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Prof. Dr. Wolfram Wette Militärhistoriker im Gespräch mit Jochen ...

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http://www.br-online.de/alpha/forum/vor0509/20050912.shtml<br />

Sendung vom 12.09.2005, 20.15 Uhr<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Wolfram</strong> <strong>Wette</strong><br />

<strong>Militärhistoriker</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Gespräch</strong> <strong>mit</strong> <strong>Jochen</strong> Kölsch<br />

Kölsch: Zu unserer Sendung alpha-forum begrüße ich Sie sehr herzlich, verehrte<br />

Zuschauerinnen und Zuschauer. Zu Gast ist bei uns heute der Freiburger<br />

<strong>Militärhistoriker</strong> <strong>Prof</strong>essor <strong>Wolfram</strong> <strong>Wette</strong>. Herr <strong>Wette</strong>, ich hatte versucht, Sie als<br />

Person auch historisch zu betrachten, hatte dabei aber das Problem, nur auf ganz<br />

wenig Daten zu stoßen. Eigentlich sind es nur fünf Zeilen. Ich denke, Ihre Biographie<br />

ist spannender, als es angesichts dieser kargen fünf Zeilen scheint.<br />

<strong>Wette</strong>: Könnte sein.<br />

Kölsch: Fangen wir doch mal an <strong>mit</strong> dem <strong>Militärhistoriker</strong>. Sie sind gelernter Historiker,<br />

haben sich dann aber auf Militärgeschichte spezialisiert. Wie kommt so etwas<br />

zustande? Begeisterung für alles Militärische? Glänzende Augen, wenn man<br />

Waffen sieht?<br />

<strong>Wette</strong>: Die Frage kommt öfters auf, ob es so gewesen sein könnte. Tatsächlich war es<br />

jedoch vollständig anders. Ich bin sehr zufällig dahin gekommen. Denn als ich<br />

Gymnasiast war, hat mein Vater zu mir gesagt: "Zur Bundeswehr musst du ohnehin,<br />

aber ich habe gelesen, dass man dabei sogar Geld verdienen kann." Da ist selbst<br />

studieren wollte, ergab sich daraus eine Perspektive. Na gut, ich war also seinerzeit<br />

nach dem Abitur ein paar Jahre bei der Bundeswehr und habe dann tatsächlich <strong>mit</strong><br />

dem dort gesparten Geld später ein Studium aufgenommen. Ich wurde dadurch<br />

verpflichtet, auch noch ein paar Jahre lang <strong>im</strong> Rahmen der Bundeswehr Dienst zu<br />

tun. So hat man mich eben in das militärgeschichtliche Forschungsamt nach<br />

Freiburg versetzt. So hängt das alles zusammen.<br />

Kölsch: Sie haben also Geschichte studiert.<br />

<strong>Wette</strong>: Ich habe hier in München Geschichte, Politikwissenschaften und Philosophie<br />

studiert, und zwar bei den hier nicht ganz unbekannten <strong>Prof</strong>essoren Hans Maier und<br />

Nikolaus Lobkowicz.<br />

Kölsch: Einen Teil meiner Frage haben Sie noch nicht beantwortet, nämlich die Frage nach<br />

den glänzenden Augen, wenn es ums Militärische geht.<br />

<strong>Wette</strong>: Diese glänzenden Augen dürfte bei mir wohl kaum jemand beobachtet haben.<br />

Denn ich war schon in der damaligen Zeit recht kritisch gegenüber allem<br />

Militärischen und habe dann diese kritische Sicht der Dinge <strong>im</strong> Studium massiv<br />

gesteigert und später dann in meine Arbeit in dieser historischen<br />

Forschungsinstitution eingebracht. Dies sicher nicht zum Wohlgefallen all derer, die<br />

vielleicht tatsächlich die von Ihnen angesprochenen glänzenden Augen bei der<br />

Beschäftigung <strong>mit</strong> dieser Materie bekamen.<br />

Kölsch: Sei haben dann ja in der Bundeswehr eine richtige kleine Laufbahn gemacht. Sie<br />

waren nach dem Abitur sechs Jahre lang dort: Sie wurden Offizier und schließlich<br />

Hauptmann. Ist es nicht eine sehr große Dissonanz, die einen dann bewegt, wenn<br />

man einerseits militärisch dient und auf der anderen Seite gleichzeitig eine große<br />

kritische Distanz gegenüber dieser Materie entwickelt?


<strong>Wette</strong>: Nun, das war vielleicht doch nicht so gleichzeitig, wie das jetzt möglicherweise<br />

erscheinen mag. Am Anfang war durchaus eine gewisse Identifikation <strong>mit</strong> dieser<br />

Institution vorhanden: Damals herrschte ja die Zeit des Kalten Krieges und die<br />

ideologischen Vorgaben, die man uns <strong>mit</strong> auf den Weg gegeben hat, schienen mir<br />

damals einigermaßen einleuchtend. Diese kritische Distanz ist dann erst <strong>im</strong> Laufe<br />

der Jahre entstanden, hauptsächlich in den sechziger Jahren: Das war best<strong>im</strong>mt<br />

nicht einfach, aber rückblickend würde ich sagen wollen, dass das doch sehr<br />

produktiv gewesen ist.<br />

Kölsch: Bei den Stichwörtern "kritische Distanz" und "Militärgeschichte" ist natürlich das<br />

militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr nicht weit, in das Sie dann<br />

1971 eintraten. Das ist eine Institution, die ja eigentlich etwas Verblüffendes ist.<br />

Viele Menschen wissen gar nicht, dass es so etwas gibt. Aber Deutschland hat ja<br />

eine Menge Militärgeschichte zu bearbeiten, insofern lohnt sich das sehr wohl als<br />

eigenes Forschungsfeld. Nun war das ja eine ganz eigene Institution: Obwohl sie<br />

bei der Bundeswehr angesiedelt war, konnte sie doch unabhängig agieren.<br />

<strong>Wette</strong>: Ja, eine größere Öffentlichkeit mag hauptsächlich das interessieren, was auch Sie<br />

schon angesprochen haben: Warum hält sich die Bundesregierung, in diesem Fall<br />

das Bundesverteidigungsministerium, überhaupt eine solche eigene Institution?<br />

Warum machen das nicht die Universitäten? Alle anderen Fächer werden ja auch<br />

von den Universitäten oder z. B. von Max-Planck-Instituten oder anderen<br />

Einrichtungen dieser Art betrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die deutsche<br />

Militärgeschichte als Sache so desavouiert, dass sich <strong>mit</strong> ganz, ganz wenigen<br />

Ausnahmen kein Universitätsprofessor mehr an dieses Thema herangemacht hat.<br />

In diesem Zusammenhang würden mir höchstens die Namen Jakobson und<br />

Hillgruber einfallen, aber dann ist es auch schon aus. Insofern hat dann das<br />

Verteidigungsministerium damals die Entscheidung getroffen, diese Forschung <strong>im</strong><br />

Rahmen der eigenen Institution zu betreiben. Es gab bereits ein Grundgesetz und<br />

dieses Grundgesetz sagt ja in Artikel 5 ganz klar: "Forschung und Lehre sind frei."<br />

Dies war also auch auf diese Behörde anzuwenden. Gleichzeitig hat man aber<br />

einen militärischen Chef davorgesetzt: Und so hat diese Institution in dem nicht<br />

<strong>im</strong>mer nur produktiven Spannungsfeld zwischen militärischer Leitung und Schutz<br />

der Wissenschaftler durch die Freiheit von Lehre und Forschung leben müssen.<br />

Kölsch: Ich stelle mir das schon recht originell vor: Sie als Hauptmann, als jemand, der als<br />

Offizier längere Zeit in der Bundeswehr gedient hat, arbeiten in so einer Institution,<br />

die von einem General oder Oberst geleitet wird, und dort wird dann ganz<br />

unabhängige Forschung gemacht, eine Forschung, die am Ende dazu führt, dass<br />

Sie sehr friedensbewegte und pazifistische Gedanken, also sehr militärkritische<br />

Gedanken entwickeln. Sie waren dabei ja nicht der Einzige in diesem<br />

militärgeschichtlichen Forschungsamt.<br />

<strong>Wette</strong>: Nun, da war <strong>im</strong>merhin die 68er-Zeit vorweggegangen, die auf eine ganze<br />

Generation von jungen Männern gewirkt hat, die zu Beginn der siebziger Jahre<br />

dann so um die 30 Jahre alt war. Wir haben in diesem Amt dann quasi eine<br />

kritische Gruppe gebildet. Gleichzeitig gab es dort aber auch diese älteren Herren<br />

in Uniform, die schon einmal eine Wehrmachtuniform getragen hatten. Zwischen<br />

diesen und den kritischen Jüngeren gab es dann nicht nur konstruktive<br />

Verbindungslinien, sondern da prallten gleichsam zwei Generationen aufeinander,<br />

die ja auch sonst nicht gerade gut <strong>mit</strong>einander konnten. Es gab also heftigste<br />

Auseinandersetzungen: Der eine Teil hing noch am Alten und der andere Teil war<br />

intensiv da<strong>mit</strong> beschäftigt, den Ablösungsprozess von diesem Alten zu betreiben.<br />

Kölsch: Die "alten Kämpfer" und die jungen "Kritischen" hatten dann ja auch ein<br />

gemeinsames großes Thema, nämlich die historische Bearbeitung des Zweiten<br />

Weltkriegs: Das ist ein ganz großes Werk, das dann in den späten siebziger und<br />

beginnenden achtziger Jahren vom militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />

herausgegeben worden ist. Auch Sie waren lange Zeit sehr aktiv da<strong>mit</strong> beschäftigt.<br />

Dort prallten also diese beiden Mentalitäten aufeinander. Wie sah denn der Alltag<br />

aus, wenn da die "alten Kämpfer" und die "jungen 68er" zusammen gearbeitet<br />

haben?


<strong>Wette</strong>: Der Alltag sah so aus, dass man sich von Zeit zu Zeit bei so genannten<br />

Projektgruppensitzungen oder Plenarsitzungen getroffen hat, um dann best<strong>im</strong>mte<br />

am Material – das ja in Freiburg <strong>im</strong> Bundesarchiv, <strong>im</strong> Militärarchiv liegt – erarbeitete<br />

Thesen vorzutragen. Diese Thesen wurden also der jeweils ganz unterschiedlichen<br />

Sichtweise vorgeführt. Das betraf nicht nur die Geschichte der Wehrmacht selbst,<br />

sondern das betraf selbstverständlich auch schon die Geschichte der We<strong>im</strong>arer<br />

Republik und dabei etwa die Einschätzung der Reichswehr, die Einschätzung des<br />

"Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten" usw., also des ganzen paramilitärischen<br />

Milieus der damaligen Zeit. Die Frage war, inwieweit das als eine Vorgeschichte<br />

der Wehrmacht, inwieweit das als eine direkte Kontinuität zur Wehrmacht gesehen<br />

werden musste oder nicht.<br />

Kölsch: Sie sind dann 1995 aus diesem Institut ausgestiegen und wurden zunächst einmal<br />

freier Autor und später <strong>Prof</strong>essor an der Universität in Freiburg. Hing das da<strong>mit</strong><br />

zusammen, dass man eine solche Kontroverse irgendwann einmal nicht mehr als<br />

fruchtbar erlebt?<br />

<strong>Wette</strong>: Die Auseinandersetzungen waren schon so massiv, dass vermutlich die Hälfte<br />

meiner Energie in diesen Reibungsverlusten aufging. Meine wissenschaftliche<br />

Produktivität wurde dann nur noch von den verbleibenden 50 Prozent gefüllt. Und so<br />

haben die Institution und ich schließlich nur noch wenig Gemeinsamkeiten gehabt:<br />

Die Institution wollte nämlich, dass ich gehe, und ich selbst wollte auch, dass ich<br />

gehe. So hat man sich dann <strong>im</strong> Jahr 1995 getrennt. Das lief parallel dazu, dass<br />

diese Institution von Freiburg nach Potsdam verlegt worden ist. Sehr viele haben<br />

das damals so interpretiert, dass sie nun an den Genius Loci zurückkehrt. Und da<br />

war mein Ausstieg dann eine gute Möglichkeit, das nicht mehr <strong>mit</strong>zumachen.<br />

Kölsch: Sie haben danach folgerichtig bzw. sogar parallel den "Arbeitskreis historische<br />

Friedensforschung" <strong>mit</strong> begründet und waren dort auch eine Zeit lang Sprecher.<br />

Dies alles muss ja einen Hintergrund haben. Sie haben sich intensiv <strong>mit</strong> den<br />

schrecklichsten Aspekten der deutschen Geschichte beschäftigt: Wie kann man es<br />

persönlich eigentlich ertragen, sich <strong>mit</strong> so viel Grauen zu beschäftigen? Denn eines<br />

Ihrer Zentralthemen war ja die Wehrmacht: Viele Ihrer Publikationen beziehen sich<br />

natürlich auf den Zweiten Weltkrieg, auf die Soldaten. Die Wehrmacht ist dabei<br />

selbstverständlich ein zentraler Aspekt. Wie war das für Sie persönlich möglich?<br />

<strong>Wette</strong>: Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Ich kenne viele Historikerkollegen, die<br />

sich sozusagen <strong>mit</strong> freundlicheren Phasen der Geschichte befassen und auch ganz<br />

offen zugeben, dass sie sich <strong>mit</strong> solchen Konfliktthemen – denn das sind ja<br />

Themen, die permanent in der deutschen Öffentlichkeit Konfliktthemen waren und<br />

sind – nur ungern auseinander setzen. Wenn ich mal für die Kollegen <strong>mit</strong>sprechen<br />

darf, die damals <strong>mit</strong> mir in Freiburg an einem Strang gezogen haben, dann denke<br />

ich, dass wir auch eine Verpflichtung gespürt haben, uns <strong>mit</strong> dieser unangenehmen<br />

und belastenden Materie auseinander zu setzen und dann unser Wissen der<br />

interessierten Öffentlichkeit <strong>mit</strong>zuteilen. Wenn man nämlich einmal so drin ist in<br />

einem Stoff und weiß, dass einem nun diejenigen, die dabei gewesen sind, nichts<br />

mehr vormachen können, dann ist die Verpflichtung vielleicht noch größer, dabei zu<br />

bleiben. Später hat dann ja die "Wehrmachtsausstellung", die von einer ganz<br />

anderen Institution gefertigt worden ist – bezeichnenderweise von einer privaten<br />

Institution! –, auf das aufbauen können, was u. a. unsere Kollegen in Freiburg<br />

erarbeitet hatten. Aber es ist doch interessant zu sehen, dass es nach dem Ende<br />

des Zweiten Weltkriegs fünf Jahrzehnte gedauert hat, bis das bis dahin<br />

angereicherte Wissen – das kritische Wissen und nicht das apologetische Wissen<br />

– über die Geschichte der Wehrmacht eine große Öffentlichkeit finden konnte. Die<br />

Kollegen aus Hamburg, die diese Ausstellung zu verantworten hatten, haben ja<br />

auch <strong>im</strong>mer gesagt, das wäre ohne die Vorarbeiten der kritischen Leute in dieser<br />

Institution, über die wir gesprochen haben, so gar nicht möglich gewesen.<br />

Kölsch: Aber es ist ja auch ein Phänomen, dass Sie als Historiker und viele Ihrer Kollegen<br />

viele Jahre davor schon sehr viel veröffentlicht haben – u. a. diese bereits erwähnte<br />

große Darstellung des Zweiten Weltkriegs – und dann erst diese Ausstellung über<br />

die Wehrmacht ein breite öffentliche Debatte angestoßen hat. 50 Jahre danach


ach dann auf einmal quasi ein Sturm los.<br />

<strong>Wette</strong>: Dies hat viele Gründe. Ein Grund mag sein, dass das, was wir in Freiburg gemacht<br />

haben, Grundlagenforschung <strong>im</strong> eigentlichen Sinne gewesen ist. Wir haben die<br />

Ergebnisse sehr breit dargelegt: Diese Bücher hatten <strong>im</strong> Schnitt 1000 eng<br />

bedruckte Seiten. Sie können sich das ja selbst mal überlegen: Wer geht schon in<br />

einen Buchladen und kauft einen Wälzer von 1000 Seiten, der zudem noch schwer<br />

lesbar ist? Es war aber einfach nötig, dass diese Grundlagenforschung gemacht<br />

wird. Später hat man das dann auch in "kleineren Portionen" einer breiteren<br />

Öffentlichkeit verabreichen können. Im Übrigen ist die ganze politische Geschichte<br />

jener Jahre zu berücksichtigen, wenn man beurteilen will, warum das alles erst so<br />

spät an die Öffentlichkeit gekommen ist. Ich denke, 1995 war ein Jahr, in dem dann<br />

in etwa die eine Generation von der anderen abgelöst worden ist. Das betraf ja<br />

nicht nur die Historiker, das betraf genauso z. B. die Juristen, die nun endlich mal<br />

jüngeren, kritischeren Leuten auch in obersten Positionen der Gerichte Platz<br />

machen mussten. In der Öffentlichkeit war in der Zwischenzeit auch ein Kl<strong>im</strong>a<br />

entstanden, das nicht mehr von der Kriegsgeneration geprägt war, das auch nicht<br />

mehr von den Wehrmachtsangehörigen geprägt war. Dies alles hat<br />

bemerkenswerterweise ein halbes Jahrhundert gedauert.<br />

Kölsch: Nun ja, die direkt Betroffenen hatten natürlich ein Interesse daran, die Dinge zu<br />

camouflieren und Legenden zu bilden. Es hat sich ja auch eine ganze Reihe von<br />

ehemaligen Generälen der Wehrmacht sehr aktiv an der Darstellung des Zweiten<br />

Weltkriegs beteiligt, um da<strong>mit</strong> die Legende von der "sauberen Wehrmacht"<br />

aufrecht zu erhalten, eine Legende, die ja doch <strong>im</strong>merhin fast 50 Jahre<br />

durchgehalten hat. Wie kann so etwas gesellschaftsgeschichtlich betrachtet<br />

passieren?<br />

<strong>Wette</strong>: Man muss es in der Tat so sehen, wie Sie das sagen: Es ist wirklich<br />

eine "große Leistung" gewesen, dass sich die Linie, die Dönitz als<br />

Nachfolger Hitlers vorgegeben hatte, dass nämlich die Wehrmacht<br />

ehrenvoll gekämpft habe, dass sie sich nichts habe zuschulden<br />

kommen lassen und dass die Geschichtsschreibung das eines Tages<br />

schon verstehen werde, dass sich diese Linie in benennbaren Etappen<br />

über die Jahrzehnte hinweg durchgesetzt hat. Es hat dabei tatsächlich<br />

eine Rolle gespielt, dass etliche Generäle ihre eigene Biographie<br />

geschrieben haben über ihre angeblich unbefleckte Rolle in der<br />

Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Und es ist noch etwas vielleicht<br />

nicht ganz unwichtig: Im ersten Jahrzehnt nach 1945 konnte man<br />

solchen Biographien aufgrund von Aktenkenntnis gar nichts<br />

entgegenhalten, weil diese Akten damals nämlich noch in den USA<br />

gewesen sind. Sie sind dann erst angeliefert worden, sodass eigentlich<br />

erst in den sechziger Jahren die kritische Forschung beginnen konnte.<br />

Die ersten kritischen Bücher sind wirklich erst 1969 erschienen – und<br />

nicht früher.<br />

Kölsch: Trotzdem hatten wir, Sie entstammen ja wie ich ebenfalls der<br />

Nachkriegsgeneration, doch das Problem, dass uns unsere Väter, also Menschen,<br />

die <strong>im</strong> Zweiten Weltkrieg aktiv gekämpft hatten, ohne dass sie dabei gleich in den<br />

obersten Positionen gewesen wären, auch und gerade nach der<br />

Wehrmachtsausstellung z. T. sehr glaubhaft versichert haben, dass sie all das<br />

tatsächlich nicht erlebt hätten. Wenn man Menschen wie z. B. den eigenen Vater<br />

sehr gut kennt, dann ist man durchaus geneigt zu glauben, dass er selbst dann,<br />

wenn er an der Ostfront gewesen ist, das alles so nicht erlebt hat, wie es diese<br />

Ausstellung dargestellt hat.<br />

<strong>Wette</strong>: Tja, das ist das Thema des großen Schweigens nach 1945, des Verdrängens, des<br />

Relativierens. Manche Menschen landeten in fortgeschrittenen Lebensjahren bei<br />

irgendeinem Psychiater, weil sie diese Verdrängungsleistung krank gemacht hat.<br />

Sehr selten gab es die Fälle, dass jemand wirklich berichtet hat, was er gesehen<br />

hat. Ich will Ihnen dazu mal ein Beispiel erzählen. Ein Kollege von mir hat 250<br />

Wehrmachtssoldaten zu ihren Kriegserlebnissen interviewt. Er hat das alles schön


transkribiert und daraus ein dickes Buch gemacht. Als ich dann hinterher einmal<br />

gefragt habe, was denn dabei eigentlich 'rumgekommen sei, hat er gesagt: "Tja,<br />

offenbar haben mir diese Menschen die wichtigsten Dinge einfach nicht gesagt."<br />

Sie haben also nicht gesprochen über das Töten, sie haben nicht gesprochen über<br />

die Todesangst und sie haben nicht gesprochen über die Judenmorde. Ansonsten<br />

haben sie all die Dinge erzählt, die man sozusagen unter "Kriegstourismus"<br />

einordnen könnte. Aber die entscheidenden Dinge haben sie ausgelassen. Und<br />

nun müssten Sie einen Psychoanalytiker fragen, welche Mechanismen in einem<br />

Hirn wirksam sind, dass man sich zwar sehr genau daran erinnert, wo man ein<br />

Huhn klauen konnte oder wo man ein Brot gefunden hat oder wo man irgendeine<br />

nette Geschichte erlebt hat, während die soeben genannten schwerwiegenden<br />

Felder ausgeblendet werden konnten. Gäbe es die kritische historische Forschung<br />

nicht, würden wir dieses Bild von der Rolle der deutschen Wehrmacht <strong>im</strong> Zweiten<br />

Weltkrieg heute noch haben.<br />

Kölsch: Der Überfall auf die Sowjetunion, und das ist ja auch dank Ihrer Forschung<br />

inzwischen doch einigermaßen unstrittig, war ein unbarmherziger<br />

Vernichtungskrieg, der von Anfang an so geplant gewesen war. Die deutschen<br />

Generäle haben das <strong>im</strong> Vorfeld schon seit den dreißiger Jahren so gewusst und<br />

haben das eben auch <strong>mit</strong>getragen. Dies blieb doch auch vielen Soldaten nicht<br />

verborgen. Mir geht es u. a. natürlich auch <strong>im</strong>mer um die Gerechtigkeit dem<br />

Einzelnen gegenüber, wenn man <strong>mit</strong> diesen Menschen spricht und sie einem<br />

sagen, "ich habe zwar teilgenommen, aber ich war am Schl<strong>im</strong>msten dieses<br />

Grauens nicht beteiligt".<br />

<strong>Wette</strong>: Erstens war keineswegs unstrittig, was Sie gesagt haben: Noch in den achtziger<br />

Jahren haben Kollegen die "Präventivkriegsthese" vertreten. Diese These besagt,<br />

Deutschland sei einem russischen Angriff nur zuvorgekommen.<br />

Kölsch: Genau, sie besagt, Stalin hätte eigentlich Deutschland überfallen wollen und<br />

insofern habe sich Hitler "nur präventiv gewehrt".<br />

<strong>Wette</strong>: Richtig. Und alles andere, was wir heute wissen, ist ebenfalls als Reaktion auf<br />

angebliche Vorhaben der Russen interpretiert worden. Insofern war es also so,<br />

dass diese neue Sicht der Dinge zuerst einmal durchgeboxt werden musste.<br />

Kölsch: Das st<strong>im</strong>mt, die Widerlegung der "Präventivkriegsthese" war eine Arbeit der<br />

achtziger und sogar noch der neunziger Jahre: Man konnte endlich nachweisen,<br />

dass das alles von Anfang an als Vernichtungskrieg geplant gewesen war. Das<br />

Problem war eben gewesen, dass man diesen Vernichtungskrieg bis in die<br />

achtziger Jahre hinein propagandistisch sehr erfolgreich "verhe<strong>im</strong>lichen" konnte.<br />

<strong>Wette</strong>: Der zweite Teil Ihrer Frage ging ja dahin, wie das der Einzelne damals gesehen hat.<br />

Durch Quellen können wir nicht nachweisen, was der einzelne Mannschaftssoldat<br />

oder Unteroffizier <strong>im</strong> Russlandkrieg tatsächlich erlebt hat. Wenn er da<strong>mit</strong> nicht selbst<br />

'rauskommt, sondern sich seine Lebenslegende aufbaut, dann haben wir kaum<br />

eine Chance, ihm persönlich das Gegenteil zu beweisen. Es sei denn, es gibt<br />

solche Ausnahmefälle, wie sie sich in der Zeit der Wehrmachtsausstellung<br />

ereigneten, dass man nämlich best<strong>im</strong>mte Leute auf den Fotos wiedererkennt, die<br />

da in Uniform vor einem Gehängten stehen: Da kommt dann meinetwegen plötzlich<br />

das große Erwachen von Familien<strong>mit</strong>gliedern, weil sie erst auf diesem Wege<br />

etwas erfahren, was sie durch die mündliche Überlieferung ihrer Verwandten nicht<br />

hatten erfahren können. Das ist also ein ganz schwieriges Terrain, das man <strong>mit</strong><br />

allgemeinen Formeln nicht hinreichend beantworten kann.<br />

Kölsch: In Ihrem Buch "Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden" zeigen<br />

sie, dass die Wehrmacht von 1941 an, also von Anfang an in diesen<br />

völkerrechtswidrigen Krieg, in diesen Vernichtungskrieg eingebunden war und die<br />

Generäle dem auch ideologisch überzeugt gefolgt sind. Wie konnte das sein?<br />

Waren das bereits die handverlesenen Führungsfiguren, die Hitler dahin gesetzt<br />

hatte? Oder baute das schlicht auf der Mentalität des deutschen Militärs auf?<br />

<strong>Wette</strong>: Das war keineswegs eine handverlesene Schar besonders nazitreuer Generäle.


Stattdessen gibt es hier ja sogar ein Schlüsseldatum: Hitler hatte bereits am 30.<br />

März 1941 all die Generäle, die die Truppen in den Ostkrieg führen sollten, in Berlin<br />

versammelt. Der Überfall selbst erfolgte dann am 22. Juni. Die dort in Berlin<br />

versammelten Militärs stellten den ganz normalen Durchschnitt der höheren<br />

Truppenführer dar. In dieser inzwischen berühmt gewordenen Rede hat Hitler ja in<br />

denkbar großer Offenheit gesagt, was er vor hat. Er hat dabei auch Felder<br />

beleuchtet, die un<strong>mit</strong>telbar als Kriegsverbrechen erkannt werden konnten und auch<br />

erkannt worden sind. Die etwa 300 anwesenden Generäle haben das zur Kenntnis<br />

genommen: Einige haben gemurrt, haben auch überlegt, ob sie irgendwie vorstellig<br />

werden sollten, aber <strong>im</strong> Ergebnis hat das zu gar nichts geführt. Denn <strong>im</strong> Ergebnis<br />

haben sie eben doch diese Befehle ausgearbeitet – dies geschah also alles<br />

bereits vor dem 22. Juni 1941 – und dann später auch angewendet.<br />

Kölsch: Die Tapferkeit der deutschen Generalität <strong>im</strong> Zweiten Weltkrieg gegenüber Hitler<br />

war ja sehr begrenzt. Sie erarbeiten hier eine Kontinuitätslinie des deutschen<br />

Militärs <strong>im</strong> Grunde seit der Kaiserzeit: vom preußisch-kaiserlichen bis hin zum<br />

nationalsozialistischen Militarismus. Muss man das heute in dieser Schärfe<br />

formulieren, um das einigermaßen zutreffend zu beschreiben?<br />

<strong>Wette</strong>: Auch das hat ja sozusagen seine Historiographiegeschichte. Sie kennen sicherlich<br />

dieses Wort vom "Betriebsunfall", also die Behauptung, dass das <strong>Dr</strong>itte Reich nur<br />

ein "Betriebsunfall" gewesen sein soll, dass die Geschichte vorher <strong>im</strong> Grunde<br />

genommen herzeigbar wäre und die nach 1945 dann ohnehin. Ich ging daher<br />

<strong>im</strong>mer wieder der Frage nach, wie das <strong>mit</strong> den Kontinuitäten und Diskontinuitäten<br />

eigentlich genauer beschaffen war. Denn auf ganz wesentlichen Feldern lassen<br />

sich eben Kontinuitäten feststellen. Eine Kontinuität ist z. B. gewesen, dass sich das<br />

deutsche Militär nach 1918 nicht da<strong>mit</strong> abgefunden hat anzuerkennen, dass eine<br />

militärische Niederlage erlitten worden ist; dass der Versailler Vertrag best<strong>im</strong>mte<br />

Vorgaben machte, an denen man sich künftig orientieren musste; auch das wurde<br />

nie akzeptiert. Stattdessen haben <strong>im</strong> Grunde genommen schon seit den Tagen der<br />

Novemberrevolution 1918 maßgebliche Militärs gesagt, dass sie von der Zukunft<br />

erwarten, dass erneut die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, um das<br />

fortsetzen zu können, was man <strong>im</strong> Ersten Weltkrieg begonnen hatte. Das Ziel war<br />

also die Wiederaufnahme der militärischen Auseinandersetzung, um für<br />

Deutschland eine Großmachtstellung herzustellen: Das war eine eindeutig<br />

erkennbare Kontinuität. Ebenso gibt es in der Frage, wie man den Krieg führt, auch<br />

best<strong>im</strong>mte Kontinuitätsstränge. Man muss sich z. B. nur einmal anschauen, was<br />

jeweils als "Kriegsnotwendigkeit" betrachtet worden ist. Das stand nämlich <strong>im</strong>mer<br />

in Konkurrenz zum Kriegsvölkerrecht, zur Haager Landkriegsordnung. Schon <strong>im</strong><br />

Ersten Weltkrieg hatten sich häufig diejenigen durchgesetzt, die die<br />

"Kriegsnotwendigkeiten" für das Zentrale hielten. Dies kann man eben auch wieder<br />

in eine Kontinuitätslinie bringen <strong>mit</strong> den völkerrechtswidrigen Befehlen, die bereits<br />

vor Beginn des Russlandkrieges erlassen worden sind. Im Übrigen gibt es auch<br />

Unterschiede, aber diese großen Kontinuitätslinien sehe ich durchaus. Zu ihnen<br />

gehört auch ein best<strong>im</strong>mtes negatives Bild von Russland bzw. später der<br />

Sowjetunion: Da musste Hitler die Köpfe der Wehrmachtsgeneräle nicht eigens<br />

verbiegen, denn das alles war bereits drin in ihren Köpfen, das musste eigentlich<br />

nur aktiviert und auf eine große gemeinsame Linie gebracht werden. Insofern ist<br />

auch hier Hitler, ist auch hier der Nationalsozialismus eigentlich der Radikalisierer<br />

bereits vorhandener Traditionen.<br />

Kölsch: Diese Traditionen umspannen Ihren Büchern zufolge eigentlich ein ganzes<br />

Jahrhundert: Das ist das Jahrhundert von 1848 bis 1945. 1848 hat ja auch schon<br />

das Militär die Demokraten auf den Barrikaden in Berlin erschossen. General von<br />

Grieshe<strong>im</strong> hat das damals so "schön" formuliert: "Gegen Demokraten helfen nur<br />

Soldaten!" Von da an war das Militärische ja das Pr<strong>im</strong>at – <strong>im</strong> Gegensatz zu<br />

Clausewitz. Das Pr<strong>im</strong>at war das Militärische und die Politik folgte der militärischen<br />

Logik hinterdrein. Das hat sich dann bis 1945 <strong>im</strong>mer weiter fortgesetzt. Gab es da<br />

kein Entkommen für die Deutschen?<br />

<strong>Wette</strong>: Es gab spätestens seit den deutschen Einigungskriegen, aber möglicherweise


schon seit 1848 in Deutschland so etwas wie die Dominanz des Militärischen, die<br />

auch massiv die Politik beeinflusst hat: manchmal sehr stark und manchmal etwas<br />

weniger stark. Vielen Menschen ist z. B. gar nicht präsent, dass bereits am Ende<br />

der We<strong>im</strong>arer Republik, also bereits ein paar Jahre vor Hitler, die entscheidenden<br />

Staatspositionen in militärischer Hand waren. Da gab es den Generalfeldmarschall<br />

des Ersten Weltkriegs Hindenburg: Er war seit 1925 Staatspräsident, also seitdem<br />

man Ebert in den Tod getrieben hatte. Da gab es seinen ehemaligen Gehilfen in<br />

der obersten Heeresleitung Groener: Er war Reichsinnenminister und<br />

Reichswehrminister. Und der frühere Major Schleicher war als General<br />

Reichskanzler geworden. Noch vor Hitler, also noch zu Zeiten der We<strong>im</strong>arer<br />

Republik – zumindest als man sie formal noch so genannt hat – konnte man<br />

erkennen, dass Deutschland sich auf dem Wege in eine Militärdiktatur befindet.<br />

Kölsch: Packt einen da als Historiker nicht manchmal die Verzweiflung, wenn man sich<br />

anschaut, ob es da nicht vielleicht doch ein Entkommen hätte geben können?<br />

Natürlich ist diese Frage irgendwie müßig, aber so etwas muss einen doch gerade<br />

dann, wenn man wie Sie sehr friedensorientiert ist, <strong>im</strong>mer wieder bewegen: Wo<br />

hätte man denn noch entkommen können, wenn das Militärische all die Jahrzehnte<br />

davor bereits so sehr <strong>im</strong> Vordergrund gestanden hatte?<br />

<strong>Wette</strong>: In der Zeit, in der ich groß geworden bin und meinen Geschichtsunterricht an<br />

diversen Schulen absolviert habe, erschien diese militaristische Tradition<br />

Deutschlands so dominant, dass man eigentlich gar nicht auf die Idee gekommen<br />

ist, dass es möglicherweise auch noch etwas anderes gegeben haben könnte.<br />

Dies zu entdecken hat sich dann die so genannte historische Friedensforschung,<br />

die ab den frühen achtziger Jahren gearbeitet hat, zu ihrer Aufgabe gemacht. Sie<br />

hat es sich zur Aufgabe gemacht, all diese Strömungen in der jüngeren deutschen<br />

Geschichte aufzustöbern, die diesen militaristischen Weg nicht <strong>mit</strong>gehen wollten,<br />

die ein anderes Politikmodell vertreten haben. Da hat es einerseits die<br />

demokratischen Strömungen gegeben, die von der 1848er Revolution ausgingen;<br />

dann gab es die sozialistische Arbeiterbewegung; es gab Minderheiten in den<br />

beiden großen Kirchen, die sich pazifistisch orientiert haben, und es gab die<br />

Deutsche Friedensgesellschaft und andere pazifistische Organisationen usw. Alle<br />

diese Strömungen haben nach dem Ersten Weltkrieg einen großen<br />

gesellschaftlichen Schub bekommen. Es hat nämlich in der Tat in den ersten<br />

Jahren der We<strong>im</strong>arer Republik große Massenveranstaltungen gegeben unter der<br />

Parole "Nie wieder Krieg!" Das war eine emotionale und rationale Antwort auf den<br />

grauenhaften Ersten Weltkrieg. Und wenn mich nicht alles täuscht, war eine<br />

Mehrheit der deutschen Bevölkerung – zumindest in der ersten Hälfte der zwanziger<br />

Jahre – auf der Seite derer, die gesagt haben: "So etwas darf nie wieder<br />

passieren, dass wir in einen solchen zerstörerischen Weltkrieg hineinrutschen!" Ich<br />

möchte darüber hinaus sagen, dass es auch durchdachte Politikmodelle in der<br />

Richtung gegeben hat: angefangen vom Völkerbund bis zu einer bilateralen Politik<br />

<strong>mit</strong> den ehemaligen Feindmächten und bis hin zu einer republikanischen<br />

Außenpolitik, wie sie unter maßgeblicher Leitung von Stresemann formuliert<br />

worden ist. Dies alles zeigte eine begehbare Alternative zur Wiederaufnahme einer<br />

kriegerischen Machtpolitik auf: Es gab also diese Alternative. Die Kollegen aus der<br />

historischen Friedensforschung haben sich wirklich sehr verdient darum gemacht,<br />

das alles in seinen unterschiedlichen Verästelungen aufgearbeitet zu haben.<br />

Genauso wie in den zwanziger Jahren die erste Demokratie verspielt worden ist,<br />

so ist auch der Friede verspielt worden. Aber das heißt ja zugleich, dass es eine<br />

Chance gegeben hätte, diesen Weg weiterzugehen, dass es keineswegs<br />

zwingend gewesen ist, in die von Hitler geprägte Kriegsvorbereitungspolitik seit<br />

dem Jahr 1933 einzutreten.<br />

Kölsch: Hier sollten wir gleich noch auf den Begriff "Zivilcourage" und auf Ihr kürzlich<br />

erschienenes Buch <strong>mit</strong> diesem Titel kommen. Eine Doppelfrage hätte ich davor<br />

jedoch noch zum Zweiten Weltkrieg und zur Rolle der Wehrmacht darin. Es gab ja<br />

unter den Offizieren ebenfalls einen grassierenden Antise<strong>mit</strong>ismus, der<br />

möglicherweise bereits eine lange Tradition hatte. Der andere Punkt ist, dass das<br />

Grauen ohne die Wehrmacht, egal wie sehr sie sich selbst aktiv und in der Mehrheit


oder Minderheit daran beteiligt hat, gar nicht vorstellbar gewesen wäre. Insofern war<br />

also diese "Sauberkeit" der Wehrmacht ohnehin <strong>im</strong>mer nur ein Phantom.<br />

<strong>Wette</strong>: Im deutschen Militär, also in der Reichswehr und später in der Wehrmacht, war der<br />

Antise<strong>mit</strong>ismus zumindest so stark wie in der Bevölkerung insgesamt. Sieht man<br />

genauer hin, dann stellt man fest, dass man die jüdischen Deutschen <strong>im</strong> Ersten<br />

Weltkrieg sehr wohl genommen hat, um als Soldaten und auch in niedrigen<br />

Offiziersrängen zu kämpfen. Später hat man sich dann daran in einer Weise<br />

erinnert, die ich für nicht ganz seriös halte. Man hat nämlich gesagt, die deutschen<br />

Juden hätten es be<strong>im</strong> deutschen Militär <strong>im</strong>mer gut gehabt. Nun, in Kriegszeiten hat<br />

man sie gerne genommen, aber sobald der Krieg beendet war, hat man sie aus<br />

den Streitkräften wieder hinausgedrängt.<br />

Kölsch: Die jüdischen Kriegsteilnehmer hatten ja auch überdurchschnittliche hohe<br />

Gefallenenzahlen.<br />

<strong>Wette</strong>: Zumindest genauso hohe wie der Rest der Deutschen. Das ist ja durch diese<br />

Judenzählung von 1916 überprüft worden. Die Ergebnisse dieser Zählung hat man<br />

dann aber der Öffentlichkeit gar nicht <strong>mit</strong>geteilt. In den zwanziger Jahren wurde dann<br />

klar, dass der <strong>Dr</strong>ückeberger- und der Kriegsgewinnler-Vorwurf keine Basis hat. In<br />

der Reichswehr gab es nur ganz wenige Männer, die irgendwie jüdische<br />

Zusammenhänge hatten und die paar, die bis 1933 geblieben waren, wurden dann<br />

aus der Reichswehr, wie sie <strong>im</strong>mer noch hieß, herausgedrängt. Denn die<br />

Reichswehrführung hat sofort nach der Machtergreifung Hitlers einen<br />

Arierparagraphen eingeführt, der von Hitler gar nicht verlangt war. Die NS-<br />

Regierung hatte das noch gar nicht verlangt, da ist man in der Reichswehr bereits in<br />

vorauseilendem Gehorsam tätig geworden. Dies war allerdings in anderen<br />

gesellschaftlichen Feldern ebenso der Fall. Tja, und nun fragt sich, was diese<br />

Tradition <strong>mit</strong> der Hinnahme und <strong>mit</strong> der aktiven Unterstützung des Holocaust zu tun<br />

hat. Bereits in den militärischen Befehlen, die wir vorhin angesprochen haben,<br />

tauchen ja jeweils Juden als Feinde auf. Insofern wurde die Wehrmacht bereits vor<br />

Beginn des Russlandkrieges – vom Polenkrieg mal ganz zu schweigen – auf einen<br />

Kurs gebracht, der Judenfeindschaft beinhaltete. Und über den größeren<br />

Zusammenhang sind wir uns inzwischen ja alle klar: Ohne die Wehrmacht, ohne die<br />

Eroberungen der Wehrmacht hätten die Judenmorde in den verschiedenen<br />

Städten und in den verschiedenen Vernichtungslagern gar nicht stattfinden können.<br />

Nehmen wir als Beispiel Litauen, denn <strong>mit</strong> Litauen habe ich mich näher befasst.<br />

Die Wehrmacht hat Litauen in raschem Zugriff erobert und schon wenige Tage<br />

später gingen dort die Judenmorde los.<br />

Kölsch: Ich wollte auf der anderen Seite eigentlich auch noch zur Antithese kommen. Bei<br />

den Millionen von Soldaten waren nur relativ wenige oppositionelle St<strong>im</strong>men zu<br />

vernehmen – was damals allerdings wirklich schwierig gewesen wäre. Sie haben<br />

aus diesem Grund das Buch "Zivilcourage" geschrieben und veröffentlicht, um<br />

einfach auch einmal klar zu machen, dass es auch anders gegangen ist, dass es<br />

auch einige wenige andere gegeben hat, dass es also auch innerhalb der<br />

Wehrmacht Widerstand gegeben hat. Ihr Buch hat den Untertitel "Empörte, Retter<br />

und Helfer aus Wehrmacht, Polizei und SS". Waren das <strong>im</strong> Grunde genommen nur<br />

reine Ausnahmeerscheinungen? Oder muss man sagen, dass auch das eine<br />

Tendenz ausdrückt, die es durchaus gegeben hat?<br />

<strong>Wette</strong>: Dieses Buch, das Sie soeben angesprochen haben, fügt sich ja ein in ein größeres<br />

Forschungsinteresse, das ich seit langer Zeit verfolge. Mein Interesse ist nämlich<br />

herauszubekommen, ob es be<strong>im</strong> deutschen Militär in der Zeit des deutschen<br />

Nationalstaats zwischen 1871 und 1945 auch kritisches Personal gegeben hat,<br />

also Menschen, die nicht widerspruchslos diese enormen kriegerischen Aktivitäten<br />

<strong>mit</strong>gemacht haben. Wir haben dann entdecken können, dass nach dem Ersten<br />

Weltkrieg eine stattliche Anzahl z. T. hoher Offiziere zu Pazifisten konvertiert sind und<br />

in der Friedensbewegung der We<strong>im</strong>arer Zeit eine wichtige Rolle gespielt haben,<br />

weil man ihnen nämlich nichts vormachen konnte, was das militärische Milieu betraf.<br />

Wir haben uns dann die Frage vorgelegt, ob auch noch nach der Machtübernahme<br />

durch Hitler 1933 <strong>im</strong> uniformierten Milieu eine kritische Substanz vorhanden war.


Wir wussten erst gar nicht, wie man das eigentlich er<strong>mit</strong>teln soll. Als ein gangbarer<br />

Weg hat es sich dann erwiesen, dass man uniformierte Retter von Juden entdeckt<br />

hat oder Soldaten oder Offiziere, die sich Kriegsgefangenen gegenüber entgegen<br />

den Befehlen anständig verhalten haben. Alle diese Menschen sind also ein großes<br />

Risiko eingegangen, um so etwas wie eine humane Linie durchhalten zu können –<br />

insofern man bei kriegerischen Auseinandersetzungen überhaupt von einer<br />

solchen Linie sprechen kann. Aus diesem Kontext heraus sind diese Bücher<br />

entstanden. Wir haben dort an einzelnen Persönlichkeiten nachweisen können,<br />

dass sie rassisch Verfolgten und Kriegsgefangenen geholfen haben. Sie haben<br />

ihnen z. T. geholfen, den Zweiten Weltkrieg zu überleben. Bei anderen war es<br />

freilich so, dass sie nur eine temporäre Hilfe leisten konnten, weil die betroffenen<br />

Menschen dann doch in die Vernichtungsmaschine geraten sind. Aber wir haben<br />

<strong>im</strong>merhin zeigen können, dass es diese mutigen Einzelnen wirklich gegeben hat.<br />

Wenn man sich also heute an die Zeit des <strong>Dr</strong>itten Reiches und an die Geschichte<br />

der Wehrmacht erinnert, dann hat man außer den paar Leuten des militärischen<br />

Widerstandes und diesen Judenrettern eigentlich wenig, an dem man sich<br />

irgendwie positiv festhalten könnte.<br />

Kölsch: Sie erinnern ja in diesem Buch "Retter in Uniform" an den inzwischen international<br />

berühmtesten Menschen aus dieser Reihe, nämlich an Hauptmann W<strong>im</strong><br />

Hosenfeld. Das ist derjenige, der den Pianisten gerettet hat, wie uns der Film "Der<br />

Pianist" zeigt. Dort in diesem Film gibt es ja auch diese Szene, bei der man als<br />

Zuschauer denkt, nun ist diese schreckliche Geschichte endlich zu Ende und der<br />

sich versteckende jüdische Pianist wird jetzt doch erwischt und umgebracht:<br />

"Erwischt" wird er aber ausgerechnet von diesem "Retter in Uniform". Das ist ein<br />

unglaublich bewegender Moment in diesem Film, das ist wirklich sehr, sehr<br />

anrührend. In diesem Film wird also nachvollziehbar, dass es selbst in düstersten<br />

Zeiten noch ein best<strong>im</strong>mtes Maß an Menschlichkeit hat geben können.<br />

<strong>Wette</strong>: Das ist die eigentliche Botschaft, die von diesen Forschungen ausgeht: dass diese<br />

Zeit eben nicht nur erklärt werden kann durch Befehle, durch Zwang, durch<br />

terroristische Maßnahmen, sondern dass man auch ganz andere Zugänge suchen<br />

muss wie etwa den der sozialpolitischen Bestechungen, die die Leute bei Laune<br />

gehalten haben. Und man kann herausfinden, dass es eben doch auch<br />

Handlungsspielräume dieser Art gegeben hat, wie wir das hier aufgewiesen<br />

haben. Wenn sich damals jemand vorgenommen hat, helfend und rettend in das<br />

Geschehen einzugreifen und wenn er den Mut hatte, das auch durchzuhalten, dann<br />

war das möglich. Diese einzelnen Persönlichkeiten – wir haben etwa 30 von ihnen<br />

näher erforscht – sind ein Beleg dafür, dass man auch in dieser Zeit, in der es<br />

gewaltsamer zuging als je zuvor, so etwas wie eine humane Grundlinie einhalten<br />

konnte.<br />

Kölsch: Nun war es damals natürlich besonders schwer Zivilcourage zu üben: Zivilcourage<br />

ist für die Deutschen ja ohnehin ein Fremdwort in mancherlei Hinsicht. In Ihrem Buch<br />

kommt auch der österreichische Feldwebel Anton Schmid vor, der vielen Juden<br />

das Leben gerettet hat und der dann von einem NS-Gericht zum Tode verurteilt<br />

wurde für diese Zivilcourage. Er sagte vor seinem Tod: "Krepieren muss jeder,<br />

wenn ich aber wählen kann, ob ich als Mörder oder als Helfender krepieren soll,<br />

dann wähle ich den Tod als Helfer." Das war eine mutige Haltung – und er hat das<br />

nicht überlebt.<br />

<strong>Wette</strong>: Ja, er hat das nicht überlebt. Man muss zu Anton Schmid wissen, dass er ein<br />

Feldwebel aus Wien gewesen ist, der in Wilna in Litauen <strong>im</strong> rückwärtigen<br />

Heeresgebiet eingesetzt war, weil er nicht mehr so ganz jung gewesen ist. Er hat<br />

dort mehreren Hundert Juden helfen können. Er hat ihnen aber auch <strong>mit</strong><br />

militärischem Material geholfen. Er hat also z. B. seinen Dienst-LKW zur Verfügung<br />

gestellt und er hat möglicherweise sogar die jüdischen Partisanen <strong>im</strong> Raume Wilna<br />

<strong>mit</strong> Waffen versorgt oder hat zumindest solche transportiert. Wir haben intensiv<br />

nach dem Feldkriegsgerichtsurteil gesucht, <strong>mit</strong> dem die Todesstrafe gegen Anton<br />

Schmid ausgesprochen worden ist. Wir haben dieses Schriftstück leider nicht<br />

finden können. Es war jedenfalls so: Der Terminus "Judenhilfe" kam <strong>im</strong>


Militärstrafgesetzbuch nicht vor! Niemand ist wegen Judenhilfe hingerichtet worden.<br />

Sondern man hat dann einfach Paragraphen hergenommen, die üblich in solchen<br />

Situationen waren: Feindbegünstigung, in diesem Fall vielleicht auch noch<br />

Kriegsverrat und Diebstahl. Irgendetwas werden die Militärrichter schon gefunden<br />

haben, um das Eigentliche nicht aussprechen zu müssen, was als Terminus <strong>im</strong><br />

Militärstrafgesetzbuch nicht vorkam. Schmid ist jedenfalls von einem deutschen<br />

Feldkriegsgericht zum Tode verurteilt und wenig später durch Erschießen<br />

hingerichtet worden. Er wurde dann irgendwo in Wilna vergraben.<br />

Kölsch: Wir sind leider fast schon am Ende unseres <strong>Gespräch</strong>s, Herr <strong>Wette</strong>. Vielleicht darf<br />

ich Ihnen abschließend eine ganz grundlegende Frage stellen. Sie nennen sich und<br />

auch wir hier haben Sie als "<strong>Militärhistoriker</strong>" vorgestellt. Wären Sie eigentlich nicht<br />

mehr zufrieden <strong>mit</strong> dem Begriff "Friedenshistoriker", wenn ich Ihre Grundrichtung<br />

richtig deute?<br />

<strong>Wette</strong>: Ich denke, dass eine kritische Auseinandersetzung <strong>mit</strong> der Rolle des Militärs in<br />

Deutschland, insbesondere seit den Reichseinigungskriegen <strong>im</strong> 19. Jahrhundert<br />

eine zwingende Voraussetzung ist, um die Wege deutlich machen zu können, auf<br />

denen ein anders strukturiertes, ein friedlicher strukturiertes Deutschland künftig<br />

gehen muss. Insofern ist eine kritische Militärgeschichtsforschung ein genuiner<br />

Bestandteil der historischen Friedensforschung. Und vor diesem Hintergrund ist es<br />

dann relativ unwichtig, wie man das benennt. Ich selbst würde jedenfalls sagen, die<br />

kritische Auseinandersetzung <strong>mit</strong> der vom Militär dominierten deutschen<br />

Geschichte ist eine ganz zwingende Voraussetzung dafür, dass wir die Wege<br />

eines friedlichen Deutschlands heute und in der Zukunft sozusagen in Abhebung<br />

von der Vergangenheit definieren können. Wir haben mal ein Projekt gemacht, das<br />

den Titel trug "Von der Kriegskultur von vor 1945 zur Friedenskultur" – das war<br />

vielleicht eine etwas überzogene Ansicht – "der Gegenwart". Aber das sind<br />

jedenfalls die Wege gewesen, die wir eben auch historiographisch begleitet haben.<br />

Und es ist kein Zufall, dass viele von uns auch politisch engagiert sind und auf diese<br />

Weise versuchen, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Gesellschaft<br />

einzubringen.<br />

Kölsch: Herr <strong>Wette</strong>, ich bedanke mich sehr dafür, dass Sie heute unser Gast waren.<br />

Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, das war unsere Sendung alpha-forum,<br />

unser Gast war heute der <strong>Militärhistoriker</strong> <strong>Prof</strong>essor <strong>Wolfram</strong> <strong>Wette</strong> von der<br />

Universität Freiburg. Ich bedanke mich für Ihr Interesse und fürs Zuschauen.<br />

© Bayerischer Rundfunk

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