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<strong>AUFSÄTZE</strong><br />

AUFSATZ ÖFFENTLICHES RECHT · DIE POLIZEILICHE WOHNUNGSVERWEISUNG<br />

Professorin Dr. Annette Guckelberger, Saarbrücken *<br />

Die polizeiliche Wohnungsverweisung<br />

A. EINLEITUNG<br />

Mit Ausnahme von Bayern existieren in den meisten Bundesländern<br />

spezielle Befugnisnormen zur polizeilichen Wohnungsverweisung.<br />

1 Auch wenn der Normtext je nach Bundesland<br />

etwas variiert, liegt dieser polizeilichen Standardmaßnahme<br />

doch ein einheitliches Regelungskonzept zugrunde. Die<br />

Polizei wird ermächtigt, zur Abwehr einer (gegenwärtigen)<br />

Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit eines Mitbewohners<br />

bzw. einer Mitbewohnerin, diejenige Person, von der die Gefahr<br />

ausgeht, aus der Wohnung und dem unmittelbar angrenzenden<br />

Bereich zu verweisen (sog. Wohnungsverweisung)<br />

und ihr die Rückkehr zu untersagen (sog. Rückkehrverbot).<br />

Dadurch wird der Polizei in Fällen häuslicher Gewalt eine<br />

kurzfristige Krisenintervention ermöglicht, um so akute Auseinandersetzungen<br />

mit Gefahren für einen anderen zu entschärfen.<br />

Man möchte den Beteiligten Wege aus der Krise<br />

eröffnen und ihnen die Möglichkeit geben, in größerer Ruhe<br />

und ohne das Risiko von Gewalttätigkeiten Entscheidungen<br />

über ihre künftige Lebensführung sowie ggf. die Inanspruchnahme<br />

zivilrechtlichen Rechtsschutzes nach dem Gewaltschutzgesetz<br />

zu treffen. 2 Aus diesem Grund wurde die polizeiliche<br />

Maßnahme in zeitlicher Hinsicht begrenzt. Zum Beispiel<br />

enden nach § 34 a V 1 PolG NRW, § 12 II 4 SaarlPolG<br />

Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot mit Ablauf des<br />

zehnten Tages nach ihrer Anordnung, soweit nicht im Einzelfall<br />

eine kürzere Geltungsdauer festgelegt wird. Wird ein Antrag<br />

auf zivilrechtlichen Schutz gestellt, kann die Maßnahme<br />

um zehn Tage verlängert werden. In jedem Fall enden Wohnungsverweisung<br />

und Rückkehrverbot mit dem Tag der zivilgerichtlichen<br />

Entscheidung. 3 Durch die polizeiliche Einschreitbefugnis<br />

kommt der Landesgesetzgeber seinem Schutzauftrag<br />

für die Unversehrtheit des Opfers nach (Art. 2 II 1<br />

GG). 4<br />

Da polizeiliche Wohnungsverweisungen meist in besonders<br />

eilbedürftigen Situationen erfolgen, sind diese Maßnahmen in<br />

der Praxis fehleranfällig. Inzwischen gibt es dazu mehrere<br />

Gerichtsentscheidungen, etwa weil der Polizei ein Anhörungsfehler<br />

unterlaufen ist, sich herausstellt, dass die aus der<br />

Wohnung verwiesene Person tatsächlich gar nicht der Störer,<br />

sondern das Opfer ist, oder sich das Opfer darauf beruft, es<br />

sei mit seiner Gefährdung „einverstanden.“ Da die polizeiliche<br />

HERAUSGEBER:<br />

Zivilrecht:<br />

RiBGH Dieter Maihold<br />

Professor Dr. Christian Wolf<br />

Strafrecht:<br />

Professor Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg<br />

Professor Dr. Hans Kudlich<br />

Öffentliches Recht:<br />

Professor Dr. Stefan Muckel<br />

Professor Dr. Rüdiger Rubel<br />

Referendarausbildung:<br />

Professor Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg<br />

Rechtsanwalt Torsten Kaiser, Lübeck www.ja-aktuell.de<br />

ZEITSCHRIFT FÜR STUDENTEN UND REFERENDARE HEFT 1/2011 SEITEN 1–80 43. JAHRGANG<br />

Wohnungsverweisung zahlreiche Anwendungsprobleme aufwirft,<br />

lohnt sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser<br />

Materie.<br />

B. VERFASSUNGSRECHTLICHER HINTERGRUND<br />

Das von der Polizei im Zuge der Wohnungsverweisung ausgesprochene<br />

„Hausverbot“ ist für den Betroffenen mit einem<br />

intensiven Grundrechtseingriff verbunden. Für deutsche Personen<br />

beinhaltet diese Maßnahme nach zutreffender Ansicht<br />

einen Eingriff in ihr Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 11 I<br />

GG), also das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets<br />

den Aufenthalt zu nehmen und dort zu verbleiben. 5<br />

Denn die polizeiliche Maßnahme bewirkt, dass die betroffene<br />

Person über mehrere Tage hinweg ihrer zum elementarsten<br />

Lebensbereich gehörenden Wohnung fernzubleiben hat. 6 Deshalb<br />

muss die polizeiliche Befugnisnorm den Anforderungen<br />

des qualifizierten Gesetzesvorbehalts des Art. 11 II GG gerecht<br />

werden. In engem Zusammenhang damit steht die Frage,<br />

ob die Länder überhaupt solche Regelungen erlassen dürfen,<br />

da dem Bund nach Art. 73 I Nr. 3 Alt. 1 GG die ausschließliche<br />

Gesetzgebungskompetenz für die Freizügigkeit zukommt.<br />

7 Nach richtiger Auffassung ist jedoch der bei diesem<br />

Kompetenztitel verwendete Begriff der „Freizügigkeit“ nicht<br />

mit demjenigen in Art. 11 I GG gleichzusetzen, sondern enger.<br />

Dafür spricht schon ein Blick auf die weiteren in Art. 73 I<br />

* Die Verfasserin ist Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität<br />

des Saarlandes.<br />

1 § 27 a III–V PolG BW; § 29 a ASOG Bln; § 16 a BbgPolG; § 14 a BremPolG; § 12 b<br />

HambSOG; § 31 II HessSOG; § 52 II SOG M-V; § 17 II, III NdsSOG; § 34 a PolG<br />

NRW; § 13 II Rh.-Pf. POG; § 21 III SächsPolG; § 36 III SOG LSA; § 201 a LVwG<br />

S-H; § 18 II ThürPAG.<br />

2 BVerfG NJW 2002, 2225; Gusy Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2009, Rn. 279;<br />

Trierweiler Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot zum Schutz vor häuslicher<br />

Gewalt, 2006, S. 16.<br />

3 § 12 II 5, 6 SaarlPolG; ähnlich § 34 a V 2 PolG NRW.<br />

4 S. zur Schutzpflicht BVerfG NJW 2002, 2225 (2226).<br />

5 BVerfGE 110, 177 (190); BVerfG NVwZ 2008, 780 (785); NVwZ 2009, 331.<br />

6 VG Gelsenkirchen NWVBl. 2002, 361 (362); Bösch Jura 2009, 650 (653); Lang<br />

VerwArch 96 (2005), 283 (290); Rachor in: Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl.<br />

2007, F Rn. 532; Trierweiler (Fn. 2) S. 108 f. mit Nachweisen zur restriktiveren<br />

Ansicht.<br />

7 Für eine Sperrwirkung z.B. Lesting KJ 1997, 214 (221 f.); Dreier/Pernice GG, Bd. 1,<br />

2. Aufl. 2004, Art. 11 Rn. 22.<br />

1/2011 1


AUFSATZ<br />

AUFSATZ ÖFFENTLICHES RECHT · DIE POLIZEILICHE WOHNUNGSVERWEISUNG<br />

Nr. 3 GG genannten Materien des Pass-, Melde- und Ausweiswesens<br />

sowie der Ein- und Auswanderung einschließlich<br />

der Auslieferung, welche jeweils Fälle der Ein- und Ausreise<br />

in das Bundesgebiet insgesamt ohne Rücksicht auf den innerdeutschen<br />

Aufenthaltsort betreffen. 8 Im Unterschied zu dem<br />

unter dem Vorbehalt des Reichsgesetzes stehenden vergleichbaren<br />

Freizügigkeitsrecht des Art. 111 WRV wurde der Vorbehalt<br />

des Art. 11 II GG gerade nicht auf Bundesgesetze<br />

beschränkt und werden durch diesen Gesetzesvorbehalt, soweit<br />

es um die Vorbeugung strafbarer Handlungen geht, Fragen<br />

des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts berührt. Dafür<br />

sind aber seit jeher die Länder zuständig. 9<br />

Nach Ansicht des BVerfG dient die in Art. 13 I GG gewährleistete<br />

Unverletzlichkeit der Wohnung der Abschirmung<br />

der Privatsphäre in räumlicher Hinsicht. Daraus ergibt<br />

sich für den Einzelnen das Recht, in seinen Wohnräumen in<br />

Ruhe gelassen zu werden. 10 Durch Art. 13 GG wird ein<br />

grundsätzliches Verbot für die öffentliche Gewalt begründet,<br />

in eine Wohnung einzudringen und dort gegen den Willen<br />

ihres Inhabers zu verweilen. 11 Auch substanzielle Eingriffe,<br />

bei denen die Wohnung der Verfügung oder Benutzung ihres<br />

Inhabers ganz oder teilweise entzogen wird, sind am Maßstab<br />

des Art. 13 I GG zu prüfen, sofern dadurch zumindest teilweise<br />

die Privatheit der Wohnung aufgehoben wird. 12 Weil<br />

dem Betroffenen bei der Wohnungsverweisung nur vorübergehend<br />

die Verfügungsmöglichkeit über die Wohnung entzogen<br />

wird, lehnt das Schrifttum zum Teil einen Eingriff in<br />

Art. 13 I GG ab. So werde auch bei der Inhaftierung einer<br />

Person eine Verletzung des Wohnungsgrundrechts nicht geprüft.<br />

13 Demgegenüber wird in den Gesetzesmaterialien sowie<br />

insbesondere von den Verwaltungsgerichten ohne weiteres ein<br />

Eingriff in dieses Grundrecht angenommen. 14 Jedenfalls wenn<br />

sich die Polizisten zur Eruierung der Lage in die Wohnung<br />

begeben, um den potenziellen Gewalttäter „aus“ dieser zu<br />

entfernen, wird dadurch in Art. 13 I GG eingegriffen, sofern<br />

die Anforderungen an die Wohnungsverweisung hinter der<br />

speziellen Befugnisnorm zum polizeilichen Betreten der Wohnung<br />

zurückbleiben. Man denke etwa daran, dass der Landesgesetzgeber<br />

implizit bei der Wohnungsverweisung von einer<br />

Betretensmöglichkeit zur Nachtzeit ausgeht, obwohl nicht,<br />

wie bei der speziellen Betretensbefugnis, eine gegenwärtige,<br />

sondern nur eine konkrete Gefahr für Leib und Leben vorliegt.<br />

15<br />

Außerdem wird durch die Wohnungsverweisung die Eigentumsgarantie<br />

des Art. 14 I GG tangiert, die nach ständiger<br />

Rechtsprechung nicht nur die Nutzungsbefugnisse des Eigentümers<br />

an der Wohnung, sondern auch das Besitzrecht des<br />

Mieters schützt. 16 Da die Wohnungsverweisung nur vorübergehend<br />

ist, enthalten die Polizeirechtsnormen keine Enteignung<br />

i.S.d. Art. 14 III GG, sondern eine Inhalts- und Schrankenbestimmung<br />

(Art. 14 I 2 GG). 17 Nicht selten wird die<br />

polizeiliche Wohnungsverweisung in Konflikt mit Art. 6 I, II<br />

GG geraten, wenn durch die Anordnung der Kontakt zum<br />

Ehepartner oder Kind unterbrochen wird. 18 Übt der Betroffene<br />

zugleich eine berufliche Tätigkeit in der Wohnung aus,<br />

kann durch die polizeiliche Maßnahme auch Art. 12 I GG<br />

tangiert werden. 19 Da sich Ausländer nicht auf dieses Deutschengrundrecht<br />

berufen können, kann bei ihnen Art. 2 I GG<br />

als Auffanggrundrecht bedeutsam werden. 20<br />

Durch die speziellen Befugnisnormen zur polizeilichen<br />

Wohnungsverweisung werden vom Landesgesetzgeber die<br />

kollidierenden Verfassungsgüter zueinander in Ausgleich gebracht.<br />

Es kann zwar immer nur bezogen auf die einzelne<br />

Landesnorm festgestellt werden, ob die grundrechtseinschrän-<br />

2<br />

1/2011<br />

kende Norm z.B. den qualifizierten Anforderungen des<br />

Art. 11 II GG genügt. Mit den Rechtsvorschriften soll einer<br />

unmittelbaren Gefahr für das Leben, die körperliche Unversehrtheit<br />

und die Freiheit des Mitbewohners (Art. 2 II GG)<br />

begegnet werden. Somit wird der Polizei zum Schutz hochrangiger<br />

Rechtsgüter ein Einschreiten erlaubt. Die Wohnungsverweisung<br />

wurde in zeitlicher Hinsicht eng begrenzt. Auch<br />

wird zum Teil explizit vorgeschrieben, dass der betroffenen<br />

Person Gelegenheit gegeben werden soll, dringend benötigte<br />

Gegenstände des persönlichen Bedarfs mitzunehmen, 21 sowie<br />

die Maßnahme in ihrem örtlichen Umfang auf das erforderliche<br />

Maß zu beschränken 22 bzw. ihren räumlichen Bereich<br />

nach dem Erfordernis eines wirkungsvollen Schutzes der gefährdeten<br />

Person zu bestimmen. 23 Darüber hinaus müssen die<br />

ermächtigten Stellen bei ihrer Ermessensentscheidung die<br />

Grundrechte des Betroffenen beachten. Darum wird meistens<br />

die Verhältnismäßigkeit der landesrechtlichen Befugnisnorm<br />

zu bejahen sein. 24 Die Aufstellung einer speziellen Befugnisnorm<br />

zur Wohnungsverweisung ist nicht nur zu begrüßen,<br />

weil dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber dermaßen<br />

„wesentliche“ Entscheidungen obliegen. 25 Die Standardbefugnis<br />

gibt der Polizei klare Maßstäbe an die Hand, welche Anordnungen<br />

sie in den meist nur schwer zu durchschauenden<br />

besonders eilbedürftigen Situationen häuslicher Gewalt treffen<br />

kann.<br />

C. RECHTSNATUR DER WOHNUNGSVERWEISUNG<br />

Die Anordnung gegenüber einer Person, ihre Wohnung zu<br />

verlassen und für eine begrenzte Anzahl von Tagen dorthin<br />

nicht zurückzukehren, erfüllt die Verwaltungsaktkriterien des<br />

8 Seiler VBlBW 2004, 93 (94); s. auch Schenke Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl.<br />

2009, Rn. 136.<br />

9 BVerwGE 129, 142 (145); VGH Mannheim NJW 2005, 88 (89); Seiler VBlBW 2004,<br />

93 (94); Ziekow Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997, S. 561 f. stellt v.a. auf die<br />

Historie ab.<br />

10 BVerfGE 51, 97 (107); BVerfG ZIP 2008, 2027 (2029).<br />

11 BVerfG FamRZ 2009, 1814 (1815); Guckelberger/Ziekow in: Berliner Kommentar<br />

zum GG, 12. Erg.-Lfg. V/05, Art. 13 Rn. 49.<br />

12 BVerfGE 89, 1 (12).<br />

13 Bösch Jura 2009, 650 (653); Götz Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 14. Aufl.<br />

2008, § 8 Rn. 27; Lang VerwArch 96 (2005), 283 (289).<br />

14 SaarlLT-Drucks. 12/1070, S. 8; VG Gelsenkirchen NWVBl. 2002, 361 (362); Collin<br />

DVBl. 2003, 1499 (1503); Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173 (174); Storr ThürVBl.<br />

2005, 97 (99).<br />

15 Seiler VBlBW 2004, 93 (95); i.E. wie hier VGH Mannheim NJW 2005, 88 (89);<br />

OVG Münster NJW 2002, 2195; Krugmann NVwZ 2006, 152 (154); Trurnit<br />

VBlBW 2009, 205 (208).<br />

16 VG Gelsenkirchen NWVBl. 2002, 361 f.; Bösch Jura 2009, 650 (653); Lang VerwArch<br />

96 (2005), 283 (294 f.); Trierweiler (Fn. 2) S. 124 ff.; s. zum Besitzrecht des<br />

Mieters BVerfGE 89, 1 (5); BVerfG NJW 2000, 2658 (2659); kritisch Roellecke JZ<br />

1995, 74 ff.<br />

17 Lang VerwArch 96 (2005), 283 (295); Seiler VBlBW 2004, 93 (95); Trierweiler (Fn.<br />

2) S. 130 f.<br />

18 Bösch Jura 2009, 650 (653); Seiler VBlBW 2004, 93 (95); Trierweiler (Fn. 2) S. 133 ff.<br />

19 Lang VerwArch 96 (2005), 283 (297); eingehend Eicke Die polizeiliche Wohnungsverweisung<br />

bei häuslicher Gewalt, 2008, S. 95 f.; Trierweiler (Fn. 2) S. 137 ff.<br />

20 VG Gelsenkirchen NWVBl. 2002, 361 (362); näher zu Art. 2 I GG Eicke (Fn. 19)<br />

S. 98 ff.<br />

21 § 14 a II BremPolG; § 34 a II PolG NRW; § 18 II 4 ThürPAG; s. auch Eicke (Fn. 19)<br />

S. 76.<br />

22 § 18 II 3 ThürPAG. Eine Beschränkungsmöglichkeit auf Wohn- und Nebenräume<br />

wird in § 16 a I 2 BbgPolG; § 14 a I 2 BremPolG; § 12 II 2 SaarlPolG normiert.<br />

23 § 34 a I 2 PolG NRW; § 201 a I 3 LVwG S-H.<br />

24 OVG Münster NJW 2002, 2195; VG Gelsenkirchen NWVBl. 2002, 361 (362);<br />

Trurnit VBlBW 2009, 205 (208).<br />

25 S. zur Abstützung einer Wohnungsverweisung auf die Generalklausel Bösch Jura<br />

2009, 650 (654 ff.); VG Stuttgart VBlBW 2007, 67.


AUFSATZ ÖFFENTLICHES RECHT · DIE POLIZEILICHE WOHNUNGSVERWEISUNG<br />

§ 35 S. 1 VwVfG. Da dem Adressaten über einen gewissen<br />

Zeitraum hinweg ein bestimmtes Verhalten aufgegeben wird,<br />

handelt es sich dabei um einen sog. Dauerverwaltungsakt. 26<br />

Weil nach den einschlägigen Polizeirechtsnormen eine Maßnahme<br />

nur solange gerechtfertigt ist, bis ihr Zweck erreicht ist<br />

oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann, 27 muss die<br />

verfügende Stelle die ausgesprochene Wohnungsverweisung<br />

während des gesamten Zeitraums unter Kontrolle halten. 28<br />

Mit anderen Worten müssen neue Gesichtspunkte, die sich<br />

während der Dauer der Maßnahme ergeben, berücksichtigt<br />

werden, indem die Anordnung aufgehoben oder modifiziert<br />

wird. Deshalb stellen die Gerichte bei der Überprüfung der<br />

Anordnung nicht auf die Rechtslage im Zeitpunkt ihres Erlasses,<br />

sondern der gerichtlichen Entscheidung ab. 29 Wurde eine<br />

Wohnungsverweisung für die Dauer von zehn Tagen verfügt<br />

und kein zivilgerichtlicher Rechtsschutz in Anspruch genommen,<br />

erledigt sich diese Anordnung infolge Zeitablaufs, wenn<br />

die zehn Tage verstrichen sind (§ 43 II VwVfG). Da in demjenigen<br />

Augenblick, in dem das angerufene Verwaltungsgericht<br />

in der Hauptsache entscheiden wird, der zu überprüfende<br />

Verwaltungsakt keine Beschwer mehr entfaltet, prüfen die<br />

Gerichte, ob die jeweilige Wohnungsverweisung im Zeitpunkt<br />

ihrer Erledigung rechtmäßig war. 30<br />

Mehrere Landesvorschriften lauten dahingehend, dass die<br />

Polizei eine Person aus der Wohnung verweisen „und“ ihr die<br />

Rückkehr in diesen Bereich untersagen darf. 31 Allein aus der<br />

Konjunktion „und“ darf nicht geschlossen werden, dass stets<br />

beide Anordnungen auszusprechen sind. Hat nämlich der<br />

Störer bereits die Wohnung verlassen, reicht es zum Schutz<br />

des Opfers aus, wenn ihm die Polizei die Rückkehr in die<br />

gemeinsame Wohnung verbietet. 32 Hält sich der Störer dagegen<br />

noch in der Wohnung auf, liegt der Schwerpunkt auf<br />

der Wohnungsverweisung, da sich aus ihr die Pflicht zum<br />

Verlassen der Räumlichkeiten für einen bestimmten Zeitraum<br />

ergibt. Durch das Rückkehrverbot wird der betreffenden Person<br />

zusätzlich vor Augen geführt, dass sie in den nächsten<br />

Tagen die Wohnung nicht wieder betreten darf. Stellt man<br />

darauf ab, dass sowohl die Wohnungsverweisung als auch das<br />

Rückkehrverbot darauf abzielen, eine bestimmte Person für<br />

eine gewisse Zeit von bestimmten Räumlichkeiten fernzuhalten,<br />

mag man darin eine einheitliche Maßnahme erblicken. 33<br />

Dies scheint auch die Sichtweise manches Landesgesetzgebers<br />

zu sein, wenn etwa davon gesprochen wird, dass „die Maßnahme“<br />

in ihrem örtlichen Umfang auf das erforderliche Maß<br />

zu beschränken ist (§ 18 II 3 ThürPAG; ähnlich § 201 I 2<br />

LVwG S-H). In Bundesländern, in denen erst im Anschluss<br />

an die Wohnungsverweisung geregelt wird, dass unter den<br />

gleichen Voraussetzungen ein Betretungsverbot verhängt werden<br />

darf und dieses spätestens x Tage nach seiner Anordnung<br />

endet (§ 29 a I, III ASOG Bln.; § 12 b I 1–3 HambSOG), geht<br />

der Gesetzgeber von zwei Maßnahmen aus. Jedenfalls bei<br />

einer derartigen Normausgestaltung liegt es nahe, eine von der<br />

Polizei ausgesprochene Wohnungsverweisung mit einem<br />

Rückkehrverbot entsprechend den unterschiedlichen Ermächtigungsnormen<br />

getrennt zu prüfen.<br />

D. FORMELLE RECHTMÄßIGKEIT VON WOHNUNGSVER-<br />

WEISUNG UND RÜCKKEHRVERBOT<br />

I. Zuständigkeit<br />

Oft ergibt sich unmittelbar aus den einschlägigen Befugnisnormen,<br />

dass die Vollzugspolizei für die Wohnungsverweisung<br />

zuständig ist. 34 Andernfalls sind die allgemeinen Zuständigkeitsvorschriften<br />

des Polizeigesetzes maßgeblich.<br />

II. Anhörung<br />

Da die Wohnungsverweisung für den Betroffenen ein belastender<br />

Verwaltungsakt ist, ist ihm gem. § 28 I VwVfG zuvor<br />

Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen<br />

Tatsachen zu äußern. Auf diese Weise kann sich die<br />

zuständige Stelle über das Vorliegen der Voraussetzungen für<br />

eine solche Verfügung vergewissern. Der Einsatzbeamte erhält<br />

Kenntnis von etwaigen der Wohnungsverweisung entgegenstehenden<br />

Interessen, welche z.B. für die Verhältnismäßigkeit<br />

der Maßnahme bedeutsam sein können. 35 § 28 II VwVfG<br />

erlaubt es den Behörden von einer vorherigen Anhörung abzusehen,<br />

wenn diese nach den Umständen des Einzelfalls<br />

nicht geboten ist, „insbesondere“ wenn eine sofortige Entscheidung<br />

wegen Gefahr im Verzug notwendig erscheint<br />

(Nr. 1). Gefahr im Verzug liegt vor, wenn durch eine vorherige<br />

Anhörung auch bei Gewährung kürzester Anhörungsfristen<br />

ein Zeitverlust eintreten würde, der mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

zur Folge hätte, dass die durch den Verwaltungsakt<br />

zu treffende Regelung zur Erreichung ihres Zwecks<br />

zu spät käme. 36 Da der potenzielle Maßnahmeadressat einer<br />

Wohnungsverweisung bei Durchführung der Anhörung von<br />

einer Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers abgehalten<br />

wird, ist regelmäßig eine Gefahr im Verzug zu verneinen. 37<br />

Bei der Wohnungsverweisung wird sich eine Anhörung nur<br />

selten als entbehrlich erweisen, etwa wenn der Betroffene<br />

nicht greifbar ist, weil er sich nicht mehr in der Wohnung<br />

aufhält, er infolge starken Alkoholeinflusses oder starker emotionaler<br />

Erregung nicht „vernehmungsfähig“ ist. 38<br />

Selbst wenn die polizeiliche Anordnung ohne vorherige<br />

Anhörung ergehen durfte, sind die Behörden nach der Rechtsprechung<br />

wegen der Rechtsnatur der Maßnahme als Dauerverwaltungsakt<br />

dazu verpflichtet, dem Betroffenen nachträglich<br />

auf seinen Wunsch die Möglichkeit zur Stellungnahme<br />

einzuräumen. Obschon § 28 I VwVfG nach seinem Wortlaut<br />

nur die Anhörung regelt, bevor ein Verwaltungsakt „erlassen“<br />

wird, folgt dies aus den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen<br />

Verfahrens, zu denen das Recht auf ein faires Verfahren gehört,<br />

39 sowie dem mit der Anhörung bezweckten Schutz der<br />

materiellen Grundrechte des Betroffenen. 40<br />

1. Nachträgliche Anhörung (§ 45 I Nr. 3, II VwVfG)<br />

Ist der Polizei ein Anhörungsfehler unterlaufen, kann dieses<br />

Defizit nach § 45 I Nr. 3 VwVfG durch eine Nachholung der<br />

26 VG Köln, Urt. v. 19.06.2008 – 20 K 3142/06; VG Münster, Urt. v. 11.12.2009 – 1K<br />

2338/08; Trierweiler (Fn. 2) S. 60 f.<br />

27 § 3 III BremPolG; § 2 III PolG NRW; § 2 III SaarlPolG.<br />

28 VG Köln, Urt. v. 19.06.2008 – 20 K 3142/06.<br />

29 VG Köln, Urt. v. 19.06.2008 – 20 K 3142/06; VG Münster, Urt. v. 11.12.2009 – 1K<br />

2338/08; Trierweiler (Fn. 2) S. 61.<br />

30 S. zur Beschlagnahmeanordnung VGH Mannheim VBlBW 2001, 100 (101).<br />

31 Z.B. § 34 a I 1 PolG NRW; § 18 II 1 ThürPAG.<br />

32 Eicke (Fn. 19) S. 219; Kay NVwZ 2003, 521 (523); Trierweiler (Fn. 2) S. 82.<br />

33 So auch Trierweiler (Fn. 2) S. 83; ähnlich Eicke (Fn. 19) S. 219, welche aus der<br />

Konjunktion „und“ auf eine einheitliche Maßnahme schließt.<br />

34 Z.B. § 14 a I 1 BremPolG; § 12 II 1 SaarlPolG; s. auch § 31 II 1 HessSOG; § 13 II 1<br />

Rh.-Pf. POG.<br />

35 Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173 (177).<br />

36 BVerwGE 68, 267 (271 f.); Kopp/Ramsauer VwVfG, 10. Aufl. 2008, § 28 Rn. 52.<br />

37 Eicke (Fn. 19) S. 105.<br />

38 VG Köln, Urt. v. 25.09.2008 – 20 K 4987/07; Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173<br />

(177).<br />

39 VG Köln, Urt. v. 19.06.2008 – 20 K 3142/06; s. zum verfassungsrechtlichen Hintergrund<br />

des Anhörungsrechts Stelkens/Bonk/Sachs/Bonk/Kallerhoff VwVfG, 7. Aufl.<br />

2008, § 28 Rn. 1 f.; Kopp/Ramsauer (Fn. 36) § 28 Rn. 3 a.<br />

40 BVerfGE 56, 216 (236);Kopp/Ramsauer (Fn. 36) § 28 Rn. 3.<br />

1/2011 3<br />

AUFSATZ


AUFSATZ<br />

AUFSATZ ÖFFENTLICHES RECHT · DIE POLIZEILICHE WOHNUNGSVERWEISUNG<br />

Anhörung geheilt werden, indem z.B. dem Betroffenen am<br />

nächsten Tag Gelegenheit zur Äußerung gegeben und diese<br />

von der zuständigen Stelle in ihre Überlegungen hinsichtlich<br />

der Aufrechterhaltung der Verfügung einbezogen wird. Problematisch<br />

ist, ob die Behörden auch dann noch eine Heilung<br />

herbeiführen können, wenn sich die Wohnungsverweisung<br />

infolge Zeitablaufs längst erledigt hat, der Betroffene mithin<br />

erst nach einem Monat zur bereits „ausgelaufenen“ Wohnungsverweisung<br />

angehört wird. Wohl im Hinblick darauf,<br />

dass nach § 45 II VwVfG Verfahrenshandlungen bis zum<br />

Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen<br />

Verfahrens nachgeholt werden dürfen, befürwortete<br />

das VG Aachen eine Heilung des Anhörungsmangels.<br />

41 Dem ist jedoch zu widersprechen. Unter Berücksichtigung<br />

des Sinn und Zweck der Verfahrensvorschriften zeichnet<br />

sich eine Heilung dadurch aus, dass für den Betroffenen materiell<br />

gesehen ein vergleichbarer Zustand wie bei einer korrekten<br />

Verfahrensgestaltung hergestellt wird. 42 Dies setzt allerdings<br />

voraus, dass die Behörde neuen Erkenntnissen, die sich<br />

im Zuge der nachträglichen Anhörung ergeben, ggf. durch<br />

eine Korrektur des Verwaltungsakts Rechnung tragen kann. 43<br />

Ist aber eine polizeiliche Maßnahme infolge Zeitablaufs unwirksam<br />

geworden, kann sie nicht mehr geändert werden.<br />

Deshalb ist dem VG Köln zu folgen, das eine Heilung durch<br />

eine Anhörung des Betroffenen nach Erledigung der Wohnungsverweisung<br />

für ausgeschlossen gehalten hat. 44<br />

2. Unbeachtlichkeit des Fehlers (§ 46 VwVfG)<br />

Hinter § 46 VwVfG steht der Gedanke, dass es verfahrensökonomisch<br />

wenig sinnvoll ist, wenn die Gerichte wegen<br />

eines formellen Fehlers einen Verwaltungsakt aufheben müssten,<br />

den die Verwaltung gleich wieder so erlassen könnte. 45<br />

Aus diesem Grund wird die Aufhebung eines Verwaltungsakts<br />

wegen der Verletzung bestimmter formeller Vorschriften,<br />

etwa des § 28 I VwVfG, ausgeschlossen, wenn offensichtlich<br />

ist, dass der Verfahrensverstoß die Entscheidung in der Sache<br />

nicht beeinflusst hat. Das BVerwG ließ bisher offen, ob § 46<br />

VwVfG auf erledigte Verwaltungsakte Anwendung findet. 46<br />

Im Schrifttum wird dies zum Teil befürwortet. Es hänge<br />

häufig vom Zufall ab, wann sich ein Verwaltungsakt erledige,<br />

und es sei nicht einzusehen, warum der Einzelne zwar bei<br />

einem Verfahrensfehler bei einem wirksamen Verwaltungsakt<br />

keine gerichtliche Aufhebung erstreiten, bei erledigten Verwaltungsakten<br />

dagegen eine gerichtliche Feststellung ihrer<br />

Rechtswidrigkeit erreichen können soll. 47 Stellt man dagegen<br />

auf den Wortlaut des § 46 VwVfG ab, ist diese Norm nicht<br />

einschlägig. Denn ein erledigter Verwaltungsakt ist unwirksam<br />

und kann nicht mehr „aufgehoben“ werden. 48 § 46 VwVfG<br />

soll verhindern, dass die Gerichte einen wirksamen und sachlich<br />

richtigen Verwaltungsakt wegen eines Verfahrensfehlers<br />

aufheben müssen. Diese Norm dient der „Bestandserhaltung“<br />

eines Verwaltungsakts. Diese hinter § 46 VwVfG stehende<br />

Erwägung wird hinfällig, wenn sich ein Verwaltungsakt erledigt<br />

hat und infolgedessen nicht mehr wirksam ist.<br />

Ein Streitentscheid erübrigt sich, wenn die Voraussetzungen<br />

des § 46 VwVfG ohnehin fehlen. Für eine Unbeachtlichkeit<br />

des Verfahrensfehlers muss offensichtlich sein, dass sich<br />

dieser nicht auf die Sachentscheidung ausgewirkt hat. Es ist<br />

also zu prüfen, ob bei Einhaltung des Anhörungserfordernisses<br />

die Möglichkeit bestanden hätte, dass die Entscheidung<br />

aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen anders ausgefallen<br />

wäre. Wenn ja, ist eine Unbeachtlichkeit zu verneinen. Nur<br />

wenn „offensichtlich“, d.h. jeder vernünftige Zweifel ausgeschlossen<br />

ist, dass die Behörde bei Vermeidung des Fehlers<br />

4<br />

1/2011<br />

zur selben Entscheidung in der Sache gelangt wäre, erweist<br />

sich dieser als unbeachtlich. 49 Letzteres ist regelmäßig bei<br />

gebundenen Entscheidungen sowie bei Ermessensreduzierungen<br />

auf Null der Fall. 50 Da der Erlass einer Wohnungsverweisung<br />

– wie noch zu zeigen sein wird – im Ermessen der<br />

Polizei steht und bei dieser Maßnahme den tatsächlichen Umständen<br />

eine erhebliche Bedeutung zukommt, insbesondere<br />

was die Einschätzung angeht, wer Täter und wer Opfer ist,<br />

und die Aussagen des Betroffenen für die Bestimmung der<br />

Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, respektive die Dauer der<br />

Wohnungsverweisung, wichtig sein können, wird sich vielfach<br />

nicht mit der für § 46 VwVfG notwendigen Offensichtlichkeit<br />

feststellen lassen, dass man bei einer korrekten Verfahrensweise<br />

genauso entschieden hätte.<br />

III. Form der Anordnung<br />

Angesichts der besonderen Umstände werden Wohnungsverweisung<br />

und Rückkehrverbot meistens mündlich erlassen (s.<br />

§ 37 II 1 VwVfG). Deshalb wird auch nicht die Begründungspflicht<br />

des § 39 I 1 VwVfG ausgelöst. Ein mündlicher Verwaltungsakt<br />

wird mit seiner Bekanntgabe wirksam, d.h. wenn<br />

der Erklärende vernünftigerweise davon ausgehen darf, dass<br />

der Empfänger die Erklärung verstanden hat. 51 Wenn der<br />

Betroffene dies unverzüglich verlangt und wenn er, was wegen<br />

der Grundrechtsrelevanz sowie der andauernden Wirkung der<br />

Maßnahme in aller Regel zu bejahen ist, ein berechtigtes Interesse<br />

hat, ist dieser mündliche Verwaltungsakt schriftlich oder<br />

elektronisch zu bestätigen (§ 37 II 2 VwVfG) und dann auch<br />

mit einer Begründung zu versehen (§ 39 I 1 VwVfG). Die<br />

Bestätigung enthält aber grundsätzlich mangels Regelungsgehalt<br />

keinen eigenständigen, sondern nur einen Hinweis auf<br />

den ursprünglichen Verwaltungsakt. 52<br />

E. MATERIELLE RECHTMÄßIGKEIT<br />

Im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit sind die Tatbestandsvoraussetzungen<br />

der Befugnisnorm, der Adressat der<br />

Maßnahme sowie die daran anknüpfende(n) Rechtsfolge(n) zu<br />

prüfen.<br />

I. Rechtsgut<br />

Nach den meisten Befugnisnormen kann die Wohnungsverweisung<br />

nur bei einer Gefahr für bestimmte, näher umschriebene<br />

Rechtsgüter verfügt werden. Zu den geschützten Gütern<br />

gehören regelmäßig Leib, Leben und Freiheit, 53 vereinzelt<br />

41 VG Aachen, Urt. v. 23.08.2006 – 6 K 3852/04.<br />

42 Wolff/Decker Studienkommentar VwGO/VwVfG, 2. Aufl. 2007, § 45 VwVfG<br />

Rn. 8; s. auch Stelkens/Bonk/Sachs/Sachs (Fn. 39) § 45 VwVfG Rn. 76, 84 f., 87.<br />

43 VG Köln, Urt. v. 24.01.2008 – 20 K 2146/06.<br />

44 VG Köln, Urt. v. 25.09.2008 – 20 K 4987/07; Kopp/Ramsauer (Fn. 36) § 45 Rn. 13;<br />

ebenso zu einer nachträglichen Begründung bei Erledigung VGH Mannheim<br />

ESVGH 56, 169 (176).<br />

45 Martini Verwaltungsprozessrecht, 4. Aufl. 2008, S. 107; Schenke Verwaltungsprozessrecht,<br />

12. Aufl. 2009, Rn. 327.<br />

46 BVerwGE 68, 267 (276).<br />

47 Wolff/Decker (Fn. 42) § 46 VwVfG Rn. 17.<br />

48 Hufen Verwaltungsprozessrecht, 7. Aufl. 2008, § 11 Rn. 16; Stelkens/Bonk/Sachs/<br />

Sachs (Fn. 39) § 46 Rn. 11; Schenke DÖV 1986, 305 (308).<br />

49 VG Köln, Urt. v. 25.09.2008 – 20 K 4987/07.<br />

50 Sodan/Ziekow Grundkurs Öffentliches Recht, 4. Aufl. 2010, § 81 Rn. 17; Wolff/<br />

Decker (Fn. 42) § 46 VwVfG Rn. 13.<br />

51 Ernst Die Verwaltungserklärung, 2008, S. 53; s. zur Bekanntgabe gegenüber einer<br />

alkoholisierten Person OVG Münster NWVBl. 2010, 108.<br />

52 Kopp/Ramsauer (Fn. 36) § 37 Rn. 22; Ziekow VwVfG, 2006, § 37 Rn. 12.<br />

53 § 16 a I 1 BbgPolG; § 14 a I 1 BremPolG; § 34 a I 1 PolG NRW; § 201 a LVwG S-H;<br />

Schutz der Gesundheit statt des Leibs § 29 a I 1 ASOG Bln; § 18 II 1 ThürPAG.


AUFSATZ ÖFFENTLICHES RECHT · DIE POLIZEILICHE WOHNUNGSVERWEISUNG<br />

wird auch die sexuelle Selbstbestimmung 54 erwähnt. Umstritten<br />

ist, ob für die Annahme einer das Einschreiten legitimierenden<br />

Leibesgefahr die Anwendung jeder körperlichen Gewalt<br />

genügt. 55 Primär ist bei der Beantwortung dieser Frage<br />

vom jeweiligen Landesrecht auszugehen. In diesem wird die<br />

Gefahr für Leib oder Leben zum Teil explizit als eine Gefahr<br />

umschrieben, bei der eine nicht nur leichte Körperverletzung<br />

oder der Tod einzutreten droht. 56 Da eine mehrtägige Wohnungsverweisung<br />

einen erheblichen Grundrechtseingriff impliziert<br />

und häufig die Gefahr für Leib und Leben auf einer<br />

Stufe genannt werden, sprechen gute Gründe für eine eher<br />

restriktive Handhabung der Befugnisnorm. 57 Allerdings kann<br />

auch eine geringfügige Körperverletzung ein Indiz für zu<br />

erwartende schwere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit<br />

sein und ein polizeiliches Einschreiten rechtfertigen,<br />

falls mit einer weiteren Gewalteskalation in der Wohnung<br />

zu rechnen ist. 58<br />

II. Gefahr<br />

Wesentliche Voraussetzung für den Erlass einer polizeilichen<br />

Verfügung ist das Vorliegen einer konkreten Gefahr für eines<br />

der genannten Schutzgüter. Nach tradiertem Rechtsverständnis<br />

ist eine Gefahr gegeben, wenn eine Sachlage oder ein Verhalten<br />

bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden<br />

Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in überschaubarer<br />

Zukunft zu einer Beeinträchtigung eines polizeilichen<br />

Schutzguts führen wird. 59 Hinreichende Wahrscheinlichkeit<br />

verlangt einerseits keine Gewissheit, dass der Schaden<br />

tatsächlich eintreten wird. Andererseits genügt die bloß theoretische<br />

Möglichkeit eines Schadenseintritts nicht. 60 Ist nach<br />

dem Landesrecht eine gegenwärtige Gefahr für die Wohnungsverweisung<br />

erforderlich, 61 werden erhöhte Anforderungen<br />

an die zeitliche Nähe und Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts<br />

gestellt. Gegenwärtig ist eine Gefahr, wenn die<br />

Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen<br />

hat oder diese Einwirkung unmittelbar bzw. in allernächster<br />

Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht.<br />

62 Angesichts des Charakters der Wohnungsverweisung<br />

als Dauerverwaltungsakt muss die Gefahr bis zum Abschluss<br />

des Verweisungszeitraums bestehen. 63<br />

1. Ausreichen einer Anscheinsgefahr<br />

Bereits aus der Gefahrendefinition ergibt sich, dass polizeiliche<br />

Gefahrenabwehrmaßnahmen nicht zwingend voraussetzen,<br />

dass die von der Polizei angenommene Gefahrenlage tatsächlich<br />

besteht. Vielmehr ist von einer Gefahr i.S.d. polizeilichen<br />

Befugnisnormen immer schon auszugehen, wenn im Zeitpunkt<br />

des Handelns der Behörde bei verständiger Würdigung der<br />

Sach- und Rechtslage eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für<br />

den Schadenseintritt besteht (sog. ex-ante-Sicht). Selbst wenn<br />

sich eine berechtigterweise als gefährlich eingeschätzte Situation<br />

nachträglich, d.h. aus ex-post-Perspektive, als ungefährlich<br />

herausstellt, wird diese im Fachjargon so bezeichnete Anscheinsgefahr<br />

einer echten Gefahr gleichgestellt. Denn die<br />

Wirksamkeit der Gefahrenabwehr würde erheblich beeinträchtigt,<br />

wenn es für die Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns<br />

stets auf das tatsächliche Drohen eines Schadenseintritts ankäme.<br />

Gerade im Bereich der Gefahrenabwehr müssen die zuständigen<br />

Stellen ihre Entscheidungen oft unter erheblichem<br />

Zeitdruck treffen, der zu einem schnellen Handeln zwingt und<br />

keine hundertprozentige Aufklärung der Gefahrenlage zulässt.<br />

Abgesehen davon, dass die Polizei bei einer Maßgeblichkeit<br />

der ex-post-Perspektive nur noch äußerst zögerlich agieren<br />

würde, kann von ihr kaum ein tatenloses Zusehen erwartet<br />

werden, bis sie sich zwar über das Vorliegen einer reellen<br />

Gefahr hinreichend sicher ist, dadurch aber eine Abwendung<br />

des Schadens womöglich zu spät käme. 64<br />

Aus diesem Grund ist eine Gefahr gegeben, wenn der Einsatzbeamte<br />

bei verständiger Würdigung der Sach- und Rechtslage<br />

im Augenblick der Wohnungsverweisung davon ausgehen<br />

durfte, dass die maßgeblichen polizeilichen Schutzgüter<br />

mit der nötigen Wahrscheinlichkeit geschädigt werden. Erforderlich,<br />

aber auch genügend ist insoweit die aus einer hinreichend<br />

objektivierbaren Tatsachenbasis gewonnene ex-ante-<br />

Prognose, dass nach den Verhältnissen und dem möglichen<br />

Erkenntnisstand der polizeilichen Anordnung weiterhin eine<br />

Gefahrensituation für Leib und Leben eines Mitbewohners<br />

besteht. 65 Dabei kann nach der sog. Je-desto-Formel die Einschreitschwelle<br />

umso niedriger liegen, je größer die Wahrscheinlichkeit<br />

der befürchteten Rechtsgutverletzung und je<br />

höher die Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter ist. 66 Weist<br />

eine Person äußerlich Verletzungen auf und wird von mehreren<br />

Personen glaubhaft ausgesagt, dass die Person, die anschließend<br />

aus der Wohnung verwiesen wird, ihre Mitbewohnerin<br />

geschlagen und mehrfach geäußert habe, sie werde sie<br />

umbringen, ist die für eine rechtmäßige Wohnungsverweisung<br />

nötige Gefahr gegeben, auch wenn sich später herausstellen<br />

sollte, dass alle befragten Personen gelogen haben und niemals<br />

eine Gefahr für Leib und Leben der Mitbewohnerin bestanden<br />

hat.<br />

2. Rechtswidrigkeit der Wohnungsverweisung bei einer<br />

Putativgefahr<br />

Von der für ein rechtmäßiges polizeiliches Handeln genügenden<br />

Anscheinsgefahr ist die sog. Schein- oder Putativgefahr<br />

zu unterscheiden. Eine solche liegt vor, wenn der handelnde<br />

Polizist eine Gefahr für gegeben hält, ein gewissenhafter, besonnener<br />

und sachkundiger Polizeibeamter in derselben Situation<br />

dagegen das Vorliegen einer Gefahr verneinen würde.<br />

Während die Anscheinsgefahr auf einer sachgerechten und<br />

sorgfältigen Sachverhaltswürdigung beruht, wird bei der Putativgefahr<br />

vom handelnden Polizisten die Situation wegen<br />

nicht ordnungsgemäßer oder nicht hinlänglich eigener Aufklärung<br />

falsch eingeschätzt. 67 Eine solche Maßnahme ist<br />

rechtswidrig. 68<br />

54 § 17 II 2 NdsSOG; § 18 II 1 ThürPAG.<br />

55 Für jede körperliche Gewalt VG Köln, Beschl. v. 02.04.2003 – 20 L 752/03; Rachor<br />

(Fn. 6) F Rn. 534.<br />

56 § 2 Nr. 1 lit. d NdsSOG; § 3 Nr. 3 lit. d SOG LSA.<br />

57 VG Münster, Urt. v. 11.12.2009 – 1 K 1855/08; Collin DVBl. 2003, 1499 (1501 f.);<br />

Storr ThürVBl. 2005, 97 (10); Trierweiler (Fn. 2) S. 66 f.; s. auch Eicke (Fn. 19)<br />

S. 180 f.<br />

58 Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173 (178); Trierweiler (Fn. 2) S. 67.<br />

59 BVerwGE 45, 51 (57); 116, 347 (351); OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420 (421); Götz<br />

(Fn. 13) § 6 Rn. 3; Schenke (Fn. 8) § 3 Rn. 69.<br />

60 OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420 (421).<br />

61 § 16 a I 1 BbgPolG; § 14 a I 1 BremPolG; § 17 II 2 NdsSOG; § 34 a I 1 PolG NRW;<br />

§ 18 II 1 ThürPAG.<br />

62 BVerwGE 45, 51 (57 f.); Collin DVBl. 2003, 1499 (1502); Pieroth/Schlink/Kniesel<br />

Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Aufl. 2008, § 4 Rn. 19.<br />

63 Eicke (Fn. 19) S. 203; Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173 (178); Storr ThürVBl.<br />

2005, 97 (100).<br />

64 VG Aachen, Urt. v. 29.07.2009 – 6 K 112/09.<br />

65 OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420, 421; s. auch VG Münster, Urt. v. 11.12.2009 – 1K<br />

2338/08.<br />

66 BVerwGE 116, 347 (356); OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420 (421); Petersen-Thrö<br />

SächsVBl. 2004, 173 (178).<br />

67 OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420 (421); VG Münster, Urt. v. 11.12.2009 – 1 K 1855/<br />

08; Guckelberger in: Gröpl/Guckelberger/Wohlfarth, Landesrecht Saarland, 2009,<br />

§ 4 Rn. 41.<br />

68 OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420 (421).<br />

1/2011 5<br />

AUFSATZ


AUFSATZ<br />

AUFSATZ ÖFFENTLICHES RECHT · DIE POLIZEILICHE WOHNUNGSVERWEISUNG<br />

3. Behördlicher Beurteilungsspielraum hinsichtlich der<br />

Gefahr?<br />

Angesichts der durch Art. 19 IV GG gewährleisteten Effektivität<br />

des Rechtsschutzes prüfen die Gerichte im Normalfall<br />

das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale einer Norm umfassend.<br />

Etwas anderes gilt nur, falls die Verwaltung aufgrund<br />

normativer Ermächtigung ausnahmsweise über eine Letztentscheidungsbefugnis<br />

verfügt. Wann der Gesetzgeber den Behörden<br />

einen solchen nur beschränkt gerichtlich nachprüfbaren<br />

Beurteilungsspielraum eingeräumt hat, ist durch Auslegung<br />

der gesetzlichen Regelungen zu ermitteln. 69 Bei dem<br />

polizeilichen Gefahrenbegriff handelt es sich um einen unbestimmten<br />

Rechtsbegriff. Daraus allein kann jedoch noch nicht<br />

auf die gesetzliche Einräumung einer behördlichen Letztentscheidungskompetenz<br />

geschlossen werden. 70 Da die polizeiliche<br />

Wohnungsverweisung erhebliche Konsequenzen für die<br />

Grundrechte des Betroffenen zeitigt, ist die Annahme eines<br />

behördlichen Beurteilungsspielraums bei dieser Befugnisnorm<br />

abzulehnen. 71 Angesichts des grundrechtlichen Hintergrunds<br />

lässt sich ein solcher auch nicht aus dem Umstand entnehmen,<br />

dass die Beamten ein prognostisches Urteil fällen. 72 Ebenso<br />

wenig können die Schwierigkeiten und Unsicherheiten bei der<br />

Tatsachenfeststellung in der häuslichen Sphäre und die Notwendigkeit<br />

einer zügigen Entscheidung über die Wohnungsverweisung<br />

dafür herhalten, den Einsatzbeamten bei dieser<br />

Vorschrift einen Spielraum hinsichtlich der Gefahrenbeurteilung<br />

zuzugestehen. Denn auch andere polizeiliche Maßnahmen<br />

müssen oft schnell in komplexen Situationen verfügt<br />

werden. Angesichts der Folgen für den Betroffenen kann ein<br />

Beurteilungsspielraum schließlich auch nicht mit dem Gesetzeszweck<br />

begründet werden, dem Gewaltopfer eine Phase der<br />

Ruhe zu gönnen, um sich über das weitere Vorgehen klar<br />

werden zu können. 73<br />

4. Selbstbestimmungsrecht der gefährdeten Person<br />

In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass das gefährdete<br />

„Opfer“ im Augenblick des polizeilichen Einsatzes oder kurz<br />

nach der Wohnungsverweisung geltend macht, es wolle die<br />

Wohnungsverweisung nicht. Vor allem die nordrhein-westfälischen<br />

Verwaltungsgerichte halten ein solches Vorbringen<br />

für unbeachtlich, weil der Gesetzgeber seinen Schutzauftrag<br />

aus Art. 2 II 1 GG wahrgenommen habe und der Einzelne auf<br />

diesen Schutz nicht verzichten könne. 74 Im überwiegenden<br />

Schrifttum wird dagegen zu Recht die Notwendigkeit einer<br />

differenzierenden Sichtweise betont. Das Menschenbild des<br />

Grundgesetzes ist darauf angelegt, dass sich natürliche Personen<br />

in Freiheit selbst bestimmen und entfalten. 75 Die allgemeine<br />

Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) erlaubt es dem<br />

Einzelnen grundsätzlich, sich selbst zu gefährden. 76 Die Entscheidung,<br />

mit einem bestimmten Ehe- bzw. Lebenspartner<br />

unter welchen Umständen auch immer zusammenleben zu<br />

wollen, wird je nach Konstellation durch Art. 6 I GG bzw.<br />

das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt. 77 Selbst wenn<br />

eine Grundsatzentscheidung des BVerfG zu der hier infrage<br />

stehenden Selbstgefährdung noch aussteht, hat es doch einerseits<br />

anklingen lassen, dass der Staat die Einzelnen nicht uneingeschränkt<br />

bevormunden und ihnen einen Schutz vor<br />

Selbstgefährdungen aufdrängen dürfe. 78 Andererseits hat es im<br />

Zusammenhang mit der Unterbringung eines Geisteskranken<br />

entschieden, dass der Freiheitsanspruch des Einzelnen in bestimmten<br />

Situationen zu weichen hat, wenn dadurch Rechtsgüter<br />

anderer oder der Allgemeinheit in Mitleidenschaft gezogen<br />

werden oder überwiegende Belange des Gemeinwohls<br />

diese Einschränkung zwingend gebieten. 79<br />

6<br />

1/2011<br />

Nach all dem darf sich die Polizei über den entgegenstehenden<br />

Willen der gefährdeten Person hinwegsetzen, wenn<br />

in der Wohnung Dritte, z.B. minderjährige Kinder, leben,<br />

deren Wohl ebenfalls durch den Tatverdächtigen gefährdet<br />

wird. 80 Gleiches gilt, wenn keine eigenverantwortliche und<br />

freie Willensbildung der gefährdeten Person vorliegt, etwa<br />

weil ihr Partner durch Drohungen Druck auf sie ausübt,<br />

sodass sie aus reiner Angst um ein Absehen von der Wohnungsverweisung<br />

bittet. 81 Verzichtet die gefährdete Person<br />

dagegen freiwillig auf den staatlichen Schutz, hat die Polizei<br />

diese grundrechtlich fundierte, den äußerst sensiblen Privatbereich<br />

betreffende Entscheidung jedenfalls dann zu respektieren,<br />

wenn sich die betreffende Person nicht in Todesgefahr<br />

begibt. 82 Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts führt<br />

in einer solchen Situation zur Rechtswidrigkeit der Wohnungsverweisung.<br />

83 Können die Polizisten im Augenblick<br />

ihrer Anordnung nicht sicher einen freien Willensentschluss<br />

konstatieren, darf dem staatlichen Schutzauftrag der Vorrang<br />

eingeräumt werden. 84<br />

III. Adressat der Maßnahme<br />

Oft lässt sich unmittelbar aus der jeweiligen Befugnisnorm<br />

entnehmen, gegen wen die Wohnungsverweisung zu verhängen<br />

ist. Vielfach wird von der Person bzw. dem Mitbewohner/der<br />

Mitbewohnerin gesprochen, von der die Gefahr ausgeht.<br />

85 Für die polizeiliche Wohnungsverweisung ist also<br />

kennzeichnend, dass der gewalttätige Störer dem Opfer zu<br />

weichen hat und nicht umgekehrt. 86 Andernfalls finden die<br />

allgemeinen Vorschriften, insbesondere über die Verhaltensverantwortlichkeit,<br />

Anwendung. Aus Gründen effektiver Gefahrenabwehr<br />

setzt die Polizeipflichtigkeit kein Verschulden<br />

voraus. 87 Bei wechselseitigen Gewaltausübungen zwischen<br />

den Bewohnern muss die Polizei nach ihrem pflichtgemäßen<br />

69 BVerfG DVBl. 2010, 250 (251); s. zu den Beurteilungsspielräumen Detterbeck Allgemeines<br />

Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 2010, Rn. 348 ff.; Sodan/Ziekow (Fn. 50) § 68<br />

Rn. 4 ff.<br />

70 BVerfGE 84, 34 (49 f.); BVerfG DVBl. 2010, 250 (251). S. dazu, dass eine Einschätzungsprärogative<br />

hins. des Gefahrenbegriffs der Generalklausel fremd ist, BVerwGE<br />

116, 347 (351).<br />

71 Wie hier VG Münster, Urt. v. 11.12.2009 – 1 K 2338/08; Schenke (Fn. 8) Rn. 51;<br />

a.A. Rasch Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, Bd. 3, Hbbd. 1, 2. Aufl.<br />

1982, § 1 Rn. 49.<br />

72 VG Münster, Urt. v. 11.12.2009 – 1 K 2338/08.<br />

73 VG Münster, Urt. v. 11.12.2009 – 1 K 2338/08; Collin DVBl. 2003, 1499 (1503).<br />

74 VG Düsseldorf, Beschl. v. 15.07.2003 – 18 L 2660/03; nach VG Münster, Beschl. v.<br />

06.11.2002 – 1 L 1685/02, hat sich der Gesetzgeber bewusst für eine Überlegungsfrist<br />

entschieden, sodass in sog. stabilen Gewaltbeziehungen der Wille der gefährdeten<br />

Person unbeachtlich ist. Für einen regelmäßigen Vorrang des staatlichen<br />

Schutzauftrags VG Aachen, Beschl. v. 01.12.2004 – 6 L 1077/04. Zustimmend Kay<br />

NVwZ 2003, 521 (523); Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173 (180).<br />

75 BVerfGE 27, 1 (7); 30, 173 (193); 45, 187 (227); Trierweiler (Fn. 2) S. 154 f.<br />

76 Eicke (Fn. 19) S. 91; Trierweiler (Fn. 2) S. 147.<br />

77 S. zur Anbindung an Art. 6 I GG Eicke (Fn. 19) S. 91 sowie zum Persönlichkeitsrecht<br />

Trierweiler (Fn. 2) S. 149; s. auch Storr ThürVBl. 2005, 97 (101).<br />

78 BVerfGE 121, 317 (327, 333); s. auch BVerfGE 22, 180 (219 f.); 30, 47 (53 f.).<br />

79 BVerfGE 58, 208 (220 f.).<br />

80 Eicke (Fn. 19) S. 92; s. auch Trierweiler (Fn. 2) S. 162.<br />

81 Eicke (Fn. 19) S. 92 f., 207; Trierweiler (Fn. 2) S. 150.<br />

82 BVerwG NJW 1989, 2960 (2961); Rachor (Fn. 6) F Rn. 539; Trierweiler (Fn. 2)<br />

S. 160 f.; ähnlich Collin DVBl. 2003, 1499 (1504); Storr ThürVBl. 2005, 97 (101);<br />

eingehend zu den gesetzlichen Einschränkungsmöglichkeiten Trierweiler (Fn. 2)<br />

S. 152 ff.<br />

83 Eicke (Fn. 19) S. 93; Pieroth/Schlink/Kniesel (Fn. 62) § 16 Rn. 29; Trierweiler (Fn.<br />

2) S. 163 f.<br />

84 VG Aachen NJW 2004, 1888 (1889); Eicke (Fn. 19) S. 207; Storr ThürVBl. 2005, 97<br />

(101); s. BayVerfGH NJW 1989, 1790 (1791) zur Selbstmordsituation.<br />

85 § 16 a I 1 BbgPolG; § 34 a I 1 PolG NRW; § 12 II 1 SaarlPolG; § 18 II 1 ThürPAG.<br />

86 Bösch Jura 2009, 650; Storr ThürVBl. 2005, 97.<br />

87 Storr ThürVBl. 2005, 97 (100); Trierweiler (Fn. 2) S. 81; s. auch VG Berlin NJW<br />

2001, 2489 (2490).


AUFSATZ ÖFFENTLICHES RECHT · DIE POLIZEILICHE WOHNUNGSVERWEISUNG<br />

Ermessen darüber befinden, wer von ihnen aus der Wohnung<br />

verwiesen werden soll. Hierbei muss sie sich vom Kriterium<br />

effektiver Gefahrenabwehr sowie von dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />

leiten lassen. 88 Denkbar wäre z.B., dass die<br />

Maßnahme gegenüber demjenigen angeordnet wird, bei dem<br />

im Vergleich zum anderen Tatverdächtigen die Verübung<br />

schwerwiegenderer Taten zu erwarten ist. 89<br />

IV. Rechtsfolge<br />

Die Anordnung der Wohnungsverweisung steht im Ermessen<br />

(„kann“) der Einsatzbeamten. Sie müssen entscheiden, „ob“<br />

sie eine derartige Maßnahme verhängen und welche Bestimmungen<br />

sie damit im Einzelnen verbinden wollen. 90 Zu beachten<br />

ist, dass die Gerichte diese Ermessensentscheidung im<br />

späteren Gerichtsverfahren nur auf bestimme Ermessensfehler<br />

(Ermessensnichtgebrauch, -fehlgebrauch, -überschreitung)<br />

überprüfen, § 114 S. 1 VwGO. Je nach den Umständen des<br />

Einzelfalls können die Grundrechte, insbesondere die in<br />

Art. 2 II 1 GG genannten hochrangigen Rechtsgüter von<br />

Leib und Leben, zu einer Ermessensreduzierung auf Null<br />

hinsichtlich des polizeilichen Einschreitens führen, wenn sich<br />

nur so einer fortbestehenden Gefahr für das Opfer begegnen<br />

lässt. 91<br />

Die Ermessensausübung muss dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />

entsprechen, d.h. die Wohnungsverweisung bzw.<br />

das Rückkehrverbot müssen zur Abwehr der Gefahr für den<br />

Mitbewohner geeignet, erforderlich und angemessen sein. Die<br />

polizeiliche Anordnung ist nur erforderlich, wenn der Polizei<br />

in der aktuellen Krisensituation kein milderes, aber gleich<br />

wirksames Mittel zur Verfügung steht. An dieser Stelle ist zu<br />

diskutieren, ob nicht die bloße Ermahnung des anderen ausreichen<br />

könnte, Angriffe auf Leib und Leben des Mitbewohners<br />

zu unterlassen. Jedenfalls wenn nicht sicher ist, ob die<br />

betreffende Person dieser Anordnung Folge leisten wird,<br />

stellt diese kein genauso wirksames Mittel zur Gefahrenabwehr<br />

dar. 92 Der Auszug des Opfers aus der Wohnung ist<br />

keine der Polizei zur Verfügung stehende Handlungsalternative,<br />

die an pflichtgemäßen und sachgerechten Erwägungen<br />

orientiert ist. 93 Schließlich darf die polizeiliche Maßnahme<br />

nicht zu einem Nachteil führen, der zum erstrebten Erfolg<br />

erkennbar außer Verhältnis steht. Zwar stellt es für den<br />

Betroffenen eine – wenn auch nur für einen begrenzten<br />

Zeitraum hinzunehmende – erhebliche Beeinträchtigung seiner<br />

persönlichen Sphäre dar, wenn er infolge der polizeilichen<br />

Anordnung die seinen Lebensmittelpunkt bildende<br />

Wohnung nicht nutzen darf. Im Vergleich zu dem hochwertigen<br />

Schutz von Leib und Leben der anderen Person stellen<br />

sich die zu befürchtenden Unannehmlichkeiten für ihn jedoch<br />

meist als geringfügig dar. 94 Gegebenenfalls ist der Betroffene<br />

auf eine Obdachlosenunterkunft zu verweisen. 95 Allein<br />

der Umstand, dass die gefährdete Person zivilrechtlichen<br />

Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann, führt nicht zur<br />

Unverhältnismäßigkeit. Dahinter steht die Erwägung, dass<br />

sich das Opfer in einer Ausnahmesituation befindet und sich<br />

über das weitere Vorgehen klar werden soll. 96 Was die zeitliche<br />

Dauer und die Bestimmung des räumlichen Umfangs der<br />

Maßnahme anbetrifft, ist besonders auf die Angemessenheit<br />

zu achten, wofür aber die Umstände des Einzelfalls maßgeblich<br />

sind.<br />

F. DURCHSETZUNG DER POLIZEILICHEN ANORDNUNG<br />

Wird die Wohnungsverweisung von Polizeivollzugsbeamten<br />

angeordnet, handelt es sich um eine unaufschiebbare Anordnung,<br />

bei der Widerspruch und Anfechtungsklage keine auf-<br />

schiebende Wirkung entfalten (§ 80 II 1 Nr. 2 VwGO). 97 Eine<br />

Polizeiverwaltungsbehörde kann unter den Voraussetzungen<br />

des § 80 II 1 Nr. 4 VwGO ihre Verfügung für sofort vollziehbar<br />

erklären. Infolgedessen kann der jeweilige Verwaltungsakt<br />

sofort vollstreckt werden. Zu denken ist etwa an die Verhängung<br />

eines Zwangsgeldes. 98 Begibt sich der Verfügungsadressat<br />

nicht freiwillig aus der Wohnung und versprechen die<br />

anderen Zwangsmittel keinen Erfolg, kann die Polizei die<br />

Person unter Anwendung von Gewalt (= unmittelbarer<br />

Zwang) aus der Wohnung entfernen. 99<br />

G. RECHTSSCHUTZ<br />

Bei der Wohnungsverweisung bzw. dem Rückkehrverbot<br />

werden die Gerichte häufig um gerichtlichen Rechtsschutz<br />

durch die Betroffenen ersucht. Teilweise geht auch das Opfer<br />

unter Berufung z.B. auf Art. 6 I GG gegen die Wohnungsverweisung<br />

des Ehepartners vor. 100 Obwohl es sich<br />

hierbei um keine Sachentscheidungsvoraussetzung des<br />

Rechtsbehelfs handelt, ist stets zu prüfen, ob nicht die andere<br />

Person zum Gerichtsverfahren entweder nach dem Ermessen<br />

des Gerichts (§ 65 I VwGO) oder, wenn die Voraussetzungen<br />

des § 65 II VwGO erfüllt sind, sogar notwendig<br />

beizuladen ist. 101<br />

I. Rechtswegeröffnung<br />

Ist der Wohnungsverweisung bereits eine Straftat vorausgegangen,<br />

könnte der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten<br />

gem. § 23 I EGGVG eröffnet sein, wenn die Einsatzbeamten<br />

zugleich als Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft<br />

(§ 152 GVG) tätig sind. Da es den Einsatzbeamten aber regelmäßig<br />

nicht um die Bestrafung des Täters, sondern um den<br />

Schutz seines potenziellen Opfers vor künftigen Gewaltanwendungen<br />

geht, handelt es sich um eine gefahrenabwehrende<br />

Anordnung, für die der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten<br />

eröffnet ist (§ 40 I 1 VwGO). 102 Soweit die Befugnisnormen<br />

zum Teil explizit zivilgerichtliche Schutzmaßnahmen<br />

nach dem Gewaltschutzgesetz erwähnen, 103 ändert dies<br />

nichts daran, dass die Polizeirechtsnormen eine vorübergehende<br />

Gefahrenabwehr bis zur Erlangung des zivilrechtlichen<br />

Rechtsschutzes ermöglichen. Auch wenn sich dadurch<br />

innerhalb weniger Tage zwei verschiedene Gerichte mit dem<br />

gleichen Lebenssachverhalt befassen müssen, verbleibt es<br />

mangels einer Sonderzuweisung für das präventivpolizeiliche<br />

88 Eicke (Fn. 19) S. 214; Storr ThürVBl. 2005, 97 (103).<br />

89 Eicke (Fn. 19) S. 214.<br />

90 Eicke (Fn. 19) S. 245.<br />

91 VG Aachen, Urt. v. 29.07.2009 – 6 K 112/09; Urt. v. 23.08.2006 – 6 K 3852/04; Storr<br />

ThürVBl. 2005, 97 (101); Trierweiler (Fn. 2) S. 83 ff.<br />

92 Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173 (181).<br />

93 Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173 (180); Rachor (Fn. 6) F Rn. 548.<br />

94 VG Aachen, Urt. v. 29.07.2009 – 6 K 112/09; Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173<br />

(181).<br />

95 Eicke (Fn. 19) S. 251; Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173 (181).<br />

96 VG Saarlouis, Beschl. v. 15.12.2004 – 6 F 125/04.<br />

97 VG Gelsenkirchen NWVBl. 2002, 361; Eicke (Fn. 19) S. 255; Trierweiler (Fn. 2)<br />

S. 86 f. Stellt sich ein gegenüber einem Abwesenden verfügtes Rückkehrverbot der<br />

Vollzugspolizei nicht als aufschiebbar dar, kann auch sie die sofortige Vollziehung<br />

anordnen, s. Kay NVwZ 2003, 521 (525).<br />

98 Eicke (Fn. 19) S. 255; Kay NVwZ 2003, 521 (526); Trierweiler (Fn. 2) S. 88.<br />

99 Eicke (Fn. 19) S. 255; Trierweiler (Fn. 2) S. 88 f.<br />

100 S. dazu Trierweiler (Fn. 2) S. 166 ff.<br />

101 Für eine notwendige Beiladung VG Aachen, Beschl. v. 01.01.2004 – 6 L 1077/04;<br />

VG Potsdam, Beschl. v. 27.08.2004 – 3 L 847/04, wogegen aber spricht, dass der<br />

Ehepartner nicht Adressat der Maßnahme ist; s. auch Trierweiler (Fn. 2) S. 169 f.<br />

102 VG Gelsenkirchen NWVBl. 2002, 361.<br />

103 Z.B. § 16 a V 2 BbgPolG; § 31 II 4 HesSOG; § 17 III NdsSOG; § 34 a V 2 PolG<br />

NRW; § 201 a II 2 LVwG S-H; § 18 II 7 ThürPAG.<br />

1/2011 7<br />

AUFSATZ


AUFSATZ<br />

AUFSATZ ÖFFENTLICHES RECHT · DIE POLIZEILICHE WOHNUNGSVERWEISUNG<br />

Einschreiten bei der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit.<br />

104<br />

II. Eilrechtsschutz<br />

Da sich die Wohnungsverweisung innerhalb weniger Tage<br />

erledigt, kommt dem Eilrechtsschutz besondere Bedeutung<br />

zu. Bei einer unaufschiebbaren Anordnung von Polizeivollzugsbeamten<br />

ist bei dem Gericht der Hauptsache nach § 80 V<br />

1 Alt. 1 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung<br />

zu beantragen. Wurde der Verwaltungsakt dagegen kraft behördlicher<br />

Anordnung nach § 80 II 1 Nr. 4 VwGO für sofort<br />

vollziehbar erklärt, kann das Verwaltungsgericht die aufschiebende<br />

Wirkung wiederherstellen (§ 80 V 1 Alt. 2 VwGO). Im<br />

Rahmen der Begründetheit des einstweiligen Rechtsschutzantrags<br />

nimmt das Gericht eine summarische Überprüfung<br />

der Maßnahme vor. Während in Übungsklausuren an dieser<br />

Stelle eingehend die Erfolgsaussichten einer Hauptsacheklage<br />

zu behandeln sind, 105 entscheiden die Gerichte in der Praxis<br />

angesichts der Kürze der Zeit häufig im Wege einer von der<br />

materiellen Rechtslage unabhängigen Interessenabwägung.<br />

Dabei vergleichen sie die Folgen, die sich ergeben, wenn die<br />

Polizeiverfügung zu Unrecht vorläufig bestätigt oder aber zu<br />

Unrecht außer Vollzug gesetzt wird. 106<br />

III. Hauptsacherechtsschutz<br />

Da sich die Wohnungsverweisung auf einen kurzen Zeitraum<br />

beschränkt, wird sich diese Maßnahme meistens vor der Klageerhebung,<br />

oft auch schon vor der Widerspruchseinlegung<br />

bzw. während des Vorverfahrens erledigt haben. Da sich die in<br />

§ 113 I 4 VwGO geregelte Fortsetzungsfeststellungsklage<br />

nach ihrer systematischen Stellung auf nach Erhebung einer<br />

Anfechtungsklage erledigte Verwaltungsakte bezieht, 107 ist bei<br />

einer Erledigung vor Klageerhebung zu diskutieren, ob nicht<br />

eine Feststellungsklage nach § 43 I VwGO 108 statthaft sein<br />

könnte. Dem wird jedoch entgegnet, dass durch einen Verwaltungsakt<br />

erst ein Rechtsverhältnis begründet wird. Auch<br />

führt eine Rechtsschutzgewährung nach § 43 VwGO zu<br />

schwer erklärbaren Wertungswidersprüchen im Rechtsschutzsystem.<br />

Der Gesetzgeber hat für den Fall der Nichtigkeit und<br />

der Rechtswidrigkeit eines nach Klageerhebung erledigten<br />

Verwaltungsakts in § 43 I Alt. 3 VwGO und § 113 I 4 VwGO<br />

besondere Klagearten vorgesehen, die im Unterschied zur allgemeinen<br />

Feststellungsklage auf die Feststellung eines Rechtszustands<br />

gerichtet sind. 109 Bei einer Fortsetzungsfeststellungsklage<br />

kann das Verwaltungsgericht zudem das Verwaltungsunrecht<br />

im Entscheidungstenor deutlicher kennzeichnen. 110<br />

Diese Erwägungen sowie die Tatsache, dass der genaue Zeitpunkt<br />

der Erledigung eines belastenden Verwaltungsakts oft<br />

reiner Zufall ist, sprechen für die Statthaftigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage<br />

analog § 113 I 4 VwGO. 111<br />

Folgt man der hier bevorzugten Auffassung, ist als nächstes<br />

zu erörtern, ob ein Widerspruchsverfahren durchzuführen ist,<br />

wenn sich der Verwaltungsakt vor Ablauf der Widerspruchsfrist<br />

erledigt hat. Richtigerweise ist dies zu verneinen, da sich<br />

die §§ 68 ff. VwGO nach ihrem Wortlaut nur auf die Anfechtungs-<br />

und Verpflichtungsklage beziehen. Bei einem erledigten<br />

und damit unwirksamen Verwaltungsakt greift die mit<br />

dem Vorverfahren angestrebte Intention, der Verwaltung eine<br />

nachträgliche Selbstkorrektur ihrer Entscheidung zu ermöglichen,<br />

nicht. 112 Nach richtiger, aber nicht unumstrittener Ansicht<br />

unterliegt in diesem Fall die Fortsetzungsfeststellungsklage<br />

auch keiner Klagefrist. Dem Bürger ist ein fristgemäßes<br />

Vorgehen gegen einen Verwaltungsakt, der seine Regelungswirkung<br />

verloren hat, nicht zuzumuten. Etwas anderes ist<br />

8<br />

1/2011<br />

auch nicht aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens<br />

geboten. Die Verwaltung wird durch das Institut der<br />

Verwirkung ausreichend vor Klagen noch <strong>Ja</strong>hre nach Erledigung<br />

eines Verwaltungsakts geschützt. 113<br />

Neben der Klagebefugnis muss der Kläger ein berechtigtes<br />

Interesse an der gerichtlichen Feststellung der Rechtswidrigkeit<br />

der Wohnungsverweisung haben. Hierfür genügt jedes<br />

schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller<br />

Art, sofern die gerichtliche Entscheidung seine Rechtsposition<br />

in den genannten Bereichen verbessern kann. 114 Das<br />

Fortsetzungsfeststellungsinteresse wird u.a. bei einer Wiederholungsgefahr<br />

bejaht, d.h. wenn die hinreichend konkrete<br />

Wahrscheinlichkeit besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten<br />

rechtlichen und tatsächlichen Umständen wieder ein<br />

gleichartiger Verwaltungsakt ergehen wird. 115 Hieran fehlt es,<br />

wenn sich der aus der Wohnung Verwiesene gleich nach Ablauf<br />

der Frist getrennt hat, aus der Wohnung ausgezogen und<br />

in eine andere Stadt gezogen ist. 116 Ein berechtigtes Feststellungsinteresse<br />

kann sich dann aber immer noch aus einer<br />

nachwirkenden diskriminierenden Wirkung der ursprünglichen<br />

Maßnahme ergeben (sog. Rehabilitationsinteresse). 117<br />

Nach Ansicht des BVerfG kann es der in Art. 19 IV GG<br />

verbürgte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz erfordern,<br />

gerade bei tiefgreifenden Grundrechtseingriffen ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse<br />

zu bejahen, wenn sich die direkte<br />

Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt nach dem typischen<br />

Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in<br />

welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der<br />

von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen<br />

kann. 118 Angesichts der kurzen Dauer der Wohnungsverweisung<br />

und ihrer grundrechtserheblichen Wirkung ist zumindest<br />

unter diesem Blickwinkel das Fortsetzungsfeststellungsinteresse<br />

gegeben. 119<br />

H. FAZIT<br />

Die polizeiliche Verweisung einer Person aus ihrer Wohnung<br />

ist nunmehr spezialgesetzlich geregelt. Sie basiert auf einer<br />

komplexen Wertabwägung zwischen hochrangigen und intensiv<br />

berührten Rechtsgütern. Eine solche ist auch von den<br />

zuständigen Stellen bei der Ermessensausübung unter Berücksichtigung<br />

der besonderen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen.<br />

Angesichts der Kürze der zur Verfügung stehenden<br />

Zeit werden die Gerichte häufig um Rechtsschutz im<br />

Zusammenhang mit einer solchen Maßnahme ersucht. Inte-<br />

104 VG Gelsenkirchen NWVBl. 2002, 361.<br />

105 Sodan/Ziekow (Fn. 50) § 106 Rn. 12; Wolff/Decker (Fn. 42) § 80 VwGO Rn. 71.<br />

106 Kiefer LKRZ 2009, 366 (367); Trierweiler (Fn. 2) S. 173. S. zur Unbedenklichkeit<br />

der summarischen Prüfung BVerfG NJW 2002, 2225.<br />

107 BVerwGE 109, 203 (208 f.); Martini (Fn. 45) S. 77; Sodan/Ziekow (Fn. 50) § 102<br />

Rn. 1; a.A. Göpfert ThürVBl. 1999, 182 f.<br />

108 So Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner/Pietzcker VwGO, 17. Erg.-Lfg. 2008, § 42 I<br />

Rn. 86; Wehr DVBl. 2001, 785; in diese Richtung BVerwG NVwZ 2000, 63 (64).<br />

109 Ingold JA 2009, 711 (713); Martini (Fn. 45) S. 77; Rozek JuS 2000, 1162 (1165).<br />

110 Mehde VerwArch 100 (2009), 432 (449).<br />

111 So auch BVerfG NJW 2002, 2225; VGH Mannheim VBlBW 2005, 138.<br />

112 BVerwGE 26, 161 (166 f.); VGH Mannheim VBlBW 2005, 138 (139); Sodan/Ziekow<br />

(Fn. 50) § 102 Rn. 11; a.A. Martini (Fn. 45) S. 83.<br />

113 BVerwG NVwZ 2000, 63 (64); VG Aachen, Urt. v. 23.08.2006 – 6 K 3852/04;<br />

Sodan/Ziekow (Fn. 50) § 102 Rn. 12.<br />

114 BVerwG NVwZ-RR 2010, 154 (155); Sodan/Ziekow (Fn. 50) § 102 Rn. 6.<br />

115 BVerwG NVwZ 1994, 282; Sodan/Ziekow (Fn. 50) § 102 Rn. 7.<br />

116 VGH Mannheim VBlBW 2005, 138 (139); VG Aachen, Urt. v. 23.08.2006 – 6K<br />

3852/04.<br />

117 BVerwG NVwZ-RR 2010, 154 (155); Martini (Fn. 45) S. 79.<br />

118 BVerfG NJW 1997, 2163 (2164); VGH Mannheim VBlBW 2005, 138 (139).<br />

119 VGH Mannheim VBlBW 2005, 138 (139); VG Aachen, Urt. v. 23.08.2006 – 6K<br />

3852/04.


AUFSATZ ÖFFENTLICHES RECHT · DIE POLIZEILICHE WOHNUNGSVERWEISUNG<br />

ressant ist, dass gerade bei dieser polizeilichen Maßnahme die<br />

bislang von Wissenschaft und Rechtsprechung vernachlässigten<br />

Probleme aktuell werden, ob eine Anhörung auch noch<br />

ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN<br />

nach Erledigung eines Verwaltungsakts nachholbar ist und ob<br />

§ 46 VwVfG auf erledigte Verwaltungsakte Anwendung findet.<br />

ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN · BASICS LERNBEITRAG ZIVILRECHT · AUSÜBUNG EINES WIDERRUFSRECHTS<br />

Professor Dr. Tobias Lettl, Potsdam *<br />

Die wirksame Ausübung eines Widerrufsrechts nach §§ 312 ff. BGB und dessen<br />

Rechtsfolgen (§§ 355, 357 BGB)<br />

Die Prüfung eines Widerrufsrechts ist regelmäßig nach der Entstehung<br />

des Primäranspruchs unter dem Punkt des Erlöschens<br />

eines zunächst entstandenen Anspruchs zu prüfen. Dies setzt<br />

voraus, dass (1) ein Widerrufsrecht besteht und (2) dieses Widerrufsrecht<br />

wirksam ausgeübt worden ist. Der folgende Beitrag<br />

befasst sich allein mit der Frage, welche Voraussetzungen<br />

für die wirksame Ausübung eines Widerrufsrechts bestehen<br />

und welche Rechtsfolgen die wirksame Ausübung eines Widerrufsrechts<br />

begründet. Die vorher zu prüfende Frage nach dem<br />

Bestehen eines Widerrufsrechts wurde für Haustürgeschäft<br />

und Fernabsatzvertrag bereits jüngst dargestellt (JA 2010, 694).<br />

Die Frage nach der wirksamen Ausübung des Widerrufsrechts<br />

ist höchst prüfungsrelevant, zumal die Gesetzeslage mit Wirkung<br />

zum 11.06.2010 eine Veränderung erfahren hat. So hat<br />

insbesondere § 355 BGB eine neue übersichtliche Struktur erhalten.<br />

§ 355 I BGB regelt seitdem nur noch das Recht zum<br />

Widerruf und seine Ausübung. § 355 II BGB befasst sich mit der<br />

Länge der Widerrufsfrist. § 355 III BGB regelt den Beginn der<br />

Widerrufsfrist und § 355 IV BGB das Erlöschen des Widerrufsrechts.<br />

A. DIE WIRKSAME AUSÜBUNG EINES WIDERRUFS-<br />

RECHTS (§§ 355, 357 I 1 BGB)<br />

I. Rechtsnatur des Widerrufsrechts<br />

Der Widerruf auf Grund eines Widerrufsrechts unter Beachtung<br />

der in § 355 BGB genannten Voraussetzungen ist ein<br />

Gestaltungsrecht, dessen Ausübung ohne die Mitwirkung einer<br />

anderen Person 1 zur Auflösung des primären Anspruchs<br />

führt. Daher gelten für die wirksame Ausübung des Widerrufsrechts<br />

die Grundsätze, wie sie auch für andere Gestaltungsrechte<br />

wie die Anfechtung, den Rücktritt oder die Kündigung<br />

gelten (Erklärung, Form, Frist). Für die wirksame<br />

Ausübung eines verbraucherschützenden Widerrufsrechts<br />

nach §§ 312 ff. BGB sind hierzu in den §§ 355, 357 BGB<br />

Regelungen enthalten. Hervorzuheben ist, dass diese Regelungen<br />

kein Widerrufsrecht begründen können, sondern lediglich<br />

die Frage der wirksamen Ausübung eines bereits bestehenden<br />

Widerrufsrechts – etwa nach § 312 I 1 BGB, der auf § 355<br />

BGB verweist – betreffen. 2 Die in den §§ 355, 357 BGB<br />

enthaltenen Regelungen zeigen, dass das Widerrufsrecht nach<br />

§§ 312 ff. BGB ein besonders ausgestaltetes Rücktrittsrecht<br />

ist. 3 Der Einführung einer neuen dogmatischen Kategorie<br />

„schwebende Wirksamkeit“ bedarf es daher nicht. 4 In den<br />

Fällen des § 179 BGB steht das Widerrufsrecht dem vollmachtlosen<br />

Vertreter zu. 5 Als Gestaltungserklärung ist die<br />

Ausübung des Widerrufsrechts bedingungsfeindlich. Zulässig<br />

ist aber ein Eventualwiderruf für den Fall, dass die vom Verbraucher<br />

in erster Linie vorgetragene Rechtsverteidigung (z.B.<br />

der Vertrag sei nichtig, weil sittenwidrig i.S.v. § 138 I BGB)<br />

nicht greift. Insoweit ergibt sich eine Parallele zur Eventualanfechtung.<br />

6<br />

II. Widerrufserklärung (§§ 357 I 1, 349 BGB)<br />

Die nach §§ 357 I 1, 349 BGB erforderliche Widerrufserklärung<br />

ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung<br />

des Verbrauchers, die dem Unternehmer zugehen und für einen<br />

objektiven Erklärungsempfänger (§§ 133, 157 BGB) erkennen<br />

lassen muss, dass der Verbraucher sich vom Vertrag lösen<br />

möchte. Vertrag, Vertragsgegenstand und Person des Widerrufenden<br />

müssen identifizierbar sein. 7 Das Wort „Widerruf“<br />

muss nicht verwendet werden. 8 Auch muss die Widerrufserklärung<br />

keine Begründung enthalten (§ 355 I 2 Hs. 1 BGB). Die<br />

bloße Anzeige der Verteidigungsbereitschaft nach § 276 I 1<br />

ZPO in einem gerichtlichen Verfahren genügt indes nicht. 9<br />

Eine Widerrufserklärung kann ggf. von einer Anfechtungserklärung<br />

abzugrenzen sein. Welche Erklärung vorliegt, ist<br />

durch Auslegung unter Zugrundelegung eines objektiven<br />

Empfängerhorizonts (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln. Die<br />

Anfechtung bewirkt im Unterschied zum Widerruf, dass der<br />

Vertrag ex-tunc vernichtet ist (§ 142 I BGB), währenddessen<br />

es bei dem Widerruf zu einer Umwandlung ex-nunc, d.h. der<br />

Entstehung eines Rückgewährschuldverhältnisses (§ 357 I 1<br />

BGB i.V.m. § 346 I BGB) kommt. Nachteilig für den Verbraucher<br />

wäre bei Annahme einer Anfechtung vor allem die<br />

* Der Verfasser ist Inhaber eines Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und<br />

Wirtschaftsrecht an der Universität Potsdam.<br />

1 Medicus Allgemeiner Teil des BGB, 10. Aufl. 2010, Rn. 79.<br />

2 Brox/Walker Allgemeiner Teil des BGB, 34. Aufl. 2010, Rn. 200.<br />

3 BGH BB 2004, 1246; OLG Koblenz NJW 2006, 919 (921); MüKo-BGB/Masuch<br />

Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2006, § 355 Rn. 30; Staudinger/Kaiser<br />

Kommentar zum BGB, 13. Bearb. 2005, § 355 Rn. 18.<br />

4 OLG Koblenz NJW 2006, 919 (921); Bamberger/Roth/Grothe Kommentar zum<br />

BGB, 2. Aufl. 2007, § 355 Rn. 3.<br />

5 BGH NJW-RR 1991, 1074 (1075).<br />

6 MüKo-BGB/Masuch (Fn. 3) § 355 Rn. 34.<br />

7 Palandt/Grüneberg BGB, 69. Aufl. 2010, § 355 Rn. 6.<br />

8 BGH NJW 1993, 128 (129); BGH NJW 1996, 1964 (1965); Palandt/Grüneberg (Fn.<br />

7) § 355 Rn. 6.<br />

9 Palandt/Grüneberg (Fn. 7) § 355 Rn. 6; a.A. OLG Karlsruhe NJW-RR 1998, 1438 f.<br />

1/2011 9<br />

ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN

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