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GANZTAG Weitere Infos unter www.ganztagsschulen.org. * Es gibt rund 10 800 öffentliche Schulen (zusammen mit den alten IGS, inklusive Förderschulen), die Ganztagsbetrieb anbieten. Das entspricht etwa 41,4 Prozent der allgemein bildenden öffentlichen Schulen. (Quelle: BMBF, Daten von 2008) Foto: Kay Herschelmann Den ganzen Raum füllen 22 Erziehung und Wissenschaft 10/2010 Potenziale sind nicht ausgeschöpft – es fehlt vor allem Personal Das Ganztagsprogramm, angeschoben 2003 von der damaligen Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD), hat den Unterricht verändert. Schülerinnen und Schüler lernen an Ganztagsschulen anders als in Halbtagsklassen. Dennoch ist die Schule am Vormittag bisher noch wenig mit dem Nachmittagsangebot verzahnt. Lustig war es mit den Berliner Philharmonikern. Wie die Hasenohren gewackelt haben als sie musizierten, die der Musiker und die der Kinder. Fünf Tage probten Viertklässler der Rixdorfer Grundschule in Berlin- Neukölln im April das Stück „Der Sängerkrieg der Heidehasen“. Am sechsten Tag führten sie diese Wagner-Parodie von James Krüss vor über tausend Zuschauern auf. Der Unterricht fiel während dieser Woche nicht etwa aus: „Das war der Unterricht”, ruft Schulleiterin Anke Peters begeistert aus. Die Schüler mussten sich bewegen, lange Textpassagen auswendig lernen und im Chor singen. „Musik, Sport und Deutsch – hier kam alles zusammen.“ Peters ist seit drei Jahren Schulleiterin. 2005 war die Schule als gebundene Ganztagsschule gestartet, formal hieß das, den Unterricht und damit die Anwesenheitspflicht zunächst für zwei erste Klassen bis 16 Uhr auszudehnen. Den Beschluss, sich in eine Ganztagsschule umzuwandeln, hatte die Schulkonferenz bereits vor längerer Zeit gefasst. In einem Kiez, der von dreckigen Bürgersteigen, viel Verkehr und wenig <strong>Geld</strong> geprägt ist, wollten Lehrende und pädagogische Fachkräfte die Schule als Lebensraum erobern. Und sich den Schülern, von denen über 90 Prozent von Haus aus nicht Deutsch sprechen, intensiver und individueller widmen. Rixdorfer Grundschule in Berlin-Neukölln: Ganztägige Bildung gelingt – dank der Kooperation mit Musikschule und Quartiersmanagement. Als die damalige rot-grüne Bundesregierung das Programm „Zukunft für Bildung und Betreuung (IZBB, s. Kasten Seite 19) auflegte, konnte sich die Rixdorfer Grundschule zusammen mit vielen anderen in der ganzen Bundesrepublik auf den Weg machen.* Das Bauprogramm IZBB war ein Erfolg. Doch veränderte es die Schulen auch von innen? Reformschub ausgelöst Ja, meint Stefan Appel. Er ist seit 25 Jahren Vorsitzender des Ganztagsschulverbandes. „Das Ganztagsschulprogramm hat einen Reformschub in der gesamten Pädagogik ausgelöst, den niemand für möglich gehalten hätte.“ Allerdings, schränkt er ein, gebe es viele Abstufungen. „Nicht überall, wo Ganztag draufsteht, ist auch Ganztag drin.“ Es gebe hervorragende Schulen, da hätten sich nicht nur der Tagesablauf komplett geändert, sondern auch der Unterricht und der Blick aufs Kind. Freizeit und
Lernen seien so miteinander verzahnt, dass richtige Bildungslandschaften entstanden wären. „In vielen Einrichtungen hat sich qualitativ aber fast nichts verändert“, beobachtet Appel. Dort finde vormittags wie gehabt Unterricht statt und nachmittags würden ein paar ergänzende Angebote präsentiert. Immerhin: „2007 hatten bereits über 70 Prozent aller Ganztagsschulen ein pädagogisches Konzept für den ganzen Tag”, berichtet Wolfram Rollett vom Institut für Schulentwicklungsforschung (IfS) in Dortmund. Das IfS betreut zusammen mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München und dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt am Main die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (SteG)**. Die Ergebnisse der dritten Erhebung von 2009 werden im November vorgestellt. Vor drei Jahren stellten die Forscher fest, dass über die Hälfte der untersuchten Ganztagsschulen Konzepte für einen rhythmisierten Tagesablauf entwickelt hatten (s. E&W 10/2008). „Nur etwa ein Drittel der Grundschulen, aber drei Viertel der Sekundarstufenschulen gaben an, sie hätten den Unterricht über den ganzen Tag verteilt“, sagt Rollett. Den Zeittakt, den 45-Minuten-Rhythmus, behielten viele Schulen bei, offene wie gebundene. Unterricht entspannter Wenn Ganztagsschulen ihre Spielräume richtig nutzen wollten, dann müssten sie auch den Bildungsbegriff erweitern, sagt der Erziehungswissenschaftler Witlof Vollstädt. „Dann ist Lernen nicht mehr vordergründig auf die Aneignung eines Stoffkanons ausgerichtet, sondern dient auch der Persönlichkeitsentwicklung.“ Praktisch bedeute dies: Die Schüler lernten selbstbestimmt zu arbeiten, sich eigene Lernziele zu setzen und diese anzusteuern, erläutert der Forscher, der viele Ganztagsschulen in Hessen beraten hat. So wie an der Erweiterten Realschule in der Gemeinde Wallerfangen bei Saarbrücken. „Unsere Schüler verlassen die Schule gestärkt. Sie sind sehr eigenständig und können sich gut organisieren“, beobachtet Schulleiterin Herta Wölfl. Seit diesem Schuljahr leitet sie die Einrichtung, die 2005 als erste Schule im Saarland Ganztagsklassen einführte. Der Unterricht am Vormittag entspannt sich durch das „Mehr an Zeit“, auch für die Lehrkräfte. „Man ist nicht mehr unter Zeitzwang und kann auch einmal et- was in den Nachmittag verlagern“, berichtet Wölfl. Und: Für offene Unterrichtsformen wie Lernzirkel, Stationenlernen und Projektarbeit sei „mehr Raum“. Viele Pädagogen trifft man auch nachmittags in der Schule an, ebenso wie viele ältere Schüler. „So ist immer Leben im Haus. Die Schule ist unser gemeinsamer Lernort, da entwickelt sich ein tolles Klima“, freut sich Wölfl. Im bayerischen Kolbermoor erlebt Schulleiter Friedrich Sparrer, wie das Ganztagskonzept nicht nur den Unterricht verändert, sondern auch die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer. Die Pauline-Thoma-Hauptschule ist seit 2002 teilgebundene Ganztagsschule. Rund die Hälfte der 530 Schüler lernt in gebundenen Ganztagsklassen. In den Klassenräumen wird gekocht und gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern zu Mittag gegessen. „Dadurch ergeben sich Gespräche wie im Schullandheim. Man lebt mehr zusammen“, erzählt der Schulleiter. Wer in Ganztagsklassen unterrichte, müsse sich daher bewusst sein: „Hier kann man sich nicht von den Kindern abgrenzen. Man wird fast zum Ersatz-Vater.“ Das könne mitunter anstrengend sein, doch die Vorteile überwiegen, glaubt Sparrer: „Man hat sofort eine Rückkopplung, kann unmittelbar eingreifen und sieht schneller Erfolge. Ein schöneres Arbeiten.“ Noch Verbesserungsbedarf Für viele Ganztagsschulen sehen die Wissenschaftler der SteG-Studie aber noch Verbesserungsbedarf. Die Schulleitungen etwa äußerten sich im Schnitt nur mäßig zufrieden damit, wie Unterricht und Nachmittags-AGs miteinander verwoben sind. Eine Ausnahme bildeten die gebundenen Ganztagsschu- Ganztagsbetreute Kinder in den Ländern Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in Ganztagsschulen lernen, an allen Schülerinnen und Schülern war 2008 in Sachsen mit 69 Prozent am größten und in Bayern mit fünf Prozent am geringsten. An 74 Prozent der Schulen findet die Betreuung in einer offenen Form bzw. im Nachmittagshort statt, lediglich acht Prozent der Ganztagsschulen haben ein vollständig gebundenes Angebot. (Quelle: BMBF, Stand Oktober 2009) J.A. len. Hier zumindest zeigten sich konzeptionelle Fortschritte. Wenn alle Schüler auch nachmittags verlässlich anwesend sind, lassen sich fächerübergreifende und zeitaufwändige Projekte wie an der Rixdorfer Grundschule leichter organisieren. Doch auch hier glückt die ganztägige Bildung nur, weil Partner vom Quartiersmanagement und der örtlichen Musikschule kräftig mithelfen. Ehrenamt und Profession Nahezu alle Ganztagsschulen kooperieren mit außerschulischen Unterstützern. Das ist auch gewollt. „Die Mitarbeit von außerschulischem Personal macht Schule lebendig und bereichert die klassische Lernkultur“, betont Schulforscher Rollett. Doch die Zusammenarbeit von Lehrund pädagogischen Fachkräften müsse gut organisiert werden. Dies sei häufig ein Problem an Ganztagsschulen, stellt Rollett fest. Es fehle die Zeit, sich über Konzepte abzustimmen und gemeinsame Materialien vorzubereiten. Dabei wünsche sich die Mehrheit aller Beteiligten eine bessere Kooperation und mehr Personal. „Es ist in den wenigsten Schulen möglich, den Vormittag und den Nachmittag sichtbar pädagogisch aufeinander zu beziehen, weil das Personal fehlt“, urteilt <strong>GEW</strong>-Schulexpertin Marianne Demmer. Um die pädagogische Qualität zu sichern, forderte sie, die Lehrerausstattung an Ganztagsschulen um 30 Prozent aufzustocken. Als Mitglied der Auswahlkommission für den Deutschen Schulpreis sieht die Ludwigsburger Pädagogikprofessorin Katrin Höhmann Jahr für Jahr die besten Schulen. „Ganztagsschulen brauchen Kontinuität im außerunterrichtlichen Bereich“, betont Höhmann. Sie sei froh über jeden Ehrenamtlichen, der sich an einer Schule engagiere. „Aber Ehrenamtliche sollten professionelle pädagogische Betreuung nicht ersetzen.“ In Berlin, das bundesweit den höchsten Anteil gebundener Ganztagsschulen hat, klagen Schulleitungen seit längerem über fehlende pädagogische Fachkräfte. Eine Schule kehrte deswegen im vergangenen Jahr zum Halbtagsbetrieb zurück. Das kommt weder für Anke Peters in Berlin-Neukölln, noch Friedrich Sparrer in Bayern oder Herta Wölfl im Saarland in Frage. Wölfl geht sogar noch weiter: „Ich denke, Schulen, die sich pädagogisch entwickeln wollen, müssen Ganztagsschule werden. Das ist die Zukunft.“ Anna Lehmann, taz-Redakteurin GANZTAG ** Die Bildungsforscher Eckhard Klieme, Hans- Günter Holtappels und Thomas Rauschenbach befragten 2007 für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 323 Schulen zu Ausbau, Nutzung und Entwicklung von Ganztagsangeboten. 2005 sind die Ganztagsschuldaten zum ersten Mal erhoben worden. 10/2010 Erziehung und Wissenschaft 23
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