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Reader - Kritischen JuristInnen an der FU-Berlin

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grenzen|los|werden 1<br />

READER


2 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

InhaltsVZ<br />

Seite Seiteninhalt<br />

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Aufruf<br />

Kongressprogramm<br />

Kritische Referendar_innen: Kritisch durch’s Referendariat<br />

KJ/ Initiative in Gedenken <strong>an</strong> Oury Jalloh: Prozess- und Demobeobachtung<br />

Fabi<strong>an</strong> Georgi: Jenseits von Staat, Nation und Menschenrechten. Wie FRONTEX & Co<br />

radikal kritisieren?<br />

Angela Furm<strong>an</strong>iak: Grenzen auf für Daten – Grenzen zu für Menschen<br />

Heiner Busch: Wer kontrolliert die Polizei?<br />

Sarah Dellm<strong>an</strong>n: „Damit Sie sich sicher fühlen“ Frauen im Sicherheitsdiskurs<br />

a.r.a.p. : Strafvollzug – ein notwendiges Übel?<br />

No Bor<strong>der</strong>: NoBor<strong>der</strong> Movement und die EU-Außengrenze in Bulgarien<br />

Freunde und För<strong>der</strong>er destruktiver Kritik von Menschenrechten und Rechtsstaat: Menschenrechte<br />

Veronica Munk: Sexarbeit im Migrationsprozess<br />

SaU: Überwachung im Kapitalismus<br />

Fr<strong>an</strong>ziska Nedelm<strong>an</strong>n: Die kleinen und großen Gemeinheiten des deutschen Asyl- und<br />

Aufenthaltsrechts<br />

Doris Liebscher: Hi(s)story? Herstory? Asyl- und Aufenthaltsrecht aus feministischer<br />

Perspektive<br />

Max Pichl: criticizing europe - staatstheoretische Perspektiven auf die EU<br />

Matthias Monroy: Rückwärts und vorwärts gerichtete Überwachung - Neue digitale<br />

Schnüffelwerkzeuge<br />

Barbara Wessel und Undine Weyers: Workshop zu Anwält_innenkollektiven<br />

Notizen


grenzen|los|werden 3<br />

grenzen|los|werden<br />

Grenzen werden überall gezogen: Sowohl<br />

als Abschottung nach außen als auch innerhalb<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft und nicht zuletzt<br />

in unseren Köpfen. So unterschiedlich ihre<br />

Formen auch sein mögen – die Prozesse<br />

<strong>der</strong> Grenzziehung sind eng mitein<strong>an</strong><strong>der</strong><br />

verknüpft und werden über immer neue<br />

rechtliche sicherheitspolitische Mech<strong>an</strong>ismen<br />

realisiert.<br />

Die Migrationsabwehr steht im Mittelpunkt<br />

<strong>der</strong> europäischen Agenda von<br />

Justiz- und Innenminister_innen und die<br />

Verwaltung von Migration sowie die Militarisierung<br />

des Mittelmeers sind bereits<br />

weit vor<strong>an</strong> geschritten. Dabei bildet die<br />

Abschottung nach außen nur die Spitze<br />

systematischer Ausgrenzung und umfassen<strong>der</strong><br />

Kontrolle von Flüchtlingen<br />

und Migr<strong>an</strong>t_innen, die sich innerhalb<br />

<strong>der</strong> europäischen Staaten fortsetzt: im<br />

deutschen Asyl- und Aufenthaltsrecht, im<br />

Schengener Informationssystem bis hin<br />

zur willkürlichen Hürde <strong>der</strong> Integration.<br />

Nahtlos <strong>an</strong>schließend <strong>an</strong> die Migrationsbekämpfung<br />

problematisiert dabei <strong>der</strong><br />

Diskurs über innere Sicherheit vor<strong>der</strong>gründig<br />

„Migr<strong>an</strong>tenjugendliche“ und for<strong>der</strong>t<br />

im gleichen Atemzug eine Verschärfung<br />

von Kontroll- und S<strong>an</strong>ktionsmech<strong>an</strong>ismen.<br />

So werden fortlaufend Rassismen<br />

geschürt und die Lust am Strafen stetig<br />

neu geweckt. Eine bürgerrechtliche Kritik<br />

aber artikuliert sich regelmäßig erst, wenn<br />

<strong>der</strong> Staat allzu sehr über die Stränge<br />

schlägt. Die fortschreitende Entwicklung<br />

hin zur präventiven Sicherheitsgesellschaft<br />

wirft umso mehr die grundsätzliche<br />

Frage nach dem Zweck staatlicher Institutionen<br />

wie Knast und Polizei auf.<br />

Wir wollen gemeinsam die dargestellten<br />

gesellschaftlichen Praktiken ebenso wie<br />

unsere eigenen hinterfragen, Alternativen<br />

diskutieren und (juristische) H<strong>an</strong>dlungsoptionen<br />

ausloten. Die Workshops sind<br />

für alle Interessierten offen und richten<br />

sich nicht nur <strong>an</strong> ein juristisches Publikum.<br />

Kongressprogramm kurz<br />

Freitag:<br />

17.00 bis 20 Uhr: 1. Workshopphase<br />

*Kritische Referendar_innen: Kritisch durch’s Referendariat<br />

*KJ/ Initiative in Gedenken <strong>an</strong> Oury Jalloh: Prozess- und<br />

Demobeobachtung<br />

20 Uhr: Abendessen<br />

d<strong>an</strong>ach Konzert mit „sisters in crime“ und Film und<br />

Chillen im Beth<strong>an</strong>ien<br />

Samstag:<br />

Frühstück<br />

10.00 bis 13 Uhr 2. Workshopphase<br />

*Fabi<strong>an</strong> Georgi: Jenseits von Staat, Nation und Menschenrechten.<br />

Wie FRONTEX & Co radikal kritisieren?<br />

*Heiner Busch: Wer kontrolliert die Polizei?<br />

*Angela Furm<strong>an</strong>iak: Grenzen auf für Daten – Grenzen zu<br />

für Menschen<br />

*a.r.a.p. : Strafvollzug – ein notwendiges Übel?<br />

*Sarah Dellm<strong>an</strong>n: „Damit Sie sich sicher fühlen“ Frauen<br />

im Sicherheitsdiskurs<br />

13.00 bis 15 Uhr Mittagspause und Kiezsparzierg<strong>an</strong>g:<br />

*Thomas Bürk, Henning Fuelle: Kreuzberg 36: Vom radikalen<br />

Brennpunkt zur touristischen Konsumware?<br />

15.00 bis 17.30 Uhr 3. Workshopphase<br />

*Veronica Munk: Sexarbeit im Migrationsprozess<br />

*SaU: Überwachung im Kapitalismus<br />

*Fr<strong>an</strong>ziska Nedelm<strong>an</strong>n: Die kleinen und großen Gemeinheiten<br />

des deutschen Asyl- und Aufenthaltsrechts<br />

*No Bor<strong>der</strong>: NoBor<strong>der</strong> Movement und die EU-Außengrenze<br />

in Bulgarien<br />

*Freunde und För<strong>der</strong>er destruktiver Kritik von Menschenrechten<br />

und Rechtsstaat: Menschenrechte<br />

ab 17.30 Uhr Kaffe und Kuchen<br />

Abends: Party im Subversiv<br />

Sonntag:<br />

Frühstück<br />

11.00 bis 14 Uhr 4. Workshopphase<br />

*Doris Liebscher: Hi(s)story? Herstory? Asyl- und<br />

Aufenthaltsrecht aus feministischer Perspektive<br />

*Max Pichl: criticizing europe - staatstheoretische Perspektiven<br />

auf die EU<br />

*Matthias Monroy: Rückwärts und vorwärts gerichtete<br />

Überwachung - Neue digitale Schnüffelwerkzeuge<br />

*Barbara Wessel und Undine Weyers: Workshop zu<br />

Anwält_innenkollektiven


4 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

Kritisch durch’s Referendariat<br />

Kritische Referendar_innen<br />

Kritische Jurist_innen blicken über den Tellerr<strong>an</strong>d,<br />

sie beschäftigen sich weit mehr als <strong>an</strong><strong>der</strong>e<br />

mit Themen, die nicht zum juristischen<br />

Lehrstoff <strong>an</strong> den Unis gehören, sie kritisieren<br />

die zweigliedrige juristische Ausbildung. Was<br />

uns da aber während des praktischen Ausbildungsteils<br />

erwartet, das weiß, bevor es<br />

losgeht, eigentlich kein Mensch so richtig.<br />

Wir zumindest wussten es nicht. Wie, ich<br />

muss in <strong>der</strong> Staats<strong>an</strong>waltsstation Sitzungs-<br />

Wer Einheitsjurist werden will, krümmt sich beizeiten<br />

Der steinige Weg zum Zweiten Juristischen Staatsexamen<br />

Mit <strong>der</strong> Vereidigung fängt alles <strong>an</strong>. Sprechen Sie mir<br />

nach: »Ich schwöre, dass ich, getreu den Grundsätzen des<br />

demokratischen und sozialen Rechtsstaats, meine Kraft<br />

dem Volke und dem L<strong>an</strong>de widmen, das Grundgesetz für<br />

die Bundesrepublik Deutschl<strong>an</strong>d und die Nie<strong>der</strong>sächsische<br />

Verfassung wahren und verteidigen, in Gehorsam<br />

gegen die Gesetze meine Amtspflicht gewissenhaft erfüllen<br />

und Gerechtigkeit gegen je<strong>der</strong>m<strong>an</strong>n üben werde.«<br />

Herr A kommt zur Vereidigung im Jackett und mit<br />

Schlips und hängt <strong>der</strong> Eidesformel noch ein kleines »So<br />

wahr mir Gott helfe« <strong>an</strong>. Frau W erklärt, sie verzichte auf<br />

die religiöse Beteuerung, und schon ist klar, dass Frau<br />

W m<strong>an</strong>chmal Sachen <strong>an</strong><strong>der</strong>s macht als <strong>an</strong><strong>der</strong>e. Herr G<br />

erlaubt sich gar, zur Vereidigung in Je<strong>an</strong>s zu erscheinen.<br />

Anlass genug für den Gerichtspräsidenten, ihn nach <strong>der</strong><br />

Zeremonie beiseite zu nehmen und mit eindringlichen<br />

Worten auf die beson<strong>der</strong>e Würde des Gerichts aufmerksam<br />

zu machen, die es zu achten gelte. Zumindest Herr<br />

G hat <strong>an</strong>schließend begriffen, wo er <strong>an</strong>gekommen ist: Im<br />

Apparat, o<strong>der</strong>, mo<strong>der</strong>ner: in <strong>der</strong> Institution. Er ist jetzt<br />

Referendar.<br />

Von Station zu Station dem Zweiten Staatsexamen<br />

entgegen<br />

Als solcher l<strong>an</strong>det er zuerst in <strong>der</strong> sogen<strong>an</strong>nten »Zivilstation«.<br />

M<strong>an</strong> muss sich das Referendariat vorstellen wie<br />

einen Eisenbahnzug, <strong>der</strong> mit wechselnden Geschwindigkeiten<br />

von Station zu Station fährt. Anzahl und Dauer<br />

<strong>der</strong> Stationen unterscheiden sich in den Bundeslän<strong>der</strong>n<br />

kaum: Ungefähr die ersten <strong>an</strong><strong>der</strong>thalb Jahre fährt <strong>der</strong><br />

Zug die »Pflichtstationen« ab, soll heißen: Aus- und Umsteigen<br />

nicht erlaubt. Alle Referendar/innen müssen eine<br />

bestimmte Zeit <strong>an</strong>s Zivilgericht, zur Staats<strong>an</strong>waltschaft<br />

und in die Verwaltung. Je<strong>der</strong> Referendar muss bei einem<br />

vertretung machen und soll für eine Haftstrafe<br />

plädieren? Meine AG-Leiter_in/ meine<br />

Stationsausbil<strong>der</strong>_in macht rassistische o<strong>der</strong><br />

sexistische Bemerkungen. Was passiert mir,<br />

wenn ich mich verweigere? Wie gehe ich<br />

damit um, plötzlich Vertreter_in des Staates<br />

zu sein? Und was kommt eigentlich d<strong>an</strong>ach?<br />

Diese Fragen möchten wir gemeinsam mit<br />

euch diskutieren.<br />

Frie<strong>der</strong>ike Wapler Erschienen in Forum Recht 2001, Heft 1<br />

Anwalt o<strong>der</strong> einer Anwältin arbeiten. D<strong>an</strong>ach hat <strong>der</strong> Zug<br />

einen kurzen Aufenthalt beim Prüfungsamt, denn nach<br />

den Pflichtstationen werden die Klausuren für das zweite<br />

Staatsexamen geschrieben. Ist diese Hürde genommen,<br />

kommt die »Wahlstation«. Jetzt fährt je<strong>der</strong> noch ein paar<br />

Monate in eine selbstgewählte Richtung: Herr A macht<br />

Station in <strong>der</strong> benachbarten Anwaltsk<strong>an</strong>zlei, weil er sich<br />

dort nach dem Referendariat eine Anstellung erhofft.<br />

Frau W fliegt zur deutschen Botschaft in Sch<strong>an</strong>ghai und<br />

stellt einreisewilligen Chines/innen Visa aus. Herr G<br />

begibt sich in die Rechtsabteilung eines internationalen<br />

Multikonzerns und zieht dafür sogar freiwillig ein Jackett<br />

<strong>an</strong>. Die Wahlstation bietet diese und noch viele <strong>an</strong><strong>der</strong>e<br />

sp<strong>an</strong>nende Möglichkeiten. Aber eigentlich ist sie nur<br />

ein kleiner individueller Umweg, denn die Endstation<br />

ist für alle gleich: Mündliche Prüfung und Entlassung.<br />

Was d<strong>an</strong>ach kommt, ist ungewiss, doch interessiert uns<br />

<strong>der</strong> Weg - das Referendariat. Es versucht, zwei Dinge<br />

zu vereinbaren, die sich eigentlich gut unter einen Hut<br />

bringen lassen müssten: Die Referendar/innen sollen<br />

einen Einblick in die verschiedenen juristischen Berufe<br />

bekommen, und sie sollen auf das Zweite Staatsexamen<br />

vorbereitet werden, das den vielversprechenden Namen<br />

»Praxisexamen« trägt. Um diese Verzahnung zu erreichen,<br />

haben die Referendar/innen in je<strong>der</strong> Station eine<br />

Ausbil<strong>der</strong>in für die Praxiserfahrungen und eine Arbeitsgemeinschaft<br />

für den theoretischen Unterricht.<br />

Immerhin nicht Kaffee kochen.<br />

Das klingt alles sehr schön, passt jedoch in Wirklichkeit<br />

nicht beson<strong>der</strong>s gut zusammen. Denn in <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft<br />

werden den Referendar/innen viele knifflige,<br />

examensrelev<strong>an</strong>te Probleme präsentiert, die sie<br />

in <strong>der</strong> praktischen Ausbildung nur selten wie<strong>der</strong>finden.<br />

In <strong>der</strong> Zivilstation lernen sie in <strong>der</strong> AG beispielsweise<br />

den diffizilen Umg<strong>an</strong>g mit dem »Versäumnis-Teilurteil<br />

und Schlussurteil« und komplizierte Kostenrechnungen


grenzen|los|werden 5<br />

in Fällen, in denen von zahlreichen Parteien nur einige<br />

den Rechtsstreit gewinnen, und das auch nur zum Teil.<br />

Vor Gericht geht es d<strong>an</strong>n eher um den Verkehrsunfall,<br />

bei dem fünf Zeugen fünf unterschiedliche Versionen<br />

des Unfallherg<strong>an</strong>gs schil<strong>der</strong>n und <strong>der</strong> Richter entscheiden<br />

muss, wie es denn nun wirklich gewesen sein mag.<br />

Darüber wird in <strong>der</strong> AG nicht gesprochen, wie sie überhaupt<br />

nicht <strong>der</strong> Ort ist, um die Erfahrungen aus <strong>der</strong> Praxis<br />

zu besprechen, zu beleuchten o<strong>der</strong> nachzuarbeiten.<br />

Niem<strong>an</strong>d wird deswegen nach sechs Monaten Zivilstation<br />

o<strong>der</strong> drei Monaten Verwaltung von sich behaupten<br />

können, in dieser Sparte nun »ausgebildet« zu sein in<br />

dem Sinne, dass er sogleich ohne weitere Einarbeitung<br />

selbst als Richter/in arbeiten könnte. Was die Berufsqualifizierung<br />

betrifft, ist das Referendariat kaum nützlicher<br />

als ein Praktikum. Zwar müssen die Referendar/<br />

innen nicht Kaffee kochen, aber beson<strong>der</strong>s viel selbst<br />

machen können sie auch nicht. In <strong>der</strong> Zivilstation etwa<br />

sitzen sie einmal die Woche neben ihrer Ausbil<strong>der</strong>in auf<br />

<strong>der</strong> Richterb<strong>an</strong>k und gucken beim Verh<strong>an</strong>deln zu. Sie haben<br />

großes Glück, wenn sie in sechs Monaten überhaupt<br />

o<strong>der</strong> gar mehr als einmal selbst eine Verh<strong>an</strong>dlung leiten<br />

dürfen. Den Rest ihrer Arbeitszeit verbringen die jungen<br />

Jurist/innen vor Akten. In den <strong>an</strong><strong>der</strong>en Stationen sieht es<br />

nicht viel besser aus.<br />

Referendar/innen in Robe...<br />

Nur bei den Staats<strong>an</strong>waltschaften müssen die Referendar/innen<br />

damit rechnen, wirklich in den laufenden<br />

Betrieb eingesp<strong>an</strong>nt zu werden: Hier werden sie fast<br />

überall regelmäßig, oft sogar wöchentlich, zu sogen<strong>an</strong>nten<br />

»Sitzungsvertretungen« her<strong>an</strong>gezogen. Das bedeutet,<br />

dass die Referendar/innen die Akten für einen<br />

bestimmten Sitzungstag am Amtsgericht bekommen<br />

und in diesen Verh<strong>an</strong>dlungen so tun, als wären sie<br />

Staats<strong>an</strong>wält/innen - sie verlesen die Anklageschrift,<br />

hören zu, wie <strong>der</strong> Richter die Beteiligten vernimmt,<br />

halten ein Plädoyer und stellen einen Straf<strong>an</strong>trag.<br />

Was aber ist das für ein Spiel? Der Richter weiß, dass<br />

er eine Referendarin vor sich hat. Die Verteidiger/innen<br />

wissen es auch. Die Referendar/innen schwitzen Blut<br />

und Wasser und sind froh, wenn sie die Anklageschrift<br />

fehlerfrei verlesen können und ihren Einsatz für das<br />

Plädoyer nicht verpassen. Kluge Richter/innen leiten<br />

die Verh<strong>an</strong>dlung in diesen Fällen so, dass die Referendarin<br />

nur körperlich <strong>an</strong>wesend sein muss und dienen<br />

ihr, wenn sie freundlich sind, noch als Stichwortgeber<br />

(»diesem Antrag muss die Staats<strong>an</strong>waltschaft zustimmen,<br />

haben Sie Bedenken, Frau Staats<strong>an</strong>wältin?«). Am<br />

Ende stammelt die Referendarin ein paar »Wie halte ich<br />

ein Plädoyer« - Textbausteine aus dem entsprechenden<br />

JA-Skript herunter und stellt den Antrag, den die Ausbil<strong>der</strong>in<br />

ihr am Tag zuvor empfohlen hat. Entscheiden<br />

tut ohnehin <strong>der</strong> Richter. Eine Farce, die alle Beteiligten<br />

durchschauen - mit Ausnahme <strong>der</strong> Angeklagten, die eine<br />

ver<strong>an</strong>twortlichere Beh<strong>an</strong>dlung verdient hätten.<br />

...und was aus ihnen wird<br />

Interess<strong>an</strong>t ist <strong>an</strong> dieser Praxis aber nicht nur, ob Angeklagte<br />

verschaukelt werden o<strong>der</strong> nicht. Fast noch interess<strong>an</strong>ter<br />

ist, was diese Pflichtübung aus den Referendar/<br />

innen macht. Die meisten von ihnen gehen recht unkritisch<br />

<strong>an</strong> die Sache her<strong>an</strong> und versuchen, sie »gut« zu<br />

machen. »Gut« bedeutet in diesem Falle: so, dass Richter<br />

und Ausbil<strong>der</strong>in zufrieden sind. Ihre einzigen Vorbil<strong>der</strong><br />

für diese Arbeit sind: Richter und Ausbil<strong>der</strong>in. Um<br />

also die Sache möglichst »gut« zu machen, ahmen die<br />

Referendar/innen in erster Linie die <strong>an</strong><strong>der</strong>en Beteiligten<br />

in diesem Spiel nach. Spätestens hier wird klar, wie sich<br />

<strong>der</strong> typisch juristische Stil von Generation zu Generation<br />

weitergibt: Die jungen Jurist/innen werden in ein Autoritätsverhältnis<br />

gesteckt, und ihnen wird im Rahmen<br />

dieses Verhältnisses eine Aufgabe zugeteilt, die nicht<br />

ohne Wichtigkeit und Ver<strong>an</strong>twortung ist. Die einzigen,<br />

die darüber befinden, wie die Referendar/innen ihre Arbeit<br />

bewältigen, sind die Vorgesetzten selbst, die schon<br />

seit Jahren in diesem Beruf arbeiten. Was liegt da näher,<br />

als sich bestmöglich <strong>an</strong> die Vorgabe zu halten? Nur so<br />

lässt es sich erklären, dass auch schon die Grünschnäbel<br />

in Robe so auftreten und reden, als kennten sie die einzig<br />

vertretbare Lösung, wie Jurist/innen es nun einmal tun<br />

und von ihresgleichen erwarten. Und wenn es in dem<br />

betreffenden Gerichtsbezirk üblich ist, Totalverweigerer<br />

ohne Bewährung einzusperren, d<strong>an</strong>n be<strong>an</strong>tragen die Referendar/innen<br />

eben die entsprechende Freiheitsstrafe.<br />

Wer mit offenen Augen und einer gewissen kritischen<br />

Dist<strong>an</strong>z durch das Referendariat geht, k<strong>an</strong>n so am eigenen<br />

Leibe erfahren, wie die Justiz <strong>an</strong> ihm feilt und ihm<br />

die herrschenden Meinungen und gängigen Verhaltensweisen<br />

als die einzig möglichen und richtigen nahelegt.<br />

Die meisten Referendar/innen aber, wie gesagt, setzen<br />

sich diesem Problem gar nicht erst aus. Sie gehen davon<br />

aus, dass ihnen am Ende um so bessere Noten winken,<br />

je mehr sie sich bemühen, dem Leitbild zu entsprechen.<br />

Was natürlich nicht unbedingt funktioniert, aber die Examens<strong>an</strong>gst<br />

ist nicht immer die beste Ratgeberin.<br />

Examensvorbereitung und kein Ende<br />

Überhaupt, das Examen. Die Klausuren werden, wie schon<br />

erwähnt, nicht am Ende <strong>der</strong> Ausbildungszeit geschrieben,<br />

son<strong>der</strong>n so früh, dass sie schon nach einigen Monaten<br />

gefährlich nahe rücken. Das wäre halb so schlimm, wenn<br />

irgendwo auf <strong>der</strong> Strecke auch ein <strong>an</strong>gemessener Aufenthalt<br />

eingepl<strong>an</strong>t wäre, den die Referendar/innen zur Prüfungsvorbereitung<br />

nutzen könnten. Dem ist aber nicht<br />

so. Statt dessen gibt es die illegale, aber sehr verbreitete<br />

Einrichtung <strong>der</strong> »Tauchstation«: Viele freundliche Anwält/innen<br />

schreiben für die Anwaltsstation wohlwollende<br />

Zeugnisse und lassen die Referendar/innen <strong>an</strong>sonsten<br />

in Ruhe die Tücken <strong>der</strong> ZPO studieren. Dabei steht<br />

für die meisten Referendar/innen fest, dass sie den Anwaltsberuf<br />

ergreifen werden - weil sie es schon immer<br />

wollten o<strong>der</strong> weil sie nicht mit so guten Noten rechnen,


6 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

dass sie auf eine Stelle im Staatsdienst hoffen könnten.<br />

Doch gerade die Arbeit in einer Anwaltsk<strong>an</strong>zlei kommt<br />

für die meisten während des Referendariats zu kurz.<br />

Noch eine zweite Folge hat <strong>der</strong> Umst<strong>an</strong>d, dass im Rahmen<br />

<strong>der</strong> Ausbildung keine Zeit für die Prüfungsvorbereitung<br />

eingepl<strong>an</strong>t ist: Prüfungsämter und AG-Leiter/<br />

innen pflegen die Illusion, dass im zweiten Staatsexamen<br />

(»Praxisexamen«) eigentlich nur wirklich praxisrelev<strong>an</strong>te<br />

Dinge abgefragt werden. Was natürlich ebenso<br />

gelogen ist, wie die schon während des Studiums verbreitete<br />

Behauptung, letzten Endes ließe sich je<strong>der</strong> Fall<br />

mit ein bisschen Grundwissen, logischem Denken und<br />

gesundem Menschenverst<strong>an</strong>d lösen. In Wirklichkeit ist<br />

es so, dass im zweiten Staatsexamen das Wissen aus dem<br />

ersten Staatsexamen vorausgesetzt wird, und d<strong>an</strong>n kommt<br />

noch das g<strong>an</strong>ze Prozessrecht dazu. Der durchschnittliche<br />

Referendar k<strong>an</strong>n vor dieser Stofffülle nur tun, was<br />

er im Zweifel schon vor dem ersten Staatsexamen get<strong>an</strong><br />

hat: kapitulieren. Er unterstreicht die jeweilige h.M. im<br />

Kommentar und nimmt seine miesen Klausurergebnisse<br />

mit einem Achselzucken hin. Wer das erste Staatsexamen<br />

schon erlebt hat, sieht nun: Eigentlich verän<strong>der</strong>t sich<br />

nichts. We<strong>der</strong> werden die Referendar/innen selbstbewusster<br />

gegenüber ihrer Materie, noch än<strong>der</strong>t sich etwas<br />

dar<strong>an</strong>, dass all ihr Streben letzten Endes auf das Examen<br />

und nur das Examen gerichtet ist, noch können sie für<br />

dieses Streben am Ende eine wohlwollende Beurteilung<br />

erwarten. Es dürfte ein einmaliges Charakteristikum <strong>der</strong><br />

juristischen Ausbildung sein, dass die meisten Auszubildenden<br />

bis zum Ende ihrer Lehrzeit das Gefühl nicht<br />

loswerden, eigentlich nichts gelernt und verst<strong>an</strong>den zu<br />

haben. Während <strong>der</strong> g<strong>an</strong>zen l<strong>an</strong>gen juristischen Ausbildung<br />

gibt es keinen Raum, in dem die Auszubildenden<br />

mit den juristischen Begriffen und Auslegungsmethoden<br />

einmal so kreativ umgehen könnten, wie es BGH-Richter/innen<br />

tun, ohne dafür Verständnislosigkeit zu ernten.<br />

Im Gegenteil wird die Möglichkeit, sich zwischen<br />

verschiedenen Lehrmeinungen zu entscheiden, für die<br />

Referendar/innen immer kleiner: Während die Dozent/<br />

innen <strong>an</strong> <strong>der</strong> Universität noch Wert darauf legen, dass<br />

die Student/innen umstrittene Fragen differenziert diskutieren<br />

können, geht es im Referendariat um den praxisgerechten,<br />

»eintütbaren« Entwurf, und das bedeutet: Wir<br />

machen es wie <strong>der</strong> BGH, denn damit sind wir auf <strong>der</strong><br />

sicheren Seite.<br />

Die Unmündigkeit <strong>der</strong> Jung-Jurist/innen<br />

Hinzu kommt, dass die Referendar/innen aus je<strong>der</strong> Station<br />

mit zwei Zeugnissen entlassen werden: eines von<br />

<strong>der</strong> praktischen Ausbil<strong>der</strong>in und eines vom AG-Leiter<br />

(eine rühmliche Ausnahme bildet hier Bremen, wo<br />

die Mitarbeit in <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft nicht benotet<br />

wird). Diese Zeugnisse beruhen nicht auf <strong>an</strong>onymisierten<br />

Beurteilungen, wie es aus gutem Grund in den Staatsexamina<br />

<strong>der</strong> Fall ist. Im Gegenteil wird eine Beurteilung<br />

<strong>der</strong> »persönlichen Eigenschaften (Bereitschaft zur Mitarbeit,<br />

Arbeitszuverlässigkeit und Sorgfalt, Ausgeg-<br />

lichenheit, Kontaktfähigkeit, Durchsetzungsfähigkeit<br />

und Belastbarkeit)« ausdrücklich gefor<strong>der</strong>t. Die Justiz<br />

prüft also gründlich, ob die Jung-Jurist/innen auch zu<br />

ihr passen. »Herr G versteht, Sachverhalte kritisch zu<br />

hinterfragen« steht da d<strong>an</strong>n womöglich hübsch verklausuliert<br />

o<strong>der</strong>: »Herr A brachte unerklärlicherweise recht<br />

wechselhafte Leistungen« o<strong>der</strong>: »Frau W scheint sehr<br />

intelligent zu sein«. Dass diese Formulierungen (wie<br />

im übrigen jede geglücktere auch) mehr darüber aussagen,<br />

ob sich Ausbil<strong>der</strong>in und Referendar verst<strong>an</strong>den<br />

haben, und dass nicht alle Ausbil<strong>der</strong>/innen die Menschenkenntnis<br />

mit Löffeln gefressen haben, versteht<br />

sich eigentlich von selbst, wird aber nicht hinterfragt.<br />

Für die jungen Jurist/innen, die in den Staatsdienst übernommen<br />

werden, geht diese Abhängigkeit noch weiter:<br />

Sie verbringen die ersten Jahre ihrer Berufstätigkeit als<br />

Richter/Staats<strong>an</strong>wälte auf Probe und werden von Vorgesetzten<br />

regelmäßig »überhört«, wie es so schön heißt.<br />

»Überhören« bedeutet, dass die Dienstälteren sich in<br />

die Verh<strong>an</strong>dlungen <strong>der</strong> Assessor/innen setzen und <strong>an</strong>schließend<br />

<strong>der</strong>en Entscheidungen prüfen und bewerten.<br />

Bis Richter/innen wirklich unabhängig sind, haben sie<br />

also viele Jahre <strong>der</strong> Abhängigkeit zu durchlaufen. Das<br />

ist für die jungen Jurist/innen frustrierend, aber für die<br />

Justiz g<strong>an</strong>z nützlich. Denn wirklich exotische Meinungen<br />

vertreten nach dieser Ausbildung nur noch die g<strong>an</strong>z<br />

Hartgesottenen.<br />

Versöhnliches Schlusswort mit eindeutigem Appell<br />

M<strong>an</strong> verstehe mich nicht falsch. Der Apparat feilt unablässig,<br />

doch ist er nicht entfernt so repressiv, wie es<br />

in so m<strong>an</strong>chem Fachschaftsgruppenraum kolportiert<br />

werden mag. Der größte Druck entsteht durch die Sorge<br />

um Zeugnisse und Examensnoten, doch hängen letztere<br />

gerade nicht davon ab, wie sich die Referendar/innen in<br />

den Monaten zuvor benommen haben. Es ist erstaunlich,<br />

dass sich dennoch so viele <strong>der</strong> jungen Jurist/innen<br />

in vorauseilendem Gehorsam üben und sich willig zu<br />

»berufsfähigen Einheitsjuristen« formen lassen, wie das<br />

Leitbild <strong>der</strong> Ausbildung so treffend heißt. Aber wichtig<br />

zu wissen ist auch dies: Es haben Leute ihr zweites Staatsexamen<br />

best<strong>an</strong>den, die mit buntgefärbten Haaren im<br />

Gerichtssaal aufgetreten sind, und es wird niem<strong>an</strong>d aus<br />

dem Dienst entfernt, <strong>der</strong> im Falle des Totalverweigerers<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Haschischraucherin einen Freispruch for<strong>der</strong>t.<br />

Auch das Versäumnis-Teilurteil und Schlussurteil ist<br />

nicht wirklich wichtig. Denn irgendw<strong>an</strong>n ist das Referendariat<br />

auch wie<strong>der</strong> vorbei. Wer sich d<strong>an</strong>n nicht<br />

wie<strong>der</strong>erkennt, ist selber schuld.<br />

Frie<strong>der</strong>ike Wapler ist dem Referendariat kurz vor <strong>der</strong><br />

Endstation in den Erziehungsurlaub entflohen. Sie lebt<br />

in <strong>Berlin</strong>. Ihre Abrechnung mit dem ersten Staatsexamen<br />

erschien in <strong>der</strong> Zeitschrift »Faust«, Ausgabe 2/98.


66<br />

FORUM<br />

grenzen|los|werden 7<br />

Foto: kallejipp<br />

OMA WETTERWACHS<br />

DEN KOPF EINZIEHEN?<br />

DIE STAATSANWALTSCHAFTSSTATION IM REFERENDARIAT<br />

In meiner Station bei <strong>der</strong> Staats<strong>an</strong>waltschaft wollte ich nicht<br />

brav <strong>an</strong> <strong>der</strong> Herabwürdigung von Menschen mitwirken, son<strong>der</strong>n<br />

zumindest für ein paar kleine Störungen sorgen. Ein kleines<br />

Plädoyer für mehr Aktion in <strong>der</strong> Institution.<br />

Das Referendariat bietet einen Einblick in sehr unterschiedliche Bereiche<br />

juristischer Tätigkeit. Gleichzeitig konfrontiert es eineN aber<br />

auch damit, Dinge tun zu müssen, die mensch unter Umständen für<br />

grundverkehrt hält - zum Beispiel den Straf<strong>an</strong>spruch des Staates zu<br />

verfolgen und dar<strong>an</strong> mitzuwirken, dass Menschen in den Knast kommen.<br />

Schon während des Studiums hat mich diese Vorstellung, die autoritär-menschenunfreundliche<br />

Rolle <strong>der</strong> Staats<strong>an</strong>wältin einnehmen<br />

zu müssen, in Unruhe versetzt. Ich habe einige g<strong>an</strong>z grundlegende<br />

Vorbehalte gegen die Idee, über negative S<strong>an</strong>ktionen bis hin zu sozialer<br />

Isolation Menschen verbessern zu wollen - umso mehr, als dass die<br />

sozialen Ursachen von Kriminalität und die schichtspezifische Diskriminierung<br />

negiert werden. Außerdem sind die Verfahren für die meisten<br />

Betroffenen völlig unverständlich, diese können sich nicht artikulieren<br />

und werden zum Gegenst<strong>an</strong>d abgehobener Macht<strong>an</strong>sprüche.<br />

Und da die Seite des Staates vertreten müssen? Gleichzeitig wollte<br />

ich durchaus das Zweite Staatsexamen machen, und dazu gehört<br />

zwingend die Station bei <strong>der</strong> Staats<strong>an</strong>waltschaft, o<strong>der</strong> in m<strong>an</strong>chen<br />

FORUM RECHT 02/08<br />

Bundeslän<strong>der</strong>n beim Strafgericht. Diese Zwickmühle war beim<br />

Schreiben von Anklageschriften noch aushaltbar - die Tatsachenaufklärung<br />

scheint mir oft eine sinnvolle Sache zu sein -, verdichtete sich<br />

aber beim Thema Sitzungsvertretung g<strong>an</strong>z erheblich. "Sitzungsvertretung"<br />

bedeutet, dass ReferendarInnen in Verh<strong>an</strong>dlungen Staats<strong>an</strong>wäl-<br />

tIn spielen dürfen bzw. müssen. Dabei Dienst nach Vorschrift<br />

zu leisten, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Und<br />

wollte ausprobieren, wieviel Kritik untergebracht werden<br />

k<strong>an</strong>n.<br />

Der erste Sitzungstag<br />

Meine erste Sitzungsvertretung betraf ausgerechnet einen g<strong>an</strong>z<br />

kleinen Sozialhilfebetrug. Da ein Freispruch nicht drin war, wollte ich<br />

zumindest auf eine niedrige Strafe hinarbeiten. Aber <strong>der</strong> Richter<br />

machte mir meine fehlenden Einflussmöglichkeiten klar. In <strong>der</strong> kurzen<br />

Verh<strong>an</strong>dlungspause, in <strong>der</strong> ich mein Schlussplädoyer vorformulierte<br />

(darin wird <strong>der</strong> eigentliche Antrag gestellt, entwe<strong>der</strong> auf Freispruch<br />

o<strong>der</strong> auf eine bestimmte Strafhöhe), wies er mich auf seine<br />

schon feststehende Entscheidung hin: "Wollen Sie wissen, was ich<br />

daraus mache?" und ging d<strong>an</strong>n bei <strong>der</strong> Strafhöhe über meinen Antrag<br />

hinaus. Auch sonst war <strong>der</strong> erste Verh<strong>an</strong>dlungstag lehrreich: Es<br />

ist sehr aufregend und <strong>an</strong>strengend, Autorität sein zu müssen. Mit<br />

diesem Mech<strong>an</strong>ismus - die Position nicht zu kennen, sich unsicher zu<br />

fühlen und trotzdem wichtig zu sein - werden ReferendarInnen strukturell<br />

zu Obrigkeitshörigkeit und zum Funktionieren erzogen. Denn<br />

mensch ist so sehr mit den neuen Anfor<strong>der</strong>ungen beschäftigt, dass<br />

jegliches abweichende Verhalten und jede kritische Perspektive - z.B.<br />

darauf, was die Angeklagten von dem g<strong>an</strong>zen Gerede überhaupt verstehen<br />

können - fast nur untergehen k<strong>an</strong>n. Um diese Situation zu


8 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

überwinden, kommt es bei vielen ReferendarInnen auch zu einer Art<br />

"Pl<strong>an</strong>sollübererfüllung", also zu beson<strong>der</strong>s harten Formulierungen<br />

und Bewertungen. Darauf weist sogar ein offizieller Leitfaden <strong>der</strong><br />

Staats<strong>an</strong>waltschaft hin und bittet die ReferendarInnen, sich zu überprüfen.<br />

Als einziges "rebellische" Moment bin ich bei meinem Schlussvortrag<br />

nicht aufgest<strong>an</strong>den, um das autoritäre Gehabe nicht noch auf<br />

die Spitze zu treiben. Das weicht von <strong>der</strong> Gewohnheit ab, ist aber<br />

nicht verboten. Nach <strong>der</strong> Sitzung wies mich <strong>der</strong> Richter auf meinen<br />

"Fehler" hin. Ich machte ihm deutlich, dass es sich um eine bewusste<br />

Entscheidung geh<strong>an</strong>delt habe, und erkundigte mich nach seinem<br />

Beweggrund, auf die Einhaltung einer bloßen Gewohnheit zu pochen.<br />

Er meinte, das Aufstehen sei gar nicht wichtig, ihm sei es egal,<br />

und jedem <strong>an</strong><strong>der</strong>en Richter auch. "Ja, aber wieso haben Sie es mir<br />

denn d<strong>an</strong>n gesagt?" - "Weil mir das in 25 Jahren das erste mal passiert!"<br />

Der zweite und letzte Sitzungstag<br />

Der zweite Sitzungstag best<strong>an</strong>d aus vier Verfahren und sollte - nicht<br />

zu meinem Bedauern - mein letzter gewesen sein. Dass ich lächerlich<br />

niedrige Straf<strong>an</strong>träge gestellt habe, war vermutlich noch nicht so<br />

schlimm. Äußerst unschön f<strong>an</strong>d <strong>der</strong> Richter aber, dass ich mich vor<br />

dem Verlesen <strong>der</strong> Anklageschrift (dem ersten Wortbeitrag <strong>der</strong> Staats<strong>an</strong>waltschaft)<br />

vorstellte und darauf hinwies, dass ich keine Staats<strong>an</strong>wältin<br />

sei, son<strong>der</strong>n Referendarin, und daher diese Tätigkeit auch<br />

nicht aufgrund einer eigenen Entscheidung, son<strong>der</strong>n als verpflichtenden<br />

Teil <strong>der</strong> juristischen Ausbildung ausübe. Der Protokollführer ereiferte<br />

sich in <strong>der</strong> Pause richtiggehend: "Ich sage das nächste mal, dass<br />

ich aus Überzeugung hier bin!" Merke: Gefährlicher als <strong>an</strong>gegriffene<br />

Autoritäten sind diejenigen, die von den <strong>an</strong>gegriffenen Autoritäten<br />

abhängig sind. Jedenfalls wurde diese höfliche Dist<strong>an</strong>zierung schon<br />

als schwerer Angriff auf die Institution empfunden. Mit <strong>der</strong>lei Kleinigkeiten<br />

- z.B. eine Angeklagte erneut auf die Unschuldsvermutung<br />

hinzuweisen, nachdem ihr <strong>der</strong> Richter gesagt hatte, dass sie schon ein<br />

bisschen was tun müsse, um ihre Unschuld zu beweisen - gingen drei<br />

Verh<strong>an</strong>dlungen über die Bühne.<br />

Im letzten Verfahren kam d<strong>an</strong>n das Thema Haft ins Spiel. Der<br />

Angeklagte saß bereits wegen einer <strong>an</strong><strong>der</strong>en Sache im Knast, wurde<br />

also "vorgeführt" (polizeilich zur Verh<strong>an</strong>dlung gebracht) und "verschubt"<br />

(aus einem auswärtigen Knast <strong>an</strong> den Gerichtsort beför<strong>der</strong>t,<br />

im Sammelpaket mit <strong>an</strong><strong>der</strong>en Gef<strong>an</strong>genen und nicht über den direkten<br />

Weg - aus Gründen <strong>der</strong> Wirtschaftlichkeit werden <strong>der</strong> Reihe nach<br />

Knäste abgeklappert und jeweils eingesammelt, wer irgendwie in die<br />

eingeschlagene Richtung geschickt werden soll). Wegen seines Geständnisses<br />

und <strong>der</strong> Vorstrafen war klar, dass eine weitere Haftstrafe<br />

herauskommen würde. Ich halte Gefängnisstrafen für eine inhum<strong>an</strong>e<br />

und kontraproduktive Angelegenheit, und so sah ich mich nicht<br />

in <strong>der</strong> Lage, stumm <strong>an</strong> so einem Urteil mitzuwirken. Eine solche passive<br />

Haltung hätte ich mir bestimmt beibringen können. Aber ich<br />

glaube, dass es verkehrt ist, sich das Gewissen abzuerziehen, dass<br />

sowas eineN selbst kaputt macht und politische Arbeit l<strong>an</strong>gfristig<br />

lahmlegt.<br />

§ 46 Abs. 1 S. 2 StGB<br />

Also was tun? Meiner Ausbil<strong>der</strong>in vorab meinen prinzipiellen Unwillen<br />

mitteilen? Ich konnte nicht einschätzen, wie sie reagieren würde<br />

- mich von <strong>der</strong> Sitzungsvertretung entbinden? Das wäre nicht<br />

schlecht. O<strong>der</strong> mir eine dienstliche Weisung geben, wie ich mich in<br />

REFERENDARIAT BEIM STAATSANWALT<br />

<strong>der</strong> Verh<strong>an</strong>dlung zu verhalten und worauf ich zu plädieren habe, wogegen<br />

ich d<strong>an</strong>n verstoßen müsste? Aufgrund dieser Unwägbarkeit<br />

entschied ich mich für die Vari<strong>an</strong>te, es durchzuziehen, und machte<br />

mir über mein Vorgehen Ged<strong>an</strong>ken. Auf <strong>der</strong> Suche nach Anknüpfungspunkten<br />

war ich auf § 46 Abs. 1 S. 2 Strafgesetzbuch (StGB)<br />

gestoßen: bei <strong>der</strong> Strafzumessung sind auch die Folgen <strong>der</strong> Strafe für<br />

den Täter zu berücksichtigen. So habe ich während <strong>der</strong> Beweisaufnahme<br />

den Angeklagten zu den Haft- und Tr<strong>an</strong>sportbedingungen befragt.<br />

Und dabei herausgefunden, dass sein Job darin besteht, Wasseruhren<br />

zusammenzubauen, dass es keine für ihn sinnvollen sozialarbeiterischen<br />

Angebote gibt, dass die "Verschubung" eine Woche gedauert<br />

hat usw. Währenddessen zeigte sein Verteidiger eine<br />

grüblerische Miene, das "Was will die Frau?" st<strong>an</strong>d ihm ins Gesicht<br />

geschrieben. Der Richter hielt meine Fragen für unnötig: "Wir wissen<br />

doch alle, wie es im Strafvollzug aussieht." Der Protokollführer<br />

war schwer genervt: "Wollen Sie auch noch fragen, was es zum Mittagessen<br />

gibt?" In meinem Schlussvortrag habe ich d<strong>an</strong>n "nur" auf<br />

eine Geldstrafe plädiert und dies unter Verweis auf oben gen<strong>an</strong>nten<br />

§46 StGB damit begründet, dass ich g<strong>an</strong>z prinzipiell Freiheitsstrafen<br />

für unzulässig und sinnlos halte. Dazu ein paar kurze Zitate aus<br />

einem Kriminologie-Lehrbuch - Haftstrafen als "sozialer Tod", aus<br />

individualpräventiver Sicht "bestenfalls neutral, schlechtestenfalls<br />

kontraproduktiv" 1 . Der Protokollführer konnte ein kurzes, leicht hysterisches<br />

Lachen nicht unterdrücken. Der Richter verzog keine<br />

Miene. Und <strong>der</strong> Verteidiger wusste endlich, worum es mir ging. Er<br />

beg<strong>an</strong>n sein Plädoyer mit "Ja, es ist für die Verteidigung schwierig,<br />

wenn sie von <strong>der</strong> Staats<strong>an</strong>waltschaft links überholt wird", knüpfte<br />

kurz am Grundsätzlichen <strong>an</strong> und schwenkte d<strong>an</strong>n natürlich zu einem<br />

normal-pragmatischen Plädoyer auf eine niedrige Freiheitsstrafe. Das<br />

Urteil war vergleichsweise niedrig. Dass ich darauf keinen Einfluss<br />

haben würde, war mir vorher klar, darum ging es mir auch nicht.<br />

Damit war <strong>der</strong> Verh<strong>an</strong>dlungsteil erledigt - und ich total froh, alles<br />

überst<strong>an</strong>den zu haben. Der Richter teilte mir noch mit, dass er meine<br />

Ausbil<strong>der</strong>in bitten werde, mir keine weiteren Sitzungsvertretungen<br />

zuteilen zu lassen.<br />

"Denken Sie, dass das <strong>der</strong> richtige Ort dafür ist?"<br />

Was noch folgte, waren ein paar <strong>an</strong>strengende, aber gleichzeitig erhellende<br />

Disziplinierungsgespräche. Meine Staats<strong>an</strong>wältin reagierte<br />

einigermaßen konsterniert. Nachdem ich ihr knapp meine Gründe<br />

geschil<strong>der</strong>t hatte, fragte sie, "Denken Sie, dass das <strong>der</strong> richtige Ort<br />

dafür ist?" Naja, irgendwie gerade schon, o<strong>der</strong>? Meine Argumentation<br />

- Gewissensfrage etc. -, hat sie zumindest ernstgenommen und war<br />

etwas vor den Kopf gestoßen. D<strong>an</strong>n kamen noch ein paar dienstliche<br />

Drohgebärden von wegen Strafvereitelung und möglichen, hier aber<br />

noch nicht <strong>an</strong>gezeigten Disziplinarmaßnahmen. Diese Hinweise<br />

haben mich d<strong>an</strong>n doch etwas eingeschüchtert - weil ich dachte, eher<br />

ängstlich gewesen zu sein und mich recht vorsichtig verhalten zu<br />

haben. Außerdem stellte sie mir noch einige Testfragen, quasi als Gewissensprüfung.<br />

Eine davon hat mich sprachlos gemacht: "Was hätten<br />

Sie denn get<strong>an</strong>, wenn es um ein Delikt geg<strong>an</strong>gen wäre, für das das<br />

Gesetz als Mindeststrafe schon Freiheitsstrafe vorsieht?" Kurzes Überlegen<br />

meinerseits, mit dem Ergebnis, nicht freimütig "Das wäre mir<br />

egal gewesen" zu <strong>an</strong>tworten, son<strong>der</strong>n dies juristisch zu formulieren:<br />

"D<strong>an</strong>n hätte ich übergesetzlich argumentiert." Letztendlich hat sie<br />

1 Albrecht, Peter-Alexis, Kriminologie. Ein Studienbuch, 3. Aufl., München 2005.<br />

FORUM RECHT 02/08<br />

67<br />

FORUM


grenzen|los|werden 9<br />

mir in meinem Stationszeugnis 3 Punkte gegeben ("ungenügendes<br />

Leistungsbild in einem als unerlässlich <strong>an</strong>zusehenden Bereich <strong>der</strong><br />

staats<strong>an</strong>waltschaftlichen Ausbildungsstation, nämlich <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />

des Sitzungsdienstes"), aber darin auch den Hintergrund fair<br />

geschil<strong>der</strong>t.<br />

FORUM 68 OMA WETTERWACHS<br />

"Sie haben <strong>der</strong> Institution geschadet."<br />

Auch die Abteilungsleiterin wollte noch mit mir sprechen und beg<strong>an</strong>n<br />

dies wie<strong>der</strong>um mit ein paar Konsequenz-testenden "Was würden<br />

Sie tun, wenn...?"-Fragen. Das ist eine clevere Strategie, um Kritik<br />

auszuschalten, indem gezeigt wird, dass mensch ja auch ein bisschen<br />

mit im Boot sitzt und den eigenen Ansprüchen nicht gerecht<br />

wird. Als ob ichdas nicht wüsste! Keine Frage, hun<strong>der</strong>tprozentig korrekt<br />

und system-un<strong>an</strong>gepasst ist es nicht, überhaupt das Referendariat<br />

zu machen und dabei notgedrungen für die Staats<strong>an</strong>waltschaft zu<br />

arbeiten. Aber ich habe da weniger Mist gebaut als <strong>an</strong><strong>der</strong>e, und werde<br />

diesen Job später bestimmt nicht machen. Dieser Unterschied im<br />

Ausmaß des verkehrten Verhaltens rechtfertigt es meiner Meinung<br />

nach auch, offen Kritik zu üben.<br />

Noch sp<strong>an</strong>nen<strong>der</strong> als meine eigenen Ged<strong>an</strong>ken-Querelen waren<br />

aber diejenigen <strong>der</strong> Abteilungsleiterin selbst. Sie erklärte mir nämlich<br />

die Welt <strong>der</strong> Rechtspflege von ihrer moralischen Perspektive aus: Es<br />

sei egoistisch von mir gewesen, meine eigenen Ansichten über den<br />

staatlichen Straf<strong>an</strong>spruch zu stellen. Im Referendariat gelten ja für<br />

mich auch die beamtenrechtlichen Treuepflichten, und da müsse ich<br />

<strong>der</strong> Institution gegenüber loyal sein. Diesen Gesichtspunkt finde ich<br />

nicht uninteress<strong>an</strong>t. Aber ob die Befriedigung, die ich aus meinem<br />

Pseudo-Rebellentum ziehe, wirklich größer ist als die, die sie in ihrem<br />

Job bekommt? Wenn sie sich so ergeben <strong>der</strong> Institution Staats<strong>an</strong>waltschaft<br />

unterordnet und ihre eigene Meinung opfert, d<strong>an</strong>n empfindet<br />

sie ja wohl auch ein bisschen Genugtuung bei dieser Entsagung,<br />

sonst würde sie das kaum so betonen. Abgesehen von <strong>der</strong> Verbeamtung<br />

und dem recht <strong>an</strong>genehmen Einkommen. Naja, <strong>an</strong>sonsten bestätigte<br />

sie mir nochmal eine gewisse Wirkung meiner Aktion. "Sie<br />

haben <strong>der</strong> Institution geschadet. Wissen Sie das?" Außerdem schil<strong>der</strong>te<br />

sie mir, wie m<strong>an</strong> denn richtig <strong>an</strong> Jura, die Rechtsprechung und die<br />

Anzeige<br />

FORUM RECHT 02/08<br />

Staats<strong>an</strong>waltschaft her<strong>an</strong>gehen müsse. Nämlich immer mit dem<br />

Blick auf's große G<strong>an</strong>ze - und wenn's auch <strong>der</strong> staatliche Straf<strong>an</strong>spruch<br />

ist -, und nicht fixiert auf das menschlich-individuelle Detail.<br />

O-Ton: "Natürlich gibt es Haftbedingungen, die menschenunwürdig<br />

sind. Zum Beispiel wenn mehrere Personen auf wenigen Quadratmetern<br />

untergebracht sind, und die Toilette ist nur mit einem Vorh<strong>an</strong>g<br />

abgetrennt." "Das muss m<strong>an</strong> sich immer bewusst machen, dass<br />

es Urteile gibt, die einen Menschen physisch wie psychisch vernichten<br />

können. Nicht nur im Strafrecht. Auch im Zivilrecht k<strong>an</strong>n es Urteile<br />

geben, bei denen sich hinterher einer den Strick nimmt." Aber<br />

das müsse m<strong>an</strong> aushalten können, das erfor<strong>der</strong>e die neutrale Gesetzes<strong>an</strong>wendung<br />

so. Wie ungesund ist es wohl, sich das immer einzureden?<br />

Zu guter Letzt kam noch ein recht nettes Gespräch mit dem Leiter<br />

<strong>der</strong> Referendarsabteilung, <strong>der</strong> nicht die Notwendigkeit sah, einen<br />

rügenden Vermerk in meine Personalakte aufzunehmen.<br />

Was bringt das?<br />

Die Frage nach dem Resultat muss natürlich auch gestellt werden.<br />

Was hat das G<strong>an</strong>ze denn gebracht? Mir selbst die <strong>an</strong>genehme Erfahrung,<br />

nicht komplett klein beigeben zu müssen. Und bei den Institutionen<br />

<strong>der</strong> Strafverfolgung? Protest zu evaluieren ist ja immer so<br />

eine Sache. Bei mindestens drei Personen das Selbstverständnis mal<br />

kurz <strong>an</strong>gekratzt zu haben, aber viel mehr halt auch nicht. Trotzdem<br />

glaube ich aus unerfindlichen Gründen <strong>an</strong> die verän<strong>der</strong>nde Macht<br />

von Ged<strong>an</strong>ken, und eine verstehbare Irritation des Getriebes halte ich<br />

für eine praktische Wirkung.<br />

Was mich erstaunt hatte, war Folgendes: Alle Vorgesetzten konnten<br />

meine prinzipiellen Bedenken verstehen und wussten, dass es im<br />

Knast beschissene Zustände gibt. Aber in einer Verh<strong>an</strong>dlung - in <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit, vor den Angeklagten - dürfe das von <strong>der</strong> Staats<strong>an</strong>waltschaft<br />

nicht gesagt werden. Und so funktionieren sie brav vor sich hin.<br />

Gerade deswegen finde ich den persönlichen Lernfaktor nicht unwichtig:<br />

Wenn mensch schon zum gehorsamen Mitspielen erzogen<br />

werden soll und sich dem zu einem gewissen Grad wohl auch unterwerfen<br />

muss, d<strong>an</strong>n sollten dabei zumindest die Grenzen des Mach


10 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

baren ausgetestet, offene Irritationen produziert und die abweichende<br />

Meinungen ausgedrückt werden - auch um <strong>der</strong> eigenen emotionalen<br />

Gesundheit willen.<br />

Natürlich gibt es noch tausend <strong>an</strong><strong>der</strong>e Möglichkeiten, kritisch<br />

mit dieser Station umzugehen. Als stressarme Vari<strong>an</strong>te in Bezug auf<br />

die Sitzungsvertretung k<strong>an</strong>n mensch zumindest in meinem Bundesl<strong>an</strong>d<br />

vermutlich einfach zu Beginn eindeutig mitteilen, keine Sitzungsvertretungen<br />

übernehmen zu wollen. Zumindest wurde mir das<br />

von meinen Vorgesetzten als die Vari<strong>an</strong>te präsentiert, die ich korrekterweise<br />

hätte wählen sollen. Wobei ich nicht weiß, ob ich ernstgenommen<br />

worden wäre, wenn ich nicht in <strong>der</strong> Sitzung quasi bewiesen<br />

hätte, dass es mir ernst ist. Ob es d<strong>an</strong>n unbedingt ein schlechtes Zeugnis<br />

geben muss, weiß ich nicht, eigentlich soll die Sitzungsvertretung<br />

nicht benotet werden. Mir war das egal, ich bin g<strong>an</strong>z zufrieden mit<br />

<strong>der</strong> Note.<br />

O<strong>der</strong> mensch k<strong>an</strong>n versuchen, niedrige Strafen zu bewirken und<br />

Verfahrenseinstellungen zu erleichtern. Mein persönlicher Eindruck<br />

ist jedoch, dass ReferendarInnen einerseits nur einen sehr kleinen<br />

Spielraum haben und jede Kleinigkeit mit <strong>der</strong> Ausbil<strong>der</strong>in abstimmen<br />

müssen, und dass sie <strong>an</strong><strong>der</strong>erseits von RichterInnen ohnehin<br />

nicht ernstgenommen werden. Was bleibt, ist jedenfalls die wertvolle<br />

Gelegenheit, eigenständig Befragungen zu üben.<br />

Kritik auf St<strong>an</strong>d-by<br />

Und es gibt es natürlich die Möglichkeit, sich eine erträgliche Abteilung<br />

auszusuchen. Beliebt ist Jugendstrafrecht, da dort <strong>der</strong> Ged<strong>an</strong>ke<br />

<strong>der</strong> "Erziehung" auftaucht. Ob davon irgendwas bei den Betroffenen<br />

<strong>an</strong>kommt, ist eine <strong>an</strong><strong>der</strong>e Frage. <strong>JuristInnen</strong> sind halt nicht pädagogisch<br />

ausgebildet und überschätzen oft die positive Wirkung ihrer<br />

Strafpredigten. Was ich selbst wichtig f<strong>an</strong>d, war, mir eine menschlich<br />

<strong>an</strong>genehme Ausbil<strong>der</strong>in empfehlen zu lassen. Das hat für mich die<br />

ohnehin <strong>an</strong>strengende Situation bedeutend erleichtert. An Einzelpunkten<br />

immer wie<strong>der</strong> einhaken, kritisieren, auf menschlich un<strong>an</strong>gemessene<br />

Aspekte hinweisen und irritierende Elemente einstreuen -<br />

das geht perm<strong>an</strong>ent und erfor<strong>der</strong>t bereits viel Energie. Zum Beispiel<br />

hatte ich bei einem Verfahren zugeschaut, in dem es um einen Altmetalldiebstahl<br />

ging. Ein Angeklagter war ein Ex-Junkie auf Methadon,<br />

l<strong>an</strong>gzeitarbeitslos, zwei Kin<strong>der</strong>, eine Latte von Vorstrafen, aber<br />

alle mehrere Jahre her. Erwirkte eingeschüchtert, und es schien ihm<br />

wichtig zu sein, nicht wie<strong>der</strong> in die Kategorie des unverbesserlichen<br />

Kriminellen einsortiert zu werden. Mit allem, was er sagte, bettelte er<br />

geradezu darum, ein g<strong>an</strong>z kleines bisschen Anerkennung zu bekommen<br />

- dafür, dass er seit sieben Jahren keinen strafrechtlich relev<strong>an</strong>ten<br />

Mist mehr gebaut hat, sich von seiner früheren G<strong>an</strong>g entfernt hat<br />

etc. Die Richterin zeigte sich davon unbeeindruckt und fragte ihn,<br />

warum er denn denke, dass seine kriminelle Karriere ab heute beendet<br />

sei. Diese Bemerkung hatte den Angeklagten ersichtlich verletzt.<br />

Zurück in die Schublade, und fertig. Nach <strong>der</strong> Urteilsbegründung<br />

ging die Richterin über zu gut gemeinten Ratschlägen: Er solle sich<br />

endlich eine Arbeit suchen, wo jetzt doch die Konjunktur brummt,<br />

sonst sei er ein schlechtes Vorbild für seine Kin<strong>der</strong>. Irgendw<strong>an</strong>n riss<br />

ich das Wort <strong>an</strong> mich und sagte, dass ich es toll fände, dass er schon<br />

so l<strong>an</strong>ge cle<strong>an</strong> ist undnicht mehr die harten Straftaten von früher begeht,<br />

und dass das meiner Meinung nach Anerkennung verdient. Ist<br />

ja egal, wenn vielleicht nur die Hälfte dieser Story stimmt, auf alle<br />

Fälle brauchte er einfach ein bisschen positives Feedback. Und wirkte<br />

ernsthaft d<strong>an</strong>kbar dafür. Die Reaktion <strong>der</strong> Richterin war umgekehrt<br />

- ich bin selten so böse <strong>an</strong>geguckt worden wie von ihr.<br />

REFERENDARIAT BEIM STAATSANWALT<br />

Ein paar generelle Überlegungen<br />

So g<strong>an</strong>z generell gibt es also verschiedene Wege, sich zu verhalten -<br />

zwischen den Polen "positive Einflussnahme" und "Fundamentalopposition".<br />

Dabei ist es total hilfreich, sich die eigene Verhaltensweise<br />

vorher gut zu überlegen. Denn in <strong>der</strong> hierarchischen und unfreundlichen<br />

Atmosphäre <strong>der</strong> Staats<strong>an</strong>waltschaft, noch dazu auf sich allein<br />

gestellt, ist es gar nicht so einfach, den Mund aufzumachen. Bei <strong>der</strong><br />

Entscheidung zum Thema Sitzungsdienst finde ich einen Gesichtspunkt<br />

nicht irrelev<strong>an</strong>t: Die Staats<strong>an</strong>waltschaft ist beim Thema Sitzungsvertretung<br />

auf ReferendarInnen <strong>an</strong>gewiesen, zumindest in meinem<br />

Bundesl<strong>an</strong>d werden sie auch in die Stellenpl<strong>an</strong>ung einbezogen.<br />

An<strong>der</strong>s ausgedrückt: Die Staats<strong>an</strong>waltschaft bekommt so eine billige<br />

und tendenziell unkritische, für ein Funktionieren des Apparats aber<br />

notwendige Unterstützung.<br />

Abgewogen werden müssen natürlich auch die entsprechenden<br />

Risiken - überschätzt werden sollten sie aber nicht! Im Stationszeugnis<br />

und in <strong>der</strong> Stationsnote k<strong>an</strong>n sich das eigene Verhalten wi<strong>der</strong>spiegeln,<br />

aber beides zählt nicht für das Examen und ist auch bei späteren<br />

Bewerbungen außerhalb des öffentlichen Dienstes kaum relev<strong>an</strong>t.<br />

Und selbst dahingehend meinte z.B. <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Referendarsabteilung,<br />

er hoffe, dass ich kein zu schlechtes Bild von Richtern habe. Ich<br />

solle mir das doch nochmal als Beruf überlegen, wenn auch nicht unbedingt<br />

im Strafrecht. Er war selbst früher Richter und hielt mich offensichtlich<br />

noch für tauglich. In strafrechtlicher Hinsicht ist jedoch<br />

zu beachten, dass eigenmächtige, also nicht mit dem Ausbil<strong>der</strong> abgesprochene<br />

Verfahrenseinstellungen als Strafvereitelung verfolgt werden<br />

könnten, Erklärungen des Rechtsmittelverzichts ebenfalls. Abgesehen<br />

von diesem Risiko ist die Ch<strong>an</strong>ce, dass so etwas klappen und<br />

<strong>der</strong> Richterin nicht auffallen würde, eher gering.<br />

Flöhe<br />

Einige LeserInnen werden vielleicht das von Prof. Redslob stammende<br />

Gleichnis kennen, in welchem die Jura-Ausbildung mit <strong>der</strong> Dressur<br />

von Flöhen verglichen wird. Bei beiden Prozessen ginge es darum,<br />

die Lernenden auf immer niedrigere Sprünge zu trainieren. "Wenn<br />

sie d<strong>an</strong>n gelernt haben, sich nur noch kriechend fortzubewegen, ist<br />

ihre Ausbildung für den Flohzirkus abgeschlossen. Bezogen auf die<br />

Juristen ist dies etwa <strong>der</strong> Zeitpunkt des Assessorexamens." 2 Ein<br />

Freund, dem ich von meinen Problemchen mit <strong>der</strong> Station berichtet<br />

hatte, meinte dazu, er fände es viel gefährlicher, wenn Leute sich einbilden,<br />

zu springen, obwohl sie tatsächlich nur kriechen. Da ist viel<br />

Wahres dr<strong>an</strong>. Auch die unmittelbare Erfahrung <strong>der</strong> eigenen Ohnmacht<br />

ist für das Verständnis von den Machtverhältnissen, in denen<br />

wir leben und <strong>an</strong> denen wir etwas än<strong>der</strong>n wollen, sehr nützlich, vielleicht<br />

sogar notwendig. Aber trotzdem halte ich es für wichtig und<br />

praktisch wirksam, sich nicht abzufinden und darauf auch <strong>an</strong><strong>der</strong>e zu<br />

stoßen.<br />

Oma Wetterwachs ist immer noch im Referendariat und <strong>an</strong>sonsten<br />

in einer kritischen Juragruppe aktiv.<br />

WEITERE INFORMATIONEN:<br />

Wer Interesse <strong>an</strong> einer ausführlicheren Schil<strong>der</strong>ung hat, findet auf<br />

www.son<strong>der</strong>votum.de unter dem Label "Gelebte Mis<strong>an</strong>thropie" ihre Blogberichte<br />

über die Staats<strong>an</strong>waltschaftsstation.<br />

2 Weitererzählt von Klaus Eschen und nachzulesen im Kursbuch 40, 1975, 104.<br />

FORUM RECHT 02/08<br />

69<br />

FORUM


grenzen|los|werden 11<br />

Demo- und Prozeßbeobachtung<br />

Kritische Jurist_innen <strong>FU</strong> / Initiative in Gedenken <strong>an</strong> Oury Jalloh<br />

Jenseits von inhaltlichen Ver<strong>an</strong>staltung und Positionierungen<br />

ist das Tätigkeitsfeld von Jura-Studierenden<br />

eher knapp. Rechtsberatung ist ohne Abschluss<br />

ist illegal. Zwei Möglichkeiten dennoch praktisch zu<br />

arbeiten sind Prozess- und Demobeobachtung. Jenseits<br />

<strong>der</strong> Protokollierung <strong>der</strong> Geschehnisse und auch<br />

da fängt die Diskussion um die politische Tragweite<br />

des eigenen H<strong>an</strong>delns <strong>an</strong>.<br />

Neben theoretischen Fragen sollen auch die Voraussetzungen<br />

und Praxis von Prozess- und Demobeobachtung<br />

gemeinsam erörtert werden.


12 BAKJ-Herbstkongress 2011


grenzen|los|werden 13


14 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

Jenseits von Staat, Nation und Menschenrechten. Wie FRONTEX & Co radikal kritisieren?<br />

Fabi<strong>an</strong> Georgi<br />

Häufig beschränkt sich Kritik <strong>an</strong> FRONTEX& Co<br />

auf eine Rhetorik <strong>der</strong> Menschenrechte und zielt auf<br />

ihre parlamentarisch-völkerrechtliche Einhegung.<br />

Die Grundlagen <strong>der</strong> Agentur werden nicht in Frage<br />

gestellt; Grenzen und Migrationskontrollen werden<br />

Die Öffnung <strong>der</strong> europäischen Binnengrenzen<br />

geht einher mit einer immer massiveren Abschottung<br />

<strong>der</strong> EU nach außen. Im Inneren wurden die<br />

realen Grenzen abgelöst durch ein Zusammenspiel<br />

einer Vielzahl von Instrumenten, die allein<br />

das Ziel haben, unerwünschte Menschen aus <strong>der</strong><br />

EU fern zu halten o<strong>der</strong> sie in ihrer Bewegungsfreiheit<br />

einzuschränken. Dies gilt insbeson<strong>der</strong>e<br />

Regierung und Parlament besorgen die politische<br />

Kontrolle. Staats<strong>an</strong>waltschaft und Gerichte wachen<br />

über die Rechtmäßigkeit im Einzelfall. Die Datenschutzbeauftragten<br />

halten die polizeilichen Informationssammlungen<br />

im Zaum. Und vielleicht<br />

werden <strong>der</strong>einst unabhängige Beschwerdestellen<br />

o<strong>der</strong> Polizeibeauftragte das Spektrum <strong>der</strong> Kontrollinst<strong>an</strong>zen<br />

ergänzen. Was aber taugt eine politische<br />

Führung, die die Polizei als bewaffneten Arm für<br />

die Durchsetzung ihrer politischen Ziele benutzt?<br />

Bürgerrechte & Polizei/CILIP 95 (1/2010)<br />

Polizisten vor Gericht<br />

Strafverfahren wegen Körperverletzung im<br />

Amt<br />

von Tobias Singelnstein<br />

Strafverfahren gegen Polizisten wegen Körperverletzung<br />

im Amt (§ 340 Strafgesetzbuch) genießen einen zweifelhaften<br />

Ruf. Sie dauern in <strong>der</strong> Regel nicht beson<strong>der</strong>s l<strong>an</strong>ge<br />

und enden fast nie mit einer Verurteilung. Die Gründe<br />

hierfür sind vielfältig.<br />

prinzipiell affirmiert. Im Workshop wird eine NoBor<strong>der</strong>-Kritik<br />

<strong>an</strong> FRONTEX vorgestellt und gefragt,<br />

welche Rolle kritische Wissenschaft und Recht hier<br />

spielen können.<br />

Zur Vorbereitung ist keine Textlektüre nötig.<br />

Grenzen auf für Daten – Grenzen zu für Menschen<br />

Das Schengener Informationssystem und <strong>an</strong><strong>der</strong>e Möglichkeiten, Bewegungsfreiheit zu beschränken<br />

Angela Furm<strong>an</strong>iak<br />

Wer kontrolliert die Polizei?<br />

Heiner Busch<br />

für Migr<strong>an</strong>tinnen und Migr<strong>an</strong>ten aus Nicht-EU-<br />

Staaten aber auch für sogen<strong>an</strong>nte Troublemaker.<br />

Unter <strong>an</strong><strong>der</strong>em am Beispiel des Schengener Informationssystems<br />

werden wir uns im Workshop mit<br />

den Funktionsweisen dieser Abschottungspolitik<br />

befassen.<br />

Zur Vorbereitung ist keine Textlektüre nötig.<br />

Was ein Parlament, das die Befugnisse <strong>der</strong> Polizei<br />

ständig erweitert? Wie viel Biss hat eine Staats<strong>an</strong>waltschaft,<br />

die im Alltag auf die Zusammenarbeit<br />

mit PolizistInnen <strong>an</strong>gewiesen ist?<br />

Wer über die demokratische Kontrolle <strong>der</strong> Polizei<br />

reden will, muss über den Willen und die Fähigkeit<br />

von Kontrollinst<strong>an</strong>zen, aber auch über die Kontrollierbarkeit<br />

des Apparats reden.<br />

Im Jahr 2008 wurden ausweislich <strong>der</strong> Polizeilichen<br />

Kriminalstatistik (PKS) in Deutschl<strong>an</strong>d 2.314 strafrechtliche<br />

Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung<br />

im Amt eingeleitet (2004: 2.113; 2000: 2.141).[1] M<strong>an</strong><br />

k<strong>an</strong>n davon ausgehen, dass sich die g<strong>an</strong>z überwiegende<br />

Mehrzahl dieser Verfahren gegen Polizisten gerichtet<br />

hat.[2] Hingegen wurden im gleichen Zeitraum nur 94<br />

Verfahren wegen des gleichen Delikts vor einem Strafgericht<br />

verh<strong>an</strong>delt.[3] Zwar lassen sich beide Zahlen<br />

nicht unmittelbar zuein<strong>an</strong><strong>der</strong> ins Verhältnis setzen, da<br />

eingeleitete Strafverfahren nicht unbedingt im gleichen<br />

Jahr noch bis zum Gericht gel<strong>an</strong>gen. Aber die Differenz<br />

zwischen beiden macht deutlich, dass <strong>der</strong> Großteil<br />

<strong>der</strong> Verfahren auf dem Weg von <strong>der</strong> Anzeigeerstattung<br />

zum Gericht verloren geht – weil sie von den Staats<strong>an</strong>-


grenzen|los|werden 15<br />

waltschaften m<strong>an</strong>gels hinreichenden Tatverdachts nach<br />

§ 170 Abs. 2 Strafprozessordnung eingestellt werden.[4]<br />

Von den Verfahren, bei denen die Staats<strong>an</strong>waltschaft Anklage<br />

erhebt und die so bis zum Gericht gel<strong>an</strong>gen, enden<br />

wie<strong>der</strong>um vergleichsweise wenige mit einer Verurteilung.<br />

Von den im Jahr 2008 abgeschlossenen 94 strafgerichtlichen<br />

Verfahren waren dies 32.[5] Für 2008 stehen somit<br />

2.314 Anzeigen wegen Körperverletzung im Amt 32<br />

Verurteilungen wegen dieses Delikts gegenüber.<br />

Der wesentliche Grund für diese massive Diskrep<strong>an</strong>z ist,<br />

wie gezeigt, in <strong>der</strong> überaus hohen Einstellungsquote <strong>der</strong><br />

Staats<strong>an</strong>waltschaften zu sehen. Auch wenn m<strong>an</strong> sich die<br />

diesbezüglichen Zahlen über mehrere Jahre hinweg <strong>an</strong>schaut<br />

o<strong>der</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>e zur Verfügung stehende Quellen her<strong>an</strong>zieht,<br />

so bleibt das Ergebnis doch das gleiche: Etwa 95<br />

Prozent <strong>der</strong> eingeleiteten Strafverfahren wegen Körperverletzung<br />

im Amt werden von den Staats<strong>an</strong>waltschaften<br />

eingestellt.[6] Damit liegt dieser Wert g<strong>an</strong>z erheblich<br />

über dem Durchschnitt aller Strafverfahren. Für Hamburg<br />

beispielsweise liegen bezüglich Ermittlungsverfahren<br />

gegen Polizeibeamte wegen Körperverletzung im<br />

Amt folgende Zahlen vor: 2007 wurden Verfahren gegen<br />

366 Tatverdächtige registriert (2005: 459; 2003: 543),<br />

wobei es in keinem Fall zu einer Anklage kam (2005: 4;<br />

2003: 7), während gegen 334 Beschuldigte (2005: 445;<br />

2003: 491) das Verfahren nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung<br />

eingestellt wurde.[7]<br />

Allerdings wäre es zu kurz geschlossen, die Gründe für<br />

diese Entscheidungspraxis alleine in <strong>der</strong> institutionellen<br />

Nähe von Polizei und Staats<strong>an</strong>waltschaft zu suchen.<br />

Vielmehr weisen Strafverfahren wegen Körperverletzung<br />

im Amt diverse Beson<strong>der</strong>heiten auf, die die sehr<br />

hohe Einstellungsquote erklären könnten.<br />

Schwierige Beweislage & schlechte Ermittlungen<br />

Die Staats<strong>an</strong>waltschaft k<strong>an</strong>n gemäß § 170 Abs. 1 Strafprozessordnung<br />

nur Anklage erheben, wenn die Ermittlungen<br />

hierfür genügend Anlass bieten. Erfor<strong>der</strong>lich ist<br />

ein hinreichen<strong>der</strong> Tatverdacht, d.h. eine überwiegende<br />

Wahrscheinlichkeit, dass eine Anklage auch zu einer<br />

Verurteilung führen wird. Hierfür benötigt die Staats<strong>an</strong>waltschaft<br />

einerseits einen Tatverdächtigen, <strong>der</strong> also<br />

bek<strong>an</strong>nt sein muss. Zum <strong>an</strong><strong>der</strong>en sind ausreichende<br />

Beweise erfor<strong>der</strong>lich, <strong>an</strong>h<strong>an</strong>d <strong>der</strong>er sich das Gericht die<br />

notwendige Überzeugung von <strong>der</strong> Täterschaft des beschuldigten<br />

Amtsträgers verschaffen können soll.<br />

In etwa 30 Prozent <strong>der</strong> Fälle scheitert eine Anklage bereits<br />

<strong>an</strong> dem ersten Erfor<strong>der</strong>nis. Die Aufklärungsquote,<br />

d.h. <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Verfahren, in denen ein Tatverdächtiger<br />

ermittelt werden konnte, liegt bei Verfahren wegen<br />

Körperverletzung im Amt stets um die 70 Prozent. Im<br />

Jahr 2008 betrug sie 70,6 Prozent.[8] Probleme bei <strong>der</strong><br />

Identifizierung <strong>der</strong> Beschuldigten entstehen insbeson-<br />

<strong>der</strong>e, wenn die Opfer bzw. Anzeigeerstatter keine o<strong>der</strong><br />

nur wenige Anhaltspunkte für die Identität <strong>der</strong> h<strong>an</strong>delnden<br />

Polizisten haben. St<strong>an</strong>den die Betroffenen mehreren<br />

Beamten gegenüber, ergibt sich zudem das Problem,<br />

dass die H<strong>an</strong>dlungen konkreten Personen zugeordnet<br />

werden müssen. Bei Demonstrationen aber auch bei<br />

sonstigen Einsätzen von Bereitschaftspolizei-Einheiten<br />

sind die H<strong>an</strong>delnden aufgrund <strong>der</strong> Schutzkleidung und<br />

m<strong>an</strong>gels Kennzeichnung aber im Nachhinein auch bei<br />

Gegenüberstellungen kaum zu identifizieren.[9]<br />

Insbeson<strong>der</strong>e bei <strong>der</strong> Identifizierung von Beschuldigten<br />

erweist es sich zudem als Problem, dass die Ermittlungen<br />

in Strafverfahren in <strong>der</strong> Praxis von <strong>der</strong> Polizei selbstständig<br />

durchgeführt werden. Diese k<strong>an</strong>n damit zumindest<br />

faktisch selbst über Umf<strong>an</strong>g und Intensität bei <strong>der</strong> Suche<br />

nach Beweisen bestimmen.[10] Dass hierbei in Verfahren<br />

gegen Kollegen oftmals nicht <strong>der</strong> größte Eifer <strong>an</strong><br />

den Tag gelegt wird, ist <strong>an</strong>gesichts des offensichtlichen<br />

Interessenkonflikts naheliegend. Angaben von Rechts<strong>an</strong>wälten,<br />

die regelmäßig mit <strong>der</strong>artigen Verfahren befasst<br />

sind, bestätigen dies: So finden sich insbeson<strong>der</strong>e bei<br />

Anzeigen gegen Bereitschaftspolizisten auf die Anfragen<br />

<strong>der</strong> Staats<strong>an</strong>waltschaft <strong>an</strong> die Ver<strong>an</strong>twortlichen <strong>der</strong> in<br />

Rede stehenden Einheiten zumeist nur kurze Antworten,<br />

dass <strong>der</strong> o<strong>der</strong> die Täter nicht ermittelt werden konnten.<br />

Selbst wenn eine Identifikation des o<strong>der</strong> <strong>der</strong> h<strong>an</strong>delnden<br />

Beamten möglich ist, liegt bei Verfahren wegen Körperverletzung<br />

im Amt oftmals eine schwierige Beweislage<br />

vor. Da Sachbeweise praktisch nicht erhoben werden,<br />

steht m<strong>an</strong>gels sonstiger Beweismittel in einschlägigen<br />

Verfahren häufig nur Aussage gegen Aussage. Dass sich<br />

Polizisten finden, die gegen ihre eigenen Kollegen aussagen,<br />

kommt so gut wie nie vor. Diese »Mauer des Schweigens«<br />

wird vor allem auf Kamera<strong>der</strong>ie, innerpolizeilichen<br />

Druck, gruppenpsychologische Aspekte und die<br />

durch das Legalitätsprinzip begründete Gefahr <strong>der</strong> eigenen<br />

Strafverfolgung wegen Strafvereitelung im Amt<br />

zurückgeführt.[11]<br />

Häufiger lässt sich hingegen beobachten, dass Polizisten<br />

zugunsten ihrer Kollegen aussagen und <strong>der</strong>en Fehlverhalten<br />

decken.[12] Mitunter findet sich ein solcher<br />

Korpsgeist bis hinauf zu Polizeiführung, Amtsärzten<br />

und Innenverwaltungen.[13] Während <strong>der</strong> beschuldigte<br />

Polizeibeamte also nicht selten mit Kollegen aufwarten<br />

k<strong>an</strong>n, die zu seinen Gunsten aussagen und die zudem <strong>an</strong><br />

die Zeugenrolle gewöhnt und dafür geschult sind, fällt<br />

es den Anzeigenden vor allem bei Fällen im Zusammenh<strong>an</strong>g<br />

mit Demonstrationen schwer, im Nachhinein Zeugen<br />

zu ermitteln.<br />

Das dadurch entstehende qu<strong>an</strong>titative und qualitative<br />

Zeugenverhältnis zwischen beiden Seiten führt immer<br />

wie<strong>der</strong> dazu, dass die Beweise für eine Anklageerhebung<br />

als nicht ausreichend <strong>an</strong>gesehen werden.[14] In dieser<br />

Situation bedarf es für eine Anklage d<strong>an</strong>n schon eines


16 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

beson<strong>der</strong>s engagierten Staats<strong>an</strong>walts, <strong>der</strong> einen erhöhten<br />

Ermittlungsaufw<strong>an</strong>d bei <strong>der</strong> Suche nach Beweisen ebenso<br />

in Kauf nimmt, wie das Risiko, vor Gericht mit seiner<br />

Anklage zu scheitern.<br />

Verständnis & Nähe<br />

Eine weitere Beson<strong>der</strong>heit, die <strong>der</strong>artige Strafverfahren<br />

wegen Körperverletzung im Amt aufweisen, sind die Beschuldigten.<br />

Polizisten stehen zum einen recht selten auf<br />

den Aktendeckeln <strong>der</strong> Staats<strong>an</strong>wälte und sind den Umg<strong>an</strong>g<br />

mit <strong>der</strong> Justiz gewohnt. Zum <strong>an</strong><strong>der</strong>en befinden sich<br />

Staats<strong>an</strong>waltschaften und Polizei in einem erheblichen<br />

Näheverhältnis. Beide Institutionen arbeiten tagtäglich<br />

zusammen <strong>an</strong> den gleichen Themen und sind dabei aufein<strong>an</strong><strong>der</strong><br />

<strong>an</strong>gewiesen. Sie sehen sich gemeinsam dem<br />

gleichen Klientel gegenüberstehend und teilen bestimmte<br />

Probleme, woraus sich eine Interessenparallelität<br />

ergibt.[15]<br />

Auch wenn die Staats<strong>an</strong>waltschaft sich gerne als »objektivste<br />

Behörde <strong>der</strong> Welt« sieht, wäre es menschlich<br />

ebenso wie aus psychologischer und soziologischer Sicht<br />

höchst ungewöhnlich, wenn diese Umstände ohne jeglichen<br />

Einfluss auf das Verfahren blieben. Dieser muss<br />

nicht unbedingt darin bestehen, dass Polizisten im Ermittlungsverfahren<br />

bewusst privilegiert, ihnen Grenzüberschreitungen<br />

also zugest<strong>an</strong>den und nicht verfolgt<br />

werden. Vielfach wird ihnen eher unbewusst sowie aufgrund<br />

informeller behördeninterner Normen ein Bonus<br />

eingeräumt, <strong>der</strong> dazu führt, dass für Polizisten im Gerichtssaal<br />

beson<strong>der</strong>e Spielregeln gelten.[16]<br />

So wird sich ein Staats<strong>an</strong>walt bereits eher in die Situation<br />

eines Polizisten bei seiner Dienstausübung als in<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>e Beschuldigte hineinversetzen und dementsprechend<br />

ein beson<strong>der</strong>es Verständnis aufbringen können.<br />

In diesem Sinne wird von Fällen berichtet, in denen die<br />

Wertschätzung <strong>der</strong> Arbeit <strong>der</strong> Polizisten dazu führt, dass<br />

Fehlverhalten als »über die Stränge schlagen« interpretiert<br />

und gegebenenfalls auch als notwendig o<strong>der</strong> den<br />

Umständen imm<strong>an</strong>ent in Kauf genommen wird – auch<br />

um die »Risikobereitschaft« <strong>der</strong> Beamten und damit die<br />

»Funktionsfähigkeit« <strong>der</strong> Polizei nicht zu gefährden.[17]<br />

Weiterhin gelten Aussagen von Polizisten in <strong>der</strong> Justiz<br />

weithin als beson<strong>der</strong>s glaubwürdig; sie r<strong>an</strong>gieren in <strong>der</strong><br />

Glaubwürdigkeits-Hierarchie <strong>der</strong> Justiz g<strong>an</strong>z oben.[18]<br />

Dies wird allgemein zum einen damit begründet, dass<br />

sie als Berufszeugen eine beson<strong>der</strong>e Schulung und Erfahrung<br />

aufweisen. Zum <strong>an</strong><strong>der</strong>en wird ihnen die Rolle<br />

des Unbeteiligten zugeschrieben, <strong>der</strong> bei seiner Aussage<br />

keine eigenen Interessen verfolge. Zwar ist ersteres durch<br />

wissenschaftliche Forschung in Frage gestellt, <strong>der</strong>zufolge<br />

Polizisten keine bessere Wahrnehmung haben als <strong>an</strong><strong>der</strong>e<br />

Zeugen; und letzteres ist bei Verfahren gegen Polizisten<br />

ersichtlich nicht <strong>der</strong> Fall. Gleichwohl scheint es, dass sich<br />

die Justiz auch hier nicht g<strong>an</strong>z von <strong>der</strong> Vorstellung frei-<br />

machen k<strong>an</strong>n, dass Aussagen von Polizisten – seien sie<br />

nun Beschuldigte o<strong>der</strong> Zeugen – mehr Glauben geschenkt<br />

werden k<strong>an</strong>n, als denen sonstiger Zeugen. Angesichts<br />

dessen werden <strong>an</strong> Beweismittel, die solchen Aussagen<br />

wi<strong>der</strong>sprechen, regelmäßig hohe Anfor<strong>der</strong>ungen gestellt.<br />

[19]<br />

Druck & Effizienz<br />

Will ein Staats<strong>an</strong>walt trotz all dieser Umstände eine<br />

Anklage wegen Körperverletzung im Amt gegen einen<br />

Polizisten erheben, so steht er oftmals unter einem beson<strong>der</strong>en<br />

Druck. Er muss nicht nur damit rechnen, von<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>en Polizisten, auf <strong>der</strong>en Zusammenarbeit er täglich<br />

<strong>an</strong>gewiesen ist, schief <strong>an</strong>gesehen zu werden, o<strong>der</strong> sich<br />

einer Parteinahme <strong>der</strong> Polizeigewerkschaften gegenüberzusehen.<br />

Auch gegenüber Kollegen und Vorgesetzten<br />

besteht <strong>an</strong>gesichts <strong>der</strong> ausgeführten Beson<strong>der</strong>heiten<br />

solcher Verfahren ein beson<strong>der</strong>er Legitimationsdruck,<br />

wenn Polizisten zu Angeklagten werden sollen, die zudem<br />

regelmäßig eine höhere Beschwerdemacht aufweisen,<br />

als <strong>an</strong><strong>der</strong>e Beschuldigte.[20]<br />

Gleichzeitig sind die Erfolgsaussichten einer Anklage<br />

wegen Körperverletzung im Amt, wie die eing<strong>an</strong>gs<br />

gen<strong>an</strong>nten Verurteilungszahlen belegen, eher gering und<br />

liegen weit unter dem Durchschnitt. Bei den Gerichten<br />

gilt ebenso wie bei den Staats<strong>an</strong>waltschaften offenbar<br />

<strong>der</strong> Grundsatz, dass Polizisten in <strong>der</strong> Regel rechtmäßig<br />

h<strong>an</strong>deln, so dass <strong>an</strong> die Beweise für Körperverletzungen<br />

im Amt hohe Anfor<strong>der</strong>ungen gestellt werden – während<br />

die Beweissituation, wie dargestellt, oftmals schwierig ist.<br />

[21] Für den <strong>an</strong>klagenden Staats<strong>an</strong>walt ist eine Nie<strong>der</strong>lage<br />

vor Gericht, die sich zudem karrierehin<strong>der</strong>nd auswirken<br />

k<strong>an</strong>n, daher wahrscheinlicher als eine erfolgreiche<br />

Anklage, die zu einer Verurteilung führt.<br />

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Verfahren gegen<br />

Polizisten wegen Körperverletzung im Amt für den Staats<strong>an</strong>walt<br />

oft einen überdurchschnittlichen Zeitaufw<strong>an</strong>d<br />

mit sich bringen. Insbeson<strong>der</strong>e muss er einen vergleichsweise<br />

hohen Ermittlungsaufw<strong>an</strong>d betreiben, um gegen<br />

einen unter Umständen bestehenden Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>d bei <strong>der</strong><br />

Polizei ein ausreichendes Maß <strong>an</strong> Beweisen zu beschaffen,<br />

das den gerichtlichen Anfor<strong>der</strong>ungen ebenso wie<br />

dem Legitimationsdruck gegenüber den Vorgesetzten<br />

gerecht wird. Dieser beson<strong>der</strong>e Aufw<strong>an</strong>d steht im Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zur Arbeitsbelastung und zu den Effizienzkriterien<br />

bei <strong>der</strong> Staats<strong>an</strong>waltschaft.[22]<br />

Während ein Staats<strong>an</strong>walt in Folge solcher Verfahren<br />

wohl allenfalls mit schiefen Blicken o<strong>der</strong> einer l<strong>an</strong>gsameren<br />

Karriere rechnen muss, können sie für die privaten<br />

Anzeigeerstatter ernsthafte Konsequenzen haben. Diese<br />

müssen bereits als unmittelbare Folge ihrer Anzeige mit<br />

einer so gen<strong>an</strong>nten Gegen<strong>an</strong>zeige rechnen, die von <strong>der</strong><br />

Polizei erstattet wird und in <strong>der</strong> Regel auf Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>d<br />

gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 Strafgesetzbuch)


grenzen|los|werden 17<br />

lautet.[23] Diese Gegenverfahren enden häufig mit einer<br />

Verurteilung.[24] Sofern das Verfahren gegen den<br />

Polizisten nicht mit einer Verurteilung endet, sehen sich<br />

die Anzeigeerstatter zudem <strong>der</strong> Gefahr ausgesetzt, mit<br />

einem Verfahren wegen Falscher Verdächtigung (§ 164<br />

Strafgesetzbuch) überzogen zu werden.[25]<br />

Fazit<br />

Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt enden<br />

außergewöhnlich oft mit einer Einstellung durch die<br />

Staats<strong>an</strong>waltschaft m<strong>an</strong>gels hinreichenden Tatverdachts<br />

nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung. Die möglichen<br />

Gründe hierfür sind vielfältig. Insbeson<strong>der</strong>e weisen <strong>der</strong>artige<br />

Verfahren verschiedene Beson<strong>der</strong>heiten auf, die<br />

die extrem hohe Einstellungsquote erklären können.<br />

Letztere alleine auf unberechtigte Anzeigen zurückzuführen,<br />

wie Polizeigewerkschaften und Teile <strong>der</strong> Politik<br />

dies mitunter tun, ist <strong>an</strong>gesichts dessen verfehlt.<br />

Um den dargestellten strukturellen Problemen <strong>der</strong>artiger<br />

Verfahren entgegenzutreten, sind teilweise beson<strong>der</strong>e<br />

Dienststellen bei <strong>der</strong> Polizei und spezialisierte Abteilungen<br />

bei den Staats<strong>an</strong>waltschaften eingerichtet worden,<br />

bei denen die Zuständigkeiten für Strafverfahren gegen<br />

Polizisten konzentriert sind. Ob hierdurch Verbesserungen<br />

eingetreten sind, wird unterschiedlich beurteilt.<br />

Größeren Erfolg versprechen jedenfalls vollständig unabhängige<br />

Kommissionen, die sich dem behördeninternen<br />

Druck besser entziehen können. Nicht wenige<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>e Staaten haben solche Kommissionen eingerichtet;<br />

amnesty international for<strong>der</strong>t dies auch für Deutschl<strong>an</strong>d.<br />

[26]<br />

Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Strafverfahren<br />

gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt –<br />

ebenso wie rechtswidrige Polizeigewalt selbst – mit<br />

strukturellen Problemen zusammenhängen, die sich<br />

nicht auflösen lassen. Die Institution Polizei als Protagonistin<br />

des Gewaltmonopols soll Gewalt <strong>an</strong>wenden,<br />

gerade um sie zu monopolisieren. Dass dabei Grenzen<br />

überschritten werden und sich Eigengesetzlichkeiten<br />

ihren Weg bahnen, ist unvermeidlich, so dass bereits aus<br />

dieser Perspektive eine wirkliche Begrenzung <strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Polizei verkörperten Staatsgewalt schwierig scheint.[27]<br />

Gleichzeitig ist eine effektive Kontrolle <strong>der</strong> Polizei von<br />

staatlicher Seite nur in Grenzen möglich und wohl auch<br />

nicht umfassend erwünscht. Denn im Vor<strong>der</strong>grund steht<br />

hier das Bedürfnis, dass die eigene Hüterin des Gewaltmonopols<br />

dieses effektiv umsetzt. Hierzu stünde es im<br />

Wi<strong>der</strong>spruch, wenn die Beamten bei jedem Regelübertritt<br />

mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen müssten.<br />

[1] Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2000,<br />

2004, 2008, jeweils Tabelle 01<br />

[2] Singelnstein, T.: Missh<strong>an</strong>dlungen in polizeilichem Gewahrsam,<br />

in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg,): Prävention<br />

von Folter und Missh<strong>an</strong>dlung in Deutschl<strong>an</strong>d, Baden-<br />

Baden 2007, S. 213-236 (217)<br />

[3] Statistisches Bundesamt: Strafverfolgungsstatistik (Fach-<br />

serie 10, Reihe 3), 2008, S. 42 f.<br />

[4] Eine Einstellung nach den §§ 153, 153a Strafprozessordnung<br />

kommt bei Körperverletzung im Amt selten in Betracht.<br />

[5] Statistisches Bundesamt a.a.O. (Fn. 3), S. 42 f.<br />

[6] s. Singelnstein a.a.O. (Fn. 2), S. 229 f.<br />

[7] Antwort des Senats auf die Kleine Anfrage <strong>der</strong> Abgeordneten<br />

Christi<strong>an</strong>e Schnei<strong>der</strong>, Hamburger Bürgerschaft, Drucksache<br />

19/1061 v. 16.9.2008<br />

[8] Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2008,<br />

Tabelle 01<br />

[9] Singelnstein, T.: Institutionalisierte H<strong>an</strong>dlungsnormen bei<br />

den Staats<strong>an</strong>waltschaften im Umg<strong>an</strong>g mit Ermittlungsverfahren<br />

wegen Körperverletzung im Amt gegen Polizeibeamte,<br />

in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform<br />

2003, H. 1, S. 1-26 (11)<br />

[10] dazu Eisenberg, U.: Kriminologie, 6. Aufl. München 2005,<br />

§ 27 Rn. 6<br />

[11] vgl. Hamburger Polizeikommission: Jahresbericht 1999,<br />

Hamburg 1999, S. 7; Schwind, H.D.: Zur »Mauer des Schweigens«,<br />

in: Kriminalistik 1996, H. 3, S. 161-167<br />

[12] dazu Schäfer, H.: Cliquengeist und Kamera<strong>der</strong>ie, in:<br />

Kriminalistik 1995, H. 3, S. 205-207 (205 f.)<br />

[13] s. etwa Gössner, R.: Fürsorgepflicht o<strong>der</strong> org<strong>an</strong>isierte<br />

Ver<strong>an</strong>twortungslosigkeit? Strukturelle Probleme bei <strong>der</strong> justiziellen<br />

Aufarbeitung von Polizeigewalt in Thüringen, in: Neue<br />

Kriminalpolitik 2003, H. 4, S. 133-138 (133 f.,137)<br />

[14] amnesty international: Erneut im Fokus. Vorwürfe über<br />

polizeiliche Missh<strong>an</strong>dlungen und den Einsatz unverhältnismäßiger<br />

Gewalt in Deutschl<strong>an</strong>d, Bonn 2004, S. 34, www.<br />

amnesty-polizei.de/d/wp-content/uploads/bericht_2004.pdf<br />

[15] s. Singelnstein, T.: Institutionalisierte H<strong>an</strong>dlungsnormen<br />

a.a.O. (Fn. 9), S. 15 ff.<br />

[16] so Deppe, G.: Wie<strong>der</strong> einmal: Justiz und Polizei, in:<br />

Deutsche Richter-Zeitung 1995, H. 1, S. 34<br />

[17] Gössner a.a.O. (Fn. 13), S. 137<br />

[18] dazu detailliert Hamburger Polizeikommission a.a.O. (Fn.<br />

11), S. 23 ff.<br />

[19] amnesty international a.a.O. (Fn. 13), S. 88; Gössner a.a.O.<br />

(Fn. 13), S. 136<br />

[20] Singelnstein, T.: Institutionalisierte H<strong>an</strong>dlungsnormen<br />

a.a.O. (Fn. 9), S. 19 f.<br />

[21] s. zur Praxis <strong>der</strong> Gerichte Behrens, F.; Steinke, R.: Im<br />

Schutze <strong>der</strong> Macht, in: Forum Recht 2007, H. 1, S. 2-12 (10 f.)<br />

[22] vgl. Eisenberg a.a.O. (Fn. 10), § 27 Rn. 3<br />

[23] Strafverteidiger gehen davon aus, dass in 90 % <strong>der</strong> Fälle<br />

diese Kombination vorliegt.<br />

[24] s. zu Hamburg etwa Hamburger Polizeikommission,<br />

a.a.O. (Fn. 11), S. 25[25] s. etwa Oberl<strong>an</strong>desgericht Karlsruhe:<br />

Beschluss v. 9.5.1996, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht - Rechtsprechungsreport<br />

1997, H. 1, S. 37 ff.<br />

[26] Behrens; Steinke a.a.O. (Fn. 21), S. 11 f.<br />

[27] s. Pütter, N.: Polizeiübergriffe, in: Bürgerrechte & Polizei/<br />

CILIP 67 (3/2000), S. 6-19 (13 ff.); weitere Nachweise bei Behr,<br />

R.: Polizeiforschung als Kontrolle <strong>der</strong> Kontrolleure, in: Herrnkind,<br />

M.; Scheerer, S. (Hg.): Die Polizei als Org<strong>an</strong>isation<br />

mit Gewaltlizenz. Möglichkeiten und Grenzen <strong>der</strong> Kontrolle,<br />

Münster 2003, S. 221-259 (225 ff.)<br />

Bibliographische Angaben: Singelnstein, Tobias:<br />

Polizisten vor Gericht. Strafverfahren wegen Körperverletzung<br />

im Amt, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 95 (1/2010), S. 55-62


18 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

„Damit Sie sich sicher fühlen“ Frauen im Sicherheitsdiskurs<br />

Sarah Dellm<strong>an</strong>n<br />

174 iV Was noch ?<br />

Immer wie<strong>der</strong> wird in Diskussionen um Kontrolle das Initiativen gab es? Wie können For<strong>der</strong>ungen aussehen,<br />

(vorgebliche) Sicherheitsbedürfnis von Frauen <strong>an</strong>- ohne autoritäre Kontrollen zu verl<strong>an</strong>gen? Wie aktuell ist<br />

geführt, womit die massive Präsenz von Bundesgren- das (Selbst-)bild <strong>der</strong> Frau als - natürlich vom M<strong>an</strong>n - zu<br />

zschutz, privaten Sicherheitsdiensten und Kameras in beschützendes, hilfloses Wesen? Erreicht m<strong>an</strong> Sicher-<br />

öffentlichen<br />

Was<br />

Räumen legitimiert wird.<br />

heit, wenn<br />

ist<br />

m<strong>an</strong> seine eigene Welt von <strong>der</strong> Gefahr trennt?<br />

Zur gleichen Zeit werden Zuschüsse für Frauenhäuser Diese und weitere Fragen möchte ich mit den Teilneh-<br />

und ähnliche Einrichtungen gekürzt. Statistisch gesehen menden diskutieren und letztlich überlegen, wie von <strong>der</strong><br />

sind nächtliche U-Bahn-Stationen und Parks viel sicherer Vorstellung, dass „die Frau“ „das Opfer“ „<strong>der</strong> Gewalt“ ist,<br />

als das Ehebett – trotzdem haben weniger Frauen Angst Abst<strong>an</strong>d genommen werden k<strong>an</strong>n.<br />

zu heiraten als nachts allein auf die U-Bahn zu warten.<br />

Was muss geschehen, damit sich Frauen zu je<strong>der</strong> Zeit In diesem Workshop geht es nicht darum, eigene Gewal-<br />

und überall frei und <strong>an</strong>gstfrei bewegen können? Welche terfahrungen aufzuarbeiten!<br />

174 iV Was noch ?<br />

heute Was noch ist<br />

sicher?<br />

heute noch<br />

Frauen sicher?<br />

Frauen<br />

im sicherheitsdiskurs<br />

Von sarah dellm<strong>an</strong>n<br />

im sicherheitsdiskurs<br />

Von sarah dellm<strong>an</strong>n<br />

in den ständig geführten Diskussionen<br />

um Sicherheit und Überwachung<br />

in den ständig geführten Diskussionen<br />

werden oftmals Sicherheitsbedürfnis-<br />

um Sicherheit und Überwachung<br />

se von Frauen werden zitiert, oftmals mit Sicherheitsbedürfnis-<br />

denen die<br />

massive Präsenz se von Frauen Bundespolizei, zitiert, mit denen privaten die<br />

massive Präsenz von Bundespolizei, privaten<br />

Sicherheitsdiensten, Kameras in öffentlichen<br />

Räumen und weitere Kontrollen legitimiert<br />

werden. 1 Damit wird ein Thema aufgegriffen,<br />

das in öffentlichen Debatten sonst wenig<br />

Beachtung findet. Statistiken belegen, dass<br />

Sicherheitsdiensten, Kameras in öffentlichen<br />

Räumen und weitere Kontrollen legitimiert<br />

werden. 1 Damit wird ein Thema aufgegriffen,<br />

das in öffentlichen Debatten sonst wenig<br />

Beachtung findet. Statistiken belegen, dass


grenzen|los|werden 19<br />

Frauen keineswegs die größte Betroffenen-<br />

gruppe von Gewaltdelikten sind. Trotzdem<br />

würden sie die überaus große Mehrzahl <strong>der</strong><br />

ängstlichen Menschen darstellen. Selbst in<br />

Situationen, in denen die Statistik Männer als<br />

absolute Betroffenengruppe ausmacht, hätten<br />

Frauen mehr Angst als Männer (Gordon,<br />

Riger 1989; BMFSJ 2005). Im Folgenden geht<br />

es darum, den Verweis auf das vorgebliche Sicherheitsbedürfnis<br />

von Frauen genauer <strong>an</strong>zuschauen<br />

und For<strong>der</strong>ungen zu entwerfen, die<br />

nicht nach autoritären Kontrollen verl<strong>an</strong>gen.<br />

Ziel ist es, Anstöße für das Zusammendenken<br />

von Sicherheit, Geschlecht und Gewalt<br />

zu geben. Dabei gehe ich davon aus, dass <strong>der</strong><br />

öffentliche Raum geschlechtsspezifisch strukturiert<br />

ist: Auch heute noch sind Vorstellungen<br />

wirkmächtig, die Frauen das Wohl um das<br />

Private zuschreiben und Männern die Sphäre<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit überlassen. Diese Trennung<br />

wird durch Diskriminierung, Normen und<br />

Zug<strong>an</strong>gsbeschränkungen aufrechterhalten. 2<br />

GeFährliche orte? absurde änGste?<br />

U-Bahn-Stationen und Parks werden von<br />

einer Vielzahl von Frauen als gefährliche<br />

Orte eingeschätzt. Dabei sind sie statistisch<br />

gesehen viel sicherer als die eigenen vier<br />

Wände. Trotzdem haben Frauen im Allgemeinen<br />

weniger Angst zu Hause fernzusehen<br />

o<strong>der</strong> zu heiraten, als nachts <strong>an</strong> U-Bahn-<br />

Stationen zu warten o<strong>der</strong> den kürzeren<br />

Weg durch die Grün<strong>an</strong>lage zu nehmen.<br />

Die Angst ist erst mal real und führt zu<br />

einem beschissenen Entscheidungszw<strong>an</strong>g:<br />

ignoriere ich meine Ängste o<strong>der</strong> sehe ich zu,<br />

dass ich nicht mehr so spät unterwegs bin?<br />

Beide Optionen stellen eine individuelle Reaktion<br />

auf Ängste dar und schränken die eigene<br />

Bewegungsfreiheit ein. Doch so wenig, wie<br />

das Nicht-Tragen von Miniröcken als Strategie<br />

gegen Vergewaltigungen propagiert werden<br />

soll, so wenig gilt es zu for<strong>der</strong>n, Frauen<br />

sollten sich nachts nicht (allein) auf <strong>der</strong> Straße<br />

aufhalten, und damit sei alles wie<strong>der</strong> gut.<br />

Recht schnell lässt sich die Universalität<br />

<strong>der</strong> These von ›den Frauen‹ als Opfer ›<strong>der</strong><br />

Gewalt‹ bezweifeln: So sind in vielen Orten<br />

<strong>an</strong>tifaschistische Männer eher von Gewalt<br />

bedroht als die Cheerlea<strong>der</strong>in des örtlichen<br />

Fußballvereins. Verschiedene Diskriminierungsmerkmale<br />

wie vermutete Nationalität,<br />

sexuelle Orientierung, körperliche Erscheinung<br />

und politische Haltung spielen zusammen.<br />

Es gibt Gewalt gegen Frauen als Migr<strong>an</strong>tinnen,<br />

Gewalt gegen Frauen als Linke, gegen<br />

Frauen als Lesben, gegen Frauen als ›Behin<strong>der</strong>te‹.<br />

Und es gibt immer noch Gewalt gegen<br />

Frauen als Frauen; nicht selten führen negative<br />

Erfahrungen aus dem privaten und (halb-)<br />

öffentlichen Bereich wie Arbeitsplatz o<strong>der</strong><br />

Verein dazu, sich fort<strong>an</strong> auch <strong>an</strong><strong>der</strong>swo unsicher<br />

zu fühlen. Eine feministisch-em<strong>an</strong>zipatorische<br />

Politik muss daher den Spagat wagen,<br />

die (notwendig individuellen, persönlichen)<br />

Wahrnehmungen von Frauen <strong>an</strong>zuerkennen<br />

und gleichzeitig eine g<strong>an</strong>ze Menge <strong>der</strong> ihr zugrunde<br />

liegenden Annahmen zu hinterfragen.<br />

die änGste ernst nehmen? Vorsicht Vorm<br />

›subjektiVen sicherheitsGeFühl‹!<br />

Das ›subjektive Sicherheitsgefühl‹ wird in<br />

herrschenden Debatten oft als Kategorie,<br />

<strong>an</strong> <strong>der</strong> sich politisches H<strong>an</strong>deln auszurichten<br />

habe, eingeführt und nicht weiter befragt. Sicherheits-<br />

wie Bedrohungsgefühle rekurrieren<br />

jedoch nicht nur auf eigenen Erfahrungen, sie<br />

sind auch medial und gesellschaftlich vermittelt.<br />

Walter Hammerschick belegte 1996<br />

in einer Studie, dass Menschen sich unsicher<br />

fühlen, wenn sie Menschen begegnen, die<br />

ihnen fremd sind. Obdachlose und Menschen<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>er Hautfarbe lösten Bedrohungsgefühle<br />

aus – dafür reiche bereits ihre Anwesenheit;<br />

g<strong>an</strong>z egal, was sie tun und ob es<br />

jemals zu strafrechtlichen Verstößen kam.


20 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

Die nicht weiter befragte Angst verbindet<br />

sich mit rassistischen Vorurteilen: Sie wird zur<br />

Angst vor Schwarzen, die <strong>an</strong>geblich Drogen<br />

dealen, und vor Roma, die <strong>an</strong>geblich klauen.<br />

Hier gilt es die Psychodynamik genauer zu<br />

<strong>an</strong>alysieren und die gegebenen Äußerungen<br />

nicht direkt in politische H<strong>an</strong>dlungs<strong>an</strong>weisungen<br />

zu übertragen. Vielmehr müssten die rassistischen<br />

Vorurteile und Ängste vor sozialem<br />

Abstieg thematisiert werden. Der Soziologe<br />

Klaus Ronneberger <strong>an</strong>alysierte die Dynamik<br />

folgen<strong>der</strong>maßen: Statt gesellschaftliche Konflikte,<br />

die durch den Sozialabbau <strong>der</strong> 1990er<br />

Jahre verschärft wurden, als solche zu thematisieren,<br />

werden Ängste individualisiert; einzelne<br />

Personen o<strong>der</strong> Personengruppen werden als<br />

Schuldige auserkoren, die es wegzusperren und<br />

aus dem Blickfeld zu rücken gilt. 3 Städtepl<strong>an</strong>er_innen gemeinsam mit Bürger_innen<br />

gefährliche Räume begehen und<br />

gemeinsam überlegen, was <strong>an</strong> städtebaulichen<br />

Maßnahmen zu ergreifen wäre.<br />

Wird mehr<br />

Kontrolle für mehr Sicherheit gefor<strong>der</strong>t, werden<br />

in erster Linie ›normabweichende‹ Menschen<br />

kontrolliert: Menschen, die in das Bild<br />

eines Drogenabhängigen o<strong>der</strong> Obdachlosen<br />

fallen, Menschen, die nicht weiß sind. Deutsche<br />

Sicherheitskräfte und die Polizei stehen dabei<br />

öfter auf Seiten <strong>der</strong> mehrheitsdeutschen<br />

(Frauen) als auf Seite <strong>der</strong> Migr<strong>an</strong>tinnen; die<br />

Präsenz von mehr Polizei bzw. Sicherheitskräften<br />

erhöht also nur das ›subjektive Sicherheitsgefühl‹<br />

einer g<strong>an</strong>z bestimmten Gruppe Frauen<br />

– und ist vermutlich auch nur für diese gepl<strong>an</strong>t.<br />

ambiValenzen des opFerschutzes<br />

Allen Debatten rund um die Kontrolle für<br />

›mehr Sicherheit für Frauen‹ ist gemein, dass<br />

die Frau als grundsätzlich verletzbareres und<br />

schutzbedürftigeres Wesen <strong>an</strong>gesehen wird.<br />

Auf dieser Annahme beruht d<strong>an</strong>n auch eine<br />

Vielzahl von Gegenmaßnahmen. Frauennachttaxis,<br />

die Frauen zum ermäßigten Preis<br />

nach Hause fahren, Frauen-Kontaktbörsen,<br />

die Frauen zusammenbringen, die sich allein<br />

nicht in die Stadt o<strong>der</strong> in die Oper trauen<br />

würden, o<strong>der</strong> Safety Audits, in denen<br />

4 All diesen<br />

Konzepten wohnt eine Ambivalenz inne:<br />

Einerseits werden Hin<strong>der</strong>nisse aus dem Weg<br />

geräumt, die die individuelle Bewegungsfreiheit<br />

erhöhen, <strong>an</strong><strong>der</strong>erseits wird das spezielle<br />

Schutzbedürfnis von Frauen bestärkt: Vom<br />

Opferbild in <strong>der</strong> Eigen- und Fremdwahrnehmung<br />

kommen alle diese Ansätze nicht weg.<br />

Auch <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Antisexismusinitiative Av<strong>an</strong>ti<br />

»Was du allein tun k<strong>an</strong>nst: Pfefferspray dabei<br />

haben« ist ambivalent. Das Dabeihaben von<br />

Pfefferspray erinnert die Trägerin immer<br />

wie<strong>der</strong> dar<strong>an</strong>, dass sie ein potenzielles Opfer<br />

sei. An<strong>der</strong>erseits k<strong>an</strong>n es dazu führen, sich<br />

selbstbewusster in <strong>der</strong> Stadt zu bewegen<br />

– und nicht zuletzt ist dieser Rat einer, <strong>der</strong><br />

ein offensives Sich-wehren ins Auge fasst.<br />

immer Wie<strong>der</strong>: arbeit GeGen Geschlechterstereotype<br />

& ärGerliche Frauenbil<strong>der</strong><br />

Viele <strong>der</strong> pragmatischen Ansätze und Diskussionen<br />

rekurrieren auf ein bestimmtes<br />

Frauenbild; gerade im Zusammenh<strong>an</strong>g mit<br />

dem Thema <strong>der</strong> sexualisierten Gewalt gegen<br />

Frauen und <strong>der</strong> Vergewaltigung wird <strong>an</strong>genommen,<br />

dass es diese schon immer gegeben<br />

habe. Dadurch wird eine Perspektive auf Verhältnisse<br />

verhin<strong>der</strong>t, in <strong>der</strong> Vergewaltigung<br />

und sexualisierte Gewalt nicht (mehr) passieren<br />

o<strong>der</strong> passieren können. Das mag dar<strong>an</strong><br />

liegen, dass diese Themen vorwiegend in<br />

Bezug auf den juristischen Umg<strong>an</strong>g öffentlich<br />

diskutiert und Präventionskonzepte weniger<br />

medienwirksam vermarktet werden. (Dass<br />

sich Debatten um das Strafmaß d<strong>an</strong>n wie<strong>der</strong><br />

um den Täter drehen und die Bedürfnisse <strong>der</strong><br />

vergewaltigten Frau nur eine untergeordnete<br />

Rolle spielen, ist auch so ein Nebeneffekt.)<br />

So richtig es ist, Gewalt gegen Frauen zu<br />

bestrafen, so wenig hilft es, die Gewalt zu


grenzen|los|werden 21<br />

verhin<strong>der</strong>n. Gerichtsurteile werden erst nach-<br />

her ausgesprochen, sie bieten wenige theore-<br />

tische und praktische Eingriffspunkte: Frauen<br />

sind entwe<strong>der</strong> schon verletzt o<strong>der</strong> aber<br />

grundsätzlich verletzbar, Gewalt gegen Frauen<br />

k<strong>an</strong>n also gefürchtet o<strong>der</strong> durch Schmerzensgeld<br />

ausgeglichen werden, nicht aber<br />

bekämpft. Das Fokussieren auf das Strafmaß<br />

ist umso ärgerlicher, als dass noch niem<strong>an</strong>d<br />

eine direkte Verbindung vom Strafmaß zum<br />

Rückg<strong>an</strong>g <strong>der</strong> Strafquote nachweisen konnte.<br />

Folglich zielen Kampagnen d<strong>an</strong>n darauf,<br />

Männer davon abzuhalten, Frauen zu vergewaltigen,<br />

entwe<strong>der</strong> durch Aufrufe o<strong>der</strong> aber<br />

durch Sicherheitskräfte und Kameras. Diese<br />

Maßnahmen, so die Rechtswissenschaftlerin<br />

Sharon Marcus, bestätigen indirekt,<br />

dass Männer es grundsätzlich und potenziell<br />

können. Weniger medial vermittelt wird <strong>der</strong><br />

Ansatz, Frauen zu ermächtigen, die Möglichkeit<br />

<strong>der</strong> Grenzüberschreitung/Vergewaltigung/Gewalttat<br />

aus den Händen <strong>der</strong> Täter<br />

zu nehmen. Um dies tun zu können, bräuchte<br />

m<strong>an</strong> einen <strong>an</strong><strong>der</strong>en Ansatz, <strong>der</strong> Gewalt<br />

gegen Frauen nicht als überhistorischen,<br />

unverän<strong>der</strong>baren Fakt begreift, son<strong>der</strong>n als<br />

Prozess, <strong>der</strong> Frauen immer wie<strong>der</strong> die Rolle<br />

des schutzlosen Opfers zuzuweisen versucht<br />

– und in den m<strong>an</strong> intervenieren k<strong>an</strong>n.<br />

Weibliche Ohnmachts- und männliche<br />

Machtvorstellungen sind Gewalt gegenüber<br />

Frauen we<strong>der</strong> vorgängig noch Ursache des<br />

Übergriffs; sie sind ein Mittel, um Frauen<br />

eine gesellschaftliche Position zuzuweisen,<br />

sie zu entmächtigen und dadurch Ohnmacht<br />

hervorzubringen. Das vorherrschende,<br />

klassische Frauenbild eines verletzbaren,<br />

hilflosen, schutzbedürftigen, ängstlichen und<br />

bedrohten Wesens macht es Tätern leicht,<br />

sich als mächtigen Gegenpart zu imaginieren.<br />

Konkret äußert sich die Machtvorstellung<br />

darin, dass Männer aufgrund ihrer<br />

<strong>an</strong>genommenen körperlichen Überlegenheit<br />

grundsätzlich stärker seien als Frauen. Die<br />

Ohnmachtsvorstellung von Frauen führt d<strong>an</strong>n<br />

zur Annahme einer unabwendbaren Gewalt<br />

und fußt auf dem Glauben <strong>an</strong> die Ineffizienz<br />

des sich Wehrens – trotz <strong>der</strong> leicht und empfindlich<br />

verletzbaren männlichen Geschlechtsteile.<br />

Mir wurde in <strong>der</strong> Aufklärungsstunde in<br />

<strong>der</strong> Schule erzählt, dass m<strong>an</strong> sich im Zweifel<br />

nicht wehren solle, da die Täter d<strong>an</strong>n noch<br />

mehr Gewalt <strong>an</strong>wenden würden. Im Klartext<br />

also: Frauen sollen sich verletzen lassen, um<br />

zu verhin<strong>der</strong>n, verletzt zu werden? Mir wurde<br />

also eine passive Haltung nahegelegt. 5<br />

hoW to be in trouble. Vom umG<strong>an</strong>G mit GeFahr<br />

So ein gr<strong>an</strong>dioser Quatsch. Immerhin haben<br />

feministische Initiativen gegen Gewalt<br />

gegen Frauen immer wie<strong>der</strong> beweisen<br />

können, dass selbst minimaler Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>d<br />

eine drohende Vergewaltigung abwenden<br />

k<strong>an</strong>n. Lautes Schreien und Ansprechen von<br />

Pass<strong>an</strong>t_innen hat vielen geholfen, oftmals<br />

musste es gar nicht zu Gegenwehr kommen.<br />

Laut L<strong>an</strong>deskriminalamt NRW konnte in 70<br />

Prozent aller Überfälle kräftiges Um-sich-<br />

Schlagen und Schreien eine Vergewaltigung<br />

verhin<strong>der</strong>n, bei übrigen Sexualstraftaten<br />

sogar in 95 Prozent <strong>der</strong> Fälle.Wichtig war<br />

allerdings ein entschiedenes Auftreten.<br />

Frauen, die weniger schüchtern wirken,<br />

berichten auch davon, weniger oft belästigt<br />

zu werden als Frauen, die sich von <strong>der</strong><br />

Körperhaltung her schon klein machen.<br />

Ansatz wäre also, nicht den Schutz für den<br />

schutzbedürftigen Körper zu for<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n<br />

das Bild des schutzbedürftigen und hilflosen<br />

Wesens zurückzuschlagen; das Sich-wehren<br />

ist somit auch ein Zurückschlagen von Weiblichkeitsrollen,<br />

die verl<strong>an</strong>gen, freundlich und<br />

geduldig auf die Bedürfnisse und Wünsche<br />

von Männern einzugehen und eigene Wahrnehmungen<br />

und Bedürfnisse hinten<strong>an</strong>zustellen.<br />

Die Frau nicht mehr als ein, natürlich


22 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

vom (Ehe-)M<strong>an</strong>n, zu beschützendes Wesen<br />

zu begreifen, ist jedoch eine Ansage, die patriarchale<br />

Grund<strong>an</strong>nahmen infrage stellt und<br />

– wenig überraschend – in den aktuellen Sicherheitsdebatten<br />

nicht als Option vorkommt.<br />

Dies soll keinesfalls heißen, dass Frauen,<br />

die sich nicht trauen, sich zu wehren, mitschuldig<br />

<strong>an</strong> <strong>der</strong> ihnen wi<strong>der</strong>fahrenen Gewalt<br />

sind! Wichtig war mir zu zeigen, dass es<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>e Ansatzmöglichkeiten gibt, feministische<br />

Anliegen mit dem Sicherheitsbedürfnis<br />

aller Menschen zu verbinden, ohne es <strong>an</strong><br />

Frauenhäuser, Polizei und Überwachungskameras<br />

zu delegieren. Die Welt ist ein Ort voll<br />

Gefahren. Überall könnte uns etwas passieren.<br />

Die Bedrohung reicht vom Taschendiebstahl<br />

bis zur Amok laufenden Mitschülerin,<br />

von <strong>der</strong> plötzlich durchtickenden Nachbarin<br />

bis zu <strong>der</strong> Möglichkeit, zur falschen Zeit am<br />

falschen Ort zu sein und einfach Pech zu<br />

haben. Eine Hun<strong>der</strong>tprozent-Gar<strong>an</strong>tie für<br />

ein Leben ohne Gefahr und Gewalt k<strong>an</strong>n es<br />

nicht geben – und das ist wie<strong>der</strong>um auch<br />

beruhigend, denn sonst würden wir in totaler<br />

Überwachung und Kontrolle leben.<br />

Eine Realität zu schaffen, in <strong>der</strong> sich<br />

Frauen und nicht-männliche Wesen nicht<br />

mehr fürchten müssen, verl<strong>an</strong>gt einen aktiven<br />

Kampf gegen herrschende Geschlechterbil<strong>der</strong><br />

und eine Ermutigung, zu h<strong>an</strong>deln. Dies darf<br />

aber nicht den ängstlichen Frauen überlassen<br />

werden, son<strong>der</strong>n ist Aufgabe aller. Konkret<br />

heißt es, eine Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzung mit individuell<br />

gemachten Erfahrungen und Wahrnehmungen<br />

zu führen, einen offensiven Umg<strong>an</strong>g<br />

mit eigenen Ängsten zu finden und für<br />

Rückzugsräume einzutreten, in den diese Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzungen<br />

geführt werden können.<br />

autorin<br />

Sarah Dellm<strong>an</strong>n lebt und arbeitet in Fr<strong>an</strong>kfurt am Main. Neben Lohnarbeit beschäftigt sie sich<br />

mit Themen rund um (Queer-)Feminismus und Antirassismus. Sie ist ehrenamtlich in <strong>der</strong><br />

Kinogruppe Pupille e.V. und <strong>der</strong> politischen Jugendbildung tätig. Gemeinsam mit Teilen <strong>der</strong><br />

Ladyfestgruppe Fr<strong>an</strong>kfurt am Main (http://copyriot.com/ladyfest) ist sie immer mal<br />

wie<strong>der</strong> <strong>an</strong> Ver<strong>an</strong>staltungen, Vorträgen o<strong>der</strong> Artikeln beteiligt.<br />

literatur<br />

BMFSJ 2005, Gen<strong>der</strong> Datenreport, <strong>Berlin</strong>, München. Margret T. Gordon, Steph<strong>an</strong>ie Riger<br />

1989,The female fear, New York. Walter Hammerschick 1996, Die sichere Stadt. Prävention<br />

und kommunale Sicherheitspolitik, Baden-Baden. Ellen Krause 2003, Einführung in die<br />

politikwissenschaftliche Geschlechterforschung, Opladen, S. 65-84. Sharon Marcus 1997,<br />

Fighting Bodies, Fighting Words. A Theory <strong>an</strong>d Politics of Rape Prevention, Judith Butler, Jo<strong>an</strong><br />

W. Scott (Eds.), Feminists Theorize the Political, New York, London, S. 385-403. Sus<strong>an</strong>ne Paul<br />

1993, Gewalt gegen Frauen. Zum Problem <strong>der</strong> Gegenwehr bei Vergewaltigung und sexueller<br />

Nötigung, Kriminalstatistik 1993, H<strong>an</strong>nover. Klaus Ronneberger, Steph<strong>an</strong> L<strong>an</strong>z, Walther Jahn<br />

1999, Die Stadt als Beute, Bonn.<br />

<strong>an</strong>merkunGen<br />

1Wenn hier von ›Frauen‹ und ›Männern‹ die Rede ist, so meine ich damit gesellschaftliche<br />

Positionen, die Menschen zugeschrieben werden – keinesfalls eine unw<strong>an</strong>delbare Wahrheit!<br />

Lesben, Migr<strong>an</strong>tinnen und Tr<strong>an</strong>sgen<strong>der</strong>s sind von Gewalt gegen ›Frauen‹ noch mal <strong>an</strong><strong>der</strong>s


grenzen|los|werden 23<br />

betroffen. Hier genauer hinzusehen wäre ein Vorschlag für weitergehende Diskussionen.<br />

2 Die Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzung um die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre gehört<br />

zu den Dauerbrennern feministischer Theoriearbeit in Politik- und Sozialwissenschaften.<br />

Einen Überblick darüber gibt z.B. Krause (2003). 3Ronneberger sieht diese Tendenz auch<br />

im Strafrecht, wo es nicht mehr um Ursachenbekämpfung, Wie<strong>der</strong>einglie<strong>der</strong>ung und<br />

Kritik sozialer Strukturen gehe, son<strong>der</strong>n immer mehr um individualisiertes Scheitern.<br />

4Auch sp<strong>an</strong>nend: Die For<strong>der</strong>ung nach mehr Licht und Tr<strong>an</strong>sparenz verbindet sich gut mit<br />

<strong>der</strong> Volksweisheit »Wo m<strong>an</strong> sich nicht verbergen k<strong>an</strong>n, hat m<strong>an</strong> auch nichts zu befürchten«.<br />

Ob die Dunkelheit wirklich gefährlich ist? 5Erst 1993 sorgte die Studie <strong>der</strong> Kriminalkommissarin<br />

Sus<strong>an</strong>ne Paul für den Wendepunkt <strong>der</strong> polizeilichen Präventionsstrategie. Sie<br />

konnte belegen, dass Frauen, die sich gegen sexualisierte Gewalt und Übergriffe wehren,<br />

die Tat abwenden o<strong>der</strong> verhin<strong>der</strong>n konnten, ohne dass <strong>der</strong> Agressor mehr Gewalt <strong>an</strong>wendete.<br />

Seitdem wird Frauen (und Kin<strong>der</strong>n) auch von <strong>der</strong> Polizei geraten, sich zu wehren.<br />

Strafvollzug – ein notwendiges Übel?<br />

Von <strong>der</strong> Idee des Abolitionismus bis hin zu seiner gegenwärtigen Praxis<br />

a.r.a.p.<br />

Inhalt des Workshops sind die historischen Bezüge<br />

des Abolitionismus, seine Theorie und die Bedeutung<br />

als soziale Bewegung. Die Idee <strong>der</strong> Abschaffbarkeit<br />

<strong>der</strong> Gefängnisse soll diskutiert werden.


24 BAKJ-Herbstkongress 2011


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28 BAKJ-Herbstkongress 2011


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30 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

The Challenge of Prison Abolition: A Conversation<br />

A conversation between Angela Y. Davis <strong>an</strong>d Dyl<strong>an</strong> Rodriguez<br />

Angela Y. Davis teaches in the History of Consciousness<br />

program at the University of California<br />

(215 Oakes College, S<strong>an</strong>ta Cruz, CA 95060), <strong>an</strong>d<br />

has been actively involved in prison-related campaigns<br />

since the events that led to her own incarceration<br />

in 1970. Dyl<strong>an</strong> Rodriguez is <strong>an</strong> Assist<strong>an</strong>t<br />

Professor at University of California - Riverside <strong>an</strong>d<br />

was involved in the formation of Critical Resist<strong>an</strong>ce.<br />

Rodriguezs first book, Forced Passages: Imprisoned<br />

Radical Intellectuals <strong>an</strong>d the Formation of<br />

the U.S. Prison Regime will be published in 2005 by<br />

the University of Minnesota Press.<br />

JVA Weiterstadt - mo<strong>der</strong>n, aber diskutabel<br />

Dyl<strong>an</strong>: Your emergence as a radical prison activist<br />

was deeply influenced by your experience as a prisoner.<br />

Could you talk a bit about how imprisonment<br />

affected your political formation, <strong>an</strong>d the impact<br />

that it had on your eventual identification as prison<br />

abolitionists?<br />

Angela: The time I spent in jail was both <strong>an</strong> outcome<br />

of my work on prison issues <strong>an</strong>d a profound<br />

influence on my subsequent trajectory as a prison<br />

activist. When I was arrested in the summer of<br />

1970 in connection with my involvement in the


grenzen|los|werden 31<br />

campaign to free George Jackson <strong>an</strong>d the Soledad<br />

Brothers, I was one of m<strong>an</strong>y activists who had been<br />

previously active in defense movements. In editing<br />

the <strong>an</strong>thology, If They Come in the Morning<br />

(1971) while I was in jail, Bettina Aptheker <strong>an</strong>d I<br />

attempted to draw upon the org<strong>an</strong>izing <strong>an</strong>d legal<br />

experiences associated with a vast number of<br />

contemporary campaigns to free political prisoners.<br />

The most import<strong>an</strong>t lessons em<strong>an</strong>ating from those<br />

campaigns, we thought, demonstrated the need<br />

to examine the overall role of the prison system,<br />

especially its class <strong>an</strong>d racial character. There was<br />

a relationship, as George Jackson had insisted, between<br />

the rising numbers of political prisoners <strong>an</strong>d<br />

the imprisonment of increasing numbers of poor<br />

people of color. If prison was the state-s<strong>an</strong>ctioned<br />

destination for activists such as myself, it was also<br />

used as a surrogate solution to social problems<br />

associated with poverty <strong>an</strong>d racism. Although<br />

imprisonment was equated with rehabilitation in<br />

the domin<strong>an</strong>t discourse at that time, it was obvious<br />

to us that its primary purpose was repression.<br />

Along with other radical activists of that era, we<br />

thus beg<strong>an</strong> to explore what it might me<strong>an</strong> to combine<br />

our call for the freedom of political prisoners<br />

with <strong>an</strong> embryonic call for the abolition of prisons.<br />

Of course we had not yet thought through all of<br />

the implications of such a position, but today it<br />

seems that what was viewed at that time as political<br />

naivete, the untheorized <strong>an</strong>d utopi<strong>an</strong> impulses<br />

of young people trying to be revolutionary, foreshadowed<br />

what was to become, at the turn of the<br />

century, the import<strong>an</strong>t project of critically examining<br />

the political economy of a prison system, whose<br />

unrestrained growth urgently needs to be reversed.<br />

Dyl<strong>an</strong>: What interests me is the m<strong>an</strong>ner in which<br />

your trial -- <strong>an</strong>d the rather widespread social movement<br />

that enveloped it, along with other political<br />

trials -- enabled a wide variety of activists to<br />

articulate a radical critique of U.S. jurisprudence<br />

<strong>an</strong>d imprisonment. The strategic framing of yours<br />

<strong>an</strong>d others’ individual political biographies within<br />

a broa<strong>der</strong> set of social <strong>an</strong>d historical forces -- state<br />

violence, racism, white supremacy, patriarchy, the<br />

growth <strong>an</strong>d tr<strong>an</strong>sformation of U.S. capitalism --<br />

disrupted the logic of the criminal justice apparatus<br />

in a fundamental way. Turning attention away from<br />

conventional notions of »crime« as isolated, individual<br />

inst<strong>an</strong>ces of misbehavior necessitated a basic<br />

questioning of the conditions that cast »criminality«<br />

as a convenient political rationale for the warehousing<br />

of large numbers of poor, disenfr<strong>an</strong>chised,<br />

<strong>an</strong>d displaced black people <strong>an</strong>d other people of<br />

color. M<strong>an</strong>y activists are now referring to imprisonment<br />

as a new form of slavery, refocusing attention<br />

on the historical function of the 13th Amendment<br />

in reconstructing enslavement as a punishment<br />

reserved for those »duly convicted.« Yet, when we<br />

look more closely at the emergence of the prisonindustrial<br />

complex, the l<strong>an</strong>guage of enslavement<br />

fails to the extent that it relies on the category of<br />

forced labor as its basic premise. People frequently<br />

forget that the majority of imprisoned people are<br />

not workers, <strong>an</strong>d that work is itself made available<br />

only as a »privilege« for the most favored prisoners.<br />

The logic of the prison-industrial complex is closer<br />

to what you, George Jackson, <strong>an</strong>d others were forecasting<br />

back then as mass containment, the effective<br />

elimination of large numbers of (poor, black)<br />

people from the realm of civil society. Yet, the current<br />

social impact of the prison-industrial complex<br />

must have been virtually unfathomable 30 years<br />

ago. One could make the argument that the growth<br />

of this massive structure has met or exceeded the<br />

most ominous forecasts of people who, at that time,<br />

could barely have imagined that at the turn of the<br />

century two million people would be encased in<br />

a prison regime that is far more sophisticated <strong>an</strong>d<br />

repressive th<strong>an</strong> it was at the onset of Nixon’s presidency,<br />

when about 150,000 people were imprisoned<br />

nationally in decrepit, overcrowded buildings. So in<br />

a sense, your response to the first question echoes<br />

the essential truth of what was being dismissed, in<br />

your words, as the par<strong>an</strong>oid »political naivete« of<br />

young radical activists in the early 1970s. I think<br />

we might even consi<strong>der</strong> the formation of prison<br />

abolitionism as a logical response to this new hum<strong>an</strong><br />

warehousing strategy. In this vein, could you<br />

give a basic summary of the fundamental principles<br />

un<strong>der</strong>lying the contemporary prison abolitionist<br />

movement?<br />

Angela: First of all, I must say that I would hesitate<br />

to characterize the contemporary prison abolition<br />

movement as a homogeneous <strong>an</strong>d united international<br />

effort to displace the institution of the prison.<br />

For example, the International Conference on Penal<br />

Abolition (ICOPA), which periodically brings<br />

scholars <strong>an</strong>d activists together from Europe, South<br />

America, Australia, Africa, <strong>an</strong>d North America,<br />

reveals the varied nature of this movement. Dorsey<br />

Nunn, former prisoner <strong>an</strong>d longtime activist, has a<br />

longer history of involvement with ICOPA th<strong>an</strong> I<br />

do since he attended the conference in New Zeal<strong>an</strong>d<br />

three years ago. My first direct contact with


32 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

ICOPA was this past May, when I attended the<br />

Toronto gathering.<br />

Dyl<strong>an</strong>: Was there <strong>an</strong>ything about ICOPA that particularly<br />

impressed you?<br />

Angela: The ICOPA conference in Toronto revealed<br />

some of the major strengths <strong>an</strong>d weaknesses of the<br />

abolitionist movement. First of all, despite the rather<br />

homogenous character of their circle, they have<br />

m<strong>an</strong>aged to keep the notion of abolitionism alive<br />

precisely at a time when developing radical alternatives<br />

to the prison-industrial complex is becoming<br />

a necessity. That is to say, abolitionism should not<br />

now be consi<strong>der</strong>ed <strong>an</strong> unrealizable utopi<strong>an</strong> dream,<br />

but rather the only possible way to halt the further<br />

tr<strong>an</strong>snational development of prison industries.<br />

That ICOPA claims supporters in Europe <strong>an</strong>d Latin<br />

America is <strong>an</strong> indication of what is possible. However,<br />

the racial homogeneity of ICOPA, <strong>an</strong>d the<br />

related failure to incorporate <strong>an</strong> <strong>an</strong>alysis of race<br />

into the theoretical framework of their version of<br />

abolitionism, is a major weakness. The conference<br />

demonstrated that while faith-based approaches to<br />

the abolition of penal systems c<strong>an</strong> be quite powerful,<br />

org<strong>an</strong>izing strategies must go much further. We<br />

need to develop <strong>an</strong>d popularize the kinds of <strong>an</strong>alyses<br />

that explain why people of color predominate in<br />

prison populations throughout the world <strong>an</strong>d how<br />

this structural racism is linked to the globalization<br />

of capital.<br />

Dyl<strong>an</strong>: Yes, I found that the political vision of ICO-<br />

PA was extraordinarily limited, especially consi<strong>der</strong>ing<br />

its professed commitment to a more radical<br />

abolitionist <strong>an</strong>alysis <strong>an</strong>d program. This undoubtedly<br />

had a lot to do with the un<strong>der</strong>lying racism of<br />

the org<strong>an</strong>ization itself, which was reflected in the<br />

l<strong>an</strong>guage of some of the conference resolutions:<br />

»We support all tr<strong>an</strong>sformative measures which<br />

enable us to live better in community with those we<br />

as a society find most difficult, <strong>an</strong>d most consistently<br />

marginalize or exclude« (emphasis added)1. A<br />

major figure in ICOPA even accused a small group<br />

of people of color in attend<strong>an</strong>ce of being »racist«<br />

when they attempted to constructively criticize the<br />

overwhelming white homogeneity of the conference<br />

<strong>an</strong>d the need for creative strategies to engage<br />

communities of color in such <strong>an</strong> import<strong>an</strong>t political<br />

discussion. Several black student-activists I met<br />

at ICOPA told me how alienated they felt at the<br />

conference, especially when they realized that the<br />

ICOPA org<strong>an</strong>izers had never attempted to contact<br />

the Toronto-based org<strong>an</strong>izations with which these<br />

student-activists were working: a major black <strong>an</strong>tipolice-brutality<br />

coalition, a black prisoner support<br />

org<strong>an</strong>ization, etc. So I certainly share your frustrations<br />

with ICOPA. At the same time, I find myself<br />

won<strong>der</strong>ing how a new political formation of prison<br />

abolitionism c<strong>an</strong> form in such a reactionary national<br />

<strong>an</strong>d global climate. You have been involved with<br />

a variety of prison movements for the last 30 years,<br />

so maybe you c<strong>an</strong> help me out. How do you think<br />

about this new political challenge within a broa<strong>der</strong><br />

historical perspective?<br />

Angela: There are multiple histories of prison abolition.<br />

The Sc<strong>an</strong>dinavi<strong>an</strong> scholar/activist Thomas<br />

Mathieson first published his germinal text, The<br />

Politics of Abolition, in 1974, when activist movements<br />

were calling for the disestablishment of<br />

prisons -- in the aftermath of the Attica Rebellion<br />

<strong>an</strong>d prison uprisings throughout Europe. He was<br />

concerned with tr<strong>an</strong>sforming prison reform movements<br />

into more radical movements to abolish prisons<br />

as the major institutions of punishment. There<br />

was a pattern of decarceration in the Netherl<strong>an</strong>ds<br />

until the mid-1980s, which seemed to establish the<br />

Dutch system as a model prison system, <strong>an</strong>d the<br />

later rise in prison construction <strong>an</strong>d the exp<strong>an</strong>sion<br />

of the incarcerated population has served to stimulate<br />

abolitionist ideas. Criminologist Willem de<br />

Ha<strong>an</strong> published a book in 1990 entitled The Politics<br />

of Redress: Crime, Punishment, <strong>an</strong>d Penal Abolition.<br />

One of the most interesting texts, from the<br />

point of view of U.S. activist history is Fay Honey<br />

Knopp’s volume Instead of Prison: A H<strong>an</strong>dbook for<br />

Prison Abolitionists, which was published in 1976,<br />

with funding from the Americ<strong>an</strong> Friends. This<br />

h<strong>an</strong>dbook points out the contradictory relationship<br />

between imprisonment <strong>an</strong>d <strong>an</strong> »enlightened,<br />

free society.« Prison abolition, like the abolition<br />

of slavery, is a long-r<strong>an</strong>ge goal <strong>an</strong>d the h<strong>an</strong>dbook<br />

argues that <strong>an</strong> abolitionist approach requires <strong>an</strong><br />

<strong>an</strong>alysis of »crime« that links it with social structures,<br />

as opposed to individual pathology, as well as<br />

»<strong>an</strong>ticrime« strategies that focus on the provision of<br />

social resources. Of course, there are m<strong>an</strong>y versions<br />

of prison abolitionism -- including those that propose<br />

to abolish punishment altogether <strong>an</strong>d replace<br />

it with reconciliatory responses to criminal acts. In<br />

my opinion, the most powerful relev<strong>an</strong>ce of abolitionist<br />

theory <strong>an</strong>d practice today resides in the fact<br />

that without a radical position vis-a-vis the rapidly<br />

exp<strong>an</strong>ding prison system, prison architecture, prison<br />

surveill<strong>an</strong>ce, <strong>an</strong>d prison system corporatization,


grenzen|los|werden 33<br />

prison culture, with all its racist <strong>an</strong>d totalitari<strong>an</strong><br />

implications, will continue not only to claim ever<br />

increasing numbers of people of color, but also to<br />

shape social relations more generally in our society.<br />

Prison needs to be abolished as the domin<strong>an</strong>t mode<br />

of addressing social problems that are better solved<br />

by other institutions <strong>an</strong>d other me<strong>an</strong>s. The call for<br />

prison abolition urges us to imagine <strong>an</strong>d strive for a<br />

very different social l<strong>an</strong>dscape.<br />

Dyl<strong>an</strong>: I think you make a subtle but import<strong>an</strong>t<br />

point here: prison <strong>an</strong>d penal abolition imply <strong>an</strong><br />

<strong>an</strong>alysis of society that illuminates the repressive<br />

logic, as well as the fascistic historical trajectory,<br />

of the prison’s growth as a social <strong>an</strong>d industrial<br />

institution. Theoretically <strong>an</strong>d politically, this »radical<br />

position,« as you call it, introduces a new set<br />

of questions that does not necessarily advocate a<br />

pragmatic »alternative« or a concrete <strong>an</strong>d immediate<br />

»solution« to what currently exists. In fact,<br />

I think this is <strong>an</strong> entirely appropriate position to<br />

assume when dealing with a policing <strong>an</strong>d jurisprudence<br />

system that inherently disallows the asking of<br />

such fundamental questions as: Why are some lives<br />

consi<strong>der</strong>ed more disposable th<strong>an</strong> others un<strong>der</strong> the<br />

weight of police policy <strong>an</strong>d criminal law? How have<br />

we arrived at a place where killing is valorized <strong>an</strong>d<br />

defended when it is org<strong>an</strong>ized by the state -- I’m<br />

thinking about the street lynchings of Diallo <strong>an</strong>d<br />

Dorismond in New York City, the bombing of the<br />

MOVE org<strong>an</strong>ization in Philadelphia in 1985, the<br />

ongoing bombing of Iraqi civili<strong>an</strong>s by the United<br />

States -- yet viciously avenged (by the state) when<br />

committed by isolated individuals? Why have we<br />

come to associate community safety <strong>an</strong>d personal<br />

security with the degree to which the state exercises<br />

violence through policing <strong>an</strong>d criminal justice?<br />

You’ve written elsewhere that the primary challenge<br />

for penal abolitionists in the United States is to construct<br />

a political l<strong>an</strong>guage <strong>an</strong>d theoretical discourse<br />

that disarticulates crime from punishment. In a<br />

sense, this implies a principled refusal to p<strong>an</strong><strong>der</strong> to<br />

the typically pragmatist impulse to dem<strong>an</strong>d absolute<br />

<strong>an</strong>swers <strong>an</strong>d solutions right now to a problem<br />

that has deep roots in the social formation of the<br />

United States since the 1960s. I think your openended<br />

conception of prison abolition also allows<br />

for a more comprehensive un<strong>der</strong>st<strong>an</strong>ding of the<br />

prison-industrial complex as a set of institutional<br />

<strong>an</strong>d political relationships that extend well beyond<br />

the walls of the prison proper. So in a sense, prison<br />

abolition is itself a broa<strong>der</strong> critique of society. This<br />

brings me to the next question: What are the most<br />

crucial distinctions between the political commitments<br />

<strong>an</strong>d agendas of prison reformists <strong>an</strong>d those<br />

of prison abolitionists?<br />

Angela: The seemingly unbreakable link between<br />

prison reform <strong>an</strong>d prison development -- referred<br />

to by Foucault in his <strong>an</strong>alysis of prison history --<br />

has created a situation in which progress in prison<br />

reform has tended to ren<strong>der</strong> the prison more impermeable<br />

to ch<strong>an</strong>ge <strong>an</strong>d has resulted in bigger, <strong>an</strong>d<br />

what are consi<strong>der</strong>ed »better,« prisons. The most<br />

difficult question for advocates of prison abolition<br />

is how to establish a bal<strong>an</strong>ce between reforms that<br />

are clearly necessary to safeguard the lives of prisoners<br />

<strong>an</strong>d those strategies designed to promote the<br />

eventual abolition of prisons as the domin<strong>an</strong>t mode<br />

of punishment. In other words, I do not think that<br />

there is a strict dividing line between reform <strong>an</strong>d<br />

abolition. For example, it would be utterly absurd<br />

for a radical prison activist to refuse to support<br />

the dem<strong>an</strong>d for better health care inside Valley<br />

State, California’s largest women’s prison, un<strong>der</strong> the<br />

pretext that such reforms would make the prison<br />

a more viable institution. Dem<strong>an</strong>ds for improved<br />

health care, including protection from sexual abuse<br />

<strong>an</strong>d challenges to the myriad ways in which prisons<br />

violate prisoners’ hum<strong>an</strong> rights, c<strong>an</strong> be integrated<br />

into <strong>an</strong> abolitionist context that elaborates specific<br />

decarceration strategies <strong>an</strong>d helps to develop a popular<br />

discourse on the need to shift resources from<br />

punishment to education, housing, health care, <strong>an</strong>d<br />

other public resources <strong>an</strong>d services.<br />

Dyl<strong>an</strong>: Speaking of developing a popular discourse,<br />

the Critical Resist<strong>an</strong>ce gathering in September 1998<br />

seemed to pull together <strong>an</strong> incredibly wide array of<br />

prison activists -- cultural workers, prisoner support<br />

<strong>an</strong>d legal advocates, former prisoners, radical<br />

teachers, all kinds of researchers, progressive policy<br />

scholars <strong>an</strong>d criminologists, <strong>an</strong>d m<strong>an</strong>y others.<br />

Although you were quite clear in the conference’s<br />

opening plenary session that the purpose of Critical<br />

Resist<strong>an</strong>ce was to encourage people to imagine<br />

radical strategies for a sustained prison abolition<br />

campaign, it was clear to me that only a few people<br />

took this dimension of the conference seriously.<br />

That is, it seemed convenient for people to rejoice<br />

at the unprecedented level of participation in this<br />

presumably »radical« prison activist gathering,<br />

but the level of <strong>an</strong>alysis <strong>an</strong>d political discussion<br />

generally failed to embrace the creative challenge<br />

of formulating new ways to link existing activism<br />

to a larger abolitionist agenda. People were gener-


34 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

ally more interested in developing <strong>an</strong> <strong>an</strong>alysis of<br />

the prison-industrial complex that incorporated<br />

the local work that they were involved in, which<br />

I think is <strong>an</strong> import<strong>an</strong>t practical connection to<br />

make. At the same time, I think there is <strong>an</strong> inherent<br />

d<strong>an</strong>ger in conflating milit<strong>an</strong>t reform <strong>an</strong>d hum<strong>an</strong><br />

rights strategies with the un<strong>der</strong>lying logic of <strong>an</strong>tiprison<br />

radicalism, which conceives of the ultimate<br />

eradication of the prison as a site of state violence<br />

<strong>an</strong>d social repression. What is required, at least in<br />

part, is a new vernacular that enables this kind of<br />

political dream. How does prison abolition necessitate<br />

new political l<strong>an</strong>guage, teachings, <strong>an</strong>d org<strong>an</strong>izing<br />

strategies? How could these strategies help to<br />

educate <strong>an</strong>d org<strong>an</strong>ize people inside <strong>an</strong>d outside the<br />

prison for abolition?<br />

Angela: In or<strong>der</strong> to imagine a world without prisons<br />

-- or at least a social l<strong>an</strong>dscape no longer dominated<br />

by the prison -- a new popular vocabulary<br />

will have to replace the current l<strong>an</strong>guage, which<br />

articulates crime <strong>an</strong>d punishment in such a way<br />

that we c<strong>an</strong>not think about a society without crime<br />

except as a society in which all the criminals are<br />

imprisoned. Thus, one of the first challenges is to be<br />

able to talk about the m<strong>an</strong>y ways in which punishment<br />

is linked to poverty, racism, sexism, homophobia,<br />

<strong>an</strong>d other modes of domin<strong>an</strong>ce. In the university,<br />

the emergence of the interdisciplinary field<br />

of prison studies c<strong>an</strong> help to trouble the prevailing<br />

criminology discourses that shape public policy<br />

as well as popular ideas about the perm<strong>an</strong>ence of<br />

prisons. At the high school level, new curricula c<strong>an</strong><br />

also be developed that encourage critical thinking<br />

about the role of punishment. Community org<strong>an</strong>izations<br />

c<strong>an</strong> also play a role in urging people to link<br />

their dem<strong>an</strong>ds for better schools, for example, to a<br />

reduction of prison spending.<br />

Dyl<strong>an</strong>: Your last comment suggests that we need<br />

to rupture the ideological structures embodied<br />

by the rise of the prison-industrial complex. How<br />

does prison abolition force us to rethink common<br />

assumptions about jurisprudence, in particular<br />

»criminal justice?«<br />

Angela: Since the invention of the prison as punishment<br />

in Western society during the late 1700s,<br />

criminal justice systems have so thoroughly depended<br />

on imprisonment that we have lost the<br />

ability to imagine other ways to solve the problem<br />

of »crime.« One of the interesting contributions of<br />

prison abolitionists has been to propose other para-<br />

digms of punishment or to suggest that we need<br />

to extricate ourselves from the assumption that<br />

punishment must be a necessary response to all<br />

violations of the law. Reconciliatory or restorative<br />

justice, for example, is presented by some abolitionists<br />

as <strong>an</strong> approach that has proved successful in<br />

non-Western societies -- Native Americ<strong>an</strong> societies,<br />

for example -- <strong>an</strong>d that c<strong>an</strong> be tailored for use<br />

in urb<strong>an</strong> contexts in cases that involve property <strong>an</strong>d<br />

other offenses. The un<strong>der</strong>lying idea is that in m<strong>an</strong>y<br />

cases, the reconciliation of offen<strong>der</strong> <strong>an</strong>d victim (including<br />

monetary compensation to the victim) is<br />

a much more progressive vision of justice th<strong>an</strong> the<br />

social exile of the offen<strong>der</strong>. This is only one example<br />

-- the point is that we will not be free to imagine<br />

other ways of addressing crime as long as we see<br />

the prison as a perm<strong>an</strong>ent fixture for dealing with<br />

all or most violations of the law.<br />

Note<br />

1 The tr<strong>an</strong>script History Is A Weapon is coding<br />

from did not show what part was emphasized. We<br />

apologize.


grenzen|los|werden 35<br />

Die NoBor<strong>der</strong> Bewegung und die EU-Außengrenze in Bulgarien<br />

No Bor<strong>der</strong><br />

Im Workshop wird es um verschiedene Formen des<br />

Aktivismus gegen das EU-Regime gehen.<br />

Dazu werden Aktivisten <strong>der</strong> NoBor<strong>der</strong>-Bewegung<br />

vom diesjährigen NoBor<strong>der</strong> Camp in Bulgarien (25.<br />

- 29. August 2011) berichten. Wir werden auf die<br />

konkrete Situation in Bulgarien als Anwärterstaat<br />

für den Schengenraum eingehen und fragen, was<br />

ein NoBor<strong>der</strong> Camp dort leisten k<strong>an</strong>n, bzw was <strong>an</strong><br />

Bulgaria <strong>an</strong>d Schengen<br />

The Bulgari<strong>an</strong> government is actively<br />

searching for Bulgaria to join the Schengen<br />

area. Consequently, even more restrictions<br />

will be imposed on the asylum seekers<br />

to org<strong>an</strong>ize a better life freely <strong>an</strong>d hum<strong>an</strong>ely.<br />

First, this me<strong>an</strong>s building new detention<br />

<strong>an</strong>d “reception” centers as well as intensifying<br />

the bor<strong>der</strong> control coordination.<br />

Un<strong>der</strong> the current regulation the State Agency<br />

for Refugees, a ministerial body, is in charge of<br />

the functioning “reception centers” in Bulgaria.<br />

One of them is situated on the outskirts of Sofia<br />

<strong>an</strong>d has a capacity for 500 people. A second one<br />

is situated in the Eastern part of Bulgaria, on the<br />

outskirts of the village of B<strong>an</strong>ya, <strong>an</strong>d has a capacity<br />

for 80 people. A new, called tr<strong>an</strong>sitional,<br />

center has been pl<strong>an</strong>ned in Pastrogor, in the vicinity<br />

of the Bulgari<strong>an</strong>-Turkish bor<strong>der</strong>, for some<br />

years. It is supposed to accommodate migr<strong>an</strong>ts<br />

deemed suitable for the so called fast procedure<br />

(see below) <strong>an</strong>d has a capacity for 350 people.<br />

The opening of the tr<strong>an</strong>sitional center has been<br />

delayed because of corruption allegations. The<br />

opening is still expected to happen this year.<br />

The detention centers on the other h<strong>an</strong>d, are<br />

being m<strong>an</strong>aged by the Ministry of Interior. In<br />

addition to the detention center in Busm<strong>an</strong>tzi,<br />

very close to Sofia, which has a capacity for 400<br />

people, a new detention center has been opened<br />

this summer (2011) in Lyubimetz, close to the<br />

den Aktionsformen <strong>der</strong> NoBor<strong>der</strong>-Bewegung kritisierenswert<br />

ist. Wir wollen auch <strong>an</strong><strong>der</strong>e Formen von<br />

politischem Aktivismus gegen die EU-Migrationspolitik<br />

kurz vorstellen, und auf dieser Basis eine<br />

Diskussion über die bisherigen Erfolge und Probleme<br />

sowie die Möglichkeiten des Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>ds gegen<br />

das EU-Grenzregime <strong>an</strong>stoßen.<br />

Bulgari<strong>an</strong>-Turkish bor<strong>der</strong>. 350 people are supposed<br />

to be accommodated there at most. It is<br />

a common case for the asylum seekers in Bulgaria<br />

to be directly sent to the detention centers<br />

instead of being accommodated in the reception<br />

facilities <strong>an</strong>d to spend there m<strong>an</strong>y months.<br />

Beyond that, a Black Sea bor<strong>der</strong> coordination <strong>an</strong>d<br />

information center has been established in 2004<br />

at the seaside of Burgas with active Rom<strong>an</strong>i<strong>an</strong><br />

participation. Germ<strong>an</strong>y is one of the main donors<br />

of this centers in the context of Bulgaria joining<br />

the Schengen agreement. Respective measures<br />

are being taken at the seaside of Varna too.<br />

Bulgaria – External Bor<strong>der</strong> of Schengen<br />

Second, the Schengen arr<strong>an</strong>gement requires a<br />

militarization of the bo<strong>der</strong>s. After becoming a<br />

full member of Schengen, Bulgaria will share the<br />

external bor<strong>der</strong> of the Europe<strong>an</strong> Union with Turkey,<br />

Macedonia, Serbia <strong>an</strong>d the Black Sea – a total<br />

of 1647km. In this context, a special attention<br />

is being paid to the Bulgari<strong>an</strong>-Turkish bor<strong>der</strong>.<br />

Among other things, the militarization of the<br />

bor<strong>der</strong>s results in increasing bor<strong>der</strong> staff, more<br />

surveill<strong>an</strong>ce towers, new military technologies<br />

(for example, three new helicopters have<br />

been purchased from <strong>an</strong> Itali<strong>an</strong> corporation<br />

for this purpose). Bulgari<strong>an</strong> policemen are taking<br />

part in the FRONTEX mission “Poseidon”<br />

along the Greek-Turkish water <strong>an</strong>d l<strong>an</strong>d bor<strong>der</strong>.<br />

Since March 2011 FRONTEX policemen are di-


36 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

rectly present at the Bulgari<strong>an</strong>-Turkish bor<strong>der</strong>.<br />

Third, all this enables the flourishing of a newly<br />

emerged “bor<strong>der</strong> industry”. According to the<br />

Minister of Interior, Tzvet<strong>an</strong> Tzvet<strong>an</strong>ov, Bulgaria<br />

has spent 160 Mio Euro during the last<br />

three years for “strengthening its bor<strong>der</strong>s”. 80%<br />

of them were fin<strong>an</strong>ced by the Europe<strong>an</strong> Union.<br />

The deputy Minister of Interior, Dimitar<br />

Georgiev, has stated (2001) that the main adv<strong>an</strong>tages<br />

of Bulgaria joining the Schengen zone<br />

are the creation of new jobs, stimulating of foreign<br />

investments <strong>an</strong>d safety for the business.<br />

Fourth, Bulgaria has already been issuing visas<br />

with biometric data, me<strong>an</strong>ing ten fingerprints<br />

<strong>an</strong>d a digital picture, for persons outside of the EU.<br />

Last but not least, the introduction of the Schengen<br />

criteria has also provoked the already strong<br />

nationalistic trends in the country. For example,<br />

only a day after Greece <strong>an</strong>nounced its decision<br />

to build a wall along its whole l<strong>an</strong>d bor<strong>der</strong><br />

with Turkey (after that it le<strong>an</strong>ed back for 12,5<br />

km in the northern part of this bor<strong>der</strong>), a Bulgari<strong>an</strong><br />

party called “Society for a new Bulgaria”<br />

insisted that such a wall should be built along<br />

the whole Bulgari<strong>an</strong>-Turkish bor<strong>der</strong> (250km).<br />

Situation of the migr<strong>an</strong>ts/refugees<br />

Besides the general geo-political situation following<br />

from the Schengen logic (see above), the migr<strong>an</strong>ts/refugees<br />

in Bulgaria are facing some specific<br />

problems. Formally, all migr<strong>an</strong>ts are going<br />

through the procedure applied for asylum seekers.<br />

After Entering the country/Applying for the refugee<br />

status<br />

Fast procedure <strong>an</strong>d ordinary procedure for<br />

gr<strong>an</strong>ting the refugee status:there are two types<br />

of procedure in Bulgaria. The fast procedure<br />

enables the bor<strong>der</strong> policemen to assess “at their<br />

discretion” whether a person is “suitable” for<br />

going through the ordinary procedure directly<br />

after he/she enters the country. The ordinary<br />

procedure is supposed to last for three months<br />

but usually takes years. All procedures are pri-<br />

marily oriented towards convincing the asylum<br />

seekers in their “voluntary deportation”.<br />

Administrative problems:Lack of interpreters<br />

in different l<strong>an</strong>guages at the bor<strong>der</strong> facilities<br />

<strong>an</strong>d in the detention centers (mostly English),<br />

availability of adequate <strong>an</strong>d timely information<br />

about the rights of the refugees (f.e. their right<br />

to appeal the fast procedure status refusal in 7<br />

days; their right to appeal their imprisonment<br />

in the detention center in 3 days), lack of legal<br />

help free of charge, lack of a vibr<strong>an</strong>t NGO sector<br />

supportive of refugees, being sent directly to<br />

the detention center instead of the reception or<br />

tr<strong>an</strong>sitional center, corruption, lack of reliable<br />

fin<strong>an</strong>cial support (30 Euro for the inhabit<strong>an</strong>ts<br />

of the recetion center, sleeping on the street);<br />

Social Problems:invisibility of the refugees <strong>an</strong>d<br />

their problems, racism/attacks;<br />

Protest on behalf of asylum seekers:Javed Nuri<br />

from Afgh<strong>an</strong>ist<strong>an</strong> had set himself in flames being<br />

imprisoned in a detention center some years ago,<br />

hunger strikes (Nigeri<strong>an</strong>s 2010, Afgh<strong>an</strong> women<br />

2011), revolt during civil protest outside the detention<br />

center in Busm<strong>an</strong>tzi on 27th March 2011;<br />

After receiving the refugee status<br />

Four kinds of protection:Bulgaria gr<strong>an</strong>ts a refuge<br />

(the President), a temporary protection (for<br />

groups of people), a refugee status (State Agency<br />

for Refugees), a hum<strong>an</strong>itari<strong>an</strong> status (SAF);<br />

National Programm for the Integration<br />

of the Refugees 2011-2013: speaks openly<br />

about cultural assimilation („cultural adapation“),<br />

scarce social <strong>an</strong>d material support;<br />

Problems: non-efficient l<strong>an</strong>gu<strong>an</strong>ge courses (600<br />

hours, 6 months), high rates of unemployment,<br />

black market, non-visibility in the society, racism/attacks


grenzen|los|werden 37<br />

Menschenrechte<br />

Freunde und För<strong>der</strong>er destruktiver Kritik von Menschenrecht und Rechtsstaat<br />

Von demokratischen Politikern gepriesen. Von NGOs gegen »Missstände« in Stellung gebracht. Was sind die<br />

Höchstwerte mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften eigentlich wert?<br />

Natürlich-Unveräußerlich-Wi<strong>der</strong>lich<br />

Eines muss m<strong>an</strong> geltenden Menschenrechten lassen: Sie<br />

sind unstrittig Höchstwerte bei den Bürgern, die ihrem<br />

Geltungsbereich leben. Das gilt nicht nur für demokratisch<br />

gesinnte Leute, son<strong>der</strong>n auch für die »extremistischen<br />

Rän<strong>der</strong>«.<br />

An<strong>der</strong>erseits: Sorgen und Nöte fehlen im Geltungsbereich<br />

<strong>der</strong> Menschenrechte nicht. Es ist für m<strong>an</strong>che überhaupt<br />

schon ein Problem, in <strong>der</strong>en Geltungsbereich zu kommen,<br />

wenn sie vor den Mauern des Westens verrecken.<br />

So ist das jedenfalls nicht mit <strong>der</strong> Universalität gemeint,<br />

dass m<strong>an</strong> qua seines Menschseins überall in die Regionen<br />

<strong>der</strong> Menschenrechte darf. Und wenn diese Leute mal Zutritt<br />

zum Geltungsbereich <strong>der</strong> Menschenrechte erl<strong>an</strong>gen,<br />

ist es kein Wi<strong>der</strong>spruch zu diesen, wenn Kasernen und<br />

Lebensmittelgutscheine die Lebenswirklichkeit bilden.<br />

Aber auch im Geltungsbereich <strong>der</strong> Menschenrechte sieht<br />

es nicht zwingend rosig aus.: »Am Ende des Lohns ist<br />

noch so viel Monat da!« reflektiert wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> Arbeitnehmer<br />

auf die Tatsache, dass Interessen von ihm auf<br />

<strong>der</strong> Strecke bleiben, weil es am Geld m<strong>an</strong>gelt. Wer keine<br />

Arbeit hat und auf »soziale Tr<strong>an</strong>sferleistungen« <strong>an</strong>gewiesen<br />

ist, gilt sogar in <strong>der</strong> hiesigen öffentlichen Meinung<br />

als arm.<br />

Wer den Gel<strong>der</strong>werb wie<strong>der</strong>um illegal betreibt, kriegt die<br />

Gewalt des Rechtsstaates mittels Geld- o<strong>der</strong> Freiheitsent-<br />

Thesenpapier<br />

I.<br />

„Die Grundwerte [Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit]<br />

als unteilbare Menschenrechte gelten universell und<br />

über unsere nationalen Grenzen hinaus“ (CDU Grundsatzprogramm)<br />

„Freiheit und Gleichheit, Sozialismus und Demokratie,<br />

Menschenrechte und Gerechtigkeit sind für uns unteilbar.“<br />

(Programmatische Eckpunkte <strong>der</strong> Partei „Die<br />

Linke“)<br />

„Als »gemeinsames Ideal« aller Völker haben die Vereinten<br />

Nationen den Inhalt jener 30 Artikel charakterisiert,<br />

die sie am 10. Dezember 1948 als »Universal Declaration<br />

of Hum<strong>an</strong> Rights« verkündeten. Und wirklich: es h<strong>an</strong>delt<br />

sich um Ziele, die zu erreichen <strong>der</strong> Weltbevölkerung aufs<br />

Innigste zu wünschen ist.“ (Herm<strong>an</strong>n Klenner, marxistischer<br />

Rechtsphilosoph)<br />

zug zu spüren - davor haben die Grundrechte und die Allgemeine<br />

Erklärung <strong>der</strong> Menschenrechte noch niem<strong>an</strong>den<br />

geschont. Schließlich werden die großen Schlachten <strong>der</strong><br />

heutigen Zeit regelmäßig im Namen <strong>der</strong> Menschenrechte<br />

geschlagen - auch wenn die Leichen, die das Schlachtfeld<br />

pflastern, nichts mehr von <strong>der</strong> zukünftigen Geltung <strong>der</strong><br />

Menschenrechte haben.<br />

Für die Freunde von Menschenrechten all dies kein Argument<br />

gegen die Höchstwerte. Entwe<strong>der</strong> es heißt d<strong>an</strong>n zynisch<br />

»Das leben ist kein Wunschkonzert« - was immerhin<br />

noch zugibt, dass die Geltung von Menschenrechten und<br />

die Geltung <strong>der</strong> eigenen Interessen nicht identisch ist. O<strong>der</strong><br />

die Widrigkeiten des täglichen Lebens werden <strong>der</strong> m<strong>an</strong>gelnden<br />

Durchsetzung von Menschenrechten <strong>an</strong>gelastet,<br />

was die Behauptung enthält, dass es im Geltungsbereich <strong>der</strong><br />

Menschenrechte um die Interessen <strong>der</strong> Rechtsträger geht.<br />

Genau diesen Charme versprüht das Wort - Menschenrecht<br />

- ja´auch aus Sicht von dessen F<strong>an</strong>s.<br />

Wir sehen das g<strong>an</strong>z <strong>an</strong><strong>der</strong>s und wollen darlegen, dass es<br />

einen notwendigen Zusammenh<strong>an</strong>g zwischen den Sorgen<br />

und Nöten im Geltungsbereich <strong>der</strong> Menschenrechte gibt.<br />

Anh<strong>an</strong>d von Freiheit, Gleichheit und Eigentum sowie ein<br />

paar allgemeinen Überlegungen zu den Lobeshymnen auf<br />

die Menschenrechte wollen wir zeigen, dass es keinen guten<br />

Grund gibt, für sie parteiisch zu sein.<br />

Im Kongressrea<strong>der</strong> gibt es schon ein vorh<strong>an</strong>denes ausführlicheres<br />

Thesenpapier, welches wir diskutieren wollen.<br />

Während das Rentenrecht o<strong>der</strong> das Mietrecht immer wie<strong>der</strong><br />

Gegenst<strong>an</strong>d von politischen Debatten ist, scheinen Menschenrechte<br />

vor je<strong>der</strong> Kritik erhaben zu sein. Selbst <strong>der</strong> in<br />

kritischer Absicht gemachte Vortrag, dass die Menschenrechte<br />

lei<strong>der</strong> noch nicht verwirklicht sind, unterstellt ein affirmatives<br />

Verhältnis zu ihnen.<br />

Die Menschenrechte sind also solche Höchstwerte, dass sich<br />

politisch Interessierte, die sich üblicherweise spinnefeind<br />

sind, darauf einigen können, diesen Höchstwerten dienen<br />

zu wollen.<br />

Für uns ist das daher ein klärungsbedürftiger Sachverhalt:<br />

Was macht diese Artikel und Paragraphen so lobenswert?<br />

Zunächst erfährt m<strong>an</strong> dabei immer folgendes:<br />

II.<br />

„Auch wenn <strong>der</strong> naturrechtliche Charakter von Menschenrechten<br />

unbestritten ist, bedarf es doch nach internationaler<br />

Auffassung einer Rechtsetzung durch den souveränen<br />

Staat.“ (Informationen <strong>der</strong> Bundeszentrale für politische<br />

Bildung)


38 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

Menschenrechte sollen etwas natürliches sein, Kraft des<br />

Menschseins kommen sie einem zu („naturrechtlicher<br />

Charakter“). Im Unterschied zu <strong>an</strong><strong>der</strong>en Rechten sind sie<br />

unverän<strong>der</strong>- und unveräußerlich. Merkwürdig ist dar<strong>an</strong>:<br />

Wenn sie so natürlich wären, besteht doch keine Not, zu<br />

festzuschreiben. Die Not, dass m<strong>an</strong> Augen, Ohren und<br />

eine Nase hat – immerhin wirklich eine natürliche Tatsache<br />

-, in eine Verfassung zu schreiben, gab es bisher<br />

jedenfalls nicht.<br />

Die gleiche Frage stellt sich hinsichtlich <strong>der</strong> Geltung.<br />

Dafür braucht es ein staatliches Gewaltmonopol. Diese<br />

Auffassung soll international <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nt sein. Nur: Keine<br />

Naturtatsache <strong>der</strong> Welt braucht so etwas, da die Geltung<br />

aus <strong>der</strong> Tatsache selbst erfolgt. Eine Schwerkraft braucht<br />

nicht erst die Bundesrepublik Deutschl<strong>an</strong>d, um zu gelten.<br />

Und um beim Menschen zu bleiben: Dass <strong>der</strong> als Mensch<br />

selbst eine natürliche Tatsache wird, hat seinen Grund<br />

nicht in einem Hoheits-, son<strong>der</strong>n in einem Geschlechtsakt.<br />

Die Begründung für die Existenz <strong>der</strong> Menschenrechte<br />

k<strong>an</strong>n d<strong>an</strong>n nicht ihre Natürlichkeit sein. Der Grund<br />

muss dort liegen, wo die Gar<strong>an</strong>tie <strong>der</strong> Menschenrechte<br />

ihren Ursprung hat: im staatlichen Gewaltmonopol<br />

selbst. Fraglich ist d<strong>an</strong>n aber, was es mit <strong>der</strong> Geltung <strong>der</strong><br />

Menschenrechte verfolgt und wie m<strong>an</strong> dabei wegkommt.<br />

III.<br />

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben<br />

ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch<br />

das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz<br />

gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung<br />

verstößt, und gegen jede Aufhetzung zu einer <strong>der</strong>artigen<br />

Diskriminierung.“ (Artikel 7 <strong>der</strong> Allgemeinen Erklärung<br />

<strong>der</strong> Menschenrechte <strong>der</strong> UN)<br />

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.<br />

Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat<br />

för<strong>der</strong>t die tatsächliche Durchsetzung <strong>der</strong> Gleichberechtigung<br />

von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung<br />

bestehen<strong>der</strong> Nachteile hin.<br />

Niem<strong>an</strong>d darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung,<br />

seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat<br />

und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen o<strong>der</strong><br />

politischen Anschauungen benachteiligt o<strong>der</strong> bevorzugt<br />

werden. Niem<strong>an</strong>d darf wegen seiner Behin<strong>der</strong>ung<br />

benachteiligt werden.“ (Artikel 3 des bundesdeutschen<br />

Grundgesetzes)<br />

Die Gesetzestexte räumen freundlicherweise selbst mit<br />

einem verbreiteten Ideal über die Gleichheit als einem<br />

<strong>der</strong> menschenrechtlichen Höchstwerte auf: We<strong>der</strong> ist die<br />

Gleichheit <strong>der</strong> Menschen <strong>an</strong> sich gemeint, die dort ihr<br />

Gesetz gefunden hat – das wäre auch sehr albern, weil<br />

selbst eineiige Zwillinge nicht gleich sind, also augenscheinlich<br />

kein Mensch dem <strong>an</strong><strong>der</strong>en tatsächlich gleicht.<br />

Noch ist eine materielle Gleichheit am Maßstab <strong>der</strong> Partizipation<br />

am gesellschaftlichen Reichtum gemeint.<br />

Vielmehr stellt <strong>der</strong> Gar<strong>an</strong>t <strong>der</strong> Menschenrechte mit dem<br />

Gleichheitsartikel klar, dass er für die Geltung des Gesetzes<br />

gegenüber allen gleichermaßen steht. Da zudem<br />

Gar<strong>an</strong>t <strong>der</strong> Menschenrechte und Gesetzgeber mit dem<br />

staatlichen Gewaltmonopol identisch sind, bedeutet<br />

dies in letzter Konsequenz die Unterwerfung Aller unter<br />

die Gesetzes des Staates und umgekehrt das Bestreiten<br />

irgendwelcher Subgewalten. Der Gar<strong>an</strong>t <strong>der</strong> Menschenrechte<br />

ist ein Gewaltmonopol.<br />

Noch etwas ist mit den Artikeln klargestellt: Es scheint in<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft, in denen Menschenrechte gelten, jede<br />

Menge Gründe für „Diskriminierungen“ zu geben. Wäre<br />

dem nicht so, bräuchte es diese Klarstellung <strong>der</strong> Ablehnung<br />

schließlich nicht.<br />

Gänzlich abschaffen will m<strong>an</strong> „Diskriminierungen“<br />

freilich nicht, nur g<strong>an</strong>z bestimmte, nämlich die wg. <strong>der</strong><br />

„Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner<br />

Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens“<br />

usw. o<strong>der</strong> allgemeiner wegen „Diskriminierung, die gegen<br />

diese Erklärung verstößt“ - da sollen im gesellschaftlichen<br />

Verkehr keine Unterschiede („benachteiligt o<strong>der</strong><br />

bevorzugt“) gemacht werden. Allgemein gesprochen ist<br />

das merkwürdig, wenn m<strong>an</strong> auf Sprache keine Rücksicht<br />

wegen <strong>der</strong>en Beson<strong>der</strong>heit nehmen soll: Einem<br />

Marokk<strong>an</strong>er in norwegisch zu erklären, wie <strong>der</strong> Weg<br />

zum nächstgelegenen Wirtshaus ist, dürfte vielleicht bei<br />

Mohammed Abdellaoue funktionieren, ist aber sonst ein<br />

untaugliches Unterf<strong>an</strong>gen. Einer Frau ein Kondom zur<br />

Verhütung <strong>an</strong>zubieten - und so vom Geschlecht zu abstrahieren<br />

– ist auch eine selten dämliche Tat.<br />

An<strong>der</strong>s gesagt: Es k<strong>an</strong>n gute Gründe geben, Sprache<br />

o<strong>der</strong> Geschlecht einer Person zu berücksichtigen – das<br />

Menschenrecht <strong>der</strong> Gleichheit scheint so etwas nicht zu<br />

kennen. Wenn dem so ist, d<strong>an</strong>n muss <strong>der</strong> Grund des Absehens<br />

von Unterschieden <strong>der</strong> Leute in den „Gesetzen“<br />

liegen, vor denen alle gleich sein sollen.<br />

IV.<br />

„Je<strong>der</strong> hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit<br />

<strong>der</strong> Person.“ (Artikel 3 <strong>der</strong> Allgemeinen Erklärung <strong>der</strong><br />

Menschenrechte)<br />

„Je<strong>der</strong> hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner<br />

Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte <strong>an</strong><strong>der</strong>er verletzt<br />

und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung<br />

o<strong>der</strong> das Sittengesetz verstößt.<br />

Je<strong>der</strong> hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.<br />

Die Freiheit <strong>der</strong> Person ist unverletzlich. In<br />

diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen<br />

werden.“<br />

(Artikel 2 des bundesdeutschen Grundgesetzes)<br />

Dieses Gesetz, vor dem alle gleich sind, gilt auch als unbestrittener<br />

Höchstwert. Damit wird lizensiert, dass m<strong>an</strong>


grenzen|los|werden 39<br />

tun und lassen darf, was m<strong>an</strong> will. Das ist merkwürdig:<br />

Aus einem Willensinhalt mag vieles folgen – Beispielsweise<br />

aus wem Willen, sich sportlich zu betätigen. Das<br />

k<strong>an</strong>n allein, in Gesellschaft, <strong>an</strong> <strong>der</strong> frischen Luft, in <strong>der</strong><br />

Muckibude, mit Spielgeräten o<strong>der</strong> ohne passieren. - Ein<br />

Bedarf nach Erlaubnis folgt aus so einem Willen nicht.<br />

D<strong>an</strong>n k<strong>an</strong>n aber auch <strong>der</strong> Inhalt des Willens (Sportmachen)<br />

nicht Gegenst<strong>an</strong>d <strong>der</strong> Freiheit sein. Wenn also<br />

<strong>der</strong> Staat vom Vertragsschluss mit <strong>an</strong><strong>der</strong>en Bürgern bis<br />

zum G<strong>an</strong>g auf den Lokus alles als Ausdruck <strong>der</strong> Freiheit<br />

begreift und gleichzeitig beurteilt, d<strong>an</strong>n ist klar, dass<br />

er jeden (!) Willen auf seine Funktionalität für etwas<br />

prüft, was jenseits des Willensinhaltes liegen muss. Sonst<br />

bedürfte es nicht <strong>der</strong> Feststellung <strong>der</strong> Freiheit. Die Anerkennung<br />

des freien Willens <strong>der</strong> Bürger getrennt von<br />

ihrem Inhalt ist somit <strong>der</strong> Zugriff auf ihre Kalkulationen.<br />

Es fällt zudem auf, dass Freiheit als Recht jede Menge<br />

Gegensätze zwischen den Mitglie<strong>der</strong>n entfachen muss.<br />

Sonst gäbe es nicht das zwingende Bedürfnis, nie<strong>der</strong>zuschreiben,<br />

dass je<strong>der</strong> die Freiheit des <strong>an</strong><strong>der</strong>en akzeptieren<br />

muss. So unschuldige Zwecke wie <strong>der</strong> Kinog<strong>an</strong>g<br />

und <strong>der</strong> Gasthausbesuch von verschiedenen Mitglie<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft kommen sich nicht ins Gehege, weil sie<br />

sich schlicht ignorieren. Der bloße Pluralismus von Willensinhalten<br />

bringt die Aufherrschung <strong>der</strong> zwingenden<br />

Akzept<strong>an</strong>z <strong>der</strong> Freiheit <strong>der</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>en Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong><br />

nicht her. Was d<strong>an</strong>n?<br />

Mit <strong>der</strong> gewährten Freiheit sind aber gar nicht die Mittel,<br />

die eigenen Interessen auch umzusetzen gar<strong>an</strong>tiert.<br />

Und das ist hart. Denn ein <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nter Wille, <strong>der</strong> nur<br />

getrennt von den Objekten seiner Verwirklichung gilt,<br />

taugt nichts. Es gibt nämlich fast keinen Willen, <strong>der</strong><br />

keiner Objekte bedarf. Die Gegenstände des Bedarfs<br />

eines Willens sind auch regelmäßig nicht in <strong>der</strong> eigenen<br />

Benutzungssphäre, weil fremdes Eigentum <strong>an</strong> ihnen existiert,<br />

welches m<strong>an</strong> allenfalls durch Bezahlung überwinden<br />

k<strong>an</strong>n. K<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> nicht zahlen, ist die Willensrealisierung<br />

dahin. Keine son<strong>der</strong>lich nützliche Einrichtung,<br />

diese Freiheit.<br />

V.<br />

„Je<strong>der</strong> hat das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft<br />

mit <strong>an</strong><strong>der</strong>en Eigentum innezuhaben.<br />

Niem<strong>an</strong>d darf willkürlich seines Eigentums beraubt<br />

werden.“ (Artikel 17 <strong>der</strong> Allgemeinen Erklärung <strong>der</strong><br />

Menschenrechte)<br />

„Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.<br />

Inhalt und Schr<strong>an</strong>ken werden durch die Gesetze bestimmt.“<br />

(Artikel 14 Grundgesetz)<br />

Die Objekte des Willens haben also ihr eigenes Menschenrecht<br />

– das Eigentum. Ob m<strong>an</strong> tatsächlich Dinge<br />

sein Eigentum nennen darf, steht nicht in den Verfassungen.<br />

Insofern ist dies bereits ein Hinweis, dass m<strong>an</strong> auch<br />

in dieser Vorschrift keinen Nutzen zu erwarten hat.<br />

Dem ist auch so: Mit dem Recht auf Eigentum darf m<strong>an</strong><br />

alle <strong>an</strong><strong>der</strong>en Personen von dem Gebrauch des Eigentums<br />

ausschließen. D<strong>an</strong>n wie<strong>der</strong>um ist das bloße Benutzungsverhältnis<br />

von Sachen aber nicht gemeint. Dafür wird<br />

keine Exklusivität benötigt, denn aus <strong>der</strong> Benutzung<br />

einer Sache selbst, folgt nicht, dass <strong>an</strong><strong>der</strong>e Personen<br />

prinzipiell von <strong>der</strong> Benutzung auszuschließen sind. Das<br />

kommt doch einfach darauf <strong>an</strong>, wie m<strong>an</strong> sich hinsichtlich<br />

<strong>der</strong> Benutzung abspricht.<br />

Und für Zahnbürste und Unterhose ist Eigentum nun<br />

wirklich nicht von Nöten, die will ohnehin niem<strong>an</strong>d <strong>an</strong><strong>der</strong>es<br />

haben.<br />

Schließlich ist das Eigentum <strong>an</strong> Immobilien und 100.000<br />

produzierten Autos auch gar nicht dazu da, die Eigentümer<br />

damit zu versorgen. Selbst mit einer großen<br />

Familie k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> nicht 100.000 Autos fahren und<br />

mehrere Wohnungen bewohnen.<br />

Das k<strong>an</strong>n also nicht die Wahrheit über die Einrichtung<br />

des Eigentums sein. Es muss mit dem Resultat dessen,<br />

was die Exklusivität <strong>der</strong> Verfügung über die Sachen hervorbringt,<br />

zusammenhängen. Was ist das Resultat. Der<br />

Ged<strong>an</strong>ke ist einfach: Wenn je<strong>der</strong> Gegenst<strong>an</strong>d auf <strong>der</strong> Welt<br />

als Recht jem<strong>an</strong>dem exklusiv zusortiert ist, d<strong>an</strong>n betrifft<br />

das nicht nur Schuhe, M<strong>an</strong>tel und Lebensmittel – immerhin<br />

schon eine Härte, wenn einem <strong>der</strong> Zugriff darauf<br />

m<strong>an</strong>gels Geld verwehrt ist -, son<strong>der</strong>n auch die Geräte,<br />

die für die Herstellung <strong>der</strong> ben<strong>an</strong>nten Güter notwendig<br />

sind, die Produktionsmittel. D<strong>an</strong>n k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> auch nicht<br />

ohne Erlaubnis des Eigentümers hingehen und sich mit<br />

diesen Produktionsmitteln die Dinge des Bedarfs herstellen.<br />

Dass das nicht geht, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Eigentümer <strong>der</strong><br />

Produktionsmittel selbst entscheidet, wen er <strong>an</strong> diese<br />

lässt und wen nicht. Dass dieser Eigentümer d<strong>an</strong>n auch<br />

wie<strong>der</strong> Eigentümer <strong>der</strong> Resultate <strong>der</strong> Produktion ist und<br />

nicht die Produzenten, ist kein Geheimnis. D<strong>an</strong>n ist das<br />

aber auch <strong>der</strong> das gewollte Resultat des Eigentums: Die<br />

Einrichtung einer Ökonomie, die den Eigentümern von<br />

Produktionsmitteln erlaubt, fremde Arbeit <strong>der</strong>jenigen<br />

ohne Produktionsmittel auszunutzen, um den Reichtum<br />

des ersteren zu mehren. Ein für sehr viele Leute äußerst<br />

schädliches gesellschaftliches Verhältnis: Ihre Armut ist<br />

<strong>der</strong> Hebel für fremde Interessen dienen zu müssen, von<br />

denen m<strong>an</strong> außer dem – m<strong>an</strong>chmal nicht mal mehr das -<br />

Überleben bis zur nächsten Schicht nichts hat. Wer nicht<br />

das Glück hat, einen Arbeitsplatz zu erhalten, ist noch<br />

beschissener dr<strong>an</strong>. Ein schönes Menschenrecht ist das.<br />

VI.<br />

„Niem<strong>an</strong>d darf <strong>der</strong> Folter o<strong>der</strong> grausamer, unmenschlicher<br />

o<strong>der</strong> erniedrigen<strong>der</strong> Beh<strong>an</strong>dlung o<strong>der</strong> Strafe unterworfen<br />

werden.“<br />

„Niem<strong>an</strong>d darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten<br />

o<strong>der</strong> des L<strong>an</strong>des verwiesen werden.“<br />

„Je<strong>der</strong> hat bei <strong>der</strong> Feststellung seiner Rechte und Pflichten<br />

sowie bei einer gegen ihn erhobenen strafrechtlichen<br />

Beschuldigung in voller Gleichheit Anspruch auf


40 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

ein gerechtes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen<br />

und unparteiischen Gericht.“<br />

„1. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> einer strafbaren H<strong>an</strong>dlung beschuldigt<br />

wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, sol<strong>an</strong>ge<br />

seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in<br />

dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Gar<strong>an</strong>tien<br />

gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.<br />

2. Niem<strong>an</strong>d darf wegen einer H<strong>an</strong>dlung o<strong>der</strong> Unterlassung<br />

verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach<br />

innerstaatlichem o<strong>der</strong> internationalem Recht nicht strafbar<br />

war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die zum<br />

Zeitpunkt <strong>der</strong> Begehung <strong>der</strong> strafbaren H<strong>an</strong>dlung <strong>an</strong>gedrohte<br />

Strafe verhängt werden.“<br />

„Niem<strong>an</strong>d darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben,<br />

seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr<br />

o<strong>der</strong> Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines<br />

Rufes ausgesetzt werden. Je<strong>der</strong> hat Anspruch auf rechtlichen<br />

Schutz gegen solche Eingriffe o<strong>der</strong> Beeinträchtigungen.“<br />

(Artikel 5, 9-12 <strong>der</strong> allg. Erklärung <strong>der</strong> Menschenrechte<br />

– die entsprechenden Vorschriften in Deutschl<strong>an</strong>d haben<br />

einen ziemlich ähnlichen Tenor)<br />

Richtig rund wird das Lob von Menschenrechtsf<strong>an</strong>s<br />

d<strong>an</strong>n noch mit dem Hinweis, dass die Menschenrechte<br />

die Staatsgewalt begrenzen und so „Schutz vor staatlichen<br />

Übergriffen“ gewähren.<br />

Zwei Aufmerker dazu:<br />

1.<br />

Objekt und Subjekt des Satzes identisch. O<strong>der</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>s<br />

gesagt: Täter und Beschützer sind gleich. Einerseits ist<br />

<strong>der</strong> demokratische Staat Täter von Übergriffen und soll<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>erseits Beschützer davor sein. Das k<strong>an</strong>n d<strong>an</strong>n nicht<br />

die Wahrheit über die Tatsache sein, die <strong>an</strong>gesprochen<br />

sein soll. Dieselbe Inst<strong>an</strong>z, die offenkundig Gründe haben<br />

k<strong>an</strong>n, einem das Leben zur Hölle zu machen, soll<br />

gleichzeitig die Inst<strong>an</strong>z sein, welche die Hölle verhin<strong>der</strong>t?<br />

Wenn das tatsächlich so ist, d<strong>an</strong>n ist <strong>der</strong> Schluss <strong>an</strong><strong>der</strong>s:<br />

D<strong>an</strong>n sind die Menschenrechte keine Eingrenzung <strong>der</strong><br />

Staatsgewalt, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>en Klarstellung, dass bestimmte<br />

– grundsätzlich vielleicht zielführende! - Maßnahmen<br />

von den Funktionären des Gewaltmonopols nicht<br />

erlaubt und zu unterlassen sind. Das Folterverbot ist<br />

d<strong>an</strong>n aber keine Vorschrift <strong>an</strong> den Staat her<strong>an</strong>getragene,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Befehl <strong>an</strong> die Funktionäre, auf Folter bei<br />

ihrer Arbeit zu verzichten. Gleiches gilt für Haft und<br />

Hausdurchsuchung. Da soll es gute Gründe geben, bevor<br />

die Funktionäre des Staates diese Mittel <strong>an</strong>wenden.<br />

Ein Polizist soll seinem Nachbarn nicht die Wohnung<br />

durchsuchen, weil <strong>der</strong> Nachbarsjunge die Zeitung aus<br />

dem Briefkasten gestohlen hat.<br />

2.<br />

Apropos Haft und Hausdurchsuchung: An diesen<br />

Vorschriften <strong>der</strong> Menschenrechte sieht m<strong>an</strong> auch sehr<br />

deutlich, wie „Begrenzung <strong>der</strong> Staatsgewalt“ ihren<br />

Verlauf hat. „Willkür“ soll damit ausgeschlossen sein.<br />

Umgekehrt bedeutet das d<strong>an</strong>n aber, dass we<strong>der</strong> Haft<br />

noch Hausdurchsuchung verhin<strong>der</strong>t werden sollen. Sie<br />

sollen nur nicht mit staatsfremden Interessen vollzogen<br />

werden – s. das Beispiel mit dem Nachbarjungen. So<br />

werden die Funktionäre verpflichtet, den dem demokratischen<br />

Gewaltmonopol zugrundeliegenden Zweck zu<br />

dienen und letzteres nicht für sachfremde Interessen zu<br />

benutzen. Und da <strong>der</strong> Zweck <strong>der</strong> Menschenrechte keiner<br />

ist, <strong>der</strong> den Unterworfenen dieser Normen nützt, wird<br />

so ein schädlicher Zweck unhintergehbarer Maßstab des<br />

H<strong>an</strong>delns <strong>der</strong> Staatsfunktionäre.<br />

Von wegen „Begrenzung“ bzw. aber wie! Es wäre ja auch<br />

noch schöner: Da regiert ein Gewaltmonopol souverän<br />

über L<strong>an</strong>d und Leute und gleichzeitig soll es diese Souveränität<br />

zugunsten von aufgeschriebenen Paragraphen<br />

aufgeben? Da braucht es normalerweise einen Krieg <strong>an</strong><strong>der</strong>er<br />

Staaten und kein bedrucktes Papier.<br />

--<br />

Wir wollen die <strong>an</strong>gedeutete Kritik <strong>an</strong> den Menschenrechten<br />

weiter entfalten und diskutieren. Sollten wir schneller<br />

zu einem Ergebnis bei den <strong>an</strong>gedachten Menschenrechten<br />

<strong>der</strong> Freiheit und Gleichheit kommen, als erwartet,<br />

sind als bonus tracks die Erörterung <strong>der</strong> politischen<br />

Menschenrechte (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit,<br />

Wahlfreiheit, Parteiengründung) und die beson<strong>der</strong>e<br />

Durchsetzung <strong>der</strong> Menschenrechte durch einen Rechtsstaat<br />

programmatisch möglich.<br />

Zum Einlesen:<br />

Albert Krölls „Das Grundgesetz - ein Grund zum Feiern?<br />

Eine Streitschrift gegen den Verfassungspatriotismus“,<br />

Hamburg 2009<br />

Ders. „Freiheit, Gleichheit, Eigentum, Sozialstaat - So gut<br />

wie ihr Ruf?“ Broschüre des AStA Uni Bremen – zu finden<br />

auch als pdf im WWW<br />

Zum Einhören:<br />

Rolf Röhrig<br />

„Die Menschenrechte – Heiligenschein und diplomatische<br />

Waffe <strong>der</strong> Staatsgewalt“<br />

-> http://tinyurl.com/3jn7vue<br />

Peter Decker<br />

„Die Menschenrechte – Was sie sind und was sie wert<br />

sind“<br />

-> http://tinyurl.com/3sbnsnb


grenzen|los|werden 41<br />

Die kleinen und großen Gemeinheiten<br />

des deutschen Asyl- und Aufenthaltsrechts<br />

Fr<strong>an</strong>ziska Nedelm<strong>an</strong>n<br />

In diesem Workshop will ich versuchen, <strong>an</strong>h<strong>an</strong>d von<br />

konkreten Beispielen die Absurditäten des <strong>an</strong>geblich so<br />

umfassenden Flüchtlingsschutzes darzustellen, wobei es<br />

sich hier viel um Fragen des tatsächlichen Zug<strong>an</strong>gs zum<br />

Recht h<strong>an</strong>deln wird. Die Abschaffung des Asylrechts<br />

schreitet stetig vor<strong>an</strong>. In einem zweiten Teil soll es um<br />

das als ‘Zuw<strong>an</strong><strong>der</strong>ungsrecht’ bezeichnete Aufenthaltsrecht<br />

gehen. Auch hier werden wir uns Fälle aus <strong>der</strong> Praxis<br />

<strong>an</strong>schauen, die den Ursprung des Aufenthaltsrecht im<br />

»Polizei-und Ordnungsrecht« und die damit verbundene<br />

Kontroll- und Abschottungspolitik deutlich belegen. Ziel<br />

wird es sein, einen Überblick über die Grundlagen des<br />

Asyl- und Aufenthaltsrecht und die Möglichkeiten des<br />

<strong>an</strong>waltlichen Agierens dagegen herauszuarbeiten.<br />

Zur Vorbereitung ist keine Textlektüre<br />

nötig.<br />

Überwachung im<br />

Kapitalismus<br />

O<strong>der</strong>: Wo die Überwachung<br />

nicht <strong>der</strong> S<strong>an</strong>ktionierung des<br />

Unerwünschten,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Optiminierung<br />

<strong>der</strong> Erwünschten dient..<br />

Seminar für <strong>an</strong>gew<strong>an</strong>dte Unsicherheit<br />

Aktuelle Überwachungskritik beschränkt<br />

sich häufig auf eine rechtsstaatliche Diskussion.<br />

Die dabei gestellte Frage lautet<br />

meist: »WIE wird überwacht« - und die<br />

Antwort »Bitte überwacht uns! (- vielleicht<br />

nur ein kleines bisschen <strong>an</strong><strong>der</strong>s).«<br />

Wir wollen <strong>der</strong> Frage nachgehen, WAR-<br />

UM überwacht wird und welche vielfältigen<br />

Interessen hinter Überwachung<br />

stehen. Das zu klären ist nicht möglich,<br />

ohne Überwachung in ihrem spezifischen,<br />

historischen Kontext zu betrachten:<br />

als Überwachung im Kapitalismus.<br />

Eine Annäherung <strong>an</strong> eine grundsätzlichere<br />

Kritik <strong>an</strong> Überwachung, Kontrolle<br />

und Disziplinierung.<br />

Zur Vorbereitung ist keine Textlektüre<br />

nötig.<br />

Sexarbeit im Migrationsprozess<br />

Veronica Munk<br />

Ein Überblick über die Konsequenzen <strong>der</strong> Gesetzgebung<br />

und <strong>der</strong> Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />

von Migr<strong>an</strong>t_innen, die in <strong>der</strong> EU in <strong>der</strong> Sexarbeit<br />

tätig sind.<br />

Anzeige:<br />

Zur Vorbereitung ist keine Textlektüre nötig.


42 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

Hi(s)story? Herstory? Asyl- und Aufenthaltsrecht aus feministischer Perspektive<br />

Doris Liebscher<br />

Anh<strong>an</strong>d <strong>der</strong> aktuelle Rechtslage zu geschlechtsspezifischenFluchtursachen,<br />

Familiennachzug und<br />

Zw<strong>an</strong>gsehegesetz <strong>an</strong>alysieren wir Lebensrealitäten<br />

von Migr<strong>an</strong>t*innen in den Bereichen »Beschäftigung<br />

und Beruf« sowie »Liebe und Familie« im<br />

Kontext von Rassismus und Sexismus. Wir wollen<br />

auch diskutieren welche Bil<strong>der</strong> von Weiblichkeiten,<br />

Männlichkeiten, Liebens- und Lebensweisen<br />

dadurch re(produziert) werden.


grenzen|los|werden 43


44 BAKJ-Herbstkongress 2011


grenzen|los|werden 45


46 BAKJ-Herbstkongress 2011


grenzen|los|werden 47


48 BAKJ-Herbstkongress 2011


grenzen|los|werden 49


50 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

aus: Lena Jolj<strong>an</strong>ty/ Ulrike Lembke (Hrsg.) Feministische Rechtswissenschaft.<br />

Ein H<strong>an</strong>dbuch, 2. Auflage 2010


grenzen|los|werden 51<br />

criticizing europe - staatstheoretische Perspektiven auf die EU<br />

Max Pichl<br />

Ausgehend von einer staatstheoretischen Analyse<br />

<strong>der</strong> EU, wollen wir über progressive Kritiken<br />

<strong>der</strong> EU diskutieren. Zusätzlich werden aktuelle<br />

Rechtsfälle aus dem Bereich des Migrationsrecht<br />

Gegen das „Europa des Kapitals“ o<strong>der</strong><br />

„nach den Sternen greifen“?<br />

Europäische Staatlichkeit und die Frage em<strong>an</strong>zipatorischer<br />

Strategien<br />

Grundlage, in <strong>der</strong> er den kapitalistischen Staat nicht als neutrale Einrichtung, son<strong>der</strong>n als die<br />

„materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnissen“ beschreibt. Um diese beiden Konzepte<br />

für eine Analyse <strong>der</strong> EU fruchtbar zu machen, gehen wir zunächst davon aus, dass so etwas<br />

wie eine Europäische Staatlichkeit existiert. Europäische Staatlichkeit bedeutet hier auf <strong>der</strong> einen<br />

Seite, dass die EU zwar kein Staat im herkömmlichen Sinne des Nationalstaates ist, da ihr<br />

dazu das Gewaltmonopol fehlt, also die Möglichkeit die staatlichen Interessen und Politiken in<br />

letzter Inst<strong>an</strong>z militärisch und polizeilich abzusichern. An<strong>der</strong>seits wurden aber vor allem seit<br />

Ende <strong>der</strong> 80er Jahre weitreichende staatliche Kompetenzen in unterschiedlichen, vor allem<br />

wirtschaftspolitischen Bereichen auf die europäische Ebene übertragen. Die EU ist damit klar<br />

mehr als ein Zusammenschluss von Staaten: Es gibt europäische, supr<strong>an</strong>ationale - d.h. über die<br />

Koordination zwischen Nationalstaaten hinausgehende - Institutionensysteme und politische<br />

Staatsapparate. Beispiele sind unter <strong>an</strong><strong>der</strong>em die Europäische Kommission (->), die Europäische<br />

Zentralb<strong>an</strong>k, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Europäische Gerichtshof. Auch erste Formen einer europäischen<br />

Zivilgesellschaft sind erkennbar. So gründeten sich auf europäischer Ebene weitreichende<br />

Netzwerke aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteuren (z.B. <strong>der</strong> Europe<strong>an</strong> Roundtable<br />

of Industrialists o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Europäische Gewerkschaftsbund). Diese Netzwerke beeinflussen<br />

einerseits europäische Politik, bilden <strong>an</strong><strong>der</strong>erseits aber auch, indem sie für Akzept<strong>an</strong>z<br />

<strong>der</strong> europäischen Politik in Nationalstaaten und Bevölkerungen eintreten, die Basis dafür, dass<br />

diese überhaupt möglich wird.<br />

Europäische Staatlichkeit basiert dadurch nicht zuletzt auf Aktivitäten nationaler und tr<strong>an</strong>snationaler<br />

sozialer Kräfte, die entscheidend auf die Ausrichtung europäischer Politik einwirken<br />

können. Die EU bildet eine strategische Arena, in <strong>der</strong> unterschiedliche wirtschaftliche, politische<br />

und soziale Akteurinnen (wie Unternehmen, Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände<br />

o<strong>der</strong> NGOs) darum ringen, ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen. In diesen Kämpfen<br />

versuchen die AkteurInnen als Teil ihrer Strategien ihre Interessen zu verallgemeinern. Dafür<br />

binden sie auch Interessen <strong>an</strong><strong>der</strong>er sozialer Kräfte in ihre eigenen Ziele und Projekte ein.<br />

Gelingt einer Akteurin diese Einbindung <strong>an</strong><strong>der</strong>er Akteurinnen in ihr Projekt, so k<strong>an</strong>n von einer<br />

hegemonialen Konstellation unter ihrer Führung gesprochen werden.<br />

Von Mathis Heinrich und Nikolas Huke<br />

In linken Debatten wird die Europäische Union (EU) oft schematisch als „Europa des<br />

Kapitals“ o<strong>der</strong> „imperiales Projekt“ verst<strong>an</strong>den. Auch aus demokratietheoretischer Perspektive<br />

erscheint die EU in <strong>der</strong> Regel eher problematisch: Zu groß ist die Macht <strong>der</strong> Europäischen<br />

Kommission, zu gering ist die gesellschaftliche Kontrolle über die europäischen Agenturen (wie<br />

z.B. FRONTEX), zu gering sind die Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Angesichts<br />

dieser Probleme verwun<strong>der</strong>t es wenig, dass in Debatten linker BasisaktivistInnen - wie etwa auf<br />

dem Kongress <strong>der</strong> Bundeskoordination Internationalismus 2010 in Tübingen - die For<strong>der</strong>ung<br />

aufgestellt wird, die EU per se als Herrschaftsprojekt zu begreifen und jeden positiven Bezug<br />

auf sie abzulehnen. Im eher reformistischen und lobbyorientierten Spektrum - etwa den verschiedenen<br />

auf europäischer Ebene tätigen NGOs - herrscht hingegen eine stark pro-europäische<br />

Grundstimmung vor. Europa wird dort als Ch<strong>an</strong>ce gesehen, etwa Projekte wie Geschlechtergerechtigkeit<br />

zu etablieren, die auf nationaler Ebene schwer bis gar nicht durchsetzbar sind.<br />

In unserem Artikel möchten wir <strong>an</strong>h<strong>an</strong>d <strong>der</strong> im weiteren Sinne marxistischen Europaforschung<br />

zeigen, dass beide Einschätzungen verkürzt sind. Die Politik <strong>der</strong> EU wurde seit den 1980er<br />

Jahren zwar eindeutig von liberal-konservativen AkteurInnen und Kapitalfraktionen dominiert,<br />

ist aber keineswegs frei von Wi<strong>der</strong>sprüchen, Konflikten und damit auch Einflussmöglichkeiten<br />

für linke Strategien. Eine Beschreibung <strong>der</strong> EU als „Machthebel des Kapitals“ ist daher ebenso<br />

verkürzt, wie die These, dass sich in <strong>der</strong> EU per se bessere Möglichkeiten als in den Nationalstaaten<br />

böten. Wie wir zu zeigen versuchen, ist die EU vielmehr eine umkämpfte und<br />

wi<strong>der</strong>sprüchliche Arena. Die Ausrichtung <strong>der</strong> europäischen Politik und die Ch<strong>an</strong>cen linker<br />

Strategien sind abhängig von den Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzungen und Kräfteverhältnissen zwischen unterschiedlichen<br />

sozialen, wirtschaftlichen und politischen Akteurinnen. Ob und wie sich diese<br />

Kräfteverhältnisse in Richtung einer em<strong>an</strong>zipatorischeren Politik verschieben lassen, werden<br />

wir abschließend kurz skizzieren.<br />

und die Strategien <strong>der</strong> betreffenden Akteure vorgestellt.<br />

Beispiel für ein solches hegemoniales Projekt ist <strong>der</strong> europäische Binnenmarkt, <strong>der</strong> bis<br />

heute eines <strong>der</strong> Kernelemente <strong>der</strong> EU bildet. Dieser entst<strong>an</strong>d in den 1980er Jahren als Projekt<br />

des Europe<strong>an</strong> Roundtable of Industrialists (ERT), <strong>der</strong> große tr<strong>an</strong>snationale Konzerne<br />

repräsentiert. Er konnte sich jedoch gleichzeitig auf die Akzept<strong>an</strong>z in weiten Teilen <strong>der</strong><br />

nationalen Bevölkerungen stützen, die sich Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze erhofften.<br />

Auch die Gewerkschaften st<strong>an</strong>den dem Projekt nur bedingt ablehnend gegenüber und<br />

versprachen sich von einer Europäisierung <strong>der</strong> Wirtschaftspolitik eine Steigerung <strong>der</strong><br />

zuvor durch die Tr<strong>an</strong>snationalisierung des Kapitals in die Krise geratenen staatlichen<br />

Steuerungsfähigkeit. Da sich diese Hoffnung auf eine verstärkte europäische staatliche Regulierung<br />

jedoch nicht erfüllte, führte <strong>der</strong> Binnenmarkt vielmehr zu einer verschärften St<strong>an</strong>dortkonkurrenz,<br />

bei <strong>der</strong> die international agierenden Konzerne ihr Kapital nunmehr <strong>an</strong> die für sie<br />

Soziale Kräfteverhältnisse und Zivilgesellschaft als Dimensionen Europäischer Staatlichkeit<br />

Einen theoretischen Rahmen, um die Entwicklung <strong>der</strong> EU zu begreifen, liefern Arbeiten, die<br />

<strong>an</strong> die marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci und Nicos Poul<strong>an</strong>tzas <strong>an</strong>knüpfen. Grundlegend<br />

ist dabei Gramscis Konzept des „integralen Staates“. Darin hebt er die Bedeutung<br />

<strong>der</strong> sogen<strong>an</strong>nten zivilen Gesellschaft (bspw. Verbände, Gewerkschaften, Vereine, Kirchen) und<br />

<strong>der</strong> sogen<strong>an</strong>nten politischen Gesellschaft (Parteien, Regierung, Zentralb<strong>an</strong>ken) als integrierte<br />

Best<strong>an</strong>dteile des Staates hervor. Desweiteren eignet sich die Staatstheorie von Poul<strong>an</strong>tzas als<br />

32 Vorneweg: Eine Europäische Wurzelbeh<strong>an</strong>dlung<br />

MATHIS HEINRICH, NIKOLAI HUKE: Gegen das „Europa des Kapitals“ o<strong>der</strong> „nach den Sternen greifen“? Europäische Staatlichkeit und 33<br />

die Frage em<strong>an</strong>zipatorischer Strategien, in:JungdemokratInnen/ Junge Linke (Hrsg.): Die Sterne zum T<strong>an</strong>zen bringen. 32-43.


34 Vorneweg: Eine Europäische Wurzelbeh<strong>an</strong>dlung<br />

MATHIS HEINRICH, NIKOLAI HUKE: Gegen das „Europa des Kapitals“ o<strong>der</strong> „nach den Sternen greifen“?<br />

35<br />

52 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

• Erstens sind die sozialen Kräfteverhältnisse selbst in die Institutionen und Apparate <strong>der</strong><br />

EU eingeschrieben. In Anschluss <strong>an</strong> Poul<strong>an</strong>tzas k<strong>an</strong>n gesagt werden, dass <strong>der</strong> kapitalistische<br />

Staat das Terrain, zur Verfügung stellt, auf dem die herrschenden AkteurInnen überhaupt<br />

erst zu einer halbwegs geschlossenen Gruppe o<strong>der</strong> Koalition zuein<strong>an</strong><strong>der</strong> finden können.<br />

Poul<strong>an</strong>tzas bezeichnet dies bildhaft als „den Block <strong>an</strong> <strong>der</strong> Macht“. Denn auch die herrschenden<br />

AkteurInnen stehen unterein<strong>an</strong><strong>der</strong> in Konkurrenz, was eine Koalitionsbildung<br />

„einfach so“ unwahrscheinlich macht. Darüber hinaus ist <strong>der</strong> Staat aber auch das Terrain<br />

auf dem die Konflikte zwischen dem Block <strong>an</strong> <strong>der</strong> Macht und untergeordneten AkteurInnen,<br />

die nicht direkt in diesem Block vertreten sind, in ein Kompromissgleichgewicht gebracht<br />

werden können, indem er dafür Sorge trägt, dass die Konflikte und Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

• Zweitens aber hebt europäische Staatlichkeit in Anschluss <strong>an</strong> Gramsci auch die Bedeutung<br />

<strong>der</strong> Zivilgesellschaft in politisch-gesellschaftlichen Netzwerken <strong>der</strong> EU hervor. Dabei<br />

meint Zivilgesellschaft mehr, als die oftmals im Alltagsverständnis geläufige Definition<br />

des Einflusses von org<strong>an</strong>isierten Gruppen und Institutionen <strong>der</strong> Gesellschaft, wie bspw.<br />

von NGOs, Verbänden o<strong>der</strong> Gewerkschaften. Vielmehr ist die ideologische und materielle<br />

Einbindung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Basis in konkrete europäische Politik gemeint, also<br />

die Einbindung <strong>der</strong> Interessen, Bedürfnisse und des Alltagsbewusstsein von Individuen<br />

in europäische Staatlichkeit. D.h. europäische Politik versucht immer auch ein „Allge-<br />

An diesem Beispiel wird deutlich, dass die einzelnen Akteurinnen unterschiedliche Voraussetzungen<br />

und Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Strategien besitzen. So können beispielsweise<br />

Unternehmen ihre Betriebe <strong>an</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>e St<strong>an</strong>dorte verlagern (bzw. damit drohen,<br />

dies zu tun) o<strong>der</strong> teure Medienkampagnen und Think T<strong>an</strong>ks (wie die Initiative Neue Soziale<br />

Marktwirtschaft) fin<strong>an</strong>zieren, während Arbeitnehmerinnen diese Möglichkeiten in <strong>der</strong> Regel<br />

nur begrenzt, o<strong>der</strong> gar nicht zur Verfügung stehen und sie auf <strong>an</strong><strong>der</strong>e Mittel, wie Streiks o<strong>der</strong><br />

Demonstrationen, zurückgreifen müssen. Die nationalen und europäischen sozialen Kräfte<br />

stehen also in einer spezifischen Beziehung zuein<strong>an</strong><strong>der</strong>, in <strong>der</strong> einige über eine domin<strong>an</strong>te<br />

Position und damit über beson<strong>der</strong>s viel Macht verfügen, während <strong>an</strong><strong>der</strong>e nur sehr wenig, bis<br />

gar keinen Einfluss auf die europäischen Staatsapparate und Netzwerke nehmen können. Diese<br />

sozialen Kräfteverhältnisse zwischen den AkteurInnen ergeben sich g<strong>an</strong>z wesentlich aus <strong>der</strong><br />

ökonomischen Akkumulation, d. h. aus den gesellschaftlichen Hierarchien, die über den Prozess<br />

<strong>der</strong> wirtschaftlichen Wertschöpfung vermittelt werden. Diese beinhaltet die konkrete Ausgestaltung<br />

<strong>der</strong> Produktion, Arbeitsteilung, den Fin<strong>an</strong>z- und H<strong>an</strong>delsbeziehungen, die zu einer ungleichen<br />

Verteilung von fin<strong>an</strong>ziellen Mitteln, Prestige, aber auch Freizeit führt. Damit ist jedoch<br />

nicht gemeint, dass sich die Kräfteverhältnisse allein aus <strong>der</strong> ökonomischen (Macht-) Position<br />

<strong>der</strong> unterschiedlichen AkteurInnen und Gruppen ableiten lassen. Vielmehr beschreiben sie eine<br />

soziale Beziehung, die sich aus <strong>der</strong> Art und Weise ergibt, in <strong>der</strong> die Produktion und Reproduktion<br />

des Lebens aller Menschen org<strong>an</strong>isiert ist: <strong>der</strong> Ausg<strong>an</strong>gspunkt sozialer Kräfteverhältnisse<br />

ist die Gesamtheit aller von Menschen unternommen Aktivitäten zur Herstellung und<br />

Fortführung ihrer Existenz. Ebenso relev<strong>an</strong>t für die sozialen Kräfteverhältnisse und Kämpfe<br />

sind damit auch Kategorien wie Geschlecht, Familie, Alter o<strong>der</strong> Ethnizität, da sich Menschen<br />

nicht allein über ihre wirtschaftliche Aktivitäten definieren und in Beziehung zuein<strong>an</strong><strong>der</strong> treten.<br />

Allerdings ist Europäische Staatlichkeit auch nicht allein auf soziale Kämpfe und den Einfluss<br />

bestimmter domin<strong>an</strong>ter AkteurInnen zu reduzieren:<br />

gewinnträchtigsten St<strong>an</strong>dorte verlagerten und/o<strong>der</strong> über Drohungen von St<strong>an</strong>dortverlagerung<br />

Zugeständnisse <strong>der</strong> Beschäftigten erzw<strong>an</strong>gen. Bis heute ist es nicht gelungen, das Ungleichgewicht<br />

zwischen wirtschaftlicher und sozialer Integration in <strong>der</strong> EU durch politische Kämpfe zu beheben.<br />

in einer Gesellschaft (bspw. zwischen Arm und Reich, Arbeit und Kapital, M<strong>an</strong>n und Frau,<br />

etc.) nicht offen zum Ausbruch kommen. Somit ist Staatlichkeit die Bedingung, Mediation<br />

und Abfe<strong>der</strong>ung wi<strong>der</strong>streiten<strong>der</strong> Interessen zur ermöglichen, um sozialen Frieden zu sichern.<br />

Auf die EU übertragen bedeutet dies, dass sich die EU sowohl als ein strategisches<br />

Feld darstellt, auf dem unterschiedliche AkteurInnen um Einfluss und Macht kämpfen, als<br />

auch dass sich die sozialen Kämpfe selbst in den europäischen Netzwerken, Behörden und<br />

Apparaten wi<strong>der</strong>spiegeln und institutionalisieren: Europäische Staatlichkeit bedeutet die<br />

materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse. Da Staatlichkeit aus bestimmten Kräfteverhältnissen<br />

heraus hervorgeht (bzw. <strong>der</strong>en materielle Verdichtung darstellt), sind die<br />

Apparate und Institutionen für einige Strategien mehr geeignet, während <strong>an</strong><strong>der</strong>e AkteurInnen<br />

nicht o<strong>der</strong> nur schlecht auf sie Einfluss nehmen können. So verfügen, wie bereits<br />

erwähnt, die ArbeitgeberInnenverbände auf europäischer Ebene traditionell über einen<br />

guten Zug<strong>an</strong>g zur Europäischen Kommission, während Gewerkschaften bspw. nur schwer<br />

Gehör finden. Bob Jessop, ein Soziologe aus L<strong>an</strong>caster, nennt diese Ausschlussmech<strong>an</strong>ismen<br />

die strategische Selektivität <strong>der</strong> Staatsapparate. Auf <strong>der</strong> europäischen Ebene zeigt<br />

sich diese strategische Selektivität unter <strong>an</strong><strong>der</strong>em in <strong>der</strong> Festschreibung <strong>der</strong> Währungsunion<br />

von 1993: Mit dieser verpflichteten sich die Nationalstaaten auf die Einhaltung so<br />

gen<strong>an</strong>nter „Stabilitätskriterien“ - etwa eine geringe Staatsverschuldung und restriktive<br />

Geld- und Fiskalpolitik. Ihre H<strong>an</strong>dlungsmöglichkeiten insbeson<strong>der</strong>e im Falle ökonomischer<br />

Krisen wurden dadurch massiv beschnitten: Investitionen, etwa in öffentliche Infrastruktur<br />

o<strong>der</strong> die jeweiligen Sozialstaaten waren nur noch in begrenztem Maße möglich und die<br />

Möglichkeit, durch Abwertung <strong>der</strong> eigenen Währung die Wirtschaft <strong>an</strong>zukurbeln, entfiel.<br />

Zudem verschärfte sich mit <strong>der</strong> im Zuge <strong>der</strong> Währungsintegration <strong>an</strong>gestrebten europäischen<br />

Fin<strong>an</strong>zmarktintegration die Sharehol<strong>der</strong>-Orientierung <strong>der</strong> europäischen Ökonomie,<br />

d.h. einer <strong>an</strong> den kurzfristigen Zielen <strong>der</strong> Aktienkurse ausgerichtete Politik zur<br />

Steigerung von Unternehmensgewinnen durch Kapitalzuflüsse und Geschäfte auf den<br />

globalen Fin<strong>an</strong>zmärkten. Indem diese strategische Orientierung vertraglich festgeschrieben<br />

wurde, erhielt sie quasi verfassungsgemäßen Charakter und k<strong>an</strong>n somit nur noch<br />

schwer durch gesellschaftliche Kämpfe und Strategien verän<strong>der</strong>t werden. Stephen Gill,<br />

Politikwissenschaftler aus Toronto, spricht in diesem Zusammenh<strong>an</strong>g von einem neoliberalen<br />

Neuen Konstitutionalismus, <strong>der</strong> sich auf europäischer Ebene herausgebildet habe.


grenzen|los|werden 53<br />

woraus sich wie<strong>der</strong>um - diesmal europäische - Staatsapparate entwickeln.<br />

• An<strong>der</strong>seits wird die Politik <strong>der</strong> EU ebenfalls von den Internationalen Machtverhältnisse<br />

(bspw. dem Verhältnis zu den USA) und globalen Restrukturierungstendenzen<br />

beeinflusst. So wirkt die Reorg<strong>an</strong>isation des globalen Kapitalismus ab den 70er<br />

Jahren hin zu einer stärkeren Tr<strong>an</strong>snationalisierung <strong>der</strong> Produktion und Globalisierung<br />

<strong>der</strong> Fin<strong>an</strong>zmärkte auch auf die nationalen und europäischen Kräfteverhältnisse<br />

ein, die sich seither immer stärker zu Gunsten des tr<strong>an</strong>snationalen (->) Kapitals<br />

(bspw. Multinationaler Konzerne) und des Fin<strong>an</strong>zkapitals (bspw. großer Investmentb<strong>an</strong>ken)<br />

verschoben haben. Und auch die Tr<strong>an</strong>sformation <strong>der</strong> Weltordnung in <strong>der</strong>en<br />

Zentrum nunmehr seit dem Zusammenbruch <strong>der</strong> Sowjetunion die USA als stärkste<br />

Macht <strong>der</strong> Welt agieren, grenzt den Rahmen europäischer Politik entscheidend ab.<br />

Damit ergibt sich ein komplexes europäisches Gebilde aus sozialen Kräften, politisch-zivilgesellschaftlichen<br />

Netzwerken und Legitimationszusammenhängen. Darin wird die politischinstitutionelle<br />

Ausrichtung <strong>der</strong> EU vor allem durch drei unterschiedliche Ebenen geprägt:<br />

Erstens durch die supr<strong>an</strong>ationale Ebene auf <strong>der</strong> europäische zivilgesellschaftliche<br />

Org<strong>an</strong>isationen, Institutionen, Behörden und Apparate ihre jeweiligen Strategien verfolgen;<br />

zweitens durch die Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzungen und Kräfteverhältnisse in den Nationalstaaten; und<br />

drittens durch die internationalen Machtverhältnisse und globalen Reorg<strong>an</strong>isationstendenzen <strong>der</strong><br />

Weltordnung. Der Mehrwert dieses theoretischen Ansatzes liegt vor allem darin, dass es gelingt<br />

das Verhältnis zwischen Staatlichkeit, Zivilgesellschaft und Ökonomie auf unterschiedlichen<br />

Ebenen in den Blick zu nehmen, ohne dass <strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>e Gegenst<strong>an</strong>d <strong>an</strong>alytisch<br />

verkürzt wird, o<strong>der</strong> unberücksichtigt bleibt. Eine durch Poul<strong>an</strong>tzas und Gramsci inspirierte<br />

Analyse europäischer Staatlichkeit bietet dadurch die Möglichkeit, nach konkreten<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchen und Konflikten im Prozess europäischer Politik zu suchen und dar<strong>an</strong> <strong>an</strong>knüpfend<br />

em<strong>an</strong>zipatorische Gegenstrategien zu entwickeln. Auch wenn die nationalen und europäischen<br />

Kräfteverhältnisse für em<strong>an</strong>zipatorische Politik <strong>der</strong>zeit alles <strong>an</strong><strong>der</strong>e als rosig aussehen, bieten<br />

sich hier - in begrenztem Ausmaß - Anknüpfungspunkte für linke Strategien, wie wir im<br />

Folgenden zeigen wollen.<br />

meininteresse“ zu setzen, das über einen bloßen Elitenkonsens hinausgeht, und weite<br />

Teile <strong>der</strong> europäischen Bevölkerung unter einem politischen Ziel o<strong>der</strong> einer Strategie<br />

vereint. Dieser Legitimationsprozess k<strong>an</strong>n sowohl durch materielle Zugeständnisse <strong>an</strong><br />

subalterne Gruppen und soziale Akteure (bspw. durch höhere Löhne), als auch durch<br />

eine ideologische Einbindung in konkrete Projekte erreicht werden (bspw. durch das<br />

Setzen von symbolischen Zielen o<strong>der</strong> „Sachzwängen“). Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse<br />

treten hier also ebenfalls als wichtiger Moment europäischer Politik und ihrer<br />

Legitimation hervor. Gelingt es einen Konsens zwischen wi<strong>der</strong>sprüchlichen Interessen in<br />

<strong>der</strong> Bevölkerung zu erzeugen, gilt die Politik als hegemonial. Wurde so zum Beispiel das<br />

Projekt des europäischen Binnenmarktes noch durch die Ziele <strong>der</strong> Sicherung von<br />

Wohlst<strong>an</strong>d und von Arbeitsplätzen in <strong>der</strong> Bevölkerung legitimiert, untergräbt das<br />

Ungleichgewicht zwischen wirtschaftlicher und sozialer Integration heute zusehends<br />

die Legitimität <strong>der</strong> EU insgesamt. Mit dem Scheitern <strong>der</strong> <strong>an</strong>gestrebten Wachstums- und<br />

Beschäftigungsziele <strong>der</strong> EU und einer zunehmenden sozialen Polarisierung und<br />

Marginalisierung, nimmt auch die Unzufriedenheit <strong>der</strong> europäischen Bevölkerung mit <strong>der</strong><br />

<strong>der</strong>zeitigen Art und Weise des Integrationsprozesses zu, wie sich <strong>an</strong> den gescheiterten<br />

Referenden zur europäischen Verfassung zeigte. Die EU befindet sich nunmehr in einer<br />

<strong>an</strong>dauernden Hegemoniekrise, in <strong>der</strong> es den politischen Eliten nicht mehr o<strong>der</strong> nur noch<br />

bedingt gelingt weite Teile <strong>der</strong> Bevölkerung in die Ziele einer fortschreitende neoliberale<br />

Integration zu integrieren und die daher <strong>an</strong> ihre Grenze stößt. Fr<strong>an</strong>k Deppe, ein Politikwissenschaftler<br />

aus Marburg, bezeichnet diese Krise auch als Post-Maastricht-Krise <strong>der</strong><br />

EU..<br />

Auch wenn die Entwicklungen in Europa g<strong>an</strong>z entscheidend durch die Kämpfe in <strong>der</strong> Zivilgesellschaft<br />

und zwischen unterschiedlichen Akteurinnen, wie sie sich aus den sozialen Kräfteverhältnissen<br />

ergeben, auf europäischer Ebene geprägt werden, darf nicht übersehen werden,<br />

dass europäische Staatlichkeit nie vollkommen losgelöst von den Entwicklungen in den Nationalstaaten<br />

und des internationalen Systems betrachtet werden k<strong>an</strong>n. Vielmehr ist europäische<br />

Politik immer auch in nationale und internationale Verhältnisse eingebettet:<br />

Refuse? Resist? Reform? Herausfor<strong>der</strong>ungen und strategische Optionen linker Politik in<br />

<strong>der</strong> EU<br />

Stellte m<strong>an</strong> die Frage nach den Möglichkeiten einer em<strong>an</strong>zipatorischen Verän<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> EU, fallen zunächst die Herausfor<strong>der</strong>ungen auf, vor denen eine solche Strategie steht.<br />

(1) Eine gemeinsame Politik o<strong>der</strong> Strategie etwa unterschiedlicher Belegschaften ist aufgrund<br />

<strong>der</strong> Konkurrenz zwischen verschiedenen St<strong>an</strong>dorten in <strong>der</strong> EU nur schwer zu entwickeln.<br />

Die St<strong>an</strong>dortkonkurrenz hat dabei zum einen reale Wirksamkeit, d.h. Unternehmen verlagern<br />

• Einerseits überformt die EU die Politik <strong>der</strong> Nationalstaaten und Kräfteverhältnisse nationaler<br />

Zivilgesellschaften, indem europäische Kompetenzen und Machtverhältnisse direkt<br />

auf die nationale Ebene einwirken (bspw. durch Richtlinien). Gleichzeitig setzen sich<br />

zentrale Org<strong>an</strong>e <strong>der</strong> EU, wie <strong>der</strong> Europäische Rat, o<strong>der</strong> die verschiedenen Ministerräte<br />

weiterhin allein aus den Regierungen <strong>der</strong> Mitgliedslän<strong>der</strong> zusammen. Da die Politik <strong>der</strong><br />

Regierungen auch hier von den Kämpfen und Kräfteverhältnissen in den jeweiligen Nationalstaaten<br />

abhängt, bezeichnet <strong>der</strong> Wiener Politikwissenschaftler Ulrich Br<strong>an</strong>d die EU<br />

auch als Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse zweiter Ordnung: Zunächst entwickeln<br />

sich aus den Kämpfen in den Nationalstaaten heraus bestimmte nationale Staatsapparate,<br />

die d<strong>an</strong>n wie<strong>der</strong>um auf europäischer Ebene um die Durchsetzung ihrer Interessen ringen,<br />

36 Vorneweg: Eine Europäische Wurzelbeh<strong>an</strong>dlung<br />

MATHIS HEINRICH, NIKOLAI HUKE: Gegen das „Europa des Kapitals“ o<strong>der</strong> „nach den Sternen greifen“?<br />

37


38 Vorneweg: Eine Europäische Wurzelbeh<strong>an</strong>dlung<br />

MATHIS HEINRICH, NIKOLAI HUKE:Gegen das „Europa des Kapitals“ o<strong>der</strong> „nach den Sternen greifen“?<br />

39<br />

54 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

In <strong>der</strong> aktuellen globalen Wirtschaftskrise, die sich über die Fin<strong>an</strong>zierungsprobleme<br />

Griechenl<strong>an</strong>ds, Ungarns und <strong>an</strong><strong>der</strong>er Län<strong>der</strong>, auch zu einer internen Krise <strong>der</strong> EU entwickelt<br />

hat, verschärften sich die Probleme weiter und die Hoffnungen vieler Linker, dass sich<br />

nun Möglichkeiten für progressive Politiken eröffnen, wurden enttäuscht. Zum einen wurden<br />

- wie in Lohnverzichtsfor<strong>der</strong>ungen zur Steigerung <strong>der</strong> Wettbewerbsfähigkeit etwa <strong>an</strong> die<br />

Gewerkschaften in Sp<strong>an</strong>ien deutlich wurde - die sozialen Konsequenzen St<strong>an</strong>dortkonkurrenz<br />

(1) „Ich möchte lieber nicht“: In den Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzungen um die europäische Verfassung<br />

in Fr<strong>an</strong>kreich und den Nie<strong>der</strong>l<strong>an</strong>den im Jahr 2005 wurde deutlich, dass es über politische<br />

Mobilisierungen <strong>an</strong> bestimmten Punkten gelingen k<strong>an</strong>n, eine gepl<strong>an</strong>te Festschreibung neoliberaler<br />

und - im Falle <strong>der</strong> Verfassung - militaristischer Prinzipien auf europäischer Ebene zu<br />

verhin<strong>der</strong>n. Ein ähnlicher Erfolg konnte im gleichen Jahr auch im Kampf gegen die „Bolkestein“o<strong>der</strong><br />

„Dienstleistungsrichtlinie“ erzielt werden. Die Richtlinie sah vor, dass Unternehmen europaweit<br />

Beschäftigte auf Basis <strong>der</strong> sozialen St<strong>an</strong>dards und gesetzlichen Bestimmungen im Herkunftsl<strong>an</strong>d<br />

des Unternehmens <strong>an</strong>stellen dürften. Soziale Bewegungen wie attac und europäische<br />

Gewerkschaften kritisierten, dass dies zu einem Unterbietungswettbewerb in den Umwelt-<br />

(4) Verschärft wird diese Privilegierung bestimmter Strategien durch den in den Verträgen<br />

<strong>der</strong> EU ver<strong>an</strong>kerten und durch den Europäischen Gerichtshof kontinuierlich weiterentwickelten<br />

neoliberalen „Neuen Konstitutionalismus“. Die Vertragswerke zielen im<br />

Wesentlichen auf H<strong>an</strong>dels-, Kapital-, Dienstleistungs- und Arbeitsmarkt-Liberalisierung ab,<br />

während sozialpolitische Fragen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Indem sie gleichzeitig<br />

auf europäischer Ebene quasi-verfassungsgemäße Wirkung entfalten, sichern sie neoliberale<br />

Politik auch jenseits <strong>der</strong> konkreten gesellschaftlichen Kämpfe und Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzungen ab.<br />

(5) Vermittelt über die nationalen Regierungen und den Rat <strong>der</strong> Europäischen Union/Ministerrat<br />

die Politik <strong>der</strong> EU verän<strong>der</strong>n zu wollen, erscheint ebenfalls nicht allzu aussichtsreich. Zum<br />

einen fehlt in den meisten europäischen Staaten eine starke parlamentarische (radikale) Linke.<br />

Sozialdemokratische und grüne Parteien bieten spätestens seit ihren neoliberalen Wenden<br />

in den 1990er Jahren kaum noch Anknüpfungspunkte für linke Strategien. Hinzu kommen die<br />

Wahlerfolge von rechten, konservativen und/o<strong>der</strong> neoliberalen Regierungen in den letzten Jahren.<br />

Der Ausg<strong>an</strong>gspunkt für eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kräfteverhältnisse in <strong>der</strong> EU ist damit zwar mit<br />

<strong>der</strong> Krise ein <strong>an</strong><strong>der</strong>er, aber nicht einfacher geworden. Trotzdem wird deutlich, dass Brüche<br />

existieren, <strong>an</strong> die linke Strategien <strong>an</strong>knüpfen können. Unserer Ansicht nach wäre es für eine<br />

em<strong>an</strong>zipatorische Tr<strong>an</strong>sformation <strong>der</strong> EU sinnvoll, mindestens drei bereits in Ansätzen vorh<strong>an</strong>dene<br />

Strategien mitein<strong>an</strong><strong>der</strong> zu verknüpfen:<br />

(3) ArbeitgeberInnen verfügen auf europäischer Ebene über bevorzugte Zugänge zu den<br />

Institutionen, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> europäischen Kommission. Der Rat <strong>der</strong> Europäischen Union/Ministerrat<br />

(->) bietet vor allem durch die zentrale Rolle, die dort Regierungen spielen,<br />

nur wenige Einflussmöglichkeiten für (linke) Strategien. Einzig das Europäische Parlament, das<br />

gegenüber den beiden vorher gen<strong>an</strong>nten AkteurInnen über weitaus geringeren Einfluss<br />

verfügt, bietet - etwa über die linke Fraktion Vereinte Europäische Linke / Nordische Grüne<br />

Linke (GUE/NGL) - zum Teil Anschlussmöglichkeiten für linke Kritik. Insgesamt bietet damit die<br />

strategische Selektivität <strong>der</strong> europäischen Staatsapparate bessere Möglichkeiten für neoliberale<br />

o<strong>der</strong> konservative Politiken als für em<strong>an</strong>zipatorische Strategien.<br />

(2) Neoliberale Deutungsmuster wie „Sachzwänge“, „globale Konkurrenz“ und „Wettbewerbsfähigkeit“,<br />

„Gürtel enger schnallen“ und „sozial ist, was Arbeit schafft“ sind seit<br />

den 1980er Jahren auf europäischer Ebene - sowohl was die nationalen Regierungen, als<br />

auch was die europäischen Institutionen o<strong>der</strong> zivilgesellschaftlichen Org<strong>an</strong>isationen (z.B.<br />

Gewerkschaften) <strong>an</strong>geht - weit verbreitet.<br />

tatsächlich Betriebe <strong>an</strong> profitablere St<strong>an</strong>dorte. Zusätzlich dazu wird sie zum <strong>an</strong><strong>der</strong>en aber<br />

auch strategisch von ArbeitgeberInnen eingesetzt, um Zugeständnisse wie Lohnverzicht von<br />

Beschäftigten zu erreichen - ohne dass eine St<strong>an</strong>dortverlagerung tatsächlich wahrscheinlich ist.<br />

intensiviert. Zum <strong>an</strong><strong>der</strong>en wurde das wirtschaftspolitische Korsett <strong>der</strong> Stabilitätskriterien<br />

verschärft und so die sozialpolitische H<strong>an</strong>dlungsfähigkeit <strong>der</strong> Nationalstaaten weiter<br />

beschränkt. Allerdings zeigt sich auch hier, dass die politischen Eliten <strong>der</strong> EU, nunmehr<br />

konfrontiert mit einer Doppelkrise <strong>der</strong> Legitimation und <strong>der</strong> Strukturprobleme des Euroraums<br />

zunehmend Schwierigkeiten haben, gemeinsame europäische Lösungen für ihre divergierenden<br />

Interessen zu finden und auf nationale Krisenbewältigungsstrategien ausweichen müssen.<br />

Das europäische Kapital, bisher treibende Kraft <strong>der</strong> europäischen Integration - siehe Binnenmarkt<br />

-, schweigt weitgehend zur globalen Fin<strong>an</strong>zkrise. Dieses Schweigen k<strong>an</strong>n nicht zuletzt<br />

auch dahingehend interpretiert werden, dass sich die Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeiten innerhalb <strong>der</strong><br />

wirtschaftlichen Eliten Europas ebenfalls verschärft haben. Bereits bei <strong>der</strong> Verwirklichung <strong>der</strong><br />

Währungsunion und vor allem in Bezug auf die fortschreitende Fin<strong>an</strong>zmarktliberalisierung Europas<br />

wurde deutlich, dass einige einflussreiche und vor allem auf den Binnenmarkt ausgerichtete<br />

Industrieunternehmen den Dynamiken <strong>der</strong> globalen Fin<strong>an</strong>zmärkte durchaus skeptisch gegenüber<br />

stehen. Die Krise hat die Fähigkeit dieser AkteurInnen des nationalen und europäischen<br />

Industriekapitals und vor allem ihre Belegschaften in einen Elitenkonsens unter dem führenden<br />

Interesse des Fin<strong>an</strong>zkapitals einzubinden ohne Zweifel erschwert. Gleichzeitig wächst die<br />

Skepsis zivilgesellschaftlicher Kräfte (bspw. <strong>der</strong> Kirchen, o<strong>der</strong> Gewerkschaften) und <strong>der</strong> nationalen<br />

Bevölkerungen gegenüber <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> großen Fin<strong>an</strong>zunternehmen und Investmentb<strong>an</strong>ken.<br />

Es wird sich zeigen, ob hier Koalitionen und Anknüpfungspunkte für alternative Strategien zum<br />

fin<strong>an</strong>zmarktgetriebenen Kapitalismus geschaffen werden können. Gleichwohl würden solche<br />

Bündnisse nicht gleichzeitig ein Infragestellen <strong>der</strong> neoliberalen Politik <strong>der</strong> EU bedeuten. Bisher<br />

zumindest richtet sich die Kritik allein gegen die risikoreichen Anlagemöglichkeiten und H<strong>an</strong>dlungsspielräume<br />

großer Fin<strong>an</strong>zmarktakteure und B<strong>an</strong>ken, ohne dabei die notwendigen Schritte<br />

einer positiven Integration soziale St<strong>an</strong>dards o<strong>der</strong> Lohnvereinbarungen in Europa zu for<strong>der</strong>n.


grenzen|los|werden 55<br />

nen und Regierungen. Auch wenn <strong>der</strong>zeit auf europäischer Ebene die unmittelbaren Einflussmöglichkeiten<br />

relativ gering sind, heißt das nicht, das Lobbying bei den europäischen Institutionen<br />

per se zum Scheitern verurteilt sein muss. Ein Positivbeispiel hierfür sind die Aktivitäten<br />

von feministischen Org<strong>an</strong>isationen auf europäischer Ebene. Durch das Zusammenspiel von<br />

Technokratinnen, Wissenschaftlerinnen und Bewegungsaktivistinnen gel<strong>an</strong>g es diesen zum Teil,<br />

auf europäischer Ebene weitaus fortschrittlichere Regelungen zu etablieren, als in den jeweiligen<br />

nationalen Kontexten möglich gewesen wäre (z.B. geschlechtsspezifische Verfolgung als<br />

Asylgrund). Das Beispiel zeigt jedoch gleichzeitig auch die Probleme, die eine solche Strategie<br />

mit sich bringt. Mit dem Engagement in <strong>der</strong> Lobby entfernten sich Technokratinnen und Basis<br />

zunehmend vonein<strong>an</strong><strong>der</strong>, was zum Teil eine Einbindung <strong>der</strong> Technokratinnen in das neoliberale<br />

Europaprojekt zur Folge hatte. Effekte hiervon sind Konzepte wie Gen<strong>der</strong> Mainstreaming zur<br />

optimalen Ressourcennutzung o<strong>der</strong> das Ziel einer verbesserten Arbeitsmarktintegration von<br />

Frauen zur Verbesserung <strong>der</strong> Wettbewerbsfähigkeit.<br />

Dass auch Parteien und damit das Europäische Parlament nur begrenzt Ansprechpartner für<br />

em<strong>an</strong>zipatorische Bewegungen sein können, da sie gezwungen sind, die in einem Staat - in diesem<br />

Falle die in <strong>der</strong> EU - geltenden Spielregeln <strong>an</strong>zuerkennen, zeigte <strong>der</strong> Politikwissenschaftler<br />

Joh<strong>an</strong>nes Agnoli bereits 1967 in seinem Buch „Die Tr<strong>an</strong>sformation <strong>der</strong> Demokratie“.<br />

Gleichwohl ist die Ausweitung <strong>der</strong> Kompetenzen des Europäischen Parlaments - wie sie in<br />

den verg<strong>an</strong>genen Jahren in begrenztem Maße durchgesetzt werden konnte - auch eine Ch<strong>an</strong>ce<br />

für eine em<strong>an</strong>zipatorischere EU. So politisierten die parteipolitischen Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzungen<br />

im europäischen Parlament zum Teil die technokratischen Prozesse in <strong>der</strong> EU und holten<br />

sie dadurch in gesellschaftliche Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzungen zurück. Das Parlament bietet damit<br />

in <strong>der</strong> Regel gegenüber dem konservativen Rat <strong>der</strong> Europäischen Union (->)/Ministerrat und<br />

<strong>der</strong> Europäischen Kommission für linke Strategien bessere Möglichkeiten <strong>der</strong> Einflussnahme.<br />

und Sozialst<strong>an</strong>dards auf europäischer Ebene führe, da die Unternehmen ihren Sitz in das jeweils<br />

für sie günstigste EU-L<strong>an</strong>d verlagerten. Nach massiven sozialen Protesten wurde dieses so<br />

gen<strong>an</strong>nte Herkunftsl<strong>an</strong>dprinzip aus <strong>der</strong> Richtlinie entfernt. Während die Kampagnen gegen die<br />

Dienstleistungsrichtlinie exemplarisch für eine erfolgreiche Mobilisierung gegen die EU stehen<br />

können, zeigten die Proteste gegen den EU-Vertrag nur begrenzt Wirkung: Große Teile des Vertrags<br />

wurden, umben<strong>an</strong>nt in den „Vertrag von Lissabon“, bereits 2007 trotz <strong>der</strong> Neins <strong>der</strong> Bevölkerungen<br />

erneut zur Abstimmung gestellt und verabschiedet. An diesem Beispiel wird damit<br />

deutlich, dass eine Mobilisierung gegen die europäische Politik als Strategie allein nicht ausreicht.<br />

Trotzdem ist ein entschiedenes Nein <strong>an</strong> <strong>der</strong> richtigen Stelle - siehe Dienstleistungsrichtlinie - in<br />

vielen Fällen die bessere Alternative zum Mitmachen unter Protest - etwa <strong>der</strong> erfolglosen „ja,<br />

aber“-Politik <strong>der</strong> Gewerkschaften bei verschiedenen Projekten <strong>der</strong> europäischen Integration.<br />

Alle drei hier skizzierten Strategien sind durchaus voraussetzungsvoll: Notwendig ist eine europaweite<br />

Koordinierung linksradikaler Strategien - ein Unterf<strong>an</strong>gen, das sich schon im nationalen<br />

Rahmen als schwierig erweist. Zusätzlich erschwerend kommen auf europäischer Ebene<br />

Sprachprobleme, ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>gehende nationale Traditionen zum Beispiel in Bezug auf Milit<strong>an</strong>z<br />

sowie unterschiedliche Möglichkeiten durch nationale (z.B. tarifpolitische) rechtliche H<strong>an</strong>dlungsrahmen<br />

hinzu. Auch für eine Koordinierung linker Politik auf europäischer Ebene existieren<br />

erste Ansätze wie zum Beispiel die europäischen Sozialforen1 , in denen radikale Linke<br />

jedoch nach wie vor eher eine Min<strong>der</strong>heit bilden, o<strong>der</strong> die NoBor<strong>der</strong>-Camps. 2<br />

(2) „Europa selber machen“: Eine weitere Strategie, die wir gleichzeitig für notwendig<br />

halten, ist die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> EU „von unten“. Ein Beispiel hierfür wäre die - bisher<br />

nur in Ansätzen verwirklichte - For<strong>der</strong>ung nach einer Koordinierung gewerkschaftlicher Tarifpolitik<br />

o<strong>der</strong> sogar europaweit geführten Arbeitskämpfen und daraus resultierenden europäischen<br />

Tarifverträgen. Das Charm<strong>an</strong>te <strong>an</strong> dieser Strategie ist, dass es für sie nicht notwendig<br />

ist, die institutionellen Rahmenbedingungen <strong>der</strong> EU zu verän<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n dass sie <strong>an</strong><br />

diesen vorbei bestimmte Verän<strong>der</strong>ungen durchsetzen könnte. Grundlage <strong>der</strong> Strategie sind<br />

die nationalen Arbeitskampfrechte, die regeln w<strong>an</strong>n wer zu welchem Zweck in den Streik<br />

treten darf. Im Falle einer Tarifausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzung in einem in mehreren europäischen Staaten<br />

tätigen Unternehmen können die jeweiligen nationalen Gewerkschaften ihre For<strong>der</strong>ungen<br />

koordinieren und gemeinsam für einen europäischen Tarifabschluss o<strong>der</strong> zumindest europäisch<br />

abgestimmte Tarifverträge kämpfen. Im Erfolgsfall würden sie darüber <strong>der</strong> St<strong>an</strong>dortkonkurrenz<br />

und dem daraus resultierenden Druck auf Löhne und soziale Sicherheit entgegenwirken.<br />

Folge wäre ein europaweit gelten<strong>der</strong> tariflicher (Rechts-)Rahmen, <strong>der</strong> bestimmte<br />

soziale Mindestst<strong>an</strong>dards setzt. Bisher sind für diese Strategie in den europäischen Gewerkschaften<br />

erst vorsichtige erste Schritte erkennbar, so informieren sich die im Europäischen<br />

Metallgewerkschaftsbund vertretenen Gewerkschaften über ihre jeweiligen Tarifabschlüsse,<br />

ohne jedoch im Falle von St<strong>an</strong>dortwettbewerben gemeinsame Strategien zu verfolgen.<br />

Zentrales Element <strong>der</strong> Strategie von unten ist darüber hinaus eine Infragestellung neoliberaler<br />

Deutungsmuster. Hierzu wären kontinuierliche politische Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzungen in allen<br />

Bereichen <strong>der</strong> Gesellschaft - in wissenschaftlichen Institutionen ebenso wie in gewerkschaftlichen<br />

Gremien nötig. Ansatzpunkte hierfür bieten unter <strong>an</strong><strong>der</strong>em Studierendenproteste o<strong>der</strong><br />

regionale und lokale Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>dsbündnisse, die versuchen, die scheinbare Alternativlosigkeit<br />

<strong>der</strong> herrschenden Politik und <strong>der</strong> aktuellen politischen Ausrichtung <strong>der</strong> EU infrage zu stellen.<br />

„Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht vor<strong>an</strong>“ (Fehlfarben)<br />

Europäische Staatlichkeit - so haben wir versucht zu zeigen - unterscheidet sich zwar<br />

nicht grundsätzlich, im Detail jedoch durchaus deutlich von Nationalstaatlichkeit. Eine Kritik<br />

<strong>der</strong> EU k<strong>an</strong>n und sollte daher <strong>an</strong> die bisher entwickelte linke Staatskritik <strong>an</strong>knüpfen.<br />

Von dieser ist die von uns skizzierte im weiteren Sinne marxistische Theorietradition nur<br />

(3) „Die Lobby <strong>an</strong>eignen“: Eine dritte notwendige, wenn auch aus vielen Gründen - ein<br />

gutes Beispiel sind die auf dem Marsch durch die Institutionen gr<strong>an</strong>dios gescheiterten Grünen<br />

- gefährliche Strategie, ist die direkte Einflussnahme auf europäische und nationale Institutio-<br />

40 Vorneweg: Eine Europäische Wurzelbeh<strong>an</strong>dlung<br />

MATHIS HEINRICH, NIKOLAI HUKE: Gegen das „Europa des Kapitals“ o<strong>der</strong> „nach den Sternen greifen“?<br />

41


42 Vorneweg: Eine Europäische Wurzelbeh<strong>an</strong>dlung<br />

MATHIS HEINRICH, NIKOLAI HUKE: Gegen das „Europa des Kapitals“ o<strong>der</strong> „nach den Sternen greifen“?<br />

43<br />

56 BAKJ-Herbstkongress 2011<br />

An<strong>der</strong>erseits möchten wir die Notwendigkeit einer kritischen Ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>setzung mit verg<strong>an</strong>genen<br />

revolutionären Versuchen betonen - indem wir uns auf die mit ihnen verknüpften<br />

Träume beziehen, die nicht zuletzt im Begriff Kommunismus ihren Ausdruck finden.<br />

Ziel <strong>der</strong> radikalen Linken sollte es stattdessen sein, sich kritisch mit ihren jeweiligen H<strong>an</strong>dlungsmöglichkeiten<br />

im lokalen, nationalen, europäischen und globalen Rahmen ausein<strong>an</strong><strong>der</strong>zusetzen.<br />

In einem zweiten Schritt sollte sie dar<strong>an</strong> <strong>an</strong>knüpfend Strategien entwickeln,<br />

die den Gefahren und Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> jeweiligen H<strong>an</strong>dlungsebene Rechnung tragen,<br />

ohne <strong>der</strong>en Ch<strong>an</strong>cen zu negieren. Um h<strong>an</strong>dlungsfähiger zu werden wird es für diese<br />

Strategien teilweise auch notwendig sein, breitere Bündnisse zu schmieden, ohne jedoch in<br />

diesen aufzugehen. Nur so ist es möglich, l<strong>an</strong>gfristig die neoliberale Hegemonie in <strong>der</strong> EU<br />

infrage zu stellen. Dass ein solches Projekt grundsätzlich notwendig ist, zeigt die nicht zuletzt<br />

auch durch die EU bedingte alltägliche soziale Krise vom Dispokredit bis zur Angst um<br />

den eigenen Arbeitsplatz. Dass eine starke linksradikale Bewegung auch und gerade jetzt<br />

von beson<strong>der</strong>er Dringlichkeit ist, wird mit erschrecken<strong>der</strong> Schärfe <strong>an</strong> den in vielen Län<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> EU in den letzten Jahren erstarkenden rechten Bewegungen deutlich. Auch diese<br />

reagieren nicht zuletzt auf Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> neoliberalen europäischen Staatlichkeit. Ob<br />

damit die Alternative für die weitere Entwicklung auch in <strong>der</strong> EU von heute noch „Sozialismus<br />

o<strong>der</strong> Barbarei“ heißt und heißen muss, können wir <strong>an</strong> dieser Stelle nicht abschließend<br />

beurteilen. Kein Kommunismus - so viel jedenfalls ist sicher - ist auch keine Lösung*.<br />

Den Begriff des Kommunismus verwenden wir hier nicht trotz son<strong>der</strong>n gerade aufgrund seiner<br />

Geschichte. Wir möchten damit einerseits festhalten am Anspruch „alle Verhältnisse umzuwerfen,<br />

in denen <strong>der</strong> Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen<br />

ist“ (K. Marx).<br />

Eine Reihe kritischer Analysen zum europäischen Integrationsprozess sind darüber hinaus über die Homepage<br />

<strong>der</strong> Forschungsgruppe Europäische Integration Marburg erhältlich: http://www.uni-marburg.de/fb03/<br />

H<strong>an</strong>s-Jürgen Bieling und Jochen Steinhilber (2000): Die Konfiguration Europas: Dimensionen<br />

einer kritischen Integrationstheorie. Münster: Westfälisches Dampfboot.<br />

InET (2008): Europäische Tarifautonomie ist möglich!, als *.pdf im Internet unter: http://www.tarifautonomie.<br />

eu/Download/inet.pdf<br />

Associazione delle talpe/Rosa-Luxemburg-Stiftung Bremen (Hrsg.) (2009): Staatsfragen. Einführungen in die<br />

materialistische Staatskritik, als *.pdf im Internet unter: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/<br />

rls-papers_Staatsfragen_0911t.pdf<br />

Weiterlesen:<br />

ein Teil. Neben <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong> von uns vor allem ins Zentrum gerückten ökonomischen<br />

Kräfteverhältnisse und Klassenkämpfe, muss Staatskritik darüber hinaus immer auch<br />

die Kritik des Grenzregimes (->) ebenso wie des Geschlechts des Staats, d.h. <strong>der</strong> vom<br />

Staat (re-)produzierten (in <strong>der</strong> Regel patriarchalen) Geschlechterverhältnisse beinhalten.<br />

Die EU ist ebenso wie die nationalen Staatsapparate materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen<br />

und umkämpfte Arena. Da die tr<strong>an</strong>snationalen (->) Konzerne bisher auf europäischer Ebene<br />

über eine stärkere Position verfügen als soziale Bewegungen, haben sich in die europäischen<br />

Institutionen bestimmte neoliberale Grundprinzipien eingeschrieben. Gleichzeitig ist europäische<br />

Staatlichkeit materielle Verdichtung zweiter Ordnung, indem sie auch durch nationale<br />

Regierungen aktiv entwickelt und vor<strong>an</strong>getrieben wird. Die radikale Linke war auch hier in den<br />

letzten Jahren nicht in <strong>der</strong> Lage, effektiv Einfluss zu nehmen. Es besteht damit unserer Ansicht<br />

nach we<strong>der</strong> ein Grund, die nationale Ebene gegenüber <strong>der</strong> europäischen Ebene als Kampffeld<br />

zu privilegieren und Hoffnungen in nationale Sozialstaaten zu setzen, noch eine Grundlage<br />

dafür, die EU und ihre Institutionen als Hoffnungsträgerinnen für em<strong>an</strong>zipatorische Bewegungen<br />

<strong>an</strong>zusehen.<br />

1 http://www.fse-esf.org<br />

2 http://nobor<strong>der</strong>.org/<br />

3 http://www.uni-marburg.de/fb03/fei<br />

Fußnoten:<br />

„Aber es gibt heute keinen Traum einer <strong>an</strong><strong>der</strong>en Welt, sei es den eines utopischen Bildes o<strong>der</strong> den eines<br />

atopischen Bil<strong>der</strong>verbots, <strong>der</strong> nicht von den Albträumen <strong>der</strong> Zwischenwelt, <strong>der</strong> Überg<strong>an</strong>gsphase verstellt<br />

wäre. Ohne den G<strong>an</strong>g durch die Geschichte <strong>der</strong> revolutionären Versuche wird es keine revolutionäre<br />

Versuchung mehr geben. Trauer, Traum und Trauma, von denen das dritte sich um den zweiten schließt<br />

und nur durch die erste jemals sich wie<strong>der</strong> zu öffnen erweicht werden könnte.“ (Aus: Gestern Morgen.<br />

Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion <strong>der</strong> Zukunft, Seite 121).<br />

Mit Bini Adamczak gesprochen:


grenzen|los|werden 57<br />

Rückwärts und vorwärts gerichtete Überwachung - Neue digitale Schnüffelwerkzeuge<br />

Matthias Monroe<br />

Seit Jahren rüsten Polizeien und Geheimdienste<br />

technologisch auf. Auch soziale Bewegungen werden<br />

mit Funkzellenauswertung, Ermittlungssoftware,<br />

Staatstroj<strong>an</strong>ern, fliegenden Kameras und Satellitenaufklärung<br />

bei Gipfelprotesten ausgeforscht.<br />

Anh<strong>an</strong>d von Fallbeispielen soll <strong>der</strong> Workshop<br />

Workshop zu Anwält_innenkollektiven<br />

Barbara Wessel und Undine Weyers<br />

Neben dem Austausch von Erfahrungen und Vorstellungen<br />

wird es in dem Workshop darum gehen,<br />

gemeinsam <strong>der</strong> Frage nachzugehen, welche Perspektiven<br />

Anwält_innenkollektive heute haben.<br />

Notizen:<br />

Zur Vorbereitung ist keine Textlektüre nötig.<br />

helfen, die Bedeutung <strong>der</strong> neuen Schnüffeltechnologie<br />

für linken Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>d herauszuarbeiten -<br />

praktisch und politisch.<br />

Zur Vorbereitung ist keine Textlektüre nötig.


58 BAKJ-Herbstkongress 2011

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