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Materialmappe Der Mäusesheriff nach dem gleichnamigen ...

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<strong>Materialmappe</strong><br />

<strong>Der</strong> <strong>Mäusesheriff</strong><br />

<strong>nach</strong> <strong>dem</strong> <strong>gleichnamigen</strong> Kinderbuch von Janosch<br />

in einer Bühnenfassung von Lena Kammermeier<br />

Illustration: Leopold Volland<br />

es spielen: Johannes Hubert (Jippi Brown), Oda Zuschneid (Magdalene Pappkarton)<br />

Regie: Ensembleproduktion (Johannes Hubert, Annette Müller, Oda Zuschneid)<br />

Bühne: Marcel Franken, Leopold Volland<br />

Projektionen: Leopold Volland (Zeichnungen), Marcel Franken (Animation der Zeichnungen)<br />

Kostüme: Jelena Miletić<br />

Musik: Johannes Eimermacher<br />

Dramaturgie: Lena Kammermeier, Eva Bormann<br />

Premiere: 02. Oktober 2010, Dauer ca. 50 Min., keine Pause<br />

1


Inhalt:<br />

<strong>Der</strong> <strong>Mäusesheriff</strong> S. 3<br />

<strong>nach</strong> Janosch S. 4<br />

Eine Lügengeschichte S. 5<br />

Ich war es nicht von Jörg Lau S. 6<br />

Kinder haben kurze Beine von Mikael Krogerus S. 8<br />

Lügen, flunkern, schwindeln, mogeln S. 11<br />

Lügengeschichten Wenn es Kinder mit der Wahrheit nicht so ernst nehmen S. 12<br />

Arbeitsvorschläge (Powerkreis, Eine Lügengeschichte erfinden, Pantomime) S. 16<br />

Alles Lüge, oder was? von Lucie Göpfert S. 17<br />

Wie Eulenspiegel die Kranken heilte von Erich Kästner S. 18<br />

… noch mehr Lügengeschichten S. 19<br />

2


<strong>Der</strong> <strong>Mäusesheriff</strong><br />

Eines Tages taucht er plötzlich auf, dieser Mäuserich mit Schlapphut und merkwürdigem Gang – als<br />

hätte er einen Pferdesattel unter <strong>dem</strong> Hintern. Das ist Jippi Brown aus Texas. Die stärkste und mutigste<br />

Maus weit und breit. Abenteuerliche Geschichten hat dieser Kerl zu berichten. Die Mäuseschar ist<br />

begeistert und will mehr, mehr, mehr! Denn, dass ein Sheriff, zumal ein doppelter, nicht unbedingt sehr<br />

groß sein muss, versetzt jede Maus in helle Aufregung.<br />

Oder sind das nur Lügengeschichten? Und wenn schon! Muss denn eine Geschichte wirklich wahr<br />

sein, um Spaß zu machen? Lügen ist für Kinder wichtig: Die Nichtwahrheit sprechen und eine<br />

Geschichte erfinden, wobei die Grenzen zusehends verschwimmen. Aber macht die Not die Lüge zur<br />

Tugend? Oder lassen sich Lügen manchmal doch leichter als die Wahrheit erzählen?<br />

Jippi Brown behauptet sich als großer Westernheld. In der Marburger Fassung <strong>nach</strong> <strong>dem</strong> gleich-<br />

namigen Kinderbuch von Janosch betreten zwei Schauspieler die Bühne: Jippi, der Lügner, der<br />

Aufschneider, und Magdalene, sein Gegenüber, seine Zuhörerin. Und sie beginnen zu lügen, dass sich<br />

die Balken biegen. Beide Schauspieler werden zu Geschichtenerfindern, werfen sich ins Spiel(-feld),<br />

behaupten sich als Westernhelden und Abenteurer. Ohne aufwändige theatrale Mittel, unterstützt von<br />

grafischen Illustrationen, nimmt die behauptete Geschichte Gestalt an. Und auch als sie beginnen, sich<br />

gegenseitig beim Schwindeln zu ertappen, ist das für sie nur ein weiterer Ansporn, noch einen drauf zu<br />

setzen.<br />

Wie immer im Theater ist die Geschichte nur eine Behauptung, doch man möchte Jippi und Magdalene<br />

zu gerne glauben, was sie erzählen. Aber das Lügen birgt Gefahren, denn schon ein altes Sprichwort<br />

sagt: Lügen haben kurze Beine. Und Geschichten erfinden ist anstrengend! Das Dasein auf der<br />

Überholspur der Lüge führt zwangsläufig zur Erschöpfung. Besonders, wenn man plötzlich selbst nicht<br />

mehr weiß, wo die Wirklichkeit aufhört und die Täuschung beginnt.<br />

3


<strong>nach</strong> Janosch<br />

1931 als Horst Eckert im heutigen Zabrze geboren und aufgewachsen, begann mit nur 13 Jahren eine<br />

Schmiede- und Schlosser-Lehre. Nach Ende des Krieges flüchtete er mit seiner Familie <strong>nach</strong><br />

Westdeutschland. Zunächst zeitweilig in einer Textilfabrik bei Oldenburg und in Krefeld tätig, nahm<br />

Eckert anschließend an einem Lehrgang für Musterzeichnen bei Gerhard Kadow, einem Schüler von<br />

Paul Klee, teil. 1953 zog er <strong>nach</strong> München und absolvierte einige Probesemester an der Aka<strong>dem</strong>ie der<br />

Bildenden Künste, musste das Kunststudium jedoch wegen "mangelnder Begabung" abbrechen. Als<br />

freischaffender Künstler begann er 1956 zunächst beim Feuilleton zu arbeiten, bevor 1960 mit "Die<br />

Geschichte von Valek <strong>dem</strong> Pferd" sein erstes Kinderbuch erscheint. Lenzt, Freund und Verleger<br />

Eckerts, hatte ihn überredet, einen Künstlernamen anzunehmen: Janosch. 1969 folgt „<strong>Der</strong><br />

<strong>Mäusesheriff</strong>“, 1970 sein erster Roman "Cholonek oder <strong>Der</strong> liebe Gott aus Lehm". Daraus gehen die<br />

bekannt gewordenen Figuren "Schnuddel" oder die "Tigerente" hervor. In den darauffolgenden Jahren<br />

folgen zahlreiche Kinderbücher bei verschiedenen Verlagen und Auszeichnungen, wie 1975 der<br />

Literaturpreis der Stadt München und 1979 der Deutsche Jugendliteratur-Preis. Zu dieser Zeit sind<br />

bereits annähernd 100 Kinderbücher von ihm erschienen, die bis heute in mehr als 30 Sprachen<br />

übersetzt wurden. 1980 verlässt er Deutschland und lebt heute zurückgezogen auf Teneriffa.<br />

Thematisch orientiert sich Janosch in seinen Romanen für Erwachsene seither häufig an Erlebnissen<br />

aus seiner Kindheit, familiären Beziehungen sowie Freundschaft; nicht selten eingebettet in die Frage<br />

<strong>nach</strong> Sinn und Zweck des Lebens. Das Augenmerk des Autors liegt dabei stets auf humorvoll<br />

skizzierten Charakteren, die mit Liebe zum Detail ausstattet und beschrieben werden.<br />

Zu seinen bekanntesten Werken zählen:<br />

• Onkel Poppoff kann auf Bäume fliegen, 1964<br />

• <strong>Der</strong> Mäuse-Sheriff, 1969<br />

• Lari Fari Mogelzahn, 1971<br />

• Traumstunde für Siebenschläfer, 1977<br />

• Oh, wie schön ist Panama, 1978<br />

• Wörterbuch der Lebenskunst, 1995<br />

• Ich liebe eine Tigerente, 1999<br />

4


Eine Lügengeschichte<br />

[Dichter unbekannt]<br />

Dunkel wars, der Mond schien helle,<br />

Schneebedeckt die grüne Flur,<br />

Als ein Wagen blitzeschnelle<br />

Langsam um die Ecke fuhr.<br />

Drinnen saßen stehend Leute,<br />

Schweigend ins Gespräch vertieft,<br />

Während ein erschoßener Hase<br />

Auf der Wiese Schlittschuh lief.<br />

Und auf einer roten Bank,<br />

Die blau angestrichen war,<br />

Saß ein blond gelockter Jüngling<br />

Mit kohlrabenschwarzem Haar.<br />

Neben ihm ‘ne alte Schachtel,<br />

Die kaum zählte sechzehn Jahr.<br />

Und sie aß ein Butterbrot,<br />

Das mit Schmalz bestrichen war.<br />

Droben auf <strong>dem</strong> Apfelbaume,<br />

<strong>Der</strong> sehr süße Birnen trug,<br />

Hing des Frühlings letzte Pflaume<br />

Und an Nüssen noch genug.<br />

5


"Ich war es nicht"<br />

Kinder lügen gerne. Die Eltern sind ehrlich schockiert. Wie viel Unwahrhaftigkeit verträgt die Familie?<br />

Meist drängt sich mir die Tatsache, dass die lieben Kleinen nicht die Wahrheit sagen, im<br />

Ausschlussverfahren auf. Jemand hat versucht, den Computer hochzufahren und ist am Passwort<br />

gescheitert. Es fehlen fünf Euro im Portemonnaie der älteren Schwester, obwohl sie es seit Tagen nicht<br />

angerührt hat. Die englischen Butterkekse, die du ganz oben im Schrank versteckt hattest, sind bis auf<br />

einen einzigen verschwunden.<br />

Ich weiß nicht, ob es auch anderen Eltern so geht, aber bei mir ergibt auch die eindringlichste<br />

Befragung, dass keines meiner Kinder irgendetwas mit den rätselhaften Geschehnissen in unserem<br />

Haus zu tun hat. "Ich war es nicht" – daran wird auch dann noch festgehalten, wenn es ganz<br />

offensichtlich nicht stimmen kann.<br />

Warum lügen Kinder? Eine Blitzumfrage unter meinen Töchtern und ihren Freundinnen ergab folgende<br />

Gründe: Wenn eine Freundin in Not ist, darf man lügen. Es ist auch okay, wenn man selbst durch eine<br />

Lüge einer ungerechten Strafe entgeht. Manchmal ist nicht ganz klar, ob Unwahrhaftigkeit in Ordnung<br />

ist: Man lügt etwa, weil man etwas unbedingt haben will, weil man einfach seine Ruhe braucht oder weil<br />

"deine Freundin glaubt, sie kann unheimlich gut singen, aber in Wirklichkeit nur scheußlich kräht".<br />

Und dann sind da Fälle, in denen Lügen wirklich nicht geht: Etwa bei der Freundin, die schlechte<br />

Schularbeiten verheimlicht und die Unterschriften der Eltern fälscht; bei <strong>dem</strong> Jungen, der so<br />

offensichtliche Lügengeschichten über seine Erfolge beim Fußball erzählt, dass seine Freunde ganz<br />

ratlos sind, wie sie reagieren sollen; und der Cousine, die ihrem Vetter in der Provinz weismachen will,<br />

in Berlin bewege man sich mit <strong>dem</strong> eigenen Hubschrauber fort, was schon deshalb sinnvoll sei, weil die<br />

millionenschweren Erbjuwelen der Mutter dabei nicht so leicht gestohlen werden könnten.<br />

Als sie ganz klein waren, haben die Kinder nicht gelogen. Es war ihnen auf eine niedliche Weise<br />

unmöglich, eine Tat oder einen Gedanken vor den Eltern geheim zu halten. Dann aber fingen sie an,<br />

gewisse Dinge vor einem zu verbergen. Sie streiten nun sogar Taten ab, bei denen man Zeuge war. Sie<br />

sagen: "Ich habe meine Schwester nicht gehauen" – selbst wenn die Eltern daneben standen. Auch<br />

wenn man ihnen liebevoll deutlich macht, dass man es nicht übel nimmt, wollen sie nicht zugeben, was<br />

sie getan haben.<br />

Kinder lügen verständlicherweise, um Bestrafung zu vermeiden. Doch es geht beim frühkindlichen<br />

Lügen nicht nur darum, sich vor ungewollten Konsequenzen eigenen Handelns zu schützen.<br />

Vom vierten Lebensjahr an beginnen Kinder, mit Lügen zu experimentieren. Dieses experimentelle<br />

Lügen ist der krumme Beginn einer neuen Eigenständigkeit. Eltern erleben dies als Vertrauensbruch.<br />

Da ist plötzlich ein feiner Riss in der innigen Beziehung. Kinder hingegen empfinden den elterlichen<br />

Wunsch, sie sollten ihre Lügen zugeben und sich offenbaren, als Angriff auf ihre neue<br />

Selbstständigkeit.<br />

Im Moment der Lüge kommen Freude und Schrecken der neu gewonnenen Unabhängigkeit<br />

zusammen: Das Kind hat etwas getan oder gedacht, das die Eltern nicht wissen dürfen. Es ist aus der<br />

vertrauten Symbiose mit den Eltern herausgetreten und hat seine eigene Version der Realität gegen<br />

ihre behauptet. Darin liegt eine neue Macht. Zugleich ist da die Angst vor <strong>dem</strong> Entdecktwerden. Lügerei<br />

ermächtigt und macht einsam. Im Gesicht eines Kindes, das lügt, kann man diesen Konflikt sehen.<br />

Eine Beobachtung der Entwicklungspsychologie legt nahe, darauf mit einer gewissen Gelassenheit zu<br />

reagieren. Je intelligenter Kleinkinder sind, desto früher fangen sie damit an. Die Fähigkeit zur Lüge ist<br />

nämlich an die intellektuelle Entwicklung gekoppelt. Kann ein Zweijähriger schon lügen, darf dies als<br />

Zeichen früher Reife gelten. Kann ein Fünfjähriger es noch nicht, muss man ein besorgniserregendes<br />

Entwicklungsdefizit vermuten. Wer lügen kann, hat nämlich das Konzept der Wahrheit begriffen – die<br />

Voraussetzung dafür, dass man eine alternative Realität zu <strong>dem</strong> als wahr Erkannten entwerfen kann.<br />

Kurz gesagt: Lügen lernen ist ein wichtiger Teil der kognitiven Entwicklung. Es gibt kein soziales Leben<br />

ohne Lüge. Nur Autisten können ganz ehrlich durchs Leben gehen. Wer mit Kindern lebt, muss ihnen<br />

darum viele offensichtliche Lügen lassen, weil ihre noch brüchige Autonomie daran hängt.<br />

Was die Sache kompliziert macht, ist Folgendes: Eltern sind einerseits die Instanz der Aufrichtigkeit und<br />

Ehrlichkeit für Kinder. Andererseits sind sie selber ganz offensichtlich nicht immer wahrhaftig. Einige der<br />

besten Tricks kann man sich bei ihnen abschauen. Letzte Woche habe ich mich selbst dabei erwischt,<br />

wie ich einer meiner Töchter beim Lügen geholfen habe. Sie hatte keine Lust, eine Freundin zu treffen,<br />

6


die gerade anrief. Hilflosen Blicks kam sie auf mich zu, drückte mir das Telefon in die Hand und sagte<br />

halblaut: Papa, ich will nicht, sag du was! Ich übernahm und erfand eine ziemlich plausible Ausrede.<br />

Nicht genug damit: Ich riet meiner Tochter, nächstes Mal lieber zu sagen, sie rufe gleich zurück, um<br />

sich so Luft zum Erfinden besserer Ausreden zu verschaffen.<br />

Warum habe ich sie nicht angehalten, ihrer Freundin schonend und freundlich die Wahrheit zu sagen?<br />

Ich war müde, ich wollte meine Ruhe haben, ich wollte keinen Konflikt. So fängt es meistens an.<br />

Bestimmt hatte sie schon oft gehört, wie kreativ Erwachsene dabei sind, lästige Anrufer abzuwimmeln<br />

("Bin gerade auf <strong>dem</strong> Sprung!"). Und Kinder sehen unsere fromme Miene, wenn wir Tante Marthas<br />

ungenießbare Konfitüre loben, die wir in Wahrheit sofort entsorgt haben.<br />

Wir loben Kinder, wenn sie sich nett und rücksichtsvoll verhalten und aus Höflichkeit eine Haltung<br />

einnehmen, die ihnen eigentlich zuwider ist; wenn sie sich etwa <strong>dem</strong>onstrativ über ein Geschenk<br />

freuen, das ihnen eigentlich nicht gefällt, damit sich der Schenker besser fühlt. Wir halten das nicht für<br />

eine Lüge, sondern für eine Demonstration sozialer Kompetenz. Für Kleinkinder gibt es diesen feinen<br />

Unterschied nicht.<br />

Warum bin ich dann irritiert, wenn meine Kinder sich genauso verhalten wie ich?<br />

Es ist für Eltern nicht leicht zu akzeptieren, dass sie von ihren Kindern belogen werden. Aber alle<br />

Kinder lügen, und zwar nicht nur hier und da einmal. Amerikanische Verhaltensforscher haben<br />

beobachtet, dass der durchschnittliche Vierjährige alle zwei Stunden eine Lüge vorbringt, der<br />

durchschnittliche Sechsjährige sogar alle eineinhalb Stunden. Das sind ziemlich schockierende Zahlen.<br />

Mir kommen sie nicht übertrieben vor.<br />

Ich habe drei Strategien, um mit dieser Situation umzugehen. Ich erhöhe den Druck bis zur robusten<br />

Befragung: "Niemand verlässt den Raum, bis ihr die Wahrheit sagt." Ich appelliere moralisch: "Sag mir<br />

die Wahrheit, ich bin gar nicht böse." Ich lasse die Sache stillschweigend und resigniert fallen und setze<br />

darauf, dass die kindliche Lügerei sich im Laufe der Entwicklung mit wachsender sozialer Kompetenz<br />

auswächst. Keine der drei Strategien ist bisher sehr erfolgreich.<br />

Heißt das, Eltern sollten über kindliche Lügen gnädig hinwegsehen, wie es in vielen<br />

Erziehungsratgebern steht? Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Die <strong>nach</strong>giebigen Eltern, die ich<br />

kenne, werden jedenfalls nicht durch größere Wahrhaftigkeit belohnt als diejenigen, die auf Regeln<br />

beharren.<br />

Wenn Eltern die Lügen ihrer Kinder aus Konfliktscheu durchgehen lassen, ist das schlecht für das<br />

moralische Mikroklima der Familie. Mit allzu offensichtlichen Lügen nicht konfrontiert zu werden, muss<br />

ein Kind als eine Form von Ver<strong>nach</strong>lässigung empfinden. Die Eltern signalisieren damit, dass sie<br />

offenbar ihre Rolle als Garanten der Wirklichkeit und der Moral nicht wahrnehmen wollen – aus<br />

Müdigkeit, aus Trägheit, warum auch immer. Mit Lügen systematisch durchzukommen unterläuft das<br />

Selbstbild des Kindes, dass es ein "guter Mensch" sei. Vielleicht ist dies sogar noch schlimmer, als<br />

gelegentlich durch inquisitorische Verhöre in die Ecke getrieben zu werden.<br />

Da ist noch etwas, vielleicht sogar das Wichtigste. Unter allen Ergebnissen, die meine kleine<br />

Kinderumfrage übers Lügen gezeitigt hat, hat mir diese Aussage einen richtigen Stich versetzt:<br />

"Manchmal musst du lügen, weil deine Eltern noch nicht reif für die Wahrheit sind." Da war zum Beispiel<br />

die Sache mit <strong>dem</strong> Gameboy. Ich muss zugeben, ich hasse die Dinger auf eine fast schon blindwütige<br />

Weise, weil sie "euch süchtig machen und verblöden", wie ich oft genug gesagt habe. Alle Versuche<br />

meiner Töchter, mich von ihrer sittlichen Reife im Umgang mit den Daddelkisten zu überzeugen ("Ich<br />

kann mir schon selber einteilen, wie viel ich spiele"), prallten an mir ab. Also haben sie sich einen bei<br />

einer Freundin geliehen und heimlich gespielt. Dass man unter der Bettdecke fleißig gedaddelt hatte,<br />

wurde bestritten, bis es nicht mehr haltbar war.<br />

Das war gegen unsere Regeln. Aber irgendwie nehme ich ihnen nicht übel, dass sie mich reingelegt<br />

haben. Mit mir war über Gameboys kein rationales Gespräch mehr möglich. In<strong>dem</strong> sie mich belogen,<br />

haben sie mir implizit das Zeugnis ausgestellt, nicht konfliktfähig zu sein. Und da haben sie, was<br />

Gameboys angeht, durchaus einen Punkt erwischt.<br />

Kinder lernen von uns zu lügen. Wenn sie zugleich lernen, dass Streit eine Form von Respekt sein<br />

kann, ist das womöglich halb so wild. Denn am wenigsten wird dort gelogen, wo man sich ohne Angst<br />

die Meinung sagen kann.<br />

von Jörg Lau, erschienen in: ZEITmagazin LEBEN, 10.04.2008 Nr. 16<br />

7


Kinder haben kurze Beine von Mikael Krogerus<br />

Wann lügen Kinder? Und warum? Antworten kennt die Pädagogik viele, aber wenige sind so<br />

einleuchtend wie die von Imre (4), Joana (7) und Aglaia (9).<br />

Drei Kinder sitzen auf einer Couch; vor ihnen auf <strong>dem</strong> Teppich: 28 Smarties. Ich bitte die Kinder, die<br />

Smarties aufzusammeln und in die Schachtel zu tun, und verlasse unterdessen den Raum. Nach einer<br />

Minute sind alle Smarties vom Teppich verschwunden, acht liegen in der Schachtel.<br />

Wo sind die Smarties?<br />

Imre (4): Das verraten wir nicht! (Alle kichern.)<br />

Habt ihr sie gegessen?<br />

Aglaia (9): Ja.<br />

Joana (7): Nein.<br />

Imre: Wir haben alle gegessen.<br />

Ihr solltet sie aufsammeln, nicht aufessen.<br />

Joana: Wir haben ja nicht alle gegessen.<br />

Wie viele habt ihr denn gegessen?<br />

Joana: Ich… äh … ich hab drei gegessen.<br />

Aglaia: Ich zwei oder eins.<br />

Imre: Ich hab, ich hab, ich hab nur eins gegessen.<br />

Joana: Jaja... also er (zeigt auf Imre) hat sicher mehr.<br />

Imre: Ja, ich hab zwei (schreit), ich hab eins, meine ich!<br />

(Streng) Lügt ihr mich jetzt an?<br />

Imre: Ja, wir haben dich angelügt!<br />

Aglaia: Ich hab dich nicht angelogen.<br />

Joana: Ich auch nicht.<br />

Und du, Imre, hast du gelogen?<br />

Imre: Ja… nein, ich habe auch nicht gelogen, sicher nicht. Ich habe drei… eins gegessen. Oder nein,<br />

gar keins.<br />

Jetzt schau mich mal an und sag die Wahrheit.<br />

Imre: Ja, ich hab… die anderen haben aber noch viel mehr gegessen. Ich hab nur eins. Ich hab zwei<br />

und du hast drei und du hast auch nur eins. So, fertig, Punkt. Ich hab eins und du hast drei (zeigt auf<br />

Joana), du bist die Blödste.<br />

(Oberlehrerhaft): Es lagen 28 Smarties auf <strong>dem</strong> Tisch, 8 sind in der Packung. Ihr müsst also 20<br />

gegessen haben.<br />

Imre: Nein, nein, nein, wir haben nicht 20 gegessen… ein paar haben wir nicht gegessen.<br />

Warum lügst du mich an?<br />

Imre (fängt an zu heulen): Bist du jetzt hässig mit mir?<br />

Nein, ich wollte bloss wissen, warum du mich anlügst.<br />

(Imre heult auf, rennt aus <strong>dem</strong> Zimmer.)<br />

8


Ihr habt mich also angelogen.<br />

Aglaia: Ja.<br />

Joana: Nein.<br />

(Im Hintergrund heult Imre: Niemand hat gelügt!)<br />

Warum ist es eigentlich schlimm, wenn man lügt?<br />

Imre (kommt heulend zurück): Weil ich nicht möchte, dass ich eine lange Nase bekomme. Ich hab ja<br />

schon eine lange Nase. (Imre verschwindet im Badezimmer.)<br />

Joana: Meint der immer noch, dass die Nase beim Lügen wächst?! Ich dachte das früher auch, dann<br />

habe ich mal gelogen und in den Spiegel geschaut, und alles war gleich.<br />

Imre (zurück aus <strong>dem</strong> Badezimmer): Obwohl ich gelügt habe, ist meine Nase kürzer geworden!<br />

Also ist Lügen gar nicht so gefährlich?<br />

Joana: Doch, denn wenn man rausbekommt, dass einer lügt, dann glaubt man ihm nie mehr, auch<br />

wenn er dann die Wahrheit sagt.<br />

Lügt ihr oft?<br />

Aglaia: Ich hab schon oft gelogen. Zum Beispiel hab ich der Mami gesagt, ich hätte den Tisch schon<br />

abgewischt, obwohl ich den gar nicht abgewischt hatte.<br />

Imre: Ich hab mal Grosspapi angelogen. Wir waren auf der Alp, und auf <strong>dem</strong> Tisch standen viele<br />

schöne Blüemli. Ich habe die Blüemli aus der Vase genommen und zerrupft. Und dann kam Grosspapi<br />

und fragte: Hast du die Blüemli zerrupft? Und ich hab gesagt: Nein. Aber dabei hatte ich das ja<br />

gemacht! Ich hatte ihn angelogen!<br />

Und warum hast du ihn angelogen?<br />

Imre: Ich hab gedacht… der schimpft sicher mit mir.<br />

Aglaia: Meistens lügt man, weil man Angst hat, dass jemand schimpft.<br />

Wie fühlt es sich an, wenn man lügt?<br />

Imre: Ich habe mich komisch gefühlt.<br />

Aglaia: Du hattest ein schlechtes Gewissen. Dann fühlt man sich unwohl, besonders hier (zeigt auf den<br />

Bauch).<br />

Was macht ihr, wenn ihr ein schlechtes Gewissen habt?<br />

Aglaia: Vielleicht die Wahrheit sagen?!<br />

Joana: Ich weiss es doch nicht!<br />

Aglaia: Ich hab mal von einer Freundin einen Walkman ausgeliehen und ihn nicht abstellen können,<br />

und da hab ich sie angelogen. Dann kam dieses komische Gefühl, und dann hab ich ihr die Wahrheit<br />

gesagt, und sie hat auch nicht geschimpft, und das Gefühl war weg.<br />

Woher weisst du, was richtig und was falsch ist?<br />

Aglaia: Na ja, ich habe so eine innere Stimme, aber ich glaube, die Stimme, das ist eigentlich Mama.<br />

Joana: Ja, oder es sind die Engel, die zu dir sprechen.<br />

Aglaia: Ja, das kann auch sein, oft weiss man nicht, wer spricht, man weiss nur, dass das, was man<br />

gerade tut, falsch ist.<br />

Imre (heult plötzlich auf): Ich will nicht, dass ich die Smarties gegessen habe!<br />

Worüber redest du? Das ist doch jetzt total lange her.<br />

9


Imre: Ich will aber nicht, dass ich gelügt habe.<br />

Joana: <strong>Der</strong> hat immer noch ein schlechtes Gewissen.<br />

Sollte man Lügner bestrafen?<br />

Joana: Ich finde nicht. Manchmal lügt man ja nur, weil man sich toll vorkommt oder weil es cool ist.<br />

Aglaia: Ich finde, man sollte Lügner immer bestrafen.<br />

Du hast mich ja vorhin angelogen mit den Smarties, wie, findest du, sollte ich dich bestrafen?<br />

Aglaia: Zum Beispiel könntest du mir weniger Dessert geben. Oder gar kein Dessert.<br />

Und wie sollte man dich bestrafen, Imre, wenn du lügst?<br />

Imre (schreit): «Du gehst jetzt ohne Büechli ins Bett!»<br />

Sollte man Lügner immer bestrafen?<br />

Imre: Ja, damit die nicht wieder lügen!<br />

Seid ihr schon mal angelogen worden?<br />

Aglaia: Die Mama hatte uns mal versprochen, in eine Hüpfburg zu gehen. Wir haben uns total gefreut,<br />

aber als wir ankamen, war die geschlossen, und die Mama hat das aber vorher schon gewusst.<br />

Woran habt ihr erkannt, dass die Mutter gelogen hat?<br />

Joana: An den Augen. Man sieht es an den Augen.<br />

Aglaia: Wenn Joana mich anlügt, macht sie immer so (lächelt, verdreht die Augen). Dann weiss ich: die<br />

lügt.<br />

Die Erwachsenen lügen also auch?<br />

Joana: Manche ja.<br />

Aglaia: Aber ich glaube, Kinder lügen mehr als Erwachsene, weil die mehr Quatsch im Kopf haben.<br />

Ist es schlimmer, belogen zu werden oder selbst zu lügen?<br />

Joana: Wenn man lügt, fühlt man sich schlecht, und wenn man angelogen wird, fühlt man sich auch<br />

schlecht. Aber es ist nicht das gleiche Gefühl.<br />

Aglaia: Lügen ist, glaub ich, schlimmer, weil, da bist du selbst schuld.<br />

Gibt es jemanden, den ihr nie anlügen würdet?<br />

Aglaia: Gute Freunde. Wenn man lügt, geht die Freundschaft kaputt. Ich habe noch nie eine Freundin<br />

angelogen.<br />

Und würdet ihr eine Freundin mit einer Lüge schützen?<br />

Aglaia: Häh? Ich verstehe die Frage nicht.<br />

Joana: Ich auch nicht.<br />

Imre: Was fragst du denn da Komisches?!<br />

Stellt euch mal vor: Ihr bekommt mit, wie Joana alle Smarties nahm, obwohl es verboten war, und ich<br />

frage euch: Hat Joana die Smarties gegessen? Was sagt ihr dann?<br />

Imre (empört): Hast du alle Smarties gegessen, Joana?<br />

Joana: Nein, ich hab doch nur zwei!<br />

Aglaia: Ich würde die Wahrheit sagen.<br />

10


Ihr findet Lügen also immer falsch?<br />

Aglaia: Es ist immer schlecht, weil, wenn du lügst, geht es dir schlecht.<br />

Joana: In der Schule habe ich mal geblufft, das war gut.<br />

Ist bluffen etwas anderes als lügen?<br />

Joana: Bluffen ist nicht so schlimm, weil, dann lüge ich ja nicht, ich sage bloss nicht die Wahrheit.<br />

Aglaia: Ich habe auch mal meine Lehrerin angelogen, aber die hat es nicht gemerkt.<br />

Ist es okay zu lügen, wenn keiner es merkt?<br />

Joana: Ja.<br />

Aglaia: Nein.<br />

(NZZ Folio 08/06 – Thema: Lügen)<br />

Lügen, flunkern, schwindeln, mogeln<br />

Jeder von uns lügt – hin und wieder mal. Manche lügen mehr, manche weniger. Es gibt Notlügen und<br />

Lügen, mit denen man andere bewusst täuscht. Und es gibt Momente, da man hat man das Gefühl,<br />

dass man sich nur mit einer Lüge retten kann. Das kann manchmal schief gehen.<br />

Doch nicht nur Kinder, auch viele Erwachsene nehmen es mit der Wahrheit nicht immer so genau.<br />

Manche Lügen helfen einem für einen Moment aus der Patsche; es gibt aber auch Lügen, die einen<br />

erst richtig in Schwierigkeiten bringen.<br />

Wichtig!<br />

Nicht jede Lüge ist schlecht. Manchmal gehört es sogar zum "guten Ton", wenn man schwindelt. Anstatt<br />

jemanden zu sagen, wie doof sein T-Shirt aussieht und ihn dadurch zu verletzen, sind wir höflich und<br />

sagen etwas Nettes. Solche Lügen nennt man "Notlügen".<br />

Manche lügen aus Angst, andere zu enttäuschen. Wenn du dich zum Beispiel nicht traust, zu Hause<br />

deine Noten zu zeigen, sprich mit deinen Eltern oder mit <strong>dem</strong> Schulpsychologen darüber.<br />

Manche lügen, weil sie Angst vor einer Strafe haben, z.B. wenn sie etwas kaputt gemacht oder verloren<br />

haben. Dann sagen sie, es wäre jemand anders gewesen oder es sei ihnen geklaut worden. Wenn sie<br />

etwas geklaut haben, sagen sie, sie hätten es gefunden oder jemand hätte es ihnen geschenkt.<br />

Vielleicht glauben es die Eltern und die Lüge kommt nie heraus, vielleicht auch nicht – dann ist man<br />

erst recht blamiert. In je<strong>dem</strong> Fall hat man ein schlechtes Gewissen!<br />

Manche lügen, um auf andere Eindruck zu machen. Sie möchten bewundert werden, genauso beliebt<br />

sein wie die anderen, Freunde finden, in eine Clique aufgenommen werden. Hier heißt es aufpassen –<br />

früher oder später wird man dahinter kommen. Lass lieber das Flunkern! Echte Freunde mögen dich so<br />

wie du bist.<br />

http://www.labbe.de/mellvil/index_kk.asp?themaid=7&titelid=123<br />

11


Lügengeschichten Wenn es Kinder mit der Wahrheit nicht so ernst nehmen<br />

Die Wahrheit ist uns Erwachsenen wichtig. Meist kennen wir kein Pardon, wenn wir Zeuge von<br />

Unwahrheit werden. Schnell meldet sich eine innere Richterstimme, die Wahrheitsverdrehungen<br />

verurteilt. Wer die reine Wahrheit sagt, nichts als die Wahrheit, ungeschminkt und nüchtern die Realität<br />

benennt, gilt als ein wahrhaftiger Mensch.<br />

Im Gegensatz dazu steht die Lüge. Wenn die Sonne der Wahrhaftigkeit scheint, bleibt für die Lüge nur<br />

das dunkle und dubiose Abseits. Deshalb werden Lügner als gemein, schmutzig und fies bezeichnet.<br />

Wer angelogen wird, fühlt sich verkohlt, das heißt, auf den schwappt etwas über von der dunklen<br />

Qualität der Lüge.<br />

In diesem Beitrag geht es um den Umgang mit Lüge und Wahrheit bei Kindern, um die Faktoren ihrer<br />

Entwicklung, aber auch um die vielfältigen Störungen im Alltag von Kindertagesstätte und Hort. Kein<br />

Kind kommt darum herum, sich im Spannungsfeld von Lüge und Wahrheit zu erproben, um sich seiner<br />

Kompetenz als Lügner, Schwindler oder Aufschneider immer wieder zu versichern und auf diese Weise<br />

die schwierige Unterscheidung von Lüge und Wahrheit zu lernen.<br />

Da ich eines jener Kinder war, das gelogen und gestohlen hat, aber dann doch nicht - wie die<br />

Erwachsenen prophezeit hatten - vom Teufel geholt wurde, habe ich viel Sympathie für die Kinder,<br />

denen ihre Fantasie, ihre seelische Notlage und ihre Freude am Fabulieren einen Weg vorgibt, der sie<br />

bei Erwachsenen immer wieder in Misskredit bringt. Andererseits teile ich die Haltung der<br />

Erwachsenen, die oft verunsichert vor einem Dreikäsehoch stehen, der mit ehrlichem Gesicht standhaft<br />

leugnet, was er noch eben gesagt hat.<br />

Erwachsene und Kinder im Spannungsfeld von Lüge und Wahrheit<br />

Während in früheren Jahren die strikte Einhaltung des Gebotes »Du sollst nicht lügen!« auch für Kinder<br />

galt, geht es heute mehr darum, herauszufinden, wieso ein Kind der Forderung <strong>nach</strong> der Wahrheit nicht<br />

<strong>nach</strong>kommen kann. Kinder werden also nicht länger mit <strong>dem</strong> Prügel eines ethischen Rigorismus klein<br />

gemacht, denn Wahrhaftigkeit ist kein Besitz, sondern muss immer wieder neu erworben werden.<br />

Misserfolge bleiben nicht aus und können leichter toleriert werden, wenn sich die Erwachsenen von<br />

eigenen rigorosen moralischen Kategorien frei machen. Was geschieht mit einem Erwachsenen, der<br />

von einem Kind angelogen wird? In erster Linie ist er enttäuscht, oft auch wütend. Das fehlerhafte<br />

Verhalten des Kindes konfrontiert ihn auch mit eigenen Fehlern im Umgang mit Lüge und Wahrheit.<br />

Das gilt es zu akzeptieren.<br />

Vor allem aber sieht er sich getäuscht. Jetzt kann ich mich nicht einmal mehr auf dich verlassen! Die<br />

bisher verlässliche Beziehung des Erwachsenen zum Kind hat einen Makel bekommen.<br />

Eine Erzieherin berichtet: »Tagelang hat uns der fünfjährige Ali an der Nase herum geführt. Er erzählte<br />

immer wieder von seinem an Krebs erkrankten Onkel in der Türkei, und die Kinder der Gruppe nahmen<br />

viel Anteil. Als ich seine Mutter darauf ansprach, fiel ich aus allen Wolken, als ich erfuhr, der Onkel<br />

erfreue sich bester Gesundheit.«<br />

Fast zwei Wochen lang hatte der Junge konsequent seine Geschichte vom krebskranken Onkel erzählt.<br />

Damit hatte er die Erzieherin sehr verunsichert, denn dass ein Kind aus ihrer Gruppe so gekonnt lügt,<br />

passte nicht in ihr Selbstbild. Prompt stellte sie ihre berufliche Kompetenz in Frage, weil sie <strong>dem</strong><br />

Schlingel nicht gleich auf die Schliche gekommen war.<br />

Was aber hat Ali dazu bewogen, eine Lügenstory zu erzählen? Diese Frage stellen sich Erzieherinnen,<br />

die davon ausgehen, dass sich hinter jeder Lüge ein bewusstes oder unbewusstes Motiv verbirgt. Ihr<br />

kriminalistisches Bemühen um Aufklärung führt jedoch nicht immer zum Ziel; dafür steht es oft in der<br />

Gefahr, lügenden Kindern Motive zuzuschreiben, die nur theoretisch stimmig sind. Auf das Verhältnis<br />

von Kind und Erwachsenem fällt ein Schatten des Misstrauens. Das Kind wird vermehrt beobachtet und<br />

seine Verhaltensweisen werden kritisch hinterfragt. Es fühlt sich unsicher und hat Mühe, <strong>nach</strong> seinem<br />

Ausflug ins Lügenland wieder in sein seelisches Gleichgewicht zu kommen.<br />

Wer Alis Geschichte weniger unter <strong>dem</strong> Aspekt der Lüge anhört, sondern von einem differenzierteren<br />

Standpunkt aus zu ihm blickt, der staunt vielleicht über die Fähigkeit des Kindes, das zwei Wochen lang<br />

an einem inneren Plot dran bleiben kann, erkennt aber auch, dass diese geflunkerte Story auf das Ziel<br />

hinausläuft, entdeckt und zurechtgerückt zu werden. Die Wahrheit will am Ende ans Licht, und die<br />

Vorstellungswelt des Jungen kann sich neuen Inhalten zuwenden. Beim nächsten Faden, der für eine<br />

Story gesponnen wird, kann die Erzieherin mit Gelassenheit reagieren und muss ihre fachliche<br />

Kompetenz nicht mehr in Frage stellen.<br />

12


Die Entwicklung des kindlichen Unterscheidungsvermögens von Lüge und Wahrheit<br />

Bei Kindern im Kindergartenalter gibt es noch keine stabilen Grenzen zwischen Fantasie, Wunsch und<br />

Wirklichkeit. Sie erleben ihr kindliches Territorium als eine Einheitswirklichkeit. Dort leben sprechende<br />

Tiere, allmächtige Menschen und sich bewegende Gegenstände in einem lebendigen Miteinander. Sie<br />

variieren Form und Aussehen gemäß <strong>dem</strong> Willen des Kindes, und das Kind erlebt sich als allmächtigen<br />

Schöpfer seiner Welt. Mit <strong>dem</strong> Vorschulalter nimmt diese Fähigkeit ab. Dabei verfügen einige Kinder<br />

länger über die Kraft, sich die Welt <strong>nach</strong> ihrem Bilde zu schaffen, als andere. Wenn es für sie<br />

unangenehm wird, gehen sie auf die innere Tauchstation und stärken durch die Umdeutung der<br />

Wirklichkeit ihr Selbstbewusstsein. Im Alter bis fünf oder sechs Jahren ist es deshalb falsch, ein Kind<br />

als Lügner zu bezeichnen. Gibt es <strong>dem</strong><strong>nach</strong> überhaupt Lügner im Kindergarten? Aber so einfach ist es<br />

auch nicht, denn lange bevor Kinder aus der Welt ihrer Größenfantasien herausgewachsen sind,<br />

kommen sie in Kontakt mit <strong>dem</strong> für sie schwierig zu begreifenden Sachverhalt der Lüge. Dieser Begriff<br />

schwirrt als Anschuldigung durch den Raum und landet im kindlichen Gedächtnis, auch wenn es noch<br />

in <strong>dem</strong> Alter ist, in <strong>dem</strong> Lügen kurze Beine haben dürfen. Kinder im Vorschulalter (mit einer extra<br />

Portion Toleranz für die besonders Fantasiebegabten) neigen zu Konfabulationen, das heißt, sie<br />

können unterschiedliche Ereignisse zeitlich zusammenziehen. Auf die Frage: »Was hast du gestern mit<br />

deiner Freundin gespielt?« antwortet ein Kind vielleicht mit einer Geschichte aus <strong>dem</strong> Hier und Jetzt<br />

und überträgt diese automatisch auf gestern. Die Freundin dagegen bastelt dank ihrer Fähigkeit zur<br />

Konfabulation eine ganz andere Geschichte, denn wer außer den Erwachsenen ist schon an der<br />

Realität interessiert? Taucht dann zum ersten Mal das Wort Lüge oder Wahrheit auf, beginnt ein<br />

wichtiger Abschnitt im Prozess der Gewissensbildung.<br />

Erste Annäherungen an den Bereich der Lüge machen Kinder mit Hilfe der Sprache. Auf der Straße, zu<br />

Hause oder in der Kindertagesstätte kreisen sie das Phänomen Lüge sprachlich ein. Sie schaffen sich<br />

stetig neue Anlässe, um den Begriff anzuwenden, konkretisieren auf diesem Weg die<br />

Erscheinungsweisen der Lügenanlässe und erweitern ihr Weltwissen um ein beträchtliches Stück.<br />

Dabei bekommen sie auch eine erste Ahnung davon, dass Lügen, Wahrheit und alles, was damit<br />

zusammenhängt, keine einfachen Dinge sind. Das älter werdende Kind erfasst die Welt zunehmend<br />

realistischer. Dabei hat jedes Kind seine ganz spezifische Übergangszeit, in der es Abschied von seiner<br />

magisch orientierten Weltauffassung nimmt und seine Allmacht als begrenzt erfährt. In dieser sensiblen<br />

Übergangszeit inszeniert es häufig Situationen, in denen es in Zusammenhang mit einer Lüge ertappt<br />

wird. Es lügt in diesem Alter jedoch nicht, um der Erzieherin eins auszuwischen. Es will vielmehr darauf<br />

hinweisen: Ich bin dabei, eine weitere Hürde auf meinem Weg der Welteroberung zu nehmen. Ich will<br />

verstehen, was Lüge ist und wieso es so unangenehm sein kann, bei einer Lüge erwischt oder von<br />

anderen Kindern belogen zu werden. In dieser Übergangszeit taucht häufig die Frage auf: »Stimmt<br />

das?« Das Kind will bereits im Vorfeld geprüft haben, ob etwas wahr ist oder nicht. Nur ein Kind, das<br />

diverse Misserfolge im Umgang mit <strong>dem</strong> Lügen hinter sich hat und dadurch über eine differenziertere<br />

Unterscheidung von Lüge und Wahrheit verfügt, kann diese Frage stellen. Häufig schließt es seine<br />

Aussagen mit <strong>dem</strong> Nachsatz: »Das hat mein Papa gesagt!« oder »Meine Erzieherin sagt das!« Mit der<br />

Berufung auf den wertgeschätzten Erwachsenen wappnet es sich gegen die latente Angst, als Lügner<br />

dazustehen.<br />

Dürfen sich Erwachsene durchs Leben mogeln?<br />

Jeder Erwachsene hatte als Kind seine Mühe mit <strong>dem</strong> Gebot »Du sollst nicht lügen!« Das war meistens<br />

dann der Fall, wenn sichtbar wurde, dass die Großen ja gar nicht tun, was sie sagen. Trotz<strong>dem</strong> geht die<br />

Mehrzahl der Erwachsenen sehr schwammig mit dieser moralischen Forderung um. Es bleibt nicht aus,<br />

dass Kinder dies mitbekommen und dadurch verunsichert werden. Kritische Kinder fragen dann <strong>nach</strong>,<br />

wieso aus <strong>dem</strong> Unmut des Vaters über den drohenden Besuch eines ungeliebten Verwandten<br />

schlagartig Freundlichkeit wird, sobald der in der Tür steht. Ganz mutige und Wahrheit suchende Kinder<br />

platzen in solche Situationen gerne hinein und messen den Erwachsenen an seinen Worten. »Mein<br />

Papa hat vorhin gesagt, dass er dich gar nicht mag!« Was oft als vorlaute Ungezogenheit gebrandmarkt<br />

wird, entspringt <strong>dem</strong> Wunsch des Kindes <strong>nach</strong> Authentizität: Ich will wissen, woran ich bin!<br />

Eine Begebenheit wie diese beeinträchtigt das Vertrauen des Kindes. Mit argumentativen Klimmzügen<br />

ist dagegen nicht anzukommen. Da helfen nur neue Erfahrungen, bei denen das Kind den<br />

Erwachsenen als stimmig erlebt. Wenn gegenseitiges Vertrauen in der Beziehung wieder die Oberhand<br />

hat, darf <strong>dem</strong> Erwachsenen auch ein Zacken aus der Krone fallen, wenn er sein geheucheltes<br />

Verhalten <strong>dem</strong> Kind gegenüber als nicht gut bewertet. Das hat nichts mit Anbiederung zu tun, zeigt aber<br />

<strong>dem</strong> Kind sehr deutlich, dass auch die Großen Fehler machen und es keine Schande ist, dies<br />

zuzugeben.<br />

13


Lügen als Signale der Not<br />

»Jetzt hat der Max doch wieder gelogen. Ich habe genau beobachtet, wie er der kleinen Tina die<br />

Schaufel auf den Kopf geschlagen hat. Aber der Bengel lügt und sagt, er sei es nicht gewesen. Wieso<br />

kann er nicht zu <strong>dem</strong> stehen, was er getan hat?« Eine bemühte und entrüstete Erzieherin macht sich<br />

Luft. Immer wieder gibt es Probleme: Max tut den anderen Kindern weh, zeigt jedoch keinerlei Einsicht<br />

in sein Tun, sondern steht wie unbeteiligt daneben.<br />

Max gehört zu den Kindern mit sehr geringer Frustrationstoleranz. Er kann keine Fehlhandlungen<br />

zugeben und hält es nicht aus, wenn ihn andere kritisieren. »Max kneift«, sagen die Kinder der Gruppe,<br />

»der verschwindet einfach aufs Klo, wenn ihm etwas nicht passt!« Durch dieses Verhalten schützt sich<br />

der Junge vor Situationen, die er emotional nicht aushält. Während andere Kinder lernen, sich <strong>nach</strong><br />

ertappten Unwahrheiten der Scham auszusetzen, ihr Vergehen vielleicht sogar zugeben und sich nicht<br />

im Schmollwinkel verkriechen, ist Max für diesen Lernschritt nicht bereit. Negative Befindlichkeiten sind<br />

für ihn so bedrohlich, dass er lügen muss.<br />

Ein solches Kind ist an manchen Tagen ein harter Brocken für die Erzieherin. Die Dinge müssen beim<br />

Namen genannt werden - das ist sie <strong>dem</strong> betroffenen Kind und den zuschauenden Kindern schuldig.<br />

So wird die Rolle des Erwachsenen zu der eines Schlichters oder Richters. Das brauchen Kinder, damit<br />

sie zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden lernen. Damit wächst ihre Bereitschaft zu<br />

Verzichtsleistungen, die das Größerwerden von ihnen fordert.<br />

Im Gespräch mit der Mutter hört die Erzieherin von den drastischen Strafen, die Max erleidet, sobald<br />

sein Verhalten nicht in den rigiden Verhaltenskodex des Vaters passt. Dieser spricht mit seinem Sohn<br />

tagelang nicht mehr. Seine Mutter versucht, diese harte Behandlung auszugleichen, in<strong>dem</strong> sie <strong>dem</strong><br />

Jungen alles durchgehen lässt. Max steckt also im Dilemma zwischen der ihn emotional<br />

überfordernden Strenge des Vaters und der grenzenlosen Nachsicht der Mutter. Er stellt sich cool und<br />

leugnet im Kindergarten seine Taten. Bei diesem Jungen bewahrheitet sich der Satz »Wer lügt, der ist<br />

in Not«.<br />

Wer als Erwachsener die Signale der Not hinter der Lüge eines Kindes sieht, ist weit entfernt davon, es<br />

bloßstellen zu wollen. Hilfreich kann ein innerer Dialog mit <strong>dem</strong> Kind sein: »Du hast mich angelogen,<br />

und ich lasse mich von deiner Lüge zu deiner inneren Not führen!« Wer die Lüge eines Kindes auf<br />

diese Art und Weise angeht, akzeptiert ihre besondere Funktion. Das Kind kann sich entlastet fühlen<br />

und antwortet: »Ich kann es nur auf diese Weise sagen. Hilf mir, es besser sagen zu können!«<br />

Die Macht der Lügen<br />

Kinder im Hort und in der Grundschule erweitern ihre Kompetenz im Umgang mit der Lüge, in<strong>dem</strong> sie<br />

diese bewusst als Mittel der Macht einsetzen Auf der einen Seite kann ein Kind zum Opfer unwahrer<br />

Aussagen werden, die von anderen Kindern gezielt eingesetzt werden. Wenn es auf der anderen Seite<br />

Lüge mit Lüge beantwortet, erschweren die Lügengespinste den Umgang miteinander. Wer in seinen<br />

Äußerungen von anderen verfälscht wird, der schämt sich, fühlt sich ungerecht behandelt und leidet<br />

unter der eigenen Wertminderung. Wenn diese Kinder dann auch noch zu Unrecht bestraft werden,<br />

erfahren sie schmerzhaft, welche Macht eine Lüge haben kann. Schnell sind so Rachegefühle geweckt.<br />

Im Umgang mit Erwachsenen greifen größer werdende Kinder manchmal zu einer Lüge als Ausdruck<br />

ihrer zunehmenden Eigenständigkeit. Sie gehen das Risiko ein, ausgeschimpft zu werden und<br />

bestehen auf ihrer eigenen Sichtweise. Nicht selten ergreifen Kinder, deren Lügengeheimnis respektiert<br />

wird, <strong>nach</strong> einer Weile von sich aus die Initiative, um die falschen Aussagen wieder zurechtzurücken.<br />

Es macht eben auch Spaß, die Erwachsenen hereinzulegen!<br />

<strong>Der</strong> Fantasiegefährte, das zweite Ich<br />

Bei manchen Kindern geschieht in Umbruchzeiten etwas Aufregendes: In ihrer Fantasie entsteht ein<br />

zweites Ich. Bei der sechsjährigen Luisa ist es einfach die andere Luisa. Bei Unannehmlichkeiten, die<br />

eigentlich sie zu verantworten hat, sagt sie lachend: »Das war die andere Luisa! Die hat doch das Glas<br />

zerbrochen und gibt das nicht zu.« Ganz schön raffiniert, denkt der Erwachsene: Da erschafft sich die<br />

kindliche Fantasie einen Gefährten, <strong>dem</strong> es alles Fehlverhalten zuschreiben kann, um sich selbst zu<br />

entlasten.<br />

Solche Aufspaltungen tauchen bei Kindern viel häufiger auf, als Erwachsene denken. Aber nicht jedes<br />

Kind spricht darüber. Manches hat vielleicht Angst, lächerlich gemacht zu werden oder ahnt die<br />

abwertende Einstellung der Großen und hält vorsichtshalber den Mund.<br />

Für die Entwicklung und Identitätsfindung eines Kindes können solche unsichtbaren Freunde eine<br />

förderliche Wirkung haben. Luisa hat die andere Luisa als innere Gesprächspartnerin und verfügt<br />

14


dadurch in Konfliktsituationen über die Möglichkeit, auf Distanz zu sich zu gehen. Die andere Luisa<br />

gehört eine Zeit lang zu den inneren Symbolen, die an der Ausbildung ihrer Identität mitarbeiten.<br />

Da die meisten Erwachsenen vergessen haben, wie belebt ihre Fantasie im Kindesalter war, neigen sie<br />

sehr schnell dazu, diese Dopplung des Ich als abwegig und krankhaft anzusehen und meinen, das<br />

müsse <strong>dem</strong> Kind ausgetrieben werden. Das ist nicht gut. Besser ist es, wenn das Kind sowohl<br />

Akzeptanz als auch Respekt vor diesem Phänomen erfährt. Die in Umbruchsituationen auftauchenden<br />

Fantasiegefährten helfen <strong>dem</strong> Kind, sich neu zu orientieren und ermöglichen ihm die notwendige<br />

Anpassungsleistung. (Allerdings kann es uns Erwachsene manchmal ganz schön nerven, wenn die<br />

andere Luisa bei Alltagsentscheidungen ebenfalls berücksichtigt werden muss.)<br />

Kurz vor der Einschulung erfand mein Enkel Jonas die Gestalt eines faulen Engels, der einfach nicht<br />

tut, was er soll und es mit der Wahrheit nicht sehr genau nimmt. Als ängstliches Kind mit einem großen<br />

Bammel vor der Schule, schuf er sich eine Helfergestalt, die zum Sündenbock für seine schwachen<br />

Seiten wurde. Immer, wenn in Jonas' Innerem das Lustprinzip und die Anforderungen der Realität sich<br />

feindlich gegenüber standen, war für den Erwachsenen das Gespräch mit <strong>dem</strong> faulen Engel sehr<br />

konstruktiv. Sobald der auf der Reihe war, musste der Junge seine Pflichten nicht mehr verleugnen.<br />

Besuch vom Lügenfresser<br />

In einer Kindergruppe greift die Erzieherin das Thema Lügen auf. Zunächst verzichtet sie auf die direkte<br />

Konfrontation. Statt dessen erzählt sie den Kindern von einem Wesen, das sich nicht von Brot und<br />

Fleisch ernährt, sondern am liebsten Lügen frisst. Schnell fängt ein intensives Gespräch an, denn wer<br />

weiß, wie Lügen schmecken? Ob die alle gleich schmecken? Und wie sieht eigentlich so ein<br />

Lügenfresser aus? Diese Frage kann nur beim Malen beantwortet werden. Dabei wird deutlich, dass<br />

manche Kinder ein kleines Lügenfresserchen <strong>dem</strong> großen Ungeheuer vorziehen. Für die kleinen Lügen<br />

ist dann das Lügenfresserchen zuständig, die schlimmen Lügen verschlingt der große Lügenfresser.<br />

Wenn dieses Fantasiewesen in der Vorstellungswelt der Kinder zu Hause ist, bleibt die Energie der<br />

Ausdrucksverfälschungen Schwindeln, Aufschneiden und Lügen nicht als Belastung im Raum hängen.<br />

Sobald sich mal wieder zwei Kinder gegenseitig der Lüge bezichtigen, sorgt der große oder kleine<br />

Lügenfresser für eine gereinigte Atmosphäre.<br />

Pinocchio ist besser als sein pädagogischer Ruf<br />

Er ist in die Jahre gekommen, der kleine Kerl, dessen Nase sich verändert, sobald er lügt. Aber er<br />

fasziniert Kinder immer wieder. Auch wenn wir heute weit weg sind von den Erziehungsnormen der<br />

Entstehungszeit Pinocchios, haben Kinder Gefallen an <strong>dem</strong> hölzernen Bengel, weil bei allem<br />

Spaßhaften das Element der Angst beigemischt ist. Und Angst müssen Kinder im Umgang mit Lüge<br />

und Wahrheit immer wieder aushalten. Wer kann am besten lügen? <strong>Der</strong> Sieger bekommt Pinocchios<br />

Nase aufgestülpt und setzt sich damit Gefühlen der Beschämung aus. Kann darüber in der Gruppe<br />

gesprochen werden, haben Kinder viel gelernt im Umgang mit der Lüge.<br />

Ausblick<br />

Kinder haben bei allen Versuchungen zu lügen, zu schwindeln, es mit der Wahrheit nicht so ernst zu<br />

nehmen, einen sicheren Instinkt für das, was wahr ist. Tief in ihrem Herzen sitzt das Wissen um das<br />

Gute und ermöglicht ihnen immer wieder, <strong>dem</strong> Bösen auf die Spur zu kommen und an das Gute zu<br />

glauben. Auch wenn sie mit <strong>dem</strong> Ende der Kindergartenzeit viel von ihrer kindlichen Unschuld verloren<br />

haben, strahlt der Stern der Wahrhaftigkeit dennoch aus ihnen heraus.<br />

(Welt des Kindes – Spezial 4/2003) http://www.ennulat-gertrud.de/luegen.htm<br />

15


Arbeitsvorschläge<br />

1) Powerkreis<br />

Materialbedarf: keinen Zeitaufwand: sinnvoll sind ca. 5 Minuten.<br />

Die Klasse steht mit <strong>dem</strong> Spielleiter im Kreis. Die Stellung ist recht sportlich: die Füße sind hüftbreit<br />

auseinander und die Knie leicht gebeugt (nicht durchgesteckt!). Das Becken ist leicht <strong>nach</strong> vorne<br />

gekippt und der Rücken gerade. Vom Spielleiter aus geht ein „Klatscher“ in eine Richtung, die man<br />

vorher ausmacht. <strong>Der</strong> Nebenmann nimmt den „Klatscher“ nicht nur als solchen auf, sondern als Impuls,<br />

den er wiederum seinem Nebenmann weitergibt. Die Weitergabe sollte energetisch geschehen, nicht<br />

einfach klatschen, sondern über eine gewisse Körperspannung, die sich aus der Haltung auch schon<br />

ergibt, die Bewegung ausführen. Außer<strong>dem</strong> sollte sowohl bei der Aufnahme als auch bei der Abgabe<br />

Blickkontakt gehalten werden. So geht es reihum. Wenn der Spielleiter erkennt, dass die Gruppe sicher<br />

ist, kann das Tempo gesteigert werden. Dann die Richtung wechseln und wieder das Tempo steigern.<br />

Es kann bis zu einem Bruchteil einer Sekunde gesteigert werden.<br />

Variante: Die Richtung kann innerhalb des Flusses geändert werden. Die Teilnehmer dürfen selbst<br />

entscheiden, ob sie den „Klatscher“ weitergeben oder zurückgeben. Hier ist die Gefahr, dass der Impuls<br />

an einer Kreisseite „hängen bleibt“. Darum sollte man vorher vereinbaren, dass es nicht mehr als<br />

dreimal zwischen zwei Teilnehmern hin und her gehen darf.<br />

Variante: <strong>Der</strong> Klatscher darf sich „frei“ im Kreis bewegen, das heißt, er darf sich kreuz und quer<br />

durchgeschickt werden. Hier ist der Blickkontakt besonders wichtig.<br />

Ziel dieser Übung: Sie soll die Aufmerksamkeit wecken, „wach“ werden lassen und helfen, die Klasse<br />

als Gruppe zusammenzuführen.<br />

2) Eine Lügengeschichte erfinden<br />

Materialbedarf: Malzeug Zeitaufwand: 45 Minuten<br />

Die Klasse findet sich in Gruppen zusammen. Idealerweise sollten fünf oder sechs Schüler<br />

zusammenkommen, sonst kommen Sie mit der Zeit nicht hin. Die Schüler erhalten die Aufgabe, eine<br />

(Lügen)Geschichte über Jippi Braun zu erfinden und der Klasse zu präsentieren. Das heißt, sie sollen<br />

einfach sammeln, was kommt. Es gilt die Devise: „alles, was gesagt wird, ist wahr.“ Es wird also<br />

ziemlich fantasievoll werden, aber das spielt keine Rolle. Was wichtig wäre: jeder aus den Gruppen<br />

sollte bei der Präsentation mitmachen. Dies kann sein: eine Nachrichtensendung, in der ein Kind der<br />

Sprecher, einer der Reporter vor Ort, einer z.B. Jippi, einer der Kameramann (für die Stummen) oder<br />

der Beleuchter ist; eine Präsentation in Form einer Werbesendung. Ein „Vortrag“ eines Schülers, bei<br />

<strong>dem</strong> im Hintergrund Szenen pantomimisch gespielt werden. Darüber hinaus gibt es erschöpfend viele<br />

Möglichkeiten. Geben Sie eine Zeitvorgabe zur Vorbereitung, ich empfehle 15 Minuten. Das hört sich<br />

knapp an, wirkt aber Wunder im „Fertig werden“. Die Kinder können als Hilfe die Ideen stichpunktartig<br />

auf Papier aufmalen.<br />

Ziel dieser Übung: Wirkt Phantasie anregend und weckt die Aufmerksamkeit fürs Thema. Kinder, die<br />

noch unsicher sind, können sich im Hintergrund halten.<br />

Im Anschluss könnten Sie als Lehrer(in) die Klasse aufklären und erzählen, wie es wirklich war. Die<br />

Ausführungen haben Sie ja im theoretischen Teil.<br />

3) Pantomime<br />

Den Kindern einfache Aufgaben stellen, die sie ohne Worte und zusätzliche Requisiten, nur mit ihrem<br />

Körper darstellen sollen.<br />

Für den Einstieg: Alle sitzen im Kreis. Die Spielleiterin nennt einen Begriff: 'Nase'. Es soll<br />

nun etwas dargestellt werden, das sich auf 'Maus' reimt. Das 1. Kind versucht es, geht in die Mitte und<br />

baut ein 'Haus'. Dieses Kind kann sich den nächsten Begriff aussuchen, er reimt sich auf.....<br />

In der Weiterführung können die Kinder Elemente aus der Inszenierung „<strong>Der</strong> <strong>Mäusesheriff</strong>“(die sie bei<br />

der Aufführung dann wieder entdecken werden) versuchen, pantomimisch umzusetzen.<br />

16


Alles Lüge, oder was? von Lucie Göpfert<br />

17


Erich Kästner<br />

Wie Eulenspiegel die Kranken heilte<br />

Es stimmt schon. Wer als Kind ein rechtes Radieschen war, wird als Erwachsener immer schlimmer. Noch<br />

dazu, wenn der Vater zu früh wegstirbt. So war es auch mit Till Eulenspiegel. Er trieb es von Jahr zu Jahr<br />

toller. Er wechselte die Berufe öfter als das Hemd. Und da er nirgends lange bleiben konnte, weil man ihn<br />

sonst verkehrt aufgehängt oder wenigstens halbtot geschlagen hätte, kannte er, kaum daß er zwanzig Jahre<br />

alt war, Deutschland wie seine Westentasche. So kam er auch <strong>nach</strong> Nürnberg. Und hier trieb er's ganz<br />

besonders bunt. Er klebte an die Kirchentüren und ans Rathausportal Plakate, auf denen er sich als<br />

Wunderdoktor ausgab. Es dauerte auch gar nicht lange, da kam der Verwalter vom Krankenhaus zum<br />

Heiligen Geist anspaziert und sagte: »Sehr geehrter Herr Doktor! In unserem Spital liegen so viele Kranke,<br />

daß ich mir nicht mehr zu helfen weiß. Alle Betten sind belegt, und das Geld reicht vorn und hinten nicht.<br />

Können Sie mir keinen Rat geben?« Eulenspiegel kratzte sich hinterm Ohr und antwortete: »Doch, doch,<br />

lieber Mann. Aber guter Rat ist teuer.« »Wieviel?« fragte der Verwalter. Und Eulenspiegel sagte:<br />

»Zweihundert Gulden.« Zunächst blieb <strong>dem</strong> guten Mann die Luft weg. Und dann erkundigte er sich, was der<br />

Herr Doktor Eulenspiegel dafür leisten wolle. »Dafür mache ich in einem einzigen Tag alle Kranken gesund,<br />

die im Hospital liegen! Wenn mir's nicht gelingen sollte, will ich keinen Pfennig haben.« »Ausgezeichnet!«<br />

rief der Mann, nahm Eulenspiegel auf der Stelle mit ins Krankenhaus und sagte den Kranken, der neue<br />

Doktor wolle sie alle heilen. Sie müßten sich nur genau <strong>nach</strong> seinen Vorschriften richten. Dann ging er ins<br />

Verwaltungsbüro und ließ Till mit den Kranken allein. Eulenspiegel ging langsam von Bett zu Bett und<br />

unterhielt sich mit den Leuten. Er sprach sehr leise und geheimnisvoll mit je<strong>dem</strong> von ihnen. Und einem jeden<br />

sagte er das gleiche. »Ich will euch allen helfen«, sagte er, »dir, mein Freund, und den anderen auch. Und<br />

ich weiß ein fabelhaftes Rezept dafür. Ich muß einen von euch zu Pulver verbrennen. Dieses Pulver müßt ihr<br />

dann einnehmen. Ich habe mir auch schon überlegt, wen von euch ich zu Pulver verbrennen werde: den<br />

Kränksten im Saal. Das wird das beste sein, meinst du nicht auch? Na also.« Dann beugte er sich noch<br />

tiefer und fuhr noch leiser fort: »In einer halben Stunde hole ich den Verwalter herauf. <strong>Der</strong> wird die Gesunden<br />

unter euch fortschicken. Es wird also gut sein, wenn du dich ein bißchen beeilst, mein Lieber. Denn den<br />

letzten verbrenne ich leider zu Pulver. Die Sache will's!« So ging er zu je<strong>dem</strong> und erzählte je<strong>dem</strong> das<br />

gleiche. Dann holte er endlich den Verwalter <strong>nach</strong> oben. Und der Verwalter rief mit lauter Stimme: »Wer sich<br />

gesund fühlt, ist entlassen! « In drei Minuten war der Saal leer! Alle rannten oder humpelten, so schnell sie<br />

nur irgend konnten, aus <strong>dem</strong> Krankenhaus hinaus. Solche Angst hatten sie! Es waren welche dabei, die seit<br />

zehn Jahren hier gelegen hatten. <strong>Der</strong> Hospitalverwalter war sprachlos. Er raste ins Büro und brachte<br />

Eulenspiegel zweihundertzwanzig (220) Gulden. Die streckte er ihm hin und sagte: »Zwanzig Gulden gebe<br />

ich Ihnen extra. Sie sind der beste Arzt der Welt.« »Stimmt«, sagte Eulenspiegel. Damit meinte er den<br />

Geldbetrag. Er steckte ihn in die Tasche, empfahl sich und machte, daß er Nürnberg in den Rücken bekam.<br />

Schon am nächsten Tag kehrten alle Kranken ins Hospital zum Heiligen Geist zurück und legten sich wieder<br />

in ihre Betten. <strong>Der</strong> Verwalter war außer sich. »Um alles in der Welt«, rief er, »ich denke, er hat euch gesund<br />

gemacht?« Da erzählten sie ihm, warum sie gestern davongelaufen waren, und daß sich keiner habe zu<br />

Pulver verbrennen lassen wollen. »Ich bin ein Esel«, sagte der Verwalter. »<strong>Der</strong> Lump hat mich betrogen, und<br />

ich habe ihm sogar noch zwanzig Gulden mehr gegeben, als er verlangt hat!«<br />

aus: Erich Kästner, Till Eulenspiegel (1938)<br />

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… noch mehr Lügengeschichten:<br />

• Janosch: Lügengeschichten aus <strong>dem</strong> Wilden Westen. Isis-Verlag, Sonderausgabe, 1994.<br />

• Gottfried August Bürger: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige<br />

Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen: wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner<br />

Freunde selbst zu erzählen pflegt, 1786.<br />

• Lucie Göpfert: Alles Lüge, oder was?, Halle 2009.<br />

• Erich Kästner: Till Eulenspiegel, Nacherzählung. Dressler, Hamburg 1980.<br />

• Kemal Kurt: Als das Kamel Ba<strong>dem</strong>eister war, Keloglans lustige Streiche. Türkische Märchen,<br />

Edition Orient, Berlin 1998.<br />

• Astrid Lindgren: Michel aus Lönneberga<br />

• Astrid Lindgren: Karlsson vom Dach<br />

• Walter Moers: Käpt'n Blaubärs Lügengeschichten, Ravensburger Buchverlag, 1994.<br />

erstellt von Eva Bormann, Dramaturgie Junges Theater und Mareike Götza, Theaterpädagogik,<br />

September 2010<br />

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