die Ehrendoktorwürde<br />

der Technischen Hochschule Hannover verliehen.<br />

Am 06.01.1922 starb der Gutsbesitzer Doktor Ingenieur<br />

honoris causa Johann Hermann Vering<br />

75-jährig auf seinem Gut Wulfsdorf bei Ahrensburg.<br />

WOHNUNGSNOT UND WOHNUNGSBAUGE-<br />

NOSSENSCHAFTEN<br />

Im Zuge der Industrialisierung erfuhr Wilhelmsburg<br />

ein rasantes Bevölkerungswachstum. Während<br />

es 1875 noch 4.303 Einwohner gab, war die<br />

Bevölkerung bis 1905 auf 22.359 und bis 1925<br />

sogar bis auf 32.504 Einwohner angewachsen.<br />

Günstiger Wohnraum für Arbeiter wurde schnell<br />

zur Mangelware. Die Regierung in Lüneburg stufte<br />

die Wohnverhältnisse in Wilhelmsburg 1899 als<br />

katastrophal ein. Aufgrund der Wohnungsnot und<br />

der schlechten Löhne vermieteten viele Familien<br />

ihre Betten an ‚Schlafgänger’. Die zur Verfügung<br />

stehenden Betten wurden im Schichtbetrieb genutzt,<br />

so wie die Schichten in der Fabrik eingeteilt<br />

waren. Bürgermeister (1903-17) Adolf Menge versuchte<br />

Investoren für den Wohnungsbau anzulocken.<br />

Eckgrundstücke an neu angelegten Straßen<br />

wurden zu niedrigsten Preisen veräußert. Menge<br />

hoffte, dass sich die Lücken dazwischen allmählich<br />

mit Wohnungsbau schließen würden. Doch<br />

die katastrophale Wohn- und Lebenssituation der<br />

Arbeiter verlangte nach grundsätzlicheren Lösungen.<br />

IGS-2013 HAMBURG - Wilhelmsburg - PROGRAMM-ANHANG - HISTORIE 71


In Wilhelmsburg bestehen noch heute die frühesten<br />

Zeugnisse des deutschen Genossenschaftswohnungsbaus.<br />

1894 wurde der „Wilhelmsburger<br />

Spar- und Bauverein“ gegründet. An der Witte-<br />

/Jungnickelstraße ist Wohnungsbestand des „Bau-<br />

und Sparvereins der Eisenbahnbediensteten von<br />

Wilhelmsburg“ erhalten. 1902 trat der „Gemeinnützige<br />

Bauverein Reiherstieg“ auf den Plan und<br />

1910 die „Allgemeine Deutsche Schiffszimmerer-<br />

Genossenschaft“.<br />

An der Fährstraße ließ die Hamburg-Amerika-<br />

Linie 1910-12 für ihre Beschäftigten durch den<br />

‚Bauverein zu Hamburg’ vorbildliche Arbeiterwohnungen<br />

errichten. So sind große Teile des Wilhelmsburger<br />

Westens bis heute durch den genossenschaftlichen<br />

Wohnungsbau geprägt. Der heutige<br />

Gebäudebestand umfasst auch die herausragenden<br />

expressionistischen und funktionalistischen<br />

Beispiele der 20er Jahre (Veringstraße,<br />

Sanitasstraße) sowie Großsiedlungen der 60er<br />

und 70er Jahre bis heute.<br />

Im Rahmen der Stadterweiterung entstand in den<br />

20er Jahren die noch heute vorhandene Groß-<br />

Siedlung Veddel. Sie zählt mit zu den bedeutendsten<br />

blockbildenden Wohnquartieren dieser<br />

Zeit und steht inzwischen unter Milieuschutz.<br />

DAS VERMÄCHTNIS DES HERRN VON DRA-<br />

TELN<br />

Der Landwirt Johann von Drateln, dessen Familie<br />

seit 1650 in Wilhelmsburg ansässig war, hatte<br />

schon vor hundert Jahren angesichts der damaligen<br />

Industrialisierungseuphorie eigene Vorstellungen<br />

von der Stadtentwicklung Wilhelmsburgs.<br />

Wie viele andere auch glaubte er, die Insel würde<br />

dank Eisenbahn und Wollkämmerei, Getreidemühle,<br />

Margarinefabrik, Teerwerk und Hafenanlagen<br />

rasch erblühen und sich zu einem modernen<br />

Industriezentrum entwickeln. Tatsächlich hatte<br />

besonders die Wollkämmerei einen so hohen Bedarf<br />

an Facharbeitern, dass sie ihn mit Gastarbeitern<br />

aus Schlesien, Pommern und Polen decken<br />

musste. Für diese neue Gemeinde wurde die katholische<br />

Kirche auf Wilhelmsburg gebaut.<br />

Die Industrie, so wirkte es auf von Drateln, setzte<br />

die Insel regelrecht unter Dampf. Voller Zuversicht<br />

stiftete er deshalb 1902 ein Stück seines Ackerlandes,<br />

um darauf ein Rathaus bauen zu lassen.<br />

Mitten auf der Insel sollte es stehen. Und da steht<br />

es auch heute noch. Es wurde im November 1903<br />

eingeweiht. Allerdings hat sich Wilhelmsburg nicht<br />

so rasch und nahtlos zu einem Industriezentrum<br />

entwickelt, wie von Drateln hoffte. Zwei Weltkriege,<br />

politische Neuordnungen und die Konkurrenz<br />

der Kaianlagen an der Norderelbe hemmten den<br />

raschen industriellen Aufschwung auf der Insel.<br />

72<br />

Das Rathaus, ein neogotischer Backsteinbau,<br />

steht heute immer noch etwas abseits vom Geschäftsviertel.<br />

Von Drateln wollte aber den Wilhelmsburgern<br />

nicht nur einen schönen Platz fürs<br />

Rathaus schenken. Ganz im Geiste der Zeit stiftete<br />

er ihnen auch ein großes Stück seines Landes,<br />

das seinem gedachten Stadtzentrum als Park dienen<br />

sollte. Bis heute wird diese Fläche vor allem<br />

an Wochenenden viel genutzt. Einige Teile des<br />

Geländes bewirtschaften inzwischen Kleingärtner.<br />

Der gestaltete Park jedoch ist bis heute nicht realisiert<br />

worden.<br />

DIE AUSWANDERERSTADT<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts begann auch der Aufstieg<br />

Hamburgs als Auswanderungshafen, als ‚Tor<br />

zur Welt’. Die, die sich mit ihrer letzten Habe als<br />

Handgepäck in die Neue Welt aufmachten, kamen<br />

aus allen Teilen des Landes, später auch aus Ost-<br />

und Südosteuropa. Armut oder Verfolgung aus religiösen<br />

Gründen waren genauso Gründe für den<br />

Aufbruch wie soziales Scheitern, drohende Strafverfahren<br />

oder eben Aufbruchstimmung.<br />

Ab 1900 ließ die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft<br />

(HAPAG) unter ihrem<br />

Generaldirektor Albert Ballin auf der Veddel, damals<br />

vor den Toren der Stadt, eine ganze Auswandererstadt<br />

bauen.<br />

Nicht nur Unterkünfte, auch eine evangelische<br />

und eine katholische Kirche, für Juden und Christen<br />

getrennte Küchen und Speisesäle, eine Synagoge<br />

und ein Musikpavillon, sogar zwei Hotels<br />

für Auswanderer mit etwas mehr Geld gehörten<br />

dazu. 1901, nach Abschluss der Bauarbeiten,<br />

konnten hier 1000 Menschen untergebracht werden,<br />

nach einer Erweiterung in den Jahren 1906<br />

und 1907 sogar fünf Mal so viele.<br />

Bis zum Ersten Weltkrieg war die Auswandererstadt<br />

auf der Veddel ein Werbeträger für alle die<br />

an der Emigration verdienten. Agenten, heute<br />

würde man sie "Schlepper" nennen, warben im<br />

Auftrag ihrer Hamburger oder amerikanischen<br />

Auftraggeber im gesamten Europa mit Bildern von<br />

der gut organisierten, sauberen und sicheren Ausreise<br />

in die Neue Welt. Auch in den 1920er Jahren<br />

erfüllten die Pavillons ihren Zweck. Ende der<br />

1930er Jahre wurden die meisten Gebäude für<br />

den Bau einer Reichsstraße - sie heißt noch heute<br />

so - abgerissen und zunächst vergessen. An ihrem<br />

Zubringer liegt die einzige heute noch vorhandene<br />

Auswandererhalle, ein bauliches Relikt<br />

aus der Zeit, als es die Menschen aus ganz Europa<br />

nach Amerika zog. Das Gegenstück dazu ist<br />

das New Yorker Quartier mit dem Namen ‚Williamsburg’<br />

und der Einwandererhafen Ellis Island<br />

vor New York, der heute eine Touristenattraktion<br />

ist. Die Nachkommen der einstigen Auswanderer<br />

können hier nach ihren Wurzeln forschen.<br />

IGS-2013 HAMBURG - Wilhelmsburg - PROGRAMM-ANHANG - HISTORIE


WILHELMSBURG IM NATIONALSOZIALISMUS<br />

Da Wilhelmsburg ein typisches Arbeiterviertel war,<br />

wurde das politische Leben während der Weimarer<br />

Republik geprägt durch Aktivitäten von SPD<br />

und KPD. Ende der 20er Jahre erreichte die allgemeine<br />

Arbeitslosigkeit ihren Höhepunkt. Jeder<br />

zweite erwerbsfähige Mensch in Wilhelmsburg<br />

hatte keine Arbeit. Trotz der damit verbundenen<br />

politischen Radikalisierung fanden die Nationalsozialisten<br />

hier wenig Zuspruch. Im Februar 1933<br />

fanden in Wilhelmsburg und Harburg noch große<br />

Kundgebungen gegen Hitler statt. Doch es waren<br />

die letzten öffentlichen Proteste, bevor die Gleichschaltung<br />

griff.<br />

Kirchdorf wurde schon Anfang der 30er Jahre wegen<br />

seiner Hafennähe als Siedlungsgebiet interessant,<br />

um unstete Hafenarbeiter sesshaft und<br />

für die Hafen- und Rüstungsbetriebe verfügbar zu<br />

machen. 1936 wurde die "Hermann-Göring-<br />

Siedlung" in Kirchdorf fertiggestellt. Die Planungen<br />

dafür hatten schon 1932 begonnen. 250 Fachwerk-Doppelhäuser,<br />

jedes nur 56 Quadratmeter<br />

groß, aber von einem 1000 Quadratmeter großen<br />

Grundstück umgeben. Da sollten nach der Blutund-Boden-Ideologie<br />

der Nationalsozialisten einfache<br />

Leute die Chance zur Eigentumsbildung<br />

und Selbstversorgung erhalten. 85 Prozent waren<br />

Hafenarbeiter, die Übrigen mussten Handwerker<br />

sein, damit die Selbsthilfe in dem neuen Viertel<br />

funktionierte.<br />

1937/38 wurde Wilhelmsburg mit dem ‚Groß-<br />

Hamburg-Gesetz’ nach Hamburg eingemeindet.<br />

Der Bau der Wilhelmsburger Reichsstraße begann;<br />

und 1939 wurde die Reichsautobahn Hamburg-Bremen<br />

(A1) fertiggestellt. In den Generalbebauungsplänen<br />

1941 und 1944 wurde die Bedeutung<br />

des Hafens für die wirtschaftliche Entwicklung<br />

Hamburgs herausgestellt. Sie dokumentieren<br />

die Stadtentwicklungsziele der damaligen<br />

Zeit.<br />

1943 entstand der heute noch vorhandene Bunker<br />

an der Weimarer Straße (Flak-Gefechtsturm), in<br />

dem rund 80.000 m³ Stahlbeton verbaut wurden.<br />

Tausende Bürger suchten hier bei Luftangriffen<br />

Schutz. Ein zweiter Bunker (Flak-Leitturm) wurde<br />

nach dem Krieg 1947 von den Briten gesprengt,<br />

der zerkleinerte Beton zur Ausbesserung der beschädigten<br />

Straßen verwendet. Die Bombardierungen<br />

von 1943 zerstörten große Teile Hamburgs,<br />

der Hafen war zu 70 Prozent betroffen. Am<br />

schwersten wurden in Wilhelmsburg die Industriegebiete<br />

am Reiherstieg und die Gegend am<br />

Bahnhof getroffen. Die ‚kriegswichtigen’ Erdölwerke<br />

wurden zerstört, die Wollkämmerei brannte<br />

aus. Die Verluste unter der Zivilbevölkerung Wilhelmsburgs<br />

waren jedoch geringer als im Hamburger<br />

Durchschnitt, wohl wegen der meist lockereren<br />

Bebauung der Wohngebiete.<br />

DIE NACHKRIEGSZEIT<br />

Nach den Luftangriffen 1943 hatten viele Wilhelmsburger<br />

Verwandte und Bekannte aus Hamburg<br />

aufgenommen. Ausgebombte von der Veddel<br />

und Rothenburgsort, die in Wilhelmsburg ihre<br />

Schrebergärten hatten, zogen in ihre Gartenlauben.<br />

Nach dem Zusammenbruch setzte dann<br />

auch ein starker Zustrom von Vertriebenen aus<br />

den Ostgebieten ein. Die Wohnungsbeschaffung<br />

wurde zu einem der schwierigsten Probleme der<br />

Zeit.<br />

Bis zur Währungsreform am 20. Juni 1948 konnten<br />

von privater Seite etwa 300 neue Wohnungen<br />

gebaut werden. Dann trat mit staatlicher Hilfe eine<br />

starke Belebung der Bautätigkeit ein. Das einsetzende<br />

Wirtschaftswunder bescherte Wilhelmsburg<br />

eine sprunghaft anwachsende Bevölkerungszahl.<br />

Sie stieg von 45.385 im Jahre 1946 auf 54.223 im<br />

Jahre 1953. Das Jahr 1950 brachte mit fast 1000<br />

neuen Wohnungen einen Höhepunkt. Den Hauptanteil<br />

daran hatten die großen Wohnungsbau-<br />

Gesellschaften. Die „Deutsche Wohnungsbaugesellschaft<br />

“ baute in der Georg-Wilhelm-Straße,<br />

Veringstraße und Weimarer Straße; der „Bauverein<br />

Reiherstieg “ in der Fährstraße, Bonifatiusstraße<br />

und an Groß-Sand, der „Wilhelmsburger<br />

Spar- und Bauverein “ in der Zieglerstraße/ Georg-Wilhelm-Straße,<br />

die „Baugenossenschaft Süderelbe<br />

“ den Klabundehof, Fährstraße und Geraer<br />

Weg und die „Baugenossenschaft Norden “ im<br />

Bahnhofsviertel. 1950 wurde die Wilhelmsburger<br />

Reichsstraße fertiggestellt. 1954 wurde die neue<br />

Privatsiedlung in der Kornweide errichtet.<br />

DIE STURMFLUT-KATASTROPHE VON 1962<br />

In der Nacht vom 16./17. Februar 1962 brach über<br />

die deutsche Nordseeküste die schwerste Sturmflut<br />

seit über 100 Jahren herein. Der Orkan „Vincinette“<br />

fegte mit bis zu 200 Stundenkilometern über<br />

Norddeutschland hinweg und drängte das<br />

Wasser der Nordsee in die Deutsche Bucht und<br />

weiter in die Elbe. Die Deiche an der Küste, an<br />

Elbe und Weser brachen. Ein Sechstel des Hamburger<br />

Stadtgebietes wurde überschwemmt.<br />

Die Deiche an der Norderelbe und am Reiherstieg<br />

waren während des Baus des Freihafens 1888<br />

nicht mit Kleie, sondern nur mit sandigem Hafenschlick<br />

aufgeschüttet worden, und konnten nicht<br />

standhalten. Wilhelmsburg mit seinen mittlerweile<br />

80.000 Einwohnern versank unter den Wassermassen.<br />

IGS-2013 HAMBURG - Wilhelmsburg - PROGRAMM-ANHANG - HISTORIE 73


STURMFLUT-KATASTROPHE 1962 KARTE DER DEICHBRÜCHE IM BEREICH WILHELMSBURG<br />

74<br />

IGS-2013 HAMBURG - Wilhelmsburg - PROGRAMM-ANHANG - HISTORIE


Auch die Hamburger Innenstadt blieb nicht verschont.<br />

Bis zum Rathaus drang das Hochwasser<br />

vor, floss in die Keller von Banken und Wirtshäusern<br />

und brach in den alten Elbtunnel ein. Über<br />

300 Menschen kamen in den Fluten ums Leben;<br />

davon waren 207 Bewohner der Elbinsel Wilhelmsburg.<br />

Viele der vom Wasser eingeschlossenen<br />

Menschen saßen bei Temperaturen um den<br />

Gefrierpunkt durchnässt auf den Dächern ihrer<br />

Häuser und Gartenlauben oder in den Baumkronen.<br />

Eine großangelegte Rettungsaktion begann. Polizeisenator<br />

Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler,<br />

forderte aus dem europäischen Ausland<br />

militärische und zivile Hilfe an. Er koordinierte<br />

Hubschraubereinsätze und Hilfsaktionen zu Wasser.<br />

Rund 20.000 Hilfskräfte kämpften in einem<br />

Wettlauf gegen die Zeit um das Leben der von der<br />

Umwelt abgeschnittenen Menschen.<br />

Nach den Erfahrungen dieser verheerenden Katastrophe<br />

übertrug der Hamburger Senat der<br />

Baubehörde die Planung und den Bau neuer<br />

Hochwasserschutzanlagen. Es ergab sich die<br />

Schwierigkeit, dass es schon aus Platzgründen<br />

nicht möglich war, die sehr stark beschädigten<br />

Deichanlagen nur wieder instand zu setzen, sie<br />

nach neuen Erkenntnissen zu verstärken und zu<br />

erhöhen. Eine neue Hochwasserschutzlinie musste<br />

in kürzester Zeit gefunden werden, damit die<br />

Bauarbeiten beginnen konnten.<br />

GROSS-SIEDLUNGEN UND IMAGEPROBLEME<br />

Das ‚Entwicklungsmodell Hamburg und Umland’<br />

von 1969 ging zunächst davon aus, dass insbesondere<br />

der Wilhelmsburger Westen als Wohnstandort<br />

langfristig zugunsten gewerblicher Nutzungen<br />

aufgegeben werden sollte. Dies führte in<br />

vielen Sektoren zu einer Investitionszurückhaltung.<br />

Gleichzeitig entstand in der Mitte der Insel<br />

und im Osten verdichteter Geschosswohnungsbau,<br />

unter anderem die Großsiedlung Kirchdorf-<br />

Süd. 2242 Wohnungen in bis zu 13 Stockwerken<br />

hohen Hochhäusern. Soziale Probleme waren hier<br />

vorprogrammiert bei nahezu 6000 Bewohnern, deren<br />

wirtschaftliche Situation schlecht ist. Wie als<br />

Kontrastprogramm finden sich unweit davon noch<br />

reetgedeckte Bauernhäuser aus dem 17. bis 19.<br />

Jahrhundert und guterhaltene, stuckverzierte Altbauten<br />

wie in Eppendorf, östlich beginnt die ländliche<br />

Kulturlandschaft. 1974 wurde die<br />

Köhlbrandbrücke, die den Hafen mit der Autobahn<br />

A7 verbindet, eingeweiht.<br />

Seit Mitte der 70er Jahre treten zunehmende<br />

strukturelle Probleme auf den Elbinseln in das<br />

Bewusstsein der Öffentlichkeit. Wilhelmsburg ist<br />

durch den Strukturwandel in der Hafenwirtschaft<br />

stark betroffen. Der Stadtteil gehört in weiten Bereichen<br />

zu den wenigen industriellen Räumen der<br />

Stadt, die noch immer durch eine starke Belastung<br />

von Boden, Wasser und Luft sowie Lärmimmissionen<br />

geprägt sind. Anfang der 70er Jahre<br />

kam die Giftmülldeponie Georgswerder. Als auch<br />

noch eine Müllverbrennungsanlage für Wilhelmsburg<br />

im Gespräch war, gingen die Bürger auf die<br />

Barrikaden und konnten das Projekt verhindern.<br />

Im Gegensatz zu Hamburger Quartieren nördlich<br />

der Elbe ist es in Wilhelmsburg bisher nicht gelungen,<br />

in größerem Umfang neue, zukunftsfähige<br />

Arbeitsplätze zu schaffen. Die Stadt hofft und bemüht<br />

sich darum, dass sich der strukturelle Umbau<br />

der Arbeitswelt in Wilhelmsburg als ein<br />

Wechsel von der Hafenindustrie hin zu Dienstleistungs-<br />

und Produktionsunternehmen vollziehen<br />

wird. Die Belastungen durch die Industrialisierung,<br />

die die Flussinseln zerschneidenden Verkehrsstraßen,<br />

wachsende Arbeitslosigkeit und ein steigender<br />

Anteil ausländischer Bevölkerung führen<br />

zu zunehmender Segregation und massiven<br />

Imageproblemen gerade auch in den stark durch<br />

öffentlich geförderten Wohnungsbau geprägten<br />

Bereichen.<br />

WILHELMSBURG HEUTE<br />

Bei z.Zt. über 34 Prozent Ausländeranteil ist Integration<br />

ein wichtiges Anliegen. Gerade die Kirche<br />

engagiert sich hier stark. Man will die unterschiedlichen<br />

Religionen einander näher bringen und<br />

damit für mehr Toleranz sorgen. Mit verschiedenen<br />

Handlungskonzepten zur Erneuerung und<br />

Stärkung der Stadtteile wird seit 1981 unter intensiver<br />

Bürgerbeteiligung versucht, Potenziale und<br />

Qualitäten im Bestand weiterzuentwickeln. Trotz<br />

vieler Projekterfolge im Einzelnen konnte der insbesondere<br />

durch die Medien verbreiteten Stigmatisierung<br />

des Stadtteils insgesamt nur begrenzt<br />

entgegengewirkt werden. Es stellt sich insbesondere<br />

die Aufgabe, eine jahrzehntelang durch den<br />

Hafen geprägte und teilweise auch beeinträchtigte<br />

Siedlungsstruktur so zu rekultivieren, dass diese<br />

für zukünftige nachhaltige Entwicklungen wieder<br />

offen ist.<br />

IGS-2013 HAMBURG - Wilhelmsburg - PROGRAMM-ANHANG - HISTORIE 75

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