50 BAKJ-Herbstkongress 2011 aus: Lena Jolj<strong>an</strong>ty/ Ulrike Lembke (Hrsg.) Feministische Rechtswissenschaft. Ein H<strong>an</strong>dbuch, 2. Auflage 2010
grenzen|los|werden 51 criticizing europe - staatstheoretische Perspektiven auf die EU Max Pichl Ausgehend von einer staatstheoretischen Analyse <strong>der</strong> EU, wollen wir über progressive Kritiken <strong>der</strong> EU diskutieren. Zusätzlich werden aktuelle Rechtsfälle aus dem Bereich des Migrationsrecht Gegen das „Europa des Kapitals“ o<strong>der</strong> „nach den Sternen greifen“? Europäische Staatlichkeit und die Frage em<strong>an</strong>zipatorischer Strategien Grundlage, in <strong>der</strong> er den kapitalistischen Staat nicht als neutrale Einrichtung, son<strong>der</strong>n als die „materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnissen“ beschreibt. Um diese beiden Konzepte für eine Analyse <strong>der</strong> EU fruchtbar zu machen, gehen wir zunächst davon aus, dass so etwas wie eine Europäische Staatlichkeit existiert. Europäische Staatlichkeit bedeutet hier auf <strong>der</strong> einen Seite, dass die EU zwar kein Staat im herkömmlichen Sinne des Nationalstaates ist, da ihr dazu das Gewaltmonopol fehlt, also die Möglichkeit die staatlichen Interessen und Politiken in letzter Inst<strong>an</strong>z militärisch und polizeilich abzusichern. An<strong>der</strong>seits wurden aber vor allem seit Ende <strong>der</strong> 80er Jahre weitreichende staatliche Kompetenzen in unterschiedlichen, vor allem wirtschaftspolitischen Bereichen auf die europäische Ebene übertragen. Die EU ist damit klar mehr als ein Zusammenschluss von Staaten: Es gibt europäische, supr<strong>an</strong>ationale - d.h. über die Koordination zwischen Nationalstaaten hinausgehende - Institutionensysteme und politische Staatsapparate. Beispiele sind unter <strong>an</strong><strong>der</strong>em die Europäische Kommission (->), die Europäische Zentralb<strong>an</strong>k, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Europäische Gerichtshof. Auch erste Formen einer europäischen Zivilgesellschaft sind erkennbar. So gründeten sich auf europäischer Ebene weitreichende Netzwerke aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteuren (z.B. <strong>der</strong> Europe<strong>an</strong> Roundtable of Industrialists o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Europäische Gewerkschaftsbund). Diese Netzwerke beeinflussen einerseits europäische Politik, bilden <strong>an</strong><strong>der</strong>erseits aber auch, indem sie für Akzept<strong>an</strong>z <strong>der</strong> europäischen Politik in Nationalstaaten und Bevölkerungen eintreten, die Basis dafür, dass diese überhaupt möglich wird. Europäische Staatlichkeit basiert dadurch nicht zuletzt auf Aktivitäten nationaler und tr<strong>an</strong>snationaler sozialer Kräfte, die entscheidend auf die Ausrichtung europäischer Politik einwirken können. Die EU bildet eine strategische Arena, in <strong>der</strong> unterschiedliche wirtschaftliche, politische und soziale Akteurinnen (wie Unternehmen, Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände o<strong>der</strong> NGOs) darum ringen, ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen. In diesen Kämpfen versuchen die AkteurInnen als Teil ihrer Strategien ihre Interessen zu verallgemeinern. Dafür binden sie auch Interessen <strong>an</strong><strong>der</strong>er sozialer Kräfte in ihre eigenen Ziele und Projekte ein. Gelingt einer Akteurin diese Einbindung <strong>an</strong><strong>der</strong>er Akteurinnen in ihr Projekt, so k<strong>an</strong>n von einer hegemonialen Konstellation unter ihrer Führung gesprochen werden. Von Mathis Heinrich und Nikolas Huke In linken Debatten wird die Europäische Union (EU) oft schematisch als „Europa des Kapitals“ o<strong>der</strong> „imperiales Projekt“ verst<strong>an</strong>den. Auch aus demokratietheoretischer Perspektive erscheint die EU in <strong>der</strong> Regel eher problematisch: Zu groß ist die Macht <strong>der</strong> Europäischen Kommission, zu gering ist die gesellschaftliche Kontrolle über die europäischen Agenturen (wie z.B. FRONTEX), zu gering sind die Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Angesichts dieser Probleme verwun<strong>der</strong>t es wenig, dass in Debatten linker BasisaktivistInnen - wie etwa auf dem Kongress <strong>der</strong> Bundeskoordination Internationalismus 2010 in Tübingen - die For<strong>der</strong>ung aufgestellt wird, die EU per se als Herrschaftsprojekt zu begreifen und jeden positiven Bezug auf sie abzulehnen. Im eher reformistischen und lobbyorientierten Spektrum - etwa den verschiedenen auf europäischer Ebene tätigen NGOs - herrscht hingegen eine stark pro-europäische Grundstimmung vor. Europa wird dort als Ch<strong>an</strong>ce gesehen, etwa Projekte wie Geschlechtergerechtigkeit zu etablieren, die auf nationaler Ebene schwer bis gar nicht durchsetzbar sind. In unserem Artikel möchten wir <strong>an</strong>h<strong>an</strong>d <strong>der</strong> im weiteren Sinne marxistischen Europaforschung zeigen, dass beide Einschätzungen verkürzt sind. Die Politik <strong>der</strong> EU wurde seit den 1980er Jahren zwar eindeutig von liberal-konservativen AkteurInnen und Kapitalfraktionen dominiert, ist aber keineswegs frei von Wi<strong>der</strong>sprüchen, Konflikten und damit auch Einflussmöglichkeiten für linke Strategien. Eine Beschreibung <strong>der</strong> EU als „Machthebel des Kapitals“ ist daher ebenso verkürzt, wie die These, dass sich in <strong>der</strong> EU per se bessere Möglichkeiten als in den Nationalstaaten böten. Wie wir zu zeigen versuchen, ist die EU vielmehr eine umkämpfte und wi<strong>der</strong>sprüchliche Arena. Die Ausrichtung <strong>der</strong> europäischen Politik und die Ch<strong>an</strong>cen linker Strategien sind abhängig von den Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzungen und Kräfteverhältnissen zwischen unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Akteurinnen. Ob und wie sich diese Kräfteverhältnisse in Richtung einer em<strong>an</strong>zipatorischeren Politik verschieben lassen, werden wir abschließend kurz skizzieren. und die Strategien <strong>der</strong> betreffenden Akteure vorgestellt. Beispiel für ein solches hegemoniales Projekt ist <strong>der</strong> europäische Binnenmarkt, <strong>der</strong> bis heute eines <strong>der</strong> Kernelemente <strong>der</strong> EU bildet. Dieser entst<strong>an</strong>d in den 1980er Jahren als Projekt des Europe<strong>an</strong> Roundtable of Industrialists (ERT), <strong>der</strong> große tr<strong>an</strong>snationale Konzerne repräsentiert. Er konnte sich jedoch gleichzeitig auf die Akzept<strong>an</strong>z in weiten Teilen <strong>der</strong> nationalen Bevölkerungen stützen, die sich Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze erhofften. Auch die Gewerkschaften st<strong>an</strong>den dem Projekt nur bedingt ablehnend gegenüber und versprachen sich von einer Europäisierung <strong>der</strong> Wirtschaftspolitik eine Steigerung <strong>der</strong> zuvor durch die Tr<strong>an</strong>snationalisierung des Kapitals in die Krise geratenen staatlichen Steuerungsfähigkeit. Da sich diese Hoffnung auf eine verstärkte europäische staatliche Regulierung jedoch nicht erfüllte, führte <strong>der</strong> Binnenmarkt vielmehr zu einer verschärften St<strong>an</strong>dortkonkurrenz, bei <strong>der</strong> die international agierenden Konzerne ihr Kapital nunmehr <strong>an</strong> die für sie Soziale Kräfteverhältnisse und Zivilgesellschaft als Dimensionen Europäischer Staatlichkeit Einen theoretischen Rahmen, um die Entwicklung <strong>der</strong> EU zu begreifen, liefern Arbeiten, die <strong>an</strong> die marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci und Nicos Poul<strong>an</strong>tzas <strong>an</strong>knüpfen. Grundlegend ist dabei Gramscis Konzept des „integralen Staates“. Darin hebt er die Bedeutung <strong>der</strong> sogen<strong>an</strong>nten zivilen Gesellschaft (bspw. Verbände, Gewerkschaften, Vereine, Kirchen) und <strong>der</strong> sogen<strong>an</strong>nten politischen Gesellschaft (Parteien, Regierung, Zentralb<strong>an</strong>ken) als integrierte Best<strong>an</strong>dteile des Staates hervor. Desweiteren eignet sich die Staatstheorie von Poul<strong>an</strong>tzas als 32 Vorneweg: Eine Europäische Wurzelbeh<strong>an</strong>dlung MATHIS HEINRICH, NIKOLAI HUKE: Gegen das „Europa des Kapitals“ o<strong>der</strong> „nach den Sternen greifen“? Europäische Staatlichkeit und 33 die Frage em<strong>an</strong>zipatorischer Strategien, in:JungdemokratInnen/ Junge Linke (Hrsg.): Die Sterne zum T<strong>an</strong>zen bringen. 32-43.